Kurzschluss: Männerhirne, Frauenhirne

  • 23.10.2014, 01:38

„Männer reden wenig und Frauen können nicht einparken“ – so seien sie eben programmiert. Doch die Suche nach Geschlechterunterschieden im Gehirn ist nicht so einfach wie oft dargestellt.

„Männer reden wenig und Frauen können nicht einparken“ – so seien sie eben programmiert. Doch die Suche nach Geschlechterunterschieden im Gehirn ist nicht so einfach wie oft dargestellt.

Wir begegnen ihnen immer öfter: bunten Bildern von Gehirnen mit Farbverläufen von dunkelblau über rot bis hin zu weiß, die anzeigen, welche Hirnregionen gerade besonders aktiv sind. Wir alle haben schon gehört, dass Frauen und Männer unterschiedlich „verkabelt“ seien, dass ihre Gehirne unterschiedlich funktionieren würden. Frauen zum Beispiel hätten ausgeprägtere Sprachzentren, aber ein schwächer entwickeltes räumliches Vorstellungsvermögen.

Die Kombination dieser beiden Phänomene – Gehirnforschung und Geschlechterstereotypen – wird spätestens seit Cordelia Fines Buch „Die Geschlechterlüge“ als Neurosexismus bezeichnet. Neurosexismus hat viele Facetten – von plumpen Aussagen wie „Männer sind von Natur aus so!“ bis hin zur mehr oder weniger subtilen und oft unbewussten Suche nach Geschlechterunterschieden in den modernen Neurowissenschaften.

Konstruierte Gehirnbilder. Tatsächlich ist die Verbindung von gesellschaftlichen Stereotypen und wissenschaftlicher Forschung nichts Neues. So hat etwa die Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger gezeigt, dass schon im 18. und 19. Jahrhundert Befunde und Interpretationen zu menschlichen Skeletten und Schädeln häufig an die Überzeugung angepasst wurden, dass „Männer“ intellektuell weiter entwickelt seien als „Frauen“ – und „Weiße“ weiter als „Schwarze“.

Nach wie vor sind Wissenschaft und gesellschaftliche Vorstellungen eng miteinander verbunden. Zum einen liegt das daran, dass wissenschaftliches Wissen einen besonders hohen Stellenwert genießt und zum anderen daran, dass neue Technologien den Eindruck vermitteln, wir könnten direkt ins Gehirn blicken und so „die Wahrheit“ unmittelbar wiedergeben. Etwa im Fall der Magnetresonanztomographie (MRT), bei der mit Hilfe von Magnetfeldern ein Bild des menschlichen Gehirns erstellt wird. Sigrid Schmitz, Biologin und Professorin für Gender Studies an der Universität Wien, erklärt dazu: „Beim Erstellen von Gehirnbildern muss eine ganze Reihe von Entscheidungen darüber getroffen werden, welche Gehirnfunktionen und -strukturen betrachtet werden, welche Vergleichsgruppen gewählt und anhand welcher Merkmale Unterschiede bestimmt werden. Gehirnbilder sind Konstruktionen, und auch gesellschaftliche Vorstellungen spielen eine große Rolle in ihrer Produktion.“

Ein Beispiel dafür ist die Annahme, dass es (für Hirnstudien und allgemein) zwei klar definierte Gruppen gäbe, die in sich homogen seien, zwischen denen es aber große Unterschiede gäbe: Männer und Frauen. So muss bei vielen Gehirnscangeräten zuerst einmal eingestellt werden, ob die Testperson männlich oder weiblich ist, bevor das Gerät überhaupt in Betrieb genommen werden kann. Auf diese und andere Arten beeinflussen gesellschaftliche Vorstellungen die wissenschaftliche Wissensproduktion. Ob nun unsere Gehirne männlich oder weiblich verkabelt sind oder nicht: Die wissenschaftlichen Apparate, die dies untersuchen sollen, sind es auf jeden Fall.

Henne oder Ei? Doch wie sieht es mit den Gehirnen selbst aus? Verschiedene Befunde sprechen dafür, dass „Geschlecht“ im Gehirn ein weit komplexeres Phänomen ist als gemeinhin behauptet. So argumentieren etwa Gina Rippon und andere, dass es zwischen den beiden Gruppen „Männer“ und „Frauen“ oft wesentlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gäbe und umgekehrt innerhalb dieser Gruppen eine signifikante Bandbreite an neurologischen Ausprägungen. Sigrid Schmitz meint, die moderne Hirnforschung sei oft auf „Unterschiedsforschung“ fokussiert und verstärke damit die Annahme der fundamentalen Andersartigkeit von Männern und Frauen.

Außerdem ist normalerweise nicht das ganze Gehirn einfach „männlich“ oder „weiblich“. Vielmehr hat eine Person praktisch immer einige Areale, die eher dem statistischen Mittel für „weibliche“ Gehirne entsprechen, und andere, die statistisch eher „männlich“ sind. Dieses Mosaik verschiedener Aspekte lässt sich nicht einfach auf „männlich“ oder „weiblich“ reduzieren.

Verhaltensweisen und Eigenschaften variieren außerdem in Abhängigkeit vom kulturellen und historischen Kontext, in dem wir leben, und der spezifischen Situation, in der sie abgerufen werden. So haben Experimente zu Empathie gezeigt, dass Männer umso schlechter abschneiden, je klarer ist, dass es um Empathie geht. Allerdings verschwindet dieser (stereotype) Nachteil, wenn gute Ergebnisse mit Geld belohnt werden. Finanzielle Anreize können also Männer dazu bringen, sich aus ihrer kulturellen Position, in der Empathie als typisch weibliche Eigenschaft gesehen wird, herauszubewegen – ganz ohne Gehirntransplantation.

Ein weiteres wichtiges Konzept in der kritischen Reflexion von Hirnforschung ist die Hirnplastizität: Das Gehirn stellt nämlich nicht – wie häufig angenommen – einfach die Basis unseres Verhaltens dar. Unser Verhalten ist zum Teil die Basis unserer Gehirnentwicklung. Menschliche Gehirne sind an keinem Punkt in unserem Leben fix ausgeprägt, sondern werden aufgrund unserer Erfahrungen ständig umstrukturiert: Ohne Plastizität, also Formbarkeit, könnten wir nichts Neues (er)lernen. Wenn also gesellschaftlich davon ausgegangen wird, dass „Männer“ besser in Mathematik sind als „Frauen“, dann hat diese Vorstellung einen Einfluss darauf, was und wie sie Mathematik lernen (können). Und unser Gehirn stellt sich – in seiner physischen Zusammensetzung – darauf ein.

Das bedeutet nicht, dass Buben bewusst dazu erzogen werden, besser in Mathematik zu sein. Trotzdem wird diese Vorstellung zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking beschreibt solche Vorgänge als „looping effects“, also Rückkoppelungseffekte: Gesellschaftliche Vorstellungen beeinflussen den Aufbau unserer Gehirne, auf Basis derer dann neurowissenschaftliche Studien etwa zu dem Ergebnis kommen, dass Männer besser in Mathematik seien – wodurch sich das Stereotyp wieder verstärkt. Die Biologie unserer Gehirne – ihr tatsächlicher Aufbau – ist gesellschaftlich beeinflusst, und der Aufbau unserer Gehirne beeinflusst gesellschaftliche Vorstellungen. Die Frage nach Gehirnen und Normen ist wie die nach der Henne und dem Ei.

Pinke und blaue Rosinen. Auch die Darstellung von Hirnforschung in populären Medien beeinflusst gesellschaftliche Normen. So benützen Bücher wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ neurowissenschaftliche Ergebnisse oft sehr selektiv, um ein bestimmtes Bild zu erzeugen. Während in den Neurowissenschaften verschiedene – auch kritische – Zugänge, Ergebnisse und Interpretationen zu Geschlechterfragen existieren, erwecken populäre Medien oft den Anschein, es gäbe einen eindeutigen wissenschaftlichen Konsens. Diese Popularisierungen verstärken einen Effekt, der als „publication bias“ bezeichnet wird: Wissenschaftliche Studien werden eher publiziert, finanziert und unterstützt, wenn sie Unterschiede zeigen, als wenn sie Gemeinsamkeiten feststellen. Populärliteratur ignoriert letztere oft noch zusätzlich und pickt die sich gut verkaufenden pinken und blauen Rosinen aus der wissenschaftlichen Literatur heraus.

Das ist besonders problematisch, weil der Hirnforschung eine so große Bedeutung in unserer Gesellschaft zukommt. Zusätzlich zur Autorität wissenschaftlichen Wissens und dem Eindruck, Bilder könnten die „Realität“ menschlicher Gehirne objektiv abbilden, hat sich in den letzten Jahrzehnten auch der Trend entwickelt, den Menschen als „zerebrales Subjekt“ zu begreifen, also als völlig auf seinem/ihrem Gehirn basierend. Laut Sigrid Schmitz wird dieses Menschenbild von der Annahme getragen, dass wir nicht einfach ein Gehirn haben, sondern unser Gehirn sind. Unser Gehirn sei bestimmend für unser Verhalten, unsere Präferenzen, unsere Einstellungen – es sei der Träger unseres Seins. Die zentrale Bedeutung, die dem Gehirn zugeschrieben wird, zeigt sich auch darin, dass immer mehr Disziplinen entstehen, die geistesoder sozialwissenschaftliche Themen mit Gehirn forschung verquicken, von Neuroökonomie über Neuropädagogik bis hin zu Neurotheologie.

Durch die Autorität von Gehirnforschung spielt Neurosexismus eine besonders große Rolle bei der Reproduktion und Legitimation von Stereotypen, Strukturen und Machtverhältnissen. Umso wichtiger ist es, Gehirnforschung als politisch zu begreifen. Denn Politik wird nicht nur in Parteien und Institutionen gemacht, sondern auch durch gesellschaftliche Normen und Modelle. Zum Beispiel zieht die Frage, welche Verhaltensweisen und Präferenzen Frauen bzw. Männern zugeordnet werden, nicht nur Rück koppelungseffekte nach sich, sondern beeinflusst auch die Positionen, die Frauen und Männern in der Gesellschaft (zum Beispiel am Arbeitsmarkt) zugewiesen werden.

Wir sollten jedenfalls aufhorchen, wenn behauptet wird, dass Frauen und Männer „von Natur aus verschieden“ seien. Zum einen sollten Neurowissenschafter*innen kritisch damit umgehen, dass das, was sie untersuchen, auch nicht „einfach da“ ist, sondern erst produziert wird – zum Beispiel durch gesellschaftliche Normen, die Gehirne physisch verändern, oder Einstellungen an MRT-Geräten, die die (Gehirn-)Welt in zwei fundamental unterschiedliche Geschlechter teilen. Zum anderen dürfen sich aber Kritiker*innen auch nicht damit zufriedengeben, neurowissenschaftliche Forschung pauschal zu verurteilen. Stattdessen sollten wir im Kopf behalten, dass gesellschaftliche Normen, mediale Repräsentationen, wissenschaftliche Arbeit und tatsächliche Gehirne miteinander verkabelt sind, um Kurzschlüsse zu vermeiden.

Boka En hat Gender and Sexuality Studies an der University of London studiert und absolviert einen Master in „Science–Technology–Society“ an der Universität Wien.

 

AutorInnen: Boka En