Oktober 2014

Von fehlendem Halt zu Hass

  • 27.10.2014, 14:49

Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz kämpfen mit einer unsicheren Zukunft. Vom Alltag frustriert, sind sie besonders empfänglich für Vorurteile.

Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz kämpfen mit einer unsicheren Zukunft. Vom Alltag frustriert, sind sie besonders empfänglich für Vorurteile.

Jugendliche provozieren mitunter gerne. Wenn es sich dabei um menschenfeindliche Äußerungen und Taten handelt, etwa im Kontext von rechtem oder islamistischem Gedankengut, stellt sich die Frage, wo die Wurzeln dafür liegen, und wie damit umgegangen werden kann. Das Phänomen lässt sich keineswegs nur auf Jugendliche beschränken. Trotzdem lohnt es sich, einen genauen Blick auf die Herausforderungen zu werfen, denen sich jene Menschen stellen müssen, die politische Bildungsarbeit und Sozialarbeit mit Jugendlichen leisten.

Nicht erfüllte Bedürfnisse. In den Räumlichkeiten des Vereins Backbone, der mobile Jugendarbeit im 20. Wiener Bezirk leistet, wird regelmäßig gemeinsam gekocht. In gemütlicher Atmosphäre reden die Jugendlichen mit den SozialarbeiterInnen darüber, was ihnen gerade durch den Kopf geht und was sie bewegt. Viele der jungen Menschen hier kommen aus ökonomisch und sozial benachteiligten Verhältnissen, manche befinden sich weder in Ausbildung noch in einem Arbeitsverhältnis. Bei Backbone wird ihnen nicht nur Unterstützung bei der Suche nach einer Lehrstelle oder beim Bewerbungsgespräch geboten, sie können auch in ihrer Freizeit die Räumlichkeiten nutzen. Die Jugendlichen können bei der Gestaltung des Freizeitangebots von Backbone mitreden, Regeln gibt es kaum. Dieser offene Zugang ermöglicht es den SozialarbeiterInnen, die Jugendlichen in all ihren Facetten kennen zu lernen.

Nicht selten übertragen die Jugendlichen den Frust, der sich aus ihrem Alltag ergibt, auf andere und greifen dabei auf Vorurteile, die sie entweder aus dem Elternhaus, den Medien oder von FreundInnen kennen, zurück. „Wir sind mit menschenfeindlichen Parolen, Ressentiments gegen verschiedene Minderheiten, Nationalismen in unterschiedlichster Ausformung und mit religiös-extremistischem Gedankengut konfrontiert“, erzählt Fabian Reicher, einer der Sozialarbeite rInnen bei Backbone. Die Gründe für solche Äußerungen und die Neigung mancher Jugendlicher zu diesen Weltbildern sind aus seiner Sicht vielfältig. Man dürfe nicht vergessen, dass die Jugend auch ohne zusätzlich erschwerte Umstände eine Phase des Experimentierens mit schnell wechselnden Einstellungen und Vorlieben ist. Die Zeit zwischen 12 und 15 Jahren sei oft wechselhaft, wie er am Beispiel eines Mädchens, das er schon länger kennt, illustriert: Bis vor einigen Monaten hatte sie oft ein T-Shirt der Band Frei.Wild, die dem Rechtsrock zuzuordnen ist, getragen und deren Musik gehört. Dann wiederum sah er sie vergangenes Frühjahr auf einer Demonstration gegen die rechte Gruppierung Die Identitären.

Foto: Mafalda Rakoš

Im Klassenraum. Der Rechtsextremismus und Islamismus-Experte Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, pflichtet dieser Einschätzung bei: „Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, kann das zur Projektion etwa auf Juden, Muslime oder andere Gruppen führen. Je mehr man über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse weiß, desto geringer wird auch der Drang zur Projektion. Wenn Jugendliche in einem Milieu aufwachsen, das von physischer oder psychischer Gewalt geprägt ist oder in dem es kaum Anerken nung und Wertschätzung gibt, dann werden sie auch ein vergiftetes Selbstbild entwickeln.“ Peham ist seit 20 Jahren an österreichischen Schulen unterwegs, um Workshops zu Vorurteilen und Ressentiments zu halten. Diese Workshops sind Teil der politischen Bildung und sollen mitunter ein Beitrag zur Prävention sein. Für Peham liegt ein Problem darin, dass rechte Äußerungen oder Vorurteile oft nicht erkannt werden, etwa weil sie sehr indirekt oder undeutlich artikuliert werden. Aus seiner Erfahrung macht sich das vor allem unter jenen bemerkbar, die sich weiter oben in einer Bildungslauf bahn befinden und mit Rassismus oder Antisemitismus kokettieren. Dass LehrerInnen hier zu Sanktionen tendieren, liegt für Peham daran, dass ihnen schlicht die Zeit fehlt, um Vorurteile ausgiebig zu diskutieren. Die politische Bildungsarbeit kann hierfür Raum schaffen.

In seinen Workshops wird Peham mit unterschiedlichsten Vorurteilen konfrontiert. Aus seiner Erfahrung ist eines der häufigsten, dass alle AusländerInnen in der sozialen Hängematte liegen würden. Da solche Meinungen eben auch mit Emotionen verbunden sind, reicht es oft nicht, das nur faktisch zu widerlegen. Deshalb konfrontiert er die SchülerInnen auch mal mit unerwarteten Aussagen, wie: „Ich habe eigentlich selbst ein starkes Bedürfnis danach, versorgt zu werden.“ Das funktioniert zwar nicht immer, bringt manche aber dazu, sich dem Thema aus einer anderen Richtung zu nähern und so über die eigenen sozialen Verhältnisse anders nachzudenken. Dass in ein paar Stunden sämtliche Ressentiments, die mitunter bestehen, aufgelöst werden könnten, darüber macht sich Peham keine Illusionen. Er ist schon mit kleinen Erfolgen zufrieden. Besorgt zeigt er sich aber über eine Entwicklung, die er seit gut ei nem Jahr beobachtet: „Ein offensichtlicher Antisemitismus ist wieder bemerkbar, bis hin zu Mord und Vernichtungsphantasien.“

Begegnungen in Israel. Auch im Verein Backbone sehen sich die SozialarbeiterInnen immer wieder mit antisemitistischen Äußerungen jeglicher Art konfrontiert. Neben der alltäglichen Arbeit im Verein gibt es auch immer wieder Projekte, die es den Jugendlichen ermöglichen sollen, einen anderen Zugang zu sich und ihren eigenen Weltbildern zu bekommen. Im Herbst 2013 organisierte der Verein deshalb eine Reise nach Israel. Zwei Jugendliche sind mitgeflogen, deren Familien sich im Umfeld der Grauen Wölfe bewegen. Das ist eine rechtsradikale Gruppierung aus der Türkei, die auch antisemitische Positionen vertritt. Um sich auf die Reise nach Israel vorzubereiten, haben sich die beiden Jugendlichen einen Bart wachsen lassen, um sich abzugrenzen.

In Israel angekommen, haben sich die Erwartungen der beiden allerdings nicht bestätigt. „Zunächst waren sie überrascht über die Minarette, die sie dort gesehen haben. Auf der Straße sind sie außerdem laufend von Menschen gefragt worden, ob sie nicht mit ihnen gemeinsam beten wollen“, erzählt Reicher, der die Reise nicht nur mitorganisierte, sondern die Jugendlichen auch in Israel begleitete. So begannen die Jugendlichen bald festgefahrene Bilder neu zu überdenken. Es entwickelten sich auch Freundschaf ten. Dass sich durch die Reise bei den Jugendlichen etwas veränderte, steht für Reicher fest. Sie würden nun differenzierter mit vorgefertigten Ideen umgehen, die sie zuvor einfach übernommen hatten.

Foto: Mafalda Rakoš

Jugendlichen unterschiedliche Blickwinkel aufzuzeigen, ist für den Sozialarbeiter eine weitreichende Aufgabe: „Von Jugendlichen wird erwartet, dass sie sich von menschenfeindlichem Gedankengut abgrenzen. In Wirklichkeit fehlt es den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, aber an den Voraussetzungen dafür, nämlich an Bildung. Sie können sehr schwer differenzieren.“ Deshalb ist es für ihn auch nicht verwunderlich, dass die Jugendlichen die häufig ebenso undifferenzierten Medienberichte sofort auf sich beziehen. Manchmal kommen Jugendliche wütend zu Backbone und ärgern sich über die Berichterstattung in einer der U-Bahn-Zeitungen, die sie zuvor gelesen haben, erzählt Reicher. Ein Jugendlicher sagte etwa zu ihm: „Wenn alle meinen, ich sei ein Terrorist, werde ich irgendwann wie ein Terrorist.“

Selbstwirksamkeit. Um diesem Ohnmachtsgefühl etwas entgegenzusetzen, haben Reicher und seine KollegInnen vergangen Sommer gemeinsam mit den Jugendlichen ein neues Projekt organisiert. Als im Frühjahr und Sommer 2014 die Konflikte im Nahen Osten wieder ein Thema wurden, bemerkten die SozialarbeiterInnen bei Backbone, wie sehr sich die Jugendlichen damit beschäftigten und dass daraus ein Gefühl der Lähmung erwuchs. Daraufhin entstand die Idee, ein Spendenprojekt zu organisieren und den Jugendlichen damit eine Möglichkeit zu geben, aktiv zu handeln. Gemeinsam mit den SozialarbeiterInnen produzierten die Jugendlichen Marmelade und Chili-Öl und verkauften diese. Ein Teil des Erlöses ging an das Internationale Rote Kreuz. Der andere Teil ging an das Projekt „Oase des Friedens“, ein Dorf nahe Tel Aviv, das gemeinsam von Muslimas und Muslimen sowie Juden und Jüdinnen aufgebaut wurde und sich als Teil der Friedensbewegung begreift. Für Fabian Reicher war diese Aktion ein voller Erfolg: „Die Jugendlichen konnten so Wertschätzung, Anerkennung und Selbstwirksamkeit erfahren. Das hat es wiederum ermöglicht, emotionalisierte Themen zu versachlichen.“

 

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung und Lehramt Geschichte und Englisch an der Uni Wien.

Gewalt an der Grenze

  • 27.10.2014, 14:03

An der Straße von Gibraltar kommt es seit Monaten zu rassistischen Übergriffen. Jan Marot sprach mit der spanischen Flüchtlingshelferin Helena Maleno über die Hintergründe.

An der Straße von Gibraltar kommt es seit Monaten zu rassistischen Übergriffen. Jan Marot sprach mit der spanischen Flüchtlingshelferin Helena Maleno über die Hintergründe.

progress: Wie ist die aktuelle Situation der MigrantInnen in Boukhalef bei Tanger?

Helena Maleno: Man ist vom zivilen Terror eines mit Macheten bewaffneten radikalen Mobs zu institutioneller Gewalt übergegangen. Anstatt Täter zu verfolgen, kam es zu Festnahmen von Flüchtlingen. Konkret waren es 26 Personen, die es wagten, für mehr Schutz zu demonstrieren, was in Marokko unangemeldet verboten ist. Sie wurden verurteilt und mit regulären Linienflügen von Casablanca aus in ihre Herkunftsländer deportiert. Andere wurden direkt abgeschoben, oftmals ohne Gerichtsverfahren, ohne Feststellung ihrer Identität, ihrer Herkunft oder ihres Alters, ohne gesetzliche Garantien. Daher leben Flüchtlinge hier in permanenter Angst und Panik vor Attacken und Festnahmen. Wir fordern von Marokko ein, dass es die Konvention für migrantische ArbeiterInnen, die es unterzeichnet hat, auch umsetzt und über die bilateralen Verträge mit Spanien stellt. Letztere und der Druck seitens der EU sind für die Gewalt und Rechtlosigkeit verantwortlich. Das Einzige, was Brüssel und Madrid mit der Forcierung des Grenzschutzes erreichen, sind schreckliche Menschenrechtsverletzungen an der migrantischen Bevölkerung. Wir in Europa tragen Verantwortung für die Grausamkeiten, die MigrantInnen erfahren.

Hat die NGO Walking Borders ihre Sicherheitsmaßnahmen verschärft?

Natürlich. Dabei werden wir von der FrauenrechtsNGO OAKfoundation unterstützt. Sie helfen uns dabei, Migrantinnen zu schulen, was den Schutz vor sexuellen Übergriffen angeht. Das geht zwar mit einem Verlust der persönlichen Freiheit einher, ist aber absolut notwendig. Zudem sind wir nach all den rassistischen und oftmals sexuellen Gewaltakten der vergangenen Monate auch im Bereich der Traumabewältigung aktiv.

Welche Gruppen stehen hinter den Angriffen?

Es gibt drei Akteure. Die Hintermänner, die Aktionen planen, Macheten kaufen und Gruppen finanzieren. Sie richten sich an Kleinkriminelle, die Gewaltakte koordinieren und anführen. Hinzu kommen radikal-islamistische Elemente, die mit Parolen gegen MigrantInnen – zum Beispiel „Sie trinken Alkohol!“ und „Sie respektieren den Islam nicht!“ – Hass schüren und die Massen zusätzlich aufstacheln. Das spricht viele Jugendliche aus der Mittel- und Unterschicht an.

Gab es seitens der spanischen oder marokkanischen Institutionen Unterstützung für die Flüchtlinge?

Nein. Wir haben uns nicht viel erwartet. Die spanische Rechtsregierung und das Außenministerium haben nie von der marokkanischen Regierung Erklärungen zu den Übergriffen auf eine spanische Staatsbürgerin und Menschenrechtsaktivistin eingefordert. Politische und vor allem ökonomische Interessen stehen im Vordergrund. Das ist traurig, aber die Realität. Die spanische Regierung ignoriert ihrerseits das wiederholte, direkte Abschieben von Flüchtlingen an den Grenzen von Ceuta und Melilla. Hier wurde vom Gericht in Cadíz Anklage gegen den Guardia-Civil-Chef von Melilla erhoben. Ein weiteres Verfahren läuft, weil im Februar während eines Polizeieinsatzes in Ceuta 15 MigrantInnen ertrunken sind. Madrid ignoriert die Grundrechte von Flüchtlingen.

Wie steht es um die MigrantInnen an den Grenzen zu den spanischen Enklaven, die auf ihre Chance warten, den Wall zu überwinden?

Ceutas Lager sind seit 2006 weitgehend abgerissen. Hier gibt es, anders als am Monte Gurugu bei Melilla, wo große permanente Zeltlager existieren, nur temporäre Schlafplätze für jene, die den Sprung nach Spanien wagen. Es ist schwer, dort Hilfe zu leisten. Zuletzt haben wir daher unsere Kräfte gegen die Gewalt an der Grenze forciert. Am Grenzwall ist vor allem das Recht auf Leben gefährdet, weil das Gewaltpotenzial der Grenzwache enorm ist. Zudem halten wir die Augen offen, um auf Flüchtlingsschiffe, die in der Zone der Straße von Gibraltar in Seenot geraten sind, hinweisen zu können. Außerdem informieren wir die MigrantInnen über ihre Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf Gesundheitsversorgung, und leisten Aufklärungsarbeit gegen sexuelle Gewalt, für den Schutz vor Schwangerschaften und vor sexuell übertragbaren Krankheiten.

Kam es in der ngeren Vergangenheit am Grenzwall zu Todesfällen?

Ja, doch ich kann nur einen bestätigen. Ein Malinese starb bei einem Polizeieinsatz. Ein zweiter ist laut seinen Freunden nach einem Schlag auf den Kopf durch die Grenzwache Stunden später im Zeltlager wahrscheinlich an einer Hirnblutung gestorben. Wie verhält sich die Zivilgesellschaft? In zwischenmenschlicher Hinsicht ist die Solidarität groß, besonders seitens der ärmsten marokkanischen Schichten. Auch in Spitälern behandeln ÄrztInnen und PflegerInnen MigrantInnen kostenlos und ohne die Polizei einzuschalten. Dennoch spielt die Geschichte des Rassismus gegenüber schwarzen Menschen, die in der arabischen Welt und in Nordafrika über Jahrhunderte in erster Linie SklavInnen waren, eine Rolle. Dazu kommt, dass es den Regierenden ausgesprochen genehm ist, wenn sich schwache, arme Bevölkerungsgruppen gegeneinander richten und nicht gegen die MachthaberInnen. Sie könnten sich sonst ja gar gemeinsam wehren. Aber mit Positivem kann man gegen den Hass und den Rassismus arbeiten. Hier dienen afrikanische Läden, Cybercafés und der Sport, zum Beispiel Fußball, als Bindeglied.

Wie steht es um Demokratisierungsund Protestbewegungen in Marokko?

Man hat diese Bewegungen auseinandergenommen und ihre führenden Köpfe inhaftiert. Hinzu kommt die Angst durch die Negativbeispiele des arabischen Frühlings: Ägypten, Libyen und Tunesien geht es jetzt keineswegs besser als unter den früheren Autokraten. So denken viele: „Besser wir bleiben so, wie wir sind, als wir haben Krieg.“ So sind es vor allem junge MarokkanerInnen, die oft im Ausland studiert haben, die sich organisieren, um die Demokratisierung voranzutreiben. Die europäische Entwicklungshilfe blockiert diese Bestrebungen jedoch. Sie dient in erster Linie dazu, Europas Interessen zu festigen und soziale Bewegungen zu schwächen, statt Reformkeime zu unterstützen.

 

Das Interview führte Jan Marot.

 

Zur Person: Die spanische Flüchtlingshelferin und Migrationsoziologin Helena Maleno (44) arbeitet bei der NGO Walking Borders/Caminando Fronteras im nordmarokkanischen Tanger für MigrantInnen aus Subsahara-Afrika an Europas Südgrenze.

Helena Maleno auf Twitter: @HelenaMaleno

„Walking Borders/Caminando Fronteras“ auf Facebook.

OAK Foundation: oakfnd.org

 

Vom Wegschauen und Hinsehen

  • 23.10.2014, 03:12

Vom Wegschauen und Hinsehen

26. September 1980, München: Bei einem Anschlag auf das Oktoberfest werden 13 Menschen durch eine Bombe getötet, 211 werden verletzt. CSU-Rechtsaußen- Politiker Franz Josef Strauß macht im laufenden Bundestagswahlkampf sofort „linke Terrorgruppen“ für den Anschlag verantwortlich. Einer der mutmaßlichen Bombenleger stirbt vor Ort: Gundolf Köhler, Mitglied einer rechtsextremen paramilitärischen Gruppe.

Hier setzt der Film „Der Blinde Fleck“ an – ein mehrfach ausgezeichneter Spielfilm, der bei Erscheinen leider nur in wenigen Kinos zu sehen war. Erzählt wird die Geschichte des Rundfunkjournalisten Ulrich Chaussy (Benno Fürmann), der der offiziellen Version nicht glauben will. Während die Staatsanwaltschaft Gundolf Köhler nämlich zu einem Einzeltäter mit Sexualproblemen erklärt, versucht Chaussy, dessen Verbindungen in die rechte Szene aufzudecken.

Die These Chaussys: Köhler ist kein Einzeltäter. Es handle sich vielmehr um einen politisch motivierten Anschlag von rechts, der von den ermittelnden Behörden systematisch vertuscht wird. Im Spielfilm wird diese Vertuschung akribisch nachgezeichnet. Es wird vorgeführt, wie Beweismittel vernichtet werden, Zeug_innen von Behörden verunsichert und in den Selbstmord getrieben sowie geheime Informationen lediglich an ausgewählte, eingeweihte Journalist_innen weitergegeben werden.

Der Film beruht auf wahren Begebenheiten und stieß durchaus auf Widerstände. Auf der Suche nach Unterstützung habe man viele Absagen kassiert, schreibt Produzent Daniel Harrich auf der Website zum Film, derblindefleck-film.de. Passenderweise endet „Der Blinde Fleck“ mit dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrundes, einer rechten Terrorgruppe, die über Jahre Menschen mit Migrationshintergrund ermordete und der gerade am Oberlandesgericht München der Prozess gemacht wird. Die Polizei hatte zunächst jahrelang gegen die Hinterbliebenen der Opfer ermittelt, weil sie „Ausländerkriminalität“ vermutet hatte. Der blinde Fleck existiert also weiter.

Der Film ist am 23. 10. um 13:55 Uhr auf ARTE zu sehen und seit 13. Mai 2014 auf DVD und Blu-ray erhältlich.

Christian Bunke studiert Journalismus und Neue Medien an der FHWien.

Der ewige Kampf ums Heißen

  • 23.10.2014, 02:58

2014 war das Jahr der Diskussion über queer_feministische* Sprachpolitik. Was ist von der Reaktion auf Heinisch-Hoseks „Lernhilfe“, von Gabaliers Begehr nach einer Volksbefragung und vom Hashtag #wirsinddietöchter zu halten?

2014 war das Jahr der Diskussion über queer_feministische* Sprachpolitik. Was ist von der Reaktion auf Heinisch-Hoseks „Lernhilfe“, von Gabaliers Begehr nach einer Volksbefragung und vom Hashtag #wirsinddietöchter zu halten?

Splitting, das Binnen-I, die töchterintegrierende Bundeshymne und eine ÖNORM zur Festsetzung der männlichen Form waren in letzter Zeit Themen heftiger öffentlicher Auseinandersetzungen. Widerstände gegen das Binnen-I sowie seine sternigen Schwestern und die unterstrichigen Gegenzeichen zum normierten Sprach- und Schriftgebrauch sind immer wieder Gegenstand heftiger Attacken. Die Logik, die gemeinhin argumentative Auseinandersetzungen regeln sollte, scheint sich hier aufzulösen und es werden Aggressionen frei, die aus der Debatte eine verbale Schlacht auf einem theoretischen Fußballplatz machen. Sprachpolitische feministische Maßnahmen werden als widernatürlich und faschistisch angeprangert und aus ihrem basisdemokratischen Entstehungskontext gerissen. Ihre Gegner_innen inszenieren sich als unterjochte breite Masse, die unter den Ideen einiger Weniger leiden muss. Sie fordern die Abschaffung der unliebsamen Sprachspiele und wollen Regelungen, die dem unbequemen „Gendern“ Einhalt gebieten.

Objektiv sprechen? Witzeleien („Hauptfrau oder Nebenfrau?“), Übertreibungen („Wer braucht noch einE KugelschreiberIn?“), Abwertungen („Innen-Furz“), Vorwürfe („totalitäre Sprachpolizei“) und in letzter Konsequenz die Tradition und die „realen“ Probleme von Frauen werden gerne ins Feld geführt, um queer_feministische* Sprachpolitik abzuwerten. Gegner_innen wollen uns weismachen, dass unser Anliegen lächerlich und völlig unsinnig sei: Sprache sei nicht der Ort, an dem um Gleichbe rechtigung gerungen werden sollte. Sprache sei ein neutrales Mittel zur Kommunikation und solle nicht von Ideologien verändert und mit ideologischer Information überfrachtet werden. Oftmals wird sprachkritischen feministischen Positionen unterstellt, sie hätten den Bereich der Kritik verlassen und wären selbst zu totalitären Maßnahmen geworden, indem sie mit den „sprachlichen Reinheitsgeboten des Dritten Reichs“ assoziiert oder als „Sprachpolizei“ angeprangert werden.

Sprache als Politik. Eine Bewusstmachung von Machtverhältnissen und Missständen in der Gesellschaft, die sich in ihrer Sprache widerspie geln, ist per Definition unbequem. Sprachliche Sichtbarmachung von Frauen wollte zu Beginn der Frauenbewegung ebenso wie queere Schreibweisen heute Aufmerksamkeit schaffen und stören – sie waren und sind kritisch und nicht regulierend. Feminist_ innen nutzen die Sprache, weil sie sie als einen wichtigen Ort politischen Handelns erachten. Eine Erkenntnis, die sie mit dem politischen Mainstream teilen. Sprache und Politik sind von jeher untrennbar miteinander verbunden, denn Politik ist ein Kampf um ein interpretierendes Verändern der Welt und damit ein ewiger Kampf ums Heißen. Ich möchte nur an die 23 im EU-Beitrittsantrag Österreichs festgelegten Austriazismen („Paradeiser“) erinnern oder an den Einsatz beschönigender Terminologien für unschöne Praktiken („Freisetzen von Arbeitskräften“ statt „Entlassung“). Sprache steht immer schon im Zentrum politischen Handelns. Im Fall des Binnen-I und seiner Gap_Schwester*n wird um das Benanntwerden selbst gerungen. Es geht darum, Möglichkeiten zu schaffen, angesprochen zu werden und damit auch sein zu können.

Es macht aber einen Unterschied, aus welcher Posi tion heraus sprachpolitische Maßnahmen getroffen werden. Sind diese initiiert von Machtträger*n und motiviert von breit akzeptierten Ideologien, so werden auch Gegenstimmen laut, diese scheitern aber zumeist am Wall der empfundenen „Normalität“ und der gefühlten „notwendigen Zweckgebundenheit“ solcher Maßnahmen. Das gilt auch für queer_feministische* Sprachkritik und ihre Anliegen, denn sie werden als „ver-rückt“, als herausgerückt aus der Norm wahrgenommen und ihre Argumente als jenseits der Logik angesiedelt interpretiert. Dementsprechend emotional und wenig logisch gestalten sich dann auch die Diskussionen und Streitgespräche.

Gesprochene Utopie. Der Knackpunkt ist, dass im Fall von Sprachpolitik daran geglaubt wird, dass politisches Handeln ein „regulatives Prinzip Hoffnung“ (Seyla Benhabib), eine konkrete Utopie, braucht. Anders gesagt wurde das destruktive Meckern mit konstruktiven Vorschlägen angereichert, um einen Kampf ums Benanntwerden tatsächlich zu führen und ihn nicht nur als einen prinzipiell zu führenden aufzuzeigen. Feministisch*queere_ Sprachkritik braucht sprachplanerische Vorschläge jenseits sprachlicher Normen, um uns* ins Gespräch zu bringen. Im Fall von feministisch*queere_r Politik wurden „Richtlinien“ verfasst, die Denkstrukturen und konkrete sprachliche Möglichkeiten aufzeigen sollten. Im Kampf um breitere Anerkennung kommen sie mit Parteipolitik in Berührung, werden ideologisch vereinnahmt und zu normierenden Regelungen, die immer mehr vom ursprünglichen Anliegen entfremdet werden.

Es ist eine logische Konsequenz, dass nicht alle mit der Kritik und schon gar nicht mit den Normierungen einverstanden sind. Dass die Diskussionen häufig unter der Gürtellinie geführt werden und oft in Beschimpfungen oder gar Drohungen münden, ist widerlich, aber leider keine Seltenheit in emotionalen Auseinandersetzungen. Die Debatten zeigen aber auch, dass wir es geschafft haben, das politische Element der sprachpolitischen Maßnahmen lebendig zu halten und es nicht durch Regeln und Vorschriften ersticken zu lassen. So lange es ein Aneinandergeraten gibt, ist Politik „am Leben“ und „am Werk“. Es sind gerade die vereinfachenden Kategorisierungen, die politische Bewegungen im Keim ersticken, weil sie jegliche Veränderung als unangemessen, ideologisch und totalitär abtun. Es gibt kein besseres Zeichen dafür, dass queer_feministische* Sprachkritik und Sprachplanung nichts mit dem Tod von Politik zu tun haben, als dass es diese Streitereien gibt.

Karin Wetschanow ist Sprachwissenschaftlerin und Lektorin an der Uni Wien und arbeitet als Regisseurin im Verein „Erinnerungstheater Wien“.

 

Women on the Road

  • 23.10.2014, 02:46

Als Frau alleine reisen? Bis heute scheidet diese Frage die Geister. Vor allem wenn es um Regionen geht, die für Frauen* als problematisch gelten. progress hat mit drei jungen Frauen geredet, die alleine unterwegs waren – und es nicht bereut haben.

Als Frau alleine reisen? Bis heute scheidet diese Frage die Geister. Vor allem wenn es um Regionen geht, die für Frauen* als problematisch gelten. progress hat mit drei jungen Frauen geredet, die alleine unterwegs waren – und es nicht bereut haben.

Meryl, Stephi und Tessa haben zwei Dinge gemeinsam: Sie haben den Wunsch gefasst, alleine wegzufahren, und sie haben sich nicht durch Vorurteile davon abhalten lassen. „Der Grund für meine erste Soloreise war damals nicht mehr als ein vages Gefühl. Ich habe gespürt, dass ich mal Zeit für mich brauche – und zwar wirklich“, erzählt Tessa, die nun schon mehrmals alleine in Norwegen war. Die Frage, ob sie anfangs unsicher war, bejaht sie: „Davor habe ich nur Nachteile gesehen: niemand, den ich kenne, niemand, mit dem ich reden kann, niemand, der mir helfen kann.“ Aber schließlich war alleine unterwegs zu sein für Tessa befreiend und ungezwungen. „Du bist sowieso nie ganz alleine“, erklärt Meryl, die nach Südostasien und Indien gefahren ist. „Du triffst vor Ort Gruppen oder lernst einzelne Leute kennen, mit denen du etwas unternimmst. Das geht viel besser, wenn du solo unterwegs bist. Du kannst dich richtig in das Land fallen lassen.“ Meryl fuhr weg, weil sie eine Auszeit brauchte: „Irgendwie ist es mir in Österreich einfach zu viel geworden. Ich hab mir gedacht – einfach weg. Und dann bin ich sechs Wochen nach Thailand gefahren.“ Nicht alle können einen solchen Entschluss sorglos hinnehmen. Als Stephi nach Indien und Australien reisen wollte, löste sie einen Familienstreit aus.

Reisevorbereitungen. Um als Frau alleine sicher zu sein, ist es nicht unbedingt notwendig, die ganze Reise bis ins kleinste Detail durchzuplanen – ganz im Gegenteil. Als Meryl sechs Wochen lang durch Südostasien reiste, hatte sie nur zwei Dinge geplant: Hinflug und Rückflug. Alles dazwischen überließ sie dem Zufall und war erfolgreich. Ähnlich hielt es Stephi. Tessa hingegen wusste im Vorhinein immer zumindest, zu welchem Zeitpunkt sie in welcher Stadt sein und wo sie unterkommen würde. Sie informierte sich davor aber kaum über die Städte: „Bei der Tagesplanung bin ich spontan. Ich will mich von der Stadt überraschen lassen und möglichst ohne vorgefertigtes Bild im Kopf hinfahren, damit ich einen eigenen Eindruck von der Stadt bekomme.“ Alle drei bekamen vor Ort oft Rat von anderen Tourist_innen oder Einheimischen – darunter auch „Geheimtipps“, die in keiner Reiseführerin erwähnt werden.

Spontan blieb Meryl auch auf ihrer zweiten Reise. Ursprünglich wollte sie nach Nordindien, doch dafür war sie zu kalt angezogen. „Ich dachte, ich könnte warmes Gewand am Weg kaufen, aber dazu war ich noch nicht weit genug im Norden.“ Schließlich ist sie umgekehrt und hat den Süden bereist, bis hin zu einer kleinen Inselgruppe vor der Küste Indiens, wo sie tauchen war. Auch wegen der günstigen Unterkünfte in Indien war es für Meryl nicht so wichtig vorauszuplanen wie für Tessa in Norwegen. Tessa wohnte dort oft in halbprivaten Unterkünften, um sich die Reise leisten zu können. Sie verließ sich bei der Wahl ihrer Unterkünfte auf ihr Bauchgefühl und fand über Airbnb und Couchsurfing Gastgeber_ innen. Durchs Couchsurfen können auch Reisen in teure Länder erschwinglich werden, hier bekommt frau auch alleine leichter eine Unterkunft. „Leute sind zu Frauen oft netter und hilfsbereiter“, meint Tessa, die sich im Vorfeld oft Gedanken über ihre Sicherheit gemacht hat.

Kennenlernen. Das wohl größte Abenteuer für alle drei war das Zusammentreffen mit anderen Menschen. „Ich bin relativ schüchtern“, meint Tessa, während sie von ihren Erlebnissen mit Fremden berichtet. Für sie war es ein Sprung ins kalte Wasser, der sich mehrfach bewährt hat. So lernte sie auf einer Zugfahrt jemanden kennen, der in einer Band spielt, und wurde von ihm zum Konzert und zu einer Backstageparty eingeladen. Zug- und Busfahrten so wie gemeinsame Ausflüge sind gute Möglichkeiten, andere nicht nur oberflächlich kennen zu lernen.

Auch Meryl berichtet von einer Fahrt im Zug, auf der sie sich für 24 Stunden mit zehn fremden Menschen ein Liegeabteil teilte. Überrascht hat sie, wie nah sie in solchen Situationen den anderen kam: „Obwohl wir alle aus unterschiedlichen Kontexten gekommen sind, haben wir alles gemeinsam gemacht – Essen geteilt und gemeinsam gegessen, auf ein Kind aufgepasst, miteinander geredet und einander trotzdem Freiraum gegeben. Nachdem ich aus dem Zug ausgestiegen bin, hab ich wieder niemanden gekannt. Eine schräge Erfahrung.“

Für Stephi war ihre Reise auch eine Möglichkeit, eine neue Sprache zu lernen: Hindi. „Im Vorfeld haben mir alle gesagt, dass in Indien alle Englisch reden. Ich hab’ dann aber eine Zeit lang mit Nepales_ innen zu tun gehabt, die in der Schule nur Hindi gelernt haben und kein Englisch.“ Meryl sprach zwar nicht Thai, dafür aber viel Englisch. „Irgendwann wollte ich nicht mehr auf Deutsch mit anderen reden. Ich habe sogar auf Englisch gedacht und auch mein Reisetagebuch auf Englisch geführt.“

In einer weiteren Hinsicht sind sich alle drei einig: Sie fielen als alleine reisende Frauen auf. Stephi meint, dass das in Australien am wenigsten der Fall gewesen sei, da sehr viele Frauen aller Altersgruppen alleine dorthin fahren. Einige Male fungierten Männer temporär als „Beschützer“, wenn sie zum Beispiel darauf bestanden, sie zum Markt zu begleiten, weil sie Angst um sie hatten. Für Stephi eine seltsame Erfahrung. Sie selbst wirkte auch als positives Vorbild: „Es war schön zu sehen, dass die indischen Mädchen, die total behütet aufwachsen – Mädchen aus reichen Familien werden behandelt wie Prinzessinnen –, das bei mir gesehen haben und dann gesagt haben, dass sie auch einmal alleine verreisen möchten.“

Keine Angst. Stephi fiel im Norden Indiens auf: „Ich war eindeutig Ausländerin, aufgrund meiner Sprache und meines Verhaltens. Aber wenn ich mich indisch gekleidet habe, bin ich gut untergetaucht.“ Manchmal fühlte sich Stephi in Indien sogar wohler als in Wien, wo sie schon öfter belästigt wurde. „Von Indien sagt man, dass Frauen dort nicht respektiert werden. Ich hatte dort aber eher das Gefühl, dass ich nicht angeschaut werde, wenn ich das nicht will“, meint Stephi. „Ich wurde nicht angegriffen. Die Männer waren viel vorsichtiger im Umgang mit mir, aber wahrscheinlich ist das auch lokal unterschiedlich.“ Gleichzeitig mit Stephis Indienreise waren Beiträge in Medien präsent, die von den Vergewaltigungen an Frauen und auch an Touristinnen in Indien berichteten. Viele davon wirkten für Frauen angstmachend. Dass der Situation in Indien so große mediale Auf merksamkeit zukam, findet sie aber auch positiv, weil dies auf eine Veränderung im Land zurückzuführen sei. Viele Freund_innen, die sie damals kennenlernte, gehen jetzt auf Demos für Frauenrechte und gegen die Tabuisierung von Sexualität.

Viele der Ängste, die Frauen betreffen, die alleine reisen, drehen sich um sexualisierte Gewalt, die durch Medienberichte über Vergewaltigungen vor allem mit asiatischen Ländern in Verbindung gebracht wird. Stephi machte, um Selbstbewusstsein zu tanken und um zu wissen, dass sie in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf bewahren kann, vor ihrer Abreise einen Selbstverteidigungskurs. Zu lernen, sich bei Übergriffen zu wehren, kann gut tun. Um mit lokaler Diskriminierung umgehen zu können, empfiehlt Stephi auch sich auf die religiösen und kulturellen Eigenschaften eines Landes vorzubereiten, vor allem, was Traditionen der Bekleidung betrifft. „Ein Bikini ist in Indien weniger als normale Unterwäsche. Das muss dir vorher klar sein.“

Viele Gefahren, die Frauen auf Reisen betreffen, gelten genauso für Männer, weshalb sich Stephi darüber ärgert, dass vor allem Frauen Angst gemacht wird. Sie erzählt von dem einzigen Mal, als sie in Indien wirklich Angst hatte – und das war nicht die Schuld von Menschen. „Einmal bin ich um fünf in der Früh laufen gegangen und wohl durch das Revier von Affen gekommen, die mich angeschrien und mit Zapfen und Nüssen nach mir geworfen haben.“

Dass es Situationen gibt, die vor allem für Frauen unangenehm sind, können die drei allerdings nicht abstreiten. Auch Tessa machte in Norwegen unangenehme Erfahrungen mit einem Mann, der ein „Nein“ nicht akzeptieren wollte, als sie abends Biertrinken war. Die Situation ging glimpflich aus und stellt für Tessa eine Ausnahme dar, da sie beobachtete, dass Männer in Norwegen im Allgemeinen ein „Nein“ besser verstehen als in Österreich. Ein unangenehmes Gefühl bleibt für sie trotzdem, wenn sie an den Vorfall zurückdenkt. Auch Meryl mied bestimmte Situationen – beispielsweise nachts allein am Strand unterwegs zu sein. Das Wichtigste sei, sich darauf einzustellen und immer selbstbewusst aufzutreten, egal ob in Verhandlungen mit dem Taxifahrer oder alleine auf der Straße. Falls es dennoch zu einem Übergriff kommt, ist es wichtig, sich nicht selbst die Schuld daran zu geben. In allen Ländern, in denen Frauen als schwach gelten, gibt es solche Probleme – Belästigung, Übergriffe oder auch Vergewaltigung. Doch aus Angst zu Hause bleiben sollten Frauen auf keinen Fall, da sind sich Stephi, Meryl und Tessa einig.

Magdalena Hangel lebt in Wien, schreibt an ihrer Doktorinnenarbeit im Bereich der Germanistik.

www.women-on-the-road.com

wikitravel.org/

Stephis Reiseblog: www.mahangu.com/trip/AFD/waypoint-1

 

 

Geschirrspülen wie ein Zwergenmagier

  • 23.10.2014, 02:25

„Game over“ oder „mission accomplished“? Wie Gamification die Lern- und Arbeitswelt verändert.

„Game over“ oder „mission accomplished“? Wie Gamification die Lern- und Arbeitswelt verändert.

Die Redewendung „Nun beginnt der Ernst des Lebens!“ erinnert an erste Schultage oder an den mit jedem Semester näher rückenden Studienabschluss. Die vermeintlich von Spiel und Spaß geprägte, sorglose Kinder- und Jugendzeit wird dadurch dem Ernst der Erwachsenenwelt gegenübergestellt. Eine moderne Leistungsgesellschaft unter den Prämissen der Seriosität und Funktionalität negiert jedoch eine der ureigensten Eigenschaften des Menschen: Wir haben gerne Spaß an den Dingen, die wir machen. Wir spielen gerne – ein Prinzip, das sich im digitalen Zeitalter gesellschaftlich manifestiert, nämlich in der Symbiose von Ernst und Spiel unter dem Überbegriff „Gamification“.

Gamifizierte Anwendungen nutzen die menschliche Tendenz, sich an Spielen zu beteiligen, aus, um Menschen zu motivieren, Tätigkeiten zu verrichten, die normalerweise als langweilig, monoton oder lästig betrachtet werden. Sie binden Prinzipien des Spieldesigns und Spielmechaniken in spielfremde Anwendungen und Prozesse ein. Die Anwendungsgebiete sind dabei schier unbegrenzt und reichen von Marketingkampagnen bis hin zu medizinischen Anwendungen.

Lauf, Gabarello, lauf! Ein eindrucksvolles Beispiel mit dem Namen „Gabarello“ stammt aus einem Züricher Kinderspital, das auf Motoriktherapie spezialisiert ist. Hier lernen Patient_innen, die ihre Beine nicht mehr oder nur teilweise bewegen konnten, das Laufen neu. Vor allem Kinder haben häufig damit zu kämpfen, dass sich Erfolge meist nur quälend langsam einstellen. Daher haben Forscher_innen nun Therapiegeräte mit einem Videospiel verbunden. Je mehr sich Patient_innen selbst bewegen, desto höher und weiter springt ein kleiner Astronaut, der einen liebevoll gestalteten Planeten erkundet und dabei ähnlich wie bei „Pac-Man“ Punkte einsammelt. Das Therapiegerät wird dabei zu einem Videospielcontroller und motiviert dadurch jene, die einen langwierigen Genesungsprozess durchmachen.

Ein weiteres Beispiel liefert die iPhone-App „EpicWin“, eine Kombination aus To-Do-Liste und Rollenspiel. Unter dem Motto „our lives are full of quests“ lassen sich mit dem Abarbeiten der eigenen To-Do-Liste Erfahrungspunkte für einen virtuellen Charakter sammeln: 50 Erfahrungspunkte für einen Besuch im Schwimmbad, 100 Erfahrungspunkte fürs Abschicken „Game over“ oder „Mission accomplished“? Wie Gamification die Lern- und Arbeitswelt verändert. der Seminararbeit und einen neuen Zauberstab als Gegenleistung für sauberes Geschirr. Der Alltag wird zum Abenteuer.

An diesen Beispielen ist ersichtlich, dass gamifizierte Anwendungen darauf abzielen, unser Verhalten zu ändern. Das Anwendungsgebiet ist jedoch nicht auf den digitalen Bereich beschränkt. So testete die Swedish National Society for Road Safety eine sogenannte „Speed Camera Lottery“, die eine Spielmechanik in Geschwindigkeitskontrollen miteinbezieht. Das Radargerät blitzt dabei alle vorbeifahrenden Autofahrer_innen. Wie gewohnt zahlen Raser_innen ihre Strafen. Das dabei eingenommene Geld fließt jedoch nicht zur Gänze an den Fiskus, sondern wird zum Teil über ein Belohnungssystem unter jenen Verkehrsteil- nehmer_innen verlost, die sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten. Die Durchschnittsgeschwindigkeit reduzierte sich während des Experiments von 32 km/h auf 25 km/h. Es trug somit entscheidend zu einer Verkehrsberuhigung bei.

Bereits seit den 1960er Jahren punktet das Unternehmen Weight Watchers bei Menschen, die Gewicht verlieren wollen, mit Methoden, die heutzutage auch in Multiplayer-Spielen zur Anwendung kommen. Mit Fortschrittsberichten (vergleichbar mit Level-ups), der Möglichkeit, an besonderen Herausforderungen teilzunehmen (Quests) und sich mit anderen zu messen (Rankings), baut die Methode auf spielerischen Elementen auf.

Splat that Sperm! Gamification im weiteren Sinne umfasst auch spielerische Zusammenhänge, wie sie Serious Games bieten. Darunter versteht mensch digitale Spiele, die nicht primär oder ausschließlich der Unterhaltung dienen, wohl aber derartige Elemente enthalten. Gemein haben Serious Games – sowie auch Lernspiele – das Anliegen, Information und Bildung in Zusammenhang mit Unterhaltungsaspekten zu vermitteln. Als Beispiel lässt sich das Handy game „SpermEX“ des Wiener Entwicklerstudios ovos nennen. Auf spielerische Weise sollen Jugendliche dabei alles Wesentliche zum Thema Safer (Hetero-) Sex und Verhütung lernen. Mit einem Klick zerplatzt das Spermium auf dem Weg zur Eizelle. Eine ungeplante Schwangerschaft oder eine Infektion durch Geschlechtskrankheiten gilt es zu verhindern. Aufgeklärten Spieler_innen stehen dazu neun mächtige Verhütungs-Power-ups zur Verfügung – vom Kondom bis zur Vasektomie. Fundiertes Wissen vermittelt ein virtuelles Lexikon zum Durchblättern. Bewertungen wie „Super Spiel! Und man lernt dabei sogar noch was“ oder „Ich finde das spiel ist pervers doch finde es sehr gut“ lassen erahnen, dass das Spiel in der Zielgruppe gut ankommt.

Schöne, neue Arbeitswelt. Als Instrument zur Beeinflussung von Verhaltensmustern und Motivationskurven finden gamifizierte Prozesse auch Anwendung in Unternehmen. Schon länger bekannt sind beispielsweise Auszeichnungen zum_r Mitarbeiter_in des Monats inklusive Belohnungen. Für moderne Fabriken werden Maschinen entwickelt, die Highscores aufzeichnen oder mit rhythmischen Sounds aus „Super Mario“-Spielen die Fließbandarbeiter_innen zu Höchstleistungen animieren sollen. Gerade diese Umleitung unternehmerischer Ziele in die intrinsische Motivation von Angestellten stellt jedoch die Schattenseiten der Gamifizierung zur Schau: So wurde die Arbeitsgeschwindigkeit von Putzpersonal in einem Disney-Hotel im amerikanischen Anaheim auf einer gigantischen öffentlichen Leinwand angezeigt und verglichen. Die Mitarbeiter_innen nannten das System „electronic whip“, die elektrische Peitsche. Ein Game over in der Videospielwelt hat keine Konsequenzen. In der Realität hingegen haben die Menschen schlicht und einfach keine Restart-Funktion zur Verfügung.

Klemens Herzog studiert Journalismus und Neue Medien an der FH der Wirtschaftskammer Wien.

 

„The Speed Camera Lottery“: www.youtube.com/watch?v=iynzHWwJXaA
„SpermEX“: http://www.ovos.at/portfolio/125,spermex.html

gabarello.zhdk.ch

www.youtube.com/watch?v=iynzHWwJXaA

www.ovos.at/portfolio/125,spermex.html

articles.latimes.com/2011/oct/19/local/la-me-1019-lopez-disney-20111018

 

Petzt doch!

  • 23.10.2014, 01:52

Fast 200.000 StudentInnen absolvieren jährlich Praktika, meistens unter prekären Bedingungen. Jetzt gibt es eine Möglichkeit, diesem System entgegenzuwirken. Ein Interview mit Veronika Kronberger von der Plattform Generation Praktikum.

Fast 200.000 StudentInnen absolvieren jährlich Praktika, meistens unter prekären Bedingungen. Jetzt gibt es eine Möglichkeit, diesem System entgegenzuwirken. Ein Interview mit Veronika Kronberger von der Plattform Generation Praktikum. 

progress: Man spricht heute oft von der „Generation Praktikum“. Gibt es überhaupt noch eine Möglichkeit, ohne Praktikum im Lebenslauf nach der Ausbildung einen Job zu bekommen?

Veronika Kronberger: Nein, die gibt es nicht. Es wird von den ArbeitgeberInnen inzwischen erwartet, dass man Berufserfahrung mitbringt. Daran ist einerseits die Bildungsexplosion in den 70er Jahren Schuld und andererseits auch die Wirtschaftskrise. Konkret bedeutet das, dass ein Überangebot an qualifizierten ArbeitnehmerInnen einem Markt mit zu wenig freien Arbeitsplätzen gegenübersteht. Die Anforderungen der ArbeitgeberInnen werden dadurch immer höher: Neben einem Studienabschluss müssen BewerberInnen heute auch noch jede Menge Berufs- und Auslandserfahrung und vorzugsweise Kenntnis mehrerer Sprachen vorweisen können. Dass sich die Jobsuche heute als so schwierig gestaltet, wird später natürlich auch zu einem volkswirtschaftlichen Problem: Denn in der Regel dauert es drei Jahre bis JungakademikerInnen in ein unbefristetes Dienstverhältnis einsteigen, bei 25 Prozent sogar fünf Jahre. Bei unserem derzeitigen Pensionssystem sind die Folgen davon dann allerdings weitreichend: Wenn zu wenig Pensionsjahre gesammelt werden, werden immer mehr Menschen unserer Generation zukünftig von Altersarmut betroffen sein.

Warum werden Praktika oft als prekär bezeichnet?

Das Problem ist in den meisten Fällen, dass viele Praktika, die als solche ausgeschrieben werden, in der Realität keine echten Praktika sind, sondern schlichtweg versteckte herkömmliche Dienstverhältnisse. Unternehmen schreiben ihre freien Stellen als Praktika aus, um Personalkosten zu sparen. 60 Prozent aller ab solvierten Pflichtpraktika sind in Österreich unbezahlt. De facto werden so arbeitsrechtliche Bestimmungen umgangen und das ist illegal. Bei den freiwilligen Praktika ist die Situation ähnlich: Davon gelten zwei Drittel als unbezahlt. Unternehmen vernichten damit die eigentlichen Arbeitsplätze. Ein großes Problem ist auch, dass jene, die sich diese unbezahlten Praktika nicht leisten können, nach dem Studium Schwierigkeiten beim Jobeinstieg haben. Das führt zu sozialer Selektion. Das betrifft keineswegs nur StudentInnen, beinahe alle Bildungsschichten sind mit dieser Praktikums-Problematik konfrontiert.

Wie erkenne ich als PraktikantIn, ob mein Praktikum auch tatsächlich ein solches ist?

Das wesentliche Kennzeichen von Praktika ist der Ausbildungscharakter. Ein Praktikum sollte eigentlich zur Hälfte aus Arbeit und zur Hälfte aus Ausbildung bestehen. Es dürfen außerdem keine fixen Dienstzeiten gelten und es darf kein eigener Arbeitsbereich vorgesehen sein. Denn PraktikantInnen sollen in erster Linie in den Arbeitsmarkt hineinschnuppern.

Gibt es auch Möglichkeiten, diesem System entgegenzuwirken?

Das schwerwiegendste Problem war bisher, dass junge Menschen keine Möglichkeiten hatten, diesem rechtswidrigen System ein Ende zu bereiten, ohne dabei Gefahr zu laufen, dass ihnen der Eintritt in eine bestimmte Berufsbranche verweigert wird. Die gute Nachricht ist, dass das ab sofort möglich ist: Denn wir von der Plattform Generation Praktikum haben zusammen mit dem Sozialministerium und der GPA-djp die sogenannte watchlist-praktikum.at ins Leben gerufen. Diese „Watchlist“ macht es möglich, Unternehmen, die ihre PraktikantInnen unter illegalen Bedingungen beschäftigen, zur Rechenschaft zu ziehen. Das Ganze funktioniert so: Wenn Bedenken bezüglich der eigenen Praktikumsanstellung vorliegen, gibt es online die Möglichkeit, anonym ein Formular auszufüllen, das an die Gebietskrankenkasse weitergeleitet wird. Diese prüft dann unter dem Deckmantel einer Stichprobenkontrolle, ob es sich tatsächlich um eine Praktikumsanstellung handelt. Bewahrheitet sich der Verdacht, werden vermeintliche PraktikantInnen rückwirkend sozialversichert und bekommen das vorenthaltene Gehalt rückerstattet. Dadurch sollen die Rechte von jungen Menschen in der Arbeitswelt gestärkt und faire Arbeit zu fairem Lohn garantiert werden.

Welche Bilanz zieht ihr für das Projekt „Watchlist“?

Es hat sich gezeigt, dass die Idee fruchtet. Seit Juli 2014 gibt es die Seite und es wurden bereits 100 Unternehmen gemeldet, bei denen die Praktikumssituation als bedenklich einzustufen war. Wir sind selbst überrascht – oder besser gesagt – schockiert, denn die Lage ist tatsächlich schlimmer als erwartet. Das Beste ist natürlich, sich immer im Vorhinein abzusichern. Das heißt konkret: Bevor ein Dienstverhältnis eingegangen wird, den Praktikumsvertrag genau zu prüfen. Die ÖH und die Arbeiterkammer bieten solche Prüfungen kostenlos an.

Wie wird noch versucht, aktiv Hilfe zu leisten?

Sehr wichtig war uns bei der Gründung 2006, diese Thematik publik zu machen und eine stärkere mediale Verbreitung zu erreichen. Damals wurden schließlich auch erste Studien durchgeführt, vorher hatte es gar keine empirischen Untersuchungen in Österreich gegeben. In letzter Zeit sind wir aber auch politisch aktiv geworden: Wir lobbyieren und organisieren Veranstaltungen zum Thema. Natürlich ist unsere Organisation auch durch Service geprägt. Wesentlich ist für uns, die Probleme der „Generation Praktikum“ sichtbar und vor allem greifbarer zu machen.

Das Interview führte Anne Schinko.

 

Vertragscheck

Die ÖH bietet gemeinsam mit der GPA-djp Jugend den Vertragscheck an. Hilfe gibt es zu Fragen rund um Arbeitsverträge, Arbeitsrecht, ArbeitnehmerInnenschutz, Versicherung, Dienstverhältnisse und KonsumentInnenschutz. Terminvereinbarung: vertragscheck@oeh.ac.at

Gütesiegel Praktikum

Um zukünftigen PraktikantInnen ein faires Praktikum zu ermöglichen, hat die ÖH gemeinsam mit anderen Interessensvertretungen das „Gütesiegel Praktikum“ ins Leben gerufen. Unternehmen, die PraktikantInnen unter guten Bedingungen anstellen, werden mit dem Gütesiegel ausgezeichnet. www.oeh.ac.at/guetesiegel

Kurzschluss: Männerhirne, Frauenhirne

  • 23.10.2014, 01:38

„Männer reden wenig und Frauen können nicht einparken“ – so seien sie eben programmiert. Doch die Suche nach Geschlechterunterschieden im Gehirn ist nicht so einfach wie oft dargestellt.

„Männer reden wenig und Frauen können nicht einparken“ – so seien sie eben programmiert. Doch die Suche nach Geschlechterunterschieden im Gehirn ist nicht so einfach wie oft dargestellt.

Wir begegnen ihnen immer öfter: bunten Bildern von Gehirnen mit Farbverläufen von dunkelblau über rot bis hin zu weiß, die anzeigen, welche Hirnregionen gerade besonders aktiv sind. Wir alle haben schon gehört, dass Frauen und Männer unterschiedlich „verkabelt“ seien, dass ihre Gehirne unterschiedlich funktionieren würden. Frauen zum Beispiel hätten ausgeprägtere Sprachzentren, aber ein schwächer entwickeltes räumliches Vorstellungsvermögen.

Die Kombination dieser beiden Phänomene – Gehirnforschung und Geschlechterstereotypen – wird spätestens seit Cordelia Fines Buch „Die Geschlechterlüge“ als Neurosexismus bezeichnet. Neurosexismus hat viele Facetten – von plumpen Aussagen wie „Männer sind von Natur aus so!“ bis hin zur mehr oder weniger subtilen und oft unbewussten Suche nach Geschlechterunterschieden in den modernen Neurowissenschaften.

Konstruierte Gehirnbilder. Tatsächlich ist die Verbindung von gesellschaftlichen Stereotypen und wissenschaftlicher Forschung nichts Neues. So hat etwa die Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger gezeigt, dass schon im 18. und 19. Jahrhundert Befunde und Interpretationen zu menschlichen Skeletten und Schädeln häufig an die Überzeugung angepasst wurden, dass „Männer“ intellektuell weiter entwickelt seien als „Frauen“ – und „Weiße“ weiter als „Schwarze“.

Nach wie vor sind Wissenschaft und gesellschaftliche Vorstellungen eng miteinander verbunden. Zum einen liegt das daran, dass wissenschaftliches Wissen einen besonders hohen Stellenwert genießt und zum anderen daran, dass neue Technologien den Eindruck vermitteln, wir könnten direkt ins Gehirn blicken und so „die Wahrheit“ unmittelbar wiedergeben. Etwa im Fall der Magnetresonanztomographie (MRT), bei der mit Hilfe von Magnetfeldern ein Bild des menschlichen Gehirns erstellt wird. Sigrid Schmitz, Biologin und Professorin für Gender Studies an der Universität Wien, erklärt dazu: „Beim Erstellen von Gehirnbildern muss eine ganze Reihe von Entscheidungen darüber getroffen werden, welche Gehirnfunktionen und -strukturen betrachtet werden, welche Vergleichsgruppen gewählt und anhand welcher Merkmale Unterschiede bestimmt werden. Gehirnbilder sind Konstruktionen, und auch gesellschaftliche Vorstellungen spielen eine große Rolle in ihrer Produktion.“

Ein Beispiel dafür ist die Annahme, dass es (für Hirnstudien und allgemein) zwei klar definierte Gruppen gäbe, die in sich homogen seien, zwischen denen es aber große Unterschiede gäbe: Männer und Frauen. So muss bei vielen Gehirnscangeräten zuerst einmal eingestellt werden, ob die Testperson männlich oder weiblich ist, bevor das Gerät überhaupt in Betrieb genommen werden kann. Auf diese und andere Arten beeinflussen gesellschaftliche Vorstellungen die wissenschaftliche Wissensproduktion. Ob nun unsere Gehirne männlich oder weiblich verkabelt sind oder nicht: Die wissenschaftlichen Apparate, die dies untersuchen sollen, sind es auf jeden Fall.

Henne oder Ei? Doch wie sieht es mit den Gehirnen selbst aus? Verschiedene Befunde sprechen dafür, dass „Geschlecht“ im Gehirn ein weit komplexeres Phänomen ist als gemeinhin behauptet. So argumentieren etwa Gina Rippon und andere, dass es zwischen den beiden Gruppen „Männer“ und „Frauen“ oft wesentlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gäbe und umgekehrt innerhalb dieser Gruppen eine signifikante Bandbreite an neurologischen Ausprägungen. Sigrid Schmitz meint, die moderne Hirnforschung sei oft auf „Unterschiedsforschung“ fokussiert und verstärke damit die Annahme der fundamentalen Andersartigkeit von Männern und Frauen.

Außerdem ist normalerweise nicht das ganze Gehirn einfach „männlich“ oder „weiblich“. Vielmehr hat eine Person praktisch immer einige Areale, die eher dem statistischen Mittel für „weibliche“ Gehirne entsprechen, und andere, die statistisch eher „männlich“ sind. Dieses Mosaik verschiedener Aspekte lässt sich nicht einfach auf „männlich“ oder „weiblich“ reduzieren.

Verhaltensweisen und Eigenschaften variieren außerdem in Abhängigkeit vom kulturellen und historischen Kontext, in dem wir leben, und der spezifischen Situation, in der sie abgerufen werden. So haben Experimente zu Empathie gezeigt, dass Männer umso schlechter abschneiden, je klarer ist, dass es um Empathie geht. Allerdings verschwindet dieser (stereotype) Nachteil, wenn gute Ergebnisse mit Geld belohnt werden. Finanzielle Anreize können also Männer dazu bringen, sich aus ihrer kulturellen Position, in der Empathie als typisch weibliche Eigenschaft gesehen wird, herauszubewegen – ganz ohne Gehirntransplantation.

Ein weiteres wichtiges Konzept in der kritischen Reflexion von Hirnforschung ist die Hirnplastizität: Das Gehirn stellt nämlich nicht – wie häufig angenommen – einfach die Basis unseres Verhaltens dar. Unser Verhalten ist zum Teil die Basis unserer Gehirnentwicklung. Menschliche Gehirne sind an keinem Punkt in unserem Leben fix ausgeprägt, sondern werden aufgrund unserer Erfahrungen ständig umstrukturiert: Ohne Plastizität, also Formbarkeit, könnten wir nichts Neues (er)lernen. Wenn also gesellschaftlich davon ausgegangen wird, dass „Männer“ besser in Mathematik sind als „Frauen“, dann hat diese Vorstellung einen Einfluss darauf, was und wie sie Mathematik lernen (können). Und unser Gehirn stellt sich – in seiner physischen Zusammensetzung – darauf ein.

Das bedeutet nicht, dass Buben bewusst dazu erzogen werden, besser in Mathematik zu sein. Trotzdem wird diese Vorstellung zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking beschreibt solche Vorgänge als „looping effects“, also Rückkoppelungseffekte: Gesellschaftliche Vorstellungen beeinflussen den Aufbau unserer Gehirne, auf Basis derer dann neurowissenschaftliche Studien etwa zu dem Ergebnis kommen, dass Männer besser in Mathematik seien – wodurch sich das Stereotyp wieder verstärkt. Die Biologie unserer Gehirne – ihr tatsächlicher Aufbau – ist gesellschaftlich beeinflusst, und der Aufbau unserer Gehirne beeinflusst gesellschaftliche Vorstellungen. Die Frage nach Gehirnen und Normen ist wie die nach der Henne und dem Ei.

Pinke und blaue Rosinen. Auch die Darstellung von Hirnforschung in populären Medien beeinflusst gesellschaftliche Normen. So benützen Bücher wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ neurowissenschaftliche Ergebnisse oft sehr selektiv, um ein bestimmtes Bild zu erzeugen. Während in den Neurowissenschaften verschiedene – auch kritische – Zugänge, Ergebnisse und Interpretationen zu Geschlechterfragen existieren, erwecken populäre Medien oft den Anschein, es gäbe einen eindeutigen wissenschaftlichen Konsens. Diese Popularisierungen verstärken einen Effekt, der als „publication bias“ bezeichnet wird: Wissenschaftliche Studien werden eher publiziert, finanziert und unterstützt, wenn sie Unterschiede zeigen, als wenn sie Gemeinsamkeiten feststellen. Populärliteratur ignoriert letztere oft noch zusätzlich und pickt die sich gut verkaufenden pinken und blauen Rosinen aus der wissenschaftlichen Literatur heraus.

Das ist besonders problematisch, weil der Hirnforschung eine so große Bedeutung in unserer Gesellschaft zukommt. Zusätzlich zur Autorität wissenschaftlichen Wissens und dem Eindruck, Bilder könnten die „Realität“ menschlicher Gehirne objektiv abbilden, hat sich in den letzten Jahrzehnten auch der Trend entwickelt, den Menschen als „zerebrales Subjekt“ zu begreifen, also als völlig auf seinem/ihrem Gehirn basierend. Laut Sigrid Schmitz wird dieses Menschenbild von der Annahme getragen, dass wir nicht einfach ein Gehirn haben, sondern unser Gehirn sind. Unser Gehirn sei bestimmend für unser Verhalten, unsere Präferenzen, unsere Einstellungen – es sei der Träger unseres Seins. Die zentrale Bedeutung, die dem Gehirn zugeschrieben wird, zeigt sich auch darin, dass immer mehr Disziplinen entstehen, die geistesoder sozialwissenschaftliche Themen mit Gehirn forschung verquicken, von Neuroökonomie über Neuropädagogik bis hin zu Neurotheologie.

Durch die Autorität von Gehirnforschung spielt Neurosexismus eine besonders große Rolle bei der Reproduktion und Legitimation von Stereotypen, Strukturen und Machtverhältnissen. Umso wichtiger ist es, Gehirnforschung als politisch zu begreifen. Denn Politik wird nicht nur in Parteien und Institutionen gemacht, sondern auch durch gesellschaftliche Normen und Modelle. Zum Beispiel zieht die Frage, welche Verhaltensweisen und Präferenzen Frauen bzw. Männern zugeordnet werden, nicht nur Rück koppelungseffekte nach sich, sondern beeinflusst auch die Positionen, die Frauen und Männern in der Gesellschaft (zum Beispiel am Arbeitsmarkt) zugewiesen werden.

Wir sollten jedenfalls aufhorchen, wenn behauptet wird, dass Frauen und Männer „von Natur aus verschieden“ seien. Zum einen sollten Neurowissenschafter*innen kritisch damit umgehen, dass das, was sie untersuchen, auch nicht „einfach da“ ist, sondern erst produziert wird – zum Beispiel durch gesellschaftliche Normen, die Gehirne physisch verändern, oder Einstellungen an MRT-Geräten, die die (Gehirn-)Welt in zwei fundamental unterschiedliche Geschlechter teilen. Zum anderen dürfen sich aber Kritiker*innen auch nicht damit zufriedengeben, neurowissenschaftliche Forschung pauschal zu verurteilen. Stattdessen sollten wir im Kopf behalten, dass gesellschaftliche Normen, mediale Repräsentationen, wissenschaftliche Arbeit und tatsächliche Gehirne miteinander verkabelt sind, um Kurzschlüsse zu vermeiden.

Boka En hat Gender and Sexuality Studies an der University of London studiert und absolviert einen Master in „Science–Technology–Society“ an der Universität Wien.

 

FHs: Erlaubt ist, was nicht verboten ist

  • 23.10.2014, 01:23

Willkürliche Exmatrikulation, Verpflichtungen als kostenlose WerbeträgerInnen herzuhalten und Abtreten von Rechten: Fachhochschul-Studierende müssen Ausbildungsverträge mit teils fragwürdigen Klauseln unterschreiben und erleben eine massive Benachteiligung.

Willkürliche Exmatrikulation, Verpflichtungen als kostenlose WerbeträgerInnen herzuhalten und Abtreten von Rechten: Fachhochschul-Studierende müssen Ausbildungsverträge mit teils fragwürdigen Klauseln unterschreiben und erleben eine massive Benachteiligung.

Dieses Semester stehen 19.000 FH-StudienanfängerInnen 28.000 abgewiesenen BewerberInnen gegenüber. Auf jene, die die Hürden des Aufnahmeverfahrens erfolgreich absolviert haben, wartet an den ersten FH-Tagen eine Weitere: Zweifelhaft anmutende Ausbildungsverträge müssen unterschrieben werden.

Zum Beispiel sichert sich die FH Krems in ihrem Ausbildungsvertrag ab, dass keine Person , die sie vom Studium ausschließen will, ernsthaft dagegen berufen kann und schließt „die Anrufung der ordentlichen Gerichte ausdrücklich aus". Am Management Center Innsbruck nutzt man die Studierenden als kostenlose Werbeträger. Diese müssen unterschreiben, dass sie sich „zur aktiven Mitwirkung an Marketing- und Öffentlichkeitsarbeitsmaßnahmen" verpflichten. Und an der FH Campus Wien treten die Studierenden durch das Unterschreiben alle „Nutzungs- und Verwertungsrechte“ ihrer Abschlussarbeiten und anderer geistiger Schöpfungen in „zeitlich, örtlich und inhaltlich unbeschränkter und ausschließlicher Form" an die Fachhochschule ab.

An eben dieser Vertragsklausel der FH Campus Wien stößt sich der 23-jährige Johannes Burk. Vor wenigen Wochen begann er dort sein Masterstudium „IT-Security“. Als ihm der Ausbildungsvertrag ausgehändigt wurde, ist ihm schnell jene Klausel ins Auge gesprungen, durch die er alle Rechte an seinen Arbeiten für immer abtritt. Daraufhin wandte er sich an die Bundes-ÖH, welche ihn an den Verein für Konsumenteninformation (VKI) verwiesen hat. Das Ergebnis der Beratung beim VKI war ernüchternd: Er müsse das Risiko eingehen, sich der Klausel zu widersetzen und abwarten, ob die FH klagt. Dass sich die FH tatsächlich auf ihre Rechte berufen und klagen würde, glaubt er aber nicht. Was ihn vor allem stört, ist „der Fakt, dass ich mich dann strafbar mache, wenn ich beispielsweise eine eigene Geschäftsidee umsetze“. Da es für ihn keine Option war, den Studienplatz nicht anzunehmen, hat er den Vertrag letzten Endes unterschrieben. „Meine Konsequenz ist, dass ich sämtliche vielversprechende Projektideen komplett vom Studium fernhalte“, schließt Burk.

Privatrecht ermöglicht Willkür. Dass die Ausbildungsverträge kritisiert werden, habe man erst aus den Medien erfahren, heißt es aus den Büros der Hochschulleitungen. „Falls hier Bedenken bestehen, setzen wir uns gerne zusammen, besprechen das Problem und finden eine Lösung“, erklärt Ulrike Prommer, Geschäftsführerin der FH Krems. „Wir nehmen dies zum Anlass, die entsprechenden Klauseln kritisch zu beleuchten und wo es Bedarf gibt, Adaptierungen vorzunehmen“, verspricht Arthur Mettinger, Rektor der FH Campus Wien. Und den Bedarf gibt es auf jeden Fall, wenn es nach Tobias Kurtze, dem Vorsitzenden der ÖH FH Campus Wien geht. Er spricht sich für „die Überführung der Fachhochschulen in ein hoheitliches System und konkreten Regelung von Ausbildungsverträgen an Fachhochschulen“ aus. Zu einer gemeinsamen Stellungnahme bekennen sich Andreas Altmann, Rektor, und Michael Seidl, ÖH-Vorsitzender des MCI Management Center Innsbruck: „Im Rahmen der letzten Überarbeitungen des Ausbildungsvertrages war die Studierendenvertretung eingebunden. Die im Ausbildungsvertrag geregelte Zustimmung der Studierenden zur Mitwirkung an Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Hochschule ermöglicht ja auch Vorhaben, welche den Studierenden zugute kommen.“

Der Grund für solche Ausbildungsverträge: Zwischen Fachhochschulen und Studierenden gilt das Privatrecht. Das Wissenschaftsministerium gibt also keine studienrechtlichen Rahmenbedingungen vor, die für einheitliche Verhältnisse hinsichtlich der Rechte und Pflichten zwischen Fachhochschulen und Studierenden sorgen, wie es an Universitäten der Fall ist. Auch das Fachhochschul-Studiengesetz (FHStG) regelt viele dieser Rechte und Pflichten nicht, welche dann stattdessen in einem Ausbildungsvertrag festgehalten werden. Rechtsanwalt Ingo Riß (anwalt-riss.at) erklärt den Unterschied zwischen Privatrecht und Universitätsrecht so: „Das Privatrecht regelt allgemein die Handlungsspielräume von Menschen und Institutionen zueinander. Im Privatrecht ist alles erlaubt, was nicht verboten ist. Das Universitätsrecht dagegen gehört dem öffentlichen Recht an, das dem Legalitätsprinzip verpflichtet ist. Hier heißt es: Verboten ist, was nicht erlaubt ist.“ Auch die Übertragung aller UrheberInnen oder Verwertungsreche findet er problematisch: „Das ist unzulässig. Im Rahmen der gesetzlichen Regeln besteht Handlungsfreiheit, die aber dennoch seine Grenze bei unsachlicher Willkür und rechtlicher Sittenwidrigkeit hat.“ Die Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an Werbung oder Marketing beurteilt er ähnlich. Riß weiter: „Den Ausschluss des Rechtsweges oder extrem kurze Fristen für Beschwerden gegen Ausbildungsvertragskündigungen stufe ich als richtige Knebelungsklauseln ein.“

Sittenwidrig. So sieht auch die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH) die Ausbildungsverträge, die die Studierenden an manchen Fachhochschulen vorgelegt bekommen. Doch nicht nur, dass Studierende vielleicht werbend „am Tag der offenen Tür ein Kapperl tragen müssen“, stößt Bernhard Lahner vom Vorsitzteam der Bundes-ÖH sauer auf. Immer mehr Studierende, sagt er, würden sich mit Beschwerden an die ÖH-Beratungsstelle wenden – und es seien echte „Härtefälle“ darunter. Unter diesen Härtefällen befindet sich auch ein FH-Student, der mittlerweile exmatrikuliert wurde. Besagter Student konnte seinen dritten und letzten Prüfungstermin für eine Lehrveranstaltung krankheitsbedingt nicht wahrnehmen. Ihm wurde eine negative Beurteilung eingetragen und er wurde gemäß FHStG nach drei negativen Ergebnissen exmatrikuliert. Sein Erklärungsversuch bei der Studiengangsleitung und beim Kollegium blieb erfolglos. Ihm bleibt nur noch der Weg vor das Zivilgericht. Eine solche Klagsführung bringt aber ein erhebliches Kostenrisiko mit sich. Weiters ist mit einer entsprechenden Dauer der Verfahren zu rechnen. Studierende an Universitäten sind hier besser gestellt, da nach dem Universitätsgesetz studienrechtliche Angelegenheiten in den Bereich der Hoheitsverwaltung fallen. Das heißt, die Universitäten haben über solche Streitigkeiten mittels Bescheid zu entscheiden. Gegen einen solchen Bescheid kann das Bundesverwaltungsgericht angerufen werden. Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht besteht kein Prozesskostenrisiko für die Studierenden.

Volksanwaltschaft fordert Gleichstellung. Zur Lösung des Problems fordert die Bundes-ÖH einen FH-Gipfel, um gemeinsam mit der Fachhochschul-Konferenz und dem Wissenschaftsministerium das Studienrecht zu überarbeiten. „Es geht mir darum, dass alle Studierenden, egal wo und was sie studieren, die gleichen Rechte haben. Es ist absurd, dass FH-Studierende als Einzelpersonen gegen riesige Institutionen vor dem Zivilgericht klagen müssen und die Freundin oder der Freund auf der Uni eine Beschwerde schreibt und alles weitere sich dann von allein erledigt“, so Lahner. Die Bundes-ÖH befindet sich mit ihrer Forderung nach einer Angleichung der Fachhochschulen an das Universitätsrecht in guter Gesellschaft: Schon im Vorjahr hat die Volksanwaltschaft in ihrem Bericht die Schlechterstellung von FH-Studierenden angeprangert. In einer Stellungnahme fordert die Volksanwaltschaft, „Studierende an Fachhochschulen mit Studierenden an Universitäten gleichzustellen, indem im Fachhochschul-Studiengesetz geregelt wird, dass die Fachhochschulen bei der Vollziehung der Studienvorschriften im Rahmen der Hoheitsverwaltung tätig werden“.

Bildung als Produkt. Kurt Koleznik, Generalsekretär der Fachhochschul-Konferenz, hält wenig von der Idee, FH- und Uni-Studierende rechtlich gleichzustellen. Er ist der Meinung, „dass eine Überführung von Fachhochschulen in ein hoheitliches System dem Grundgedanken des Public-Private-Partnership Modells widerspricht“. Dadurch käme es zu einer Entdifferenzierung zwischen Fachhochschulen und Universitäten. Bei einem Auto- oder Hauskauf müsse doch auch ein Vertrag zwischen dem Käufer und dem Verkäufer abgeschlossen werden. In diesem Punkt scheiden sich die Geister zwischen der FHK und Bundes-ÖH. „Hier wird das Studieren an einer FH als Produkt und als Konsumieren von Bildung verstanden. Wir sehen ein Studium aber nicht als Erwerb eines Produktes und deswegen ist es ganz klar, dass es Veränderungen braucht“, entgegnet Lahner. Aus dem Wissenschaftsministerium heißt es, dass man „sowohl mit der Bundes-ÖH als auch mit der Fachhochschul-Konferenz in gutem Kontakt“ stehe und man sich „gerne als Vermittler“ anbiete.
 

Sandra Schieder studiert Journalismus und Public Relations an der FH JOANNEUM in Graz.

Licht ins Dunkel

  • 23.10.2014, 01:18

Für gemeinnützige Zwecke auf der Straße Spenden zu sammeln ist ein typischer Studi-Job. Doch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und unmoralische Sammelmethoden rücken NGOs in eine fragwürdige Ecke.

Für gemeinnützige Zwecke auf der Straße Spenden zu sammeln ist ein typischer Studi-Job. Doch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und unmoralische Sammelmethoden rücken NGOs in eine fragwürdige Ecke.

„Hallo! Hallo! Ja, genau du! Du hast doch sicher eine Minute für den Tierschutz, oder?!“

Wer sich zu Semesterbeginn in Uninähe oder auf belebten Plätzen und Einkaufsstraßen aufhält, dem ist diese Art von Werbung nicht fremd. Keiler*innen, die an öffentlichen Plätzen Spenden, Unterschriften oder Mitgliedschaften für eine NGO sammeln, sind fixer Bestandteil des Stadtbildes geworden. Im Sommer und Herbst hat aber nicht nur das Werben Hochsaison, auch die Stellenanzeigen im Bereich des sogenannten Face-to-Face-Fundraisings sind insbesondere zu Studienbeginn nicht zu übersehen. Für viele Studierende ist Promotor*in (auch Fundraiser*in oder Keiler*in genannt) der perfekte Nebenjob: flexibel, an der frischen Luft und obendrein noch für den guten Zweck. Was die meisten jedoch nicht wissen: Promotor*innen sind in der Regel gar nicht bei der jeweiligen NGO, sondern bei einer Agentur angestellt. Das bringt viele Nachteile mit sich und macht den Studi-Job prekärer und problematischer als zunächst gedacht.

Wer im Bereich Promotion arbeitet, lebt nämlich von der Provision und nicht von einem fixem Gehalt. Zwar erhalten Promotor*innen ein Fixum, dieses ist aber so niedrig, dass sie von der Provision abhängig sind: Laut Angaben von NGOs und (Ex-)Promotor*innen liegt das Fixum zwischen 3,50 Euro bis 6,25 Euro pro Stunde. Die Höhe der Provision ist wiederum abhängig von der Höhe der Spende und vom Zeitraum, über den Spender*innen Geld locker machen. Manchmal wirken sich auch Parameter wie das Alter und die Einkommenssituation der Spender*innen auf die Provision der Promotor*innen aus. Ein solches Bezahlungsmodell übt Druck auf die Promotor*innen aus. Sie lernen in teils mehrtägigen Schulungen, wie sie möglichst schnell und effektiv an qualitativ hochwertige Spender*innen herankommen. Ein Blick auf die Webseiten von Promotion-Agenturen wie Face2Face Fundraising, DialogDirect oder Direct Mind zeigt: Ausnahmslos jede bekannte NGO arbeitet oder arbeitete für die Spendenbeschaffung mit Agenturen zusammen: Greenpeace, Global 2000, Vier Pfoten, Ärzte ohne Grenzen, Rote Nasen, Volkshilfe, SOS- Kinderdorf, Caritas und viele, viele mehr. Aber auch zahlreiche kleinere und nur lokal aktive Organisationen finden sich in den Klient*innenlisten.

Der Großteil der Agenturen stellt Promotor*innen geringfügig über einen freien Dienstvertrag an. Freie Dienstverträge werden zurecht wegen ihrer Unsicherheiten kritisiert. Das Arbeitsrecht und seine Schutzbestimmungen gelten hier nicht. Freie Dienstnehmer*innen haben keinen Anspruch auf Urlaub und Krankengeld und es gibt keine Regelungen für Mindestlöhne. Die Verträge enthalten außerdem oft Verschwiegenheitsklauseln, die es (Ex-) Promotor*innen verunmöglichen, über ihre frühere Arbeit zu sprechen. Daher haben wir die Namen unserer Interviewpartner*innen teilweise geändert.

Foto: Christopher Glanzl

Nicht abwimmeln lassen! Die 25-jährige Nina O. (Name der Redaktion bekannt) ist zur Zeit freiberufliche Mediendesignerin in Graz. Im Jahr 2010 fing sie an, für Greenpeace als Keilerin zu arbeiten. „Ich wollte damals vor allem einfach meine Miete bezahlen. Außerdem hatte es für mich einen Beigeschmack davon, etwas Gutes zu tun.“ Das „Vorstellungsgespräch“ gestaltete sich als Wettkampf zwischen 50 Leuten: „Wir bekamen Klemmbretter und wurden zu unterschiedlichen Plätzen in Graz geschickt, wo wir drei Stunden Zeit hatten, so viele Unterschriften wie möglich für ein Projekt von Greenpeace zu sammeln. Wir waren auf uns allein gestellt und mussten gegeneinander arbeiten.“ Danach große Enttäuschung, Ärger und Schimpfen: Wie konnten die Bewerber*innen in drei Stunden nur so wenige Unterschriften sammeln? Trotz der harschen Kritik wurde Nina aber eingestellt. Beim nächsten Treffen fand eine Schulung statt. Geübt wurde, das Produkt – also den Spendenvertrag – zu verkaufen. Nina erzählt, dass den zukünftigen Keiler*innen eingetrichtert wurde, „dranzubleiben“, sich nicht „abwimmeln zu lassen“ und die Leute „nicht in Ruhe zu lassen“. Zu den Verkaufstechniken zählte auch, Passant*innen ein schlechtes Gewissen zu bereiten und diese aufgrund von Äußerlichkeiten zu kritisieren. Nina dazu: „Uns wurde immer wieder angeschafft, bei rauchenden oder dicken Menschen zu sagen, dass sie lieber weniger essen oder rauchen und stattdessen der Umwelt helfen sollten. Ich habe diese Strategie nicht angewandt, ich fand es ekelhaft und falsch so etwas zu sagen.“

Der Villacher Geschichte-Student Gregor Z. (Name der Redaktion bekannt) hat nur dreieinhalb Tage als Keiler für Global 2000 ausgehalten: „Es war irrsinnig anstrengend, ständig fröhlich und enthusiastisch zu tun.“ Gregor versuchte, den Job als Verkaufstraining und kleine Schauspielausbildung zu sehen. Außerdem gab es Verlockungen: „Es wurde unterschwellig kommuniziert, dass es für besonders gute Keiler*innen Belohnungsfahrten nach Ägypten oder Tunesien gibt. In den Unterlagen gab es Fotos von in Swimmingpools cocktailtrinkenden Menschen.“ Desillusioniert kündigte Gregor, als er beobachtete, wie ein besonders erfolgreicher Kollege zu den vielen Spenden pro Tag kam: „Er suchte sich gezielt sehr alte Menschen aus und solche, die vielleicht inhaltlich nicht mehr ganz mitkamen und erzählte ihnen, sie würden damit ihren Enkeln helfen, ihrer Familie Geld geben.“

Solche fragwürdige Strategien gibt es im Bereich Promotion leider zuhauf. In sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter kommen Beschwerden auf. Manche berichten davon, dass ihr Äußeres kommentiert oder sie angeflirtet wurden, andere haben Erfahrungen mit Promotor*innen, die ihnen ein schlechtes Gewissen machen wollten. Twitter-Nutzer*innen erzählen, mit der Frage konfrontiert worden zu sein, ob sie denn „keine Kinder mögen“, weil sie nicht für eine bestimmte NGO spendeten und von Beschimpfungen seitens hartnäckiger Keiler*innen, wenn sie sich gegen aufdringliches und grenzüberschreitendes Verhalten wehrten.

Sexuelle Belästigung. Weiters spricht die positive Bezugnahme von Pick-Up-Artists nicht unbedingt für die von Promotion verwendeten Methoden. Diese selbsternannten „Künstler“ geben einander in Vorträgen, YouTube-Videos und Online-Foren Tipps, wie man Frauen möglichst schnell, effektiv und ressourcensparend näher kommt, um mit ihnen Sex zu haben. Dabei sind Erniedrigung, psychologische Tricks und Machtspielchen fixe Bestandteile im rhetorischen Repertoire der Artisten. User „roolio“ empfiehlt im pickupforum.de jüngeren Anmachkünstlern, als Fundraiser zu arbeiten, weil es „ein echt gutes Rhetorik-Training“ sei und man „viele hübsche HBs (Anm.: „Hot Babes“)“ als Kolleginnen habe. Pick-Up-Foren fallen seit einigen Jahren als Treffpunkt misogyner Männer auf.

Die Wiener Jus-Studentin Judith S. (Name der Redaktion bekannt) hat schon viele schlechte Erfahrungen mit männlichen Promotoren gemacht: „Sie lauern dir auf, wenn du nicht weg kannst – zum Beispiel, wenn du gerade in einer Reihe stehst oder bei der Ampel wartest.“ Judith erzählt, dass sie als Frau von Promotoren systematisch angeflirtet oder auf ihr Aussehen – Haare, Augen, Kleidungsstil – angesprochen wird. Die Promotoren gehen so auf sie zu, dass sie schlecht ausweichen kann. „Ich bin mir sicher, dass die Promotor*innen gezielt auf solches Verhalten geschult werden“, sagt Judith, die derartige Belästigung bereits von Promotoren vieler verschiedene NGOs miterlebt hat.

Aggressive Sammelei. Beim Geld sammeln aufdringlich sein: Promotor*innen dürfen es jedenfalls. Währenddessen gibt es aber in vielen österreichischen Städten Verbote von „aggressiver Bettelei“. Woher kommt diese Doppelmoral? Das Keilen bzw. Spendensammeln ist in Wien im Sammlungsgesetz geregelt. Erlaubt sind Sammlungen für gemeinnützige Zwecke; um Bewilligung muss vorher beim Magistrat angesucht werden. Betteln wird als Sammlung für einen eigennützigen und nicht gemeinnützigen Zweck definiert und fällt daher nicht in diese Regelung. Ferdinand Koller von der Wiener Bettellobby meint hierzu: „Wir kritisieren hier die ungleiche Behandlung durch den Gesetzgeber, denn es gibt kein Verbot von aufdringlichem Keilen, von aufdringlichem Betteln allerdings schon. Es handelt sich aber hierbei um exakt dieselbe Tätigkeit.“ Einzuwenden wäre auch, dass die Agenturen, bei denen Promotor*innen angestellt sind sowie die Promotor*innen selbst sehrwohl eigennützig handeln: Es geht schließlich um Lohn und Profit. „Das eine ist eben sozial erwünscht und gesellschaftlich akzeptiert, das andere nicht“, sagt Koller. Er verurteilt die Doppelstandards in der „Branche“: „Wenn Kinder betteln, wird gleich von organisierter Kriminalität und Gefährdung des Kindeswohls gesprochen. Doch wenn für die Roten Nasen und den Stephansdom Kinder sammeln, gibt es diese Bedenken nicht.“ Derartige Gesetzgebung kann nur als rassistisch und ohnehin schon marginalisierten Bevölkerungsgruppen gegenüber diskriminierend bezeichnet werden. Diesen Missstand thematisieren und den Spieß umdrehen möchte die Kampagne „Stell dich nicht so an – Stell mich an!“, die vom Verein Goldenes Wiener Herz im Rahmen der Wienwoche gestartet wurde. Mit online gesammelten Spendengeldern stellte der Verein sechs Bettler*innen im September und Oktober fix ein, um auf der Straße als Promotor*innen auf die Schikanen, die mediale Verunglimpfung und Kriminalisierung bettelnder Menschen aufmerksam zu machen: komplett mit Klemmbrett, Foldern, neonfarbenen Jacken und Kapperln.

Foto: Christopher Glanzl

Menschen- und Arbeitsrecht. Zwei NGOs, die sich im Bereich Straßenwerbung für einen anderen Weg entschieden haben, sind Amnesty International und WWF. Bis 2009 arbeiteten sie zusammen mit Agenturen, dann holten sich Amnesty und WWF das Werbetool ins Haus und die Arbeitsgemeinschaft AIWWF war geboren. Nun ist es möglich, dass 100% der Spenden direkt an die beiden NGOs fließen, der Umweg über eine Agentur, die als Unternehmen auf Profit angewiesen ist, fällt weg. Alexander Obermayr von AIWWF ist besonders stolz auf dieses Alleinstellungsmerkmal in der österreichischen Fundraising- Landschaft. Er betont außerdem die Bedeutung von Arbeitsrechten für AIWWF-Mitarbeiter*innen: „Als Menschenrechts-NGO wäre es absurd, arbeitsrechtliche Standards nicht einzuhalten.“ Deswegen stellt AIWWF ihre Mitarbeiter*innen bewusst nicht über freie Dienstverträge an, sondern legt auf feste Angestelltenverhältnisse und damit verbundene Vorteile wie das 13. und 14. Monatsgehalt, Urlaubsanspruch und Krankengeld wert. Hätte man weiter mit einer Agentur zusammengearbeitet, wäre das in dieser Form nicht möglich gewesen, ist Obermayr überzeugt.

Kathi L. (Name der Redaktion bekannt) studiert an der Universität für Bodenkultur in Wien und ist 22 Jahre alt. 2013 arbeitete sie ein halbes Jahr lang für Amnesty International und WWF. Als einfache Keilerin habe Kathi „in guten Monaten“ etwa 800 Euro bei 16 Wochenstunden verdient. „AIWWF arbeiten mit einem Punktesystem, wo dein Gehalt davon abhängt, wie viel die Personen spenden, wie alt die Personen sind und wie viel du insgesamt im Monat an Spenden lukrierst“, erklärt Kathi. „Es gibt kaum einen Job, bei dem du als unqualifizierte Arbeitskraft derart gut verdienen kannst.“ Als Teamleiterin habe sie einmal bei einer 32-Stunden-Woche sogar 3500 Euro Monatsbruttogehalt gehabt: „Als Leiterin verdienst du eben auch an jedem Spendenvertrag mit, die deine Kollegen abschließen.“ Länger als ein halbes Jahr hat Kathi die Keilerei aber nicht ausgehalten. „In den Sommermonaten herrscht doch ein ziemlicher Druck. Es ist ein psychisch und physisch sehr fordernder Job und ich habe einfach gemerkt, dass ich das körperlich nicht mehr schaffe“, erzählt die junge Studentin, die zwar von Profit und Persönlichkeitsentwicklung spricht, den Job aber auch nicht unbedingt als Nebenjob weiterempfehlen würde.

Qualität und Quantität. Im Rahmen der „Qualitätsinitiative Fördererwerbung“ hat der Fundraising Verband Austria gemeinsam mit allen wichtigen NGOs Richtlinien für das Face-to-Face-Fundraising ausgearbeitet. Unter die Qualitätsstandards fällt beispielsweise respektvoller und höflicher Umgang; das Gespräch soll jederzeit auf Anfrage beendet werden. Verantwortlich für die Einhaltung dieser Vorgaben ist die jeweilige NGO, sie muss vor dem ers ten Werbegespräch eine Schulung mit fix definierten Grundinhalten durchführen. Weiters ist klar geregelt, wie mit eventuellen Beschwerden umzugehen ist. Der Fundraising Verband Austria hat dafür eine eigene Ombudsstelle eingerichtet. Falls Passant*innen eine unangenehme Situation mit Promotor*innen erleben, haben sie die Möglichkeit, sich an die Ombudsstelle zu richten (fundraising.at).

Zusammengefasst: Deine Spendengelder fließen von der Straße teilweise direkt in die Taschen von Agenturen, die Menschen prekär beschäftigen und mit unethischen Methoden ihr Geschäft machen. Betteln hingegen wird gesellschaftlich geächtet und kriminalisiert. Eine Frage konnte uns während unserer Recherchen von keiner NGO beantwortet werden: Wie sind Gewinne für Agenturen, Belästigung und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse mit den moralischen Ansprüchen karitativer Organisationen zu vereinbaren? „Ich würde überhaupt nie für eine NGO spenden, die mit Keiler*innen arbeitet“, schließt zum Beispiel Twitter-Userin @ponypost nach Beschwerden, die gegen SOS-Kinderdorf laut wurden. Da wird sie in Österreich aber wenig Auswahl haben.

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.
Sonja Luksik studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

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