Die Kinder aus Christiania

  • 23.11.2012, 10:57

Vor vierzig Jahren schufen dänische Hippies eine Freistadt, um den Zwängen der Gesellschaft zu entfliehen. Ihre dort aufgewachsenen Kinder sind mittlerweile erwachsen und stehen keineswegs am Rande der Gesellschaft.

Vor vierzig Jahren schufen dänische Hippies eine Freistadt, um den Zwängen der Gesellschaft zu entfliehen. Ihre dort aufgewachsenen Kinder sind mittlerweile erwachsen und stehen keineswegs am Rande der Gesellschaft.

Auf den ersten Blick ist Kasper ein ganz normaler junger Mann um die zwanzig. In seinem schwarzen Kapuzenpullover mit weißem Totenkopf sieht er wie ein St. Pauli Fan aus. Er macht mit Gästen gerne eine Tour durch die Viertel seines Heimatorts Chrisitiania. Kasper und seine ältere Schwester Ane sind in der Kopenhagener Freistadt aufgewachsen. Seine Eltern sind Mitte der 70er Jahre hierhergezogen, angelockt hat sie die Idee eines alternativen Lebens fernab von gesellschaftlichen Zwängen und Normen. Beim Musizieren bei der lokalen Musikkapelle Christianias haben sie sich kennengelernt, bis heute sind sie ein Paar geblieben. Während er durch die berüchtigte Pusher Street schlendert, fängt Kasper über sich zu erzählen an. Die Straße hier ist für ihren großen Hasch-Markt bekannt, auf sie wird Christiania oft reduziert. Vor allem Männer tummeln sich hier. Nicht über die in Christiania bestehende und gut funktionierende Konsensdemokratie oder die einzigartige Geschichte des autonomen Stadtteils wird in der Öffentlichkeit diskutiert, meist ist der hiesige Drogenmarkt- und konsum Gesprächsthema.

Drogen und Razzien. Lange Zeit war Kasper selbst gegen Drogen und Alkohol.„Erwachsene, die betrunken oder high sind, können Kindern ganz schön Angst machen“, erzählt er. Und, wie es scheint, gibt es von denen hier viele. Zu trinken und rauchen hat er erst begonnen, als er von zu Hause auszog. Der Name der „Pusher Street“ stammt von den EinwohnerInnen Christianias selbst und ist keineswegs neutral gemeint. Der Begriff „Pusher“ kommt von der Straße und wird dort für Drogendealer gebraucht. Wie viele EinwohnerInnen hat auch Kasper ein Problem mit den hier ansässigen Pushern. „Der Drogenhandel zerstört Christiania, weil das Leute gegen uns aufhetzt.“ Die Rocker, auch bekannt als Hells Angel's, kontrollieren seit Jahren das örtliche Haschischgeschäft. „Die sollen verschwinden und Christiania in Ruhe lassen“, sagt Kasper verächtlich. Als er klein war, durfte er hier auf der Pusher Street nicht spielen, seine Eltern hatten zu große Sorge um ihn. Aber die Pusher haben Kasper und Ane nie etwas getan. Angsteinflößend waren nicht die Drogenhändler, sondern viel mehr die Polizei bei Razzien, blickt Kasper zurück. Einmal, als die Polizei in Christiania eindrang, schmiss einer der Pusher einen Stein, ein Polizist geriet daraufhin in Panik und warf willkürlich eine Tränengasgranate, die in jener Sandkiste landete, in welcher der dreijährige Kasper mit seiner Schwester gerade spielte. Ein anderes Mal fand er als kleiner Junge eine Tränengasgranate der Polizei und nahm sie in den Mund.

Blumige Idylle. Nach diesen Vorfällen zog die Familie aus dem an der Pusherstreet grenzenden Viertel „Psyak“ in einen der ruhigeren Teile Christianias namens „The Dandelion“. Im Sommer blüht hier der Löwenzahn prächtig, daher der Name, erzählt Kasper. Inzwischen haben wir diesen Teil Christianias erreicht und wir stehen vor dem Haus, in dem er mit seiner Familie jahrelang gelebt hat. Es ist ein idyllischer Ort. Die bunten Holzhäuser sind aneinander gereiht, vor ihnen liegt ein großer, farbenprächtiger Garten; hinter den Häusern ein Stück Wald. Ein paar Schritte davon entfernt liegt einer der Seen Christianias. Auf dem Weg dorthin passieren wir Kaspers ehemaligen Kindergarten. Er erinnert sich gern an die Zeit dort. Die Volksschule besuchte er aber nicht hier, sondern in einer Schule, die direkt vor dem Eingang Christianias liegt. In seiner Klasse waren die meisten Kinder aus der Freistadt. „In der Schule hier hätten wir die ganze Zeit nur gesungen, das macht ja keinen Sinn“, meint Kasper. Wir sind am See angelangt und finden eine nette Stelle, an der wir uns mit unserem Kaffee niederlassen. Viele kommen hierher, um zu relaxen. „Es ist eigentlich schwer, ein schlechtes Bild von Christiania zu bekommen.“ Angesichts der Natur und des Sees mitten in der Stadt wirken Kaspers Worte nachvollziehbar. Jährlich kommen deshalb auch über eine Millionen BesucherInnen hierher. Ohne sie wäre die Freistadt nicht das, was sie ist – das wissen hier alle. Programm für TouristInnen gibt es deswegen auch zur Genüge. Dem typischen Bild des weltfremden Aussteigers entsprechen die ChristianierInnen somit nicht, denn isoliert sind sie von der Gesellschaft keineswegs. Manche von ihnen arbeiten und leben hier, viele von ihnen arbeiten jedoch außerhalb. „Christiania will nicht der Gesellschaft den Rücken kehren, aber irgendwie müssen wir das natürlich, weil sie einfach den Idealen hier widerspricht.“. Die vier Ideale, auf die sich Kasper bezieht, sind simpel: Keine Gewalt, keine Waffen, kein Diebesgut, keine harten Drogen. Wer gegen die Regeln verstößt, bekommt ein Ultimatum oder wird hinaus geschmissen. Wer zu harten Drogen greift, muss zum Beispiel auf Entzug gehen oder fliegt raus. Darüber wird im Kommunalrat entschieden. Die meisten Leute hier haben aber das Gefühl willkommen zu sein. Es ist keine geschlossene Community, meint Kasper.

Zwischen zwei Welten. Auch Kasper hat nicht sein ganzes Leben hier verbracht. Wie in vielen dänischen Familien üblich wurde er mit 16 Jahren aufs Land in ein Internat geschickt. Mit Vorurteilen hatte er dort kaum zu kämpfen. Seine MitschülerInnen haben ihn stets als „coolen Typen“ aus Christiania wahrgenommen. Viele nannten ihn „Hippie“, damit hatte er aber kein Problem. Auf die Frage was ihn am meisten hier geprägt habe, antwortet Kasper, dass er ein sehr positives Verhältnis zu Freaks habe, denn die gäbe es hier zur Genüge. „Ich rede gern mit schrägen Leuten“, schmunzelt er. Trotz skurriler Gestalten war Kasper und Anes Kindheit hier aber im Großen und Ganzen sehr normal. Es gab neben ihnen viele andere Kinder, mit denen sie spielen konnten. „Es war eine schöne Kindheit“. Doch diese liegt weit zurück. Kasper arbeitet momentan, so wie sein Vater früher, in einem Fahrradgeschäft, in dem die berühmten dreirädrigen Fahrräder hergestellt werden. Er spricht von einer Auszeit, bevor er zu studieren beginnt. Seine Eltern leben mittlerweile außerhalb Christianias. Nicht zu wissen, ob sie das Haus bei einer Räumung verlieren würden, stellte im hohen Alter eine zu große Belastung für sie da. Kasper selbst würde sehr gerne später einmal in Christiania wohnen, doch das ist schwer. Wer ein Haus hier haben will, muss zum lokalen Rat gehen, der darüber entscheidet, wer ein solches bekommt. Wird eines der Häuser frei, gibt es allerdings dutzende InteressentInnen. Junge wie Alte sind hier gleichermaßen stark vertreten. Der Traum vom befreiten Leben lockt auch noch vierzig Jahre nach Gründung der Freistadt zahlreiche Alternative her – ein Traum, der für das Leben der Kinder Christianias prägend war und den manch einer unter ihnen auch in der Gegenwart weiterträumt. Wenn auch nicht unbedingt in Christiania, fügt Kasper hinzu.

AutorInnen: Simone Grössing