Mai 2015

Plattenkiste: Matt and Kim - „New Glow“

  • 11.05.2015, 08:36

Zweimal hingehört

Zweimal hingehört

Marie: Das New Yorker Indie-Pop-Duo Matt and Kim ist nach wie vor laut und massentauglich. Das Plattencover: das Geschmackloseste, was die energetische Schlagzeugerin und der hibbelige Keyboarder nur in die Welt schleudern konnten. Ich hätte die Scheibe vielleicht mit vierzehn gerne gehört. Die erste Nummer „Hey Now“ hätte mein Jugendzimmer in ein Schlachtfeld verwandelt, denn eines ist das neue Album: tanzbar. Am besten nicht nüchtern. Die folgenden Titel „Stirred Up“ und „Can You Blame Me“ werden nicht besser. Der Titel „Hoodie On“ ist dann eine Mischung aus Eislaufplatzfeeling gepaart mit Smartphone-Gedudel, „Make a Mess“ hat etwas von Kinderliedern, die meine Schwester mit vier gehört hat: Zu piepsigen Keyboardsounds ist die Hauptaussage „lets make a mess, because we’ve been clean for too long“. Das passt wieder zum zerstörten Jugendzimmer. In diesem Stil geht es dann weiter bis zum letzten Lied. „I See Ya“ ist der obligatorisch traurige Schluss-Song. Schnulzig wird hier „I miss you“ zwischen pseudo-deepen Herzschmerzlyrics gewiehert. Endlich ist die Kindergeburtstagsparty vorbei. Endlich dürfen alle heimgehen.

Katja: Es gibt wohl kaum ein sympathischeres Musiker_innenpaar als Matt and Kim. Das Video zu „Lessons Learned“, in dem sie nackt auf dem Times Square in New York herumlaufen und vor den Cops flüchten, ist legendär. Ihre Musik passt bis heute hervorragend dazu: verspielt, offen, ehrlich, kindisch. Zu zweit schaffen sie aufregende und vereinzelt sogar berührende Momente. Das atemlose, laut hingerotzte „Hey Now“ als Opener von „New Glow“ lässt keinen Zweifel daran, dass Matt and Kim gar kein Interesse daran haben, einen irgendwie sophisticateden Sound zu etablieren. Die Kürze der Songs bewirkt dabei, dass sich das Konzept nicht so schnell abnutzt. Wer mit Vocodern und Kinderzimmer-DIY-Attitüde nicht viel anfangen kann, sollte besser Abstand von den beiden halten. Für alle anderen könnte es jedoch eine der netteren Partyplatten des Jahres werden.

 

Katja Krüger studiert Gender Studies an der Universität Wien.
Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst.

Plattenkiste: Hot Chip „wHy MaKe SenSe?“

  • 11.05.2015, 08:36

Zweimal hingehört


Zweimal hingehört

Marie: Die Londoner Band Hot Chip lässt uns ab 18. Mai wieder unsere Sportkleidung auspacken und hysterisch zu ihren Synthklängen und Electrobeats herumhüpfen. Denn dann erscheint „Why Make Sense?“, das neue Album. Das letzte, 2012 erschienene Album, „In Our Heads“, hieß nicht ohne Grund so, denn zu den erwachseneren und introvertierteren Klängen ließen sich zwar schon die Hüften schwingen, das aber um einiges nachdenklicher. Neue Platte, neues Glück: Hier darf wieder wilder getanzt werden, wenn man dem neuen Demosong als Vorboten vertrauen schenken kann; „hey yeah“ quiekt eine Stimme frenetisch ins Mikrophon. Während im Video vor allem Lichter zu sehen sind, in denen diffuse Schatten herumwirbeln, säuselt die Kopfstimme von Alexis Taylor zu Electro und Synthorgel-Akkorden. Irgendwann stimmt eine Sprechstimme mit einem kurzen Text ein, der vielleicht als Metapher für das Album gelesen werden kann: „I got something for your mind, body and your soul“. Die Release haben „Hot Chip“ wohlweislich an den Anfang des Sommers gelegt.

Katja: Um sich den Sound und die Ästhetik von Hot Chip vorzustellen, ist es sehr dienlich, Walter White vor dem inneren Auge zu haben. Man stelle sich vor, er wäre nicht zufällig auf die Idee gekommen, Drogen herzustellen, weil er Chemielehrer war, sondern er hätte eine Band gegründet, weil er Musik unterrichtet hat. Mit einem Mix aus konservativ, intellektuell und größenwahnsinnig gelingt es Hot Chip seit 2000 immer wieder, spannende und gewöhnungsbedürftige Alben aufzunehmen, die entweder sofort zünden oder sich erst beim fünften Hördurchgang erschließen und eine_n dann nicht mehr loslassen. Mit „Why Make Sense?“ ist dies erneut geglückt. Manchmal wirkt ein Track so funky wie ein Stück Holz, doch gegen jede Erwartung muss man nach wenigen Momenten mitsummen. In jeder Ritze steckt Harmonie, auch wenn es kantig und klobig wirkt. Das Tempo der bisherigen Alben haben Hot Chip ein bisschen zurückgeschraubt, dafür treten sie ein wenig gradliniger auf. Am Ende des Albums – beim titelgebenden „Why Make Sense?“ – klingen sie fast wie eine ungefilterte, pure Liveband.

 

Katja Krüger studiert Gender Studies an der Universität Wien.
Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst.

Haut drauf. Und rein.

  • 11.05.2015, 08:36

Buch-Rezension

Buch-Rezension 

Manche Bücher stürzen sich mit gefletschten Zähnen auf ihre Geschichten. Sie ringen souverän mit ihnen und präsentieren sich schließlich als überlegene Gewinnerin: blutverschmiert, zerzaust, genüsslich eine Siegeszigarre im Mundwinkel rauchend. „Nördlich der Mondberge“ ist so eins. Eine Frau um die 30 wird nach zehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen und versucht wieder auf die lädierten Beine zu kommen.

Weil ihr Leben von Chaos, Gewalt und der Egomanie ihrer Mutter bestimmt war, ist das alles nicht so einfach. Darum fährt sie bei der ersten Gelegenheit nach Afrika, dem Sehnsuchtsort ihrer Kindheit, wo sie mit Speer bewaffnet als Kriegerin verkleidet durch die Nachbar_innenschaft rannte und sich selbst rituelle Narben ins Gesicht ritzte. Mit einem Lineal.

Das klingt nach tränendrüsigem Sozialdrama, ist aber keines. Dafür sorgen die zerstückelte Chronologie der Ereignisse, der Humor und die Dynamik der eigenwilligen Sprache. Es spricht eine Protagonistin mit vielen Namen, und je älter sie wird, desto weniger werden die verschluckten Silben und die verdrehte Grammatik. Ein Trick, der eine_n nie die zeitliche Orientierung verlieren lässt. Es zieht eine_n brachial in diese Erzählung und vor allem diese Person hinein, und das, obwohl Louise/Beverly/Dawn et cetera am Ende des Buches jede Menge Blut an den Händen klebt. Dafür ist ihr Blick auf die Menschen manchmal von bezaubernd liebevoller Nüchternheit: „Er lacht. Klingt wie was Schweres, was die Treppe runterfällt.“

Weder Opfer noch Engel noch Superheldin: Hier prügelt sich eine saucoole Frauenfigur durch die Verhältnisse und lässt manchmal geschliffene Weisheiten raus, die den galoppierenden Lesefluss ruckartig zum Halten bringen. „Wenn ich nicht so sprechen würde, wie ich spreche, gäbe es mich gar nicht mehr.“ Egal, ob die Protagonistin einen Betrüger verdrischt (Aua!) oder ein Pferd aus einem Bungalow befreit, I.J. Kay hat Story und Struktur fest im Griff. Ein gesplitterter Roman über eine gesplitterte Person, aber jeder Splitter liegt dort, wo er hingehört.

I.J. Kay: „Nördlich der Mondberge“
Kiepenheuer & Witsch, 464 Seiten
23,70 Euro
erscheint am 11. 5. 2015

 

Dorothea Studthoff studierte Germanistik und Skandinavistik in Freiburg und betreibt das Blog „Hauptsache: fadengeheftet“.

 

ROAR!

  • 11.05.2015, 08:36
Comic-Rezension

Comic-Rezension

Die kleine 4-jährige Lena lebt bei ihrer Mama. Aber ihre Mama kann nicht richtig auf sie und sich selbst aufpassen, denn sie ist krank. Immer und überall vermutet sie Scientolog_innen, oder wie Lena sie nennt „Seintogen“, die sie bedrohen und verfolgen. Viel erfährt man nicht über den Hintergund von Lena und ihrer Mama. Offen bleibt zum Beipiel der Name der Krankheit von Lenas Mama, oder warum sie keinen Job, dafür eine Faszination für Amerika hat. Was man aber weiß, ist, dass ihre Mama vergisst einzukaufen, den Wohnungsschlüssel einzustecken und den Geburtstagskuchen aus dem Rohr zu nehmen. Immer wieder ist sie aggressiv gegenüber anderen Menschen wie Frau „Blöde Kuh“ Gehring vom Jobcenter, „Wertloser Dreck“-Passant_innen auf der Straße oder „Abschaum“-Menschen vom Jugendamt.

Irgendwann eskaliert die Situation und Lenas Mama wird gegenüber einer Frau handgreiflich. Danach passiert alles schnell. Frau Siebert, Lenas Mama, wird in ihrer Wohnung verhaftet und mitgenommen. Lena muss bei den Polizisten bleiben bis sie Roswitha, ihre neue Pflegemutter, abholt. Bei ihren Pflegeeltern bekommt Lena ein Zimmer in einem Haus mit Garten und einen Bruder. Und doch kehrt nicht das Gefühl der Ruhe und der Erleichterung eines Happy Ends ein. Lena vermisst ihre Mama und vergisst sich auch nicht über eine klassisch bürgerliche Familienstruktur mit Bonbon-Pillen, einem abwesenden Ehemann/Vater und einer geduldigen, aber überforderten Pflegemutter. Es gibt zwar unverkokelten Kuchen, Schule und Kakao, aber traurig ist Lena trotzdem.

Raphaela Buder schafft es in Grau-Weiß-Schwarz auf manchmal hellrosanem Hintergrund ein unstetes Leben aus der Perspektive eines Kindes zu skizzieren. Die weichen Bleistiftzeichnungen stehen im Kontrast zu den drastischen Erlebnissen. Und doch schafft Buder es durch die realistische Konkretheit ihrer Bilder den Schmerz, das Nicht-verstehen-Können und die Verwirrung Lenas aufs Papier zu bringen. „Die Wurzeln der Lena Siebert“ zeigt die Schwierigkeiten eines kleinen Mädchens, das auf sich selbst aufpasst, aber trotzdem ihre Mama lieb hat.

Raphaela Buder (edit: inzwischen Raphaela Doğan): „Die Wurzeln der Lena Siebert“
mairisch verlag, 128 Seiten
14,90 Euro

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Comic-Rezension

Die kleine 4-jährige Lena lebt bei ihrer Mama. Aber ihre Mama kann nicht richtig auf sie und sich selbst aufpassen, denn sie ist krank. Immer und überall vermutet sie Scientolog_innen, oder wie Lena sie nennt „Seintogen“, die sie bedrohen und verfolgen. Viel erfährt man nicht über den Hintergund von Lena und ihrer Mama. Offen bleibt zum Beipiel der Name der Krankheit von Lenas Mama, oder warum sie keinen Job, dafür eine Faszination für Amerika hat. Was man aber weiß, ist, dass ihre Mama vergisst einzukaufen, den Wohnungsschlüssel einzustecken und den Geburtstagskuchen aus dem Rohr zu nehmen. Immer wieder ist sie aggressiv gegenüber anderen Menschen wie Frau „Blöde Kuh“ Gehring vom Jobcenter, „Wertloser Dreck“-Passant_innen auf der Straße oder „Abschaum“-Menschen vom Jugendamt.

Irgendwann eskaliert die Situation und Lenas Mama wird gegenüber einer Frau handgreiflich. Danach passiert alles schnell. Frau Siebert, Lenas Mama, wird in ihrer Wohnung verhaftet und mitgenommen. Lena muss bei den Polizisten bleiben bis sie Roswitha, ihre neue Pflegemutter, abholt. Bei ihren Pflegeeltern bekommt Lena ein Zimmer in einem Haus mit Garten und einen Bruder. Und doch kehrt nicht das Gefühl der Ruhe und der Erleichterung eines Happy Ends ein. Lena vermisst ihre Mama und vergisst sich auch nicht über eine klassisch bürgerliche Familienstruktur mit Bonbon-Pillen, einem abwesenden Ehemann/Vater und einer geduldigen, aber überforderten Pflegemutter. Es gibt zwar unverkokelten Kuchen, Schule und Kakao, aber traurig ist Lena trotzdem.

Raphaela Buder schafft es in Grau-Weiß-Schwarz auf manchmal hellrosanem Hintergrund ein unstetes Leben aus der Perspektive eines Kindes zu skizzieren. Die weichen Bleistiftzeichnungen stehen im Kontrast zu den drastischen Erlebnissen. Und doch schafft Buder es durch die realistische Konkretheit ihrer Bilder den Schmerz, das Nicht-verstehen-Können und die Verwirrung Lenas aufs Papier zu bringen. „Die Wurzeln der Lena Siebert“ zeigt die Schwierigkeiten eines kleinen Mädchens, das auf sich selbst aufpasst, aber trotzdem ihre Mama lieb hat.

Raphaela Buder (edit: inzwischen Raphaela Doğan): „Die Wurzeln der Lena Siebert“
mairisch verlag, 128 Seiten
14,90 Euro

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Corporate Social Irresponsibility

  • 11.05.2015, 08:36

Mit Corporate Social Responsibility versuchen Unternehmen sich ein soziales oder grünes Image zu geben. Die Grenzen zum Greenwashing sind fließend.

Mit Corporate Social Responsibility versuchen Unternehmen sich ein soziales oder grünes Image zu geben. Die Grenzen zum Greenwashing sind fließend.

„Hamburg tankt grünen Strom!“ So warb der Stromkonzern Vattenfall 2011 an etlichen Bushaltestellen in der Hansestadt. Ziel dieser Aktion war es, als umweltfreundlicher Konzern wahrgenommen zu werden. Bald klebten Warnschilder mit der Aufschrift „Vorsicht Greenwashing“ auf den Werbetafeln. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hatte Vattenfall entlarvt, der „grüne“ Strom stammte mehrheitlich aus klimaschädlichen Kohlekraftwerken.

Doch nicht jedes Unternehmen macht falsche Versprechungen. Tatsächlich ist heutzutage das Übernehmen von sogenannter „gesellschaftlicher Verantwortung“ oder Corporate Social Responsibility (CSR) für viele Unternehmen wichtig, zumindest wenn man Leitlinien und Webseiten glauben will. CSR kann rein philanthropisch sein, zum Beispiel in Form von Unternehmensstiftungen. Die integrativen oder innovativen CSR-Richtungen versuchen unter Eingliederung verschiedener Interessensgruppen umweltfreundliche und soziale Werte im Unternehmen und seinen Produkten zu verankern. Ein Paradebeispiel für aufrichtige CSR soll der Softwaregigant Microsoft sein. Das CSR-Magazin thecro.com bescheinigt dem Unternehmen eine Vorreiterrolle im Hinblick auf Klimaschutz, Menschenrechte, Mitarbeiter_innenzufriedenheit und Philanthropie.

Kritik erfährt CSR sowohl von neoliberaler als auch von linker Seite. Während neoliberale Denker_innen wie Milton Friedman unter dem Motto „the business of business is business“ abstreiten, dass Unternehmen auch eine andere Verpflichtung haben könnten als Profite einzufahren, wird von linker Seite gerne kritisiert, dass CSR nur eine Marketingstrategie sei, um angeschlagene Unternehmensimages aufzupolieren.

Die Grenzen zwischen CSR und Greenwashing sind oft fließend, wobei Greenwashing sich immer auf falsche Aussagen stützt, um als fair, umweltbewusst oder klimaschützend wahrgenommen zu werden. Greenpeace versucht schon seit Jahren, Greenwashing aufzudecken und die Öffentlichkeit über falsche Aussagen von Unternehmen aufzuklären. Beispielsweise haben sie in den letzten Jahren gegen VW und McDonalds propagiert. VW hatte mit „grüner“ Herstellung geworben, dabei hat die Produktion Klimaschutzgesetze missachtet. McDonalds warb zwar mit dem Nachhaltigkeitsgedanken, verwendete aber Fleisch aus Massentierhaltung und von Hühnern, die mit GMO-Soja gefüttert wurden.

TRITTBRETTFAHREN. Die Motive von Unternehmen, Greenwashing zu betreiben, sind für Reinhard Steurer, Politikwissenschaftler an der Universität für Bodenkultur, klar: „Mit einem Wort: Trittbrettfahren. Firmen erhoffen sich Image-Gewinne, ohne dafür entsprechende Leistungen erbringen zu müssen. Das kann nur funktionieren, wenn andere Firmen CSR ernst nehmen und es für Konsument_innen nicht einfach ist, zwischen seriöser CSR und Greenwashing zu unterscheiden.“

Auch eine Kurzstudie von Ulrich Müller für die NGO LobbyControl findet gute Gründe für Unternehmen, sich einen „grünen“ Anstrich zu geben. Es soll in erster Linie nicht darum gehen, den Umsatz zu steigern, dafür seien spezifische Marketingmaßnahmen passender. Vielmehr liegen die Motive bei einer Bereinigung des Images. Umstrittene Vertriebsabläufe sollen akzeptabler wirken. Außerdem versuchen Unternehmen, neue gesetzliche Regulierungen zu verhindern, indem sie den Gesetzgeber_innen das Bild vermitteln, Umweltprobleme selbst lösen zu wollen. Darüber hinaus wissen Unternehmensmanager_innen, dass eine umweltbewusste Unternehmensphilosophie staatliche Subventionen mitbringen kann. „Sie wissen, dass sie etwas verändern müssen – sie wollen nur nicht selber dafür bezahlen“, so Müller.

Teilweise hängt der Erfolg von Greenwashing aber auch damit zusammen, inwieweit die Gesellschaft an gewissen Praktiken interessiert ist. „Besteht wenig Interesse an der Thematik, kann Greenwashing im Sinne des Unternehmens funktionieren. Wenn sich Branchenvertretungen symbolisch mit CSR beschäftigen, dann kann das sogar für ganze Branchen funktionieren. Oft ist es allerdings eine Frage der Zeit, bis Greenwashing auffliegt – dann kann der Imageschaden groß sein, weil man ja als Trittbrettfahrer_in entlarvt wurde“, so Steurer.

PROFITE STATT BÄUME. Verbraucher_innenverbände versuchen über Werbelügen und Greenwashing Transparenz zu schaffen. Zum Beispiel kürt die Website foodwatch.org jedes Jahr die Gewinner_innen des „Goldenen Windbeutels“. 2014 waren Firmen wie Nestlé, Coca-Cola und Unilever nominiert. Um nicht auf Greenwashing reinzufallen, müssten Konsument_innen sich also vor dem Kauf jeglicher Produkte schlau machen. Auch Reinhold Steurer findet diese Vorstellung eher unrealistisch: „Wir treffen wöchentlich so viele Kaufentscheidungen, dass es schwer ist, sich im Detail mit jedem Produkt zu beschäftigen. Aus diesem Grund sind verlässliche und klare Labels so wichtig: Sie sollen den CSR-Markt transparenter machen und Greenwashing verhindern. Problematisch wird es dann, wenn von Regierungen zugelassen wird, dass mit irreführenden Labels oder Produktbezeichnungen Greenwashing betrieben wird. Labels verlieren dann ihre primäre Funktion: Transparenz wird auf diese Weise zerstört – und Trittbrettfahren gefördert.“

Manche Unternehmen engagieren sich also ernsthaft, andere profitieren von schwammigen Werbebotschaften und versuchen den Trend für sich zu nutzen – zumindest bis derartige Praktiken reguliert werden. Im Zweifelsfall gilt das größte Engagement den eigenen Shareholder_innen. Die wollen nur selten die Umwelt, dafür umso mehr ihre Profite retten.

 

Atahan Demirel studiert Internationale Betriebswirtschaft an der Universität Wien.

 

Wer zu stark brennt, brennt aus

  • 11.05.2015, 08:36

Aktivist_innen stecken Zeit, Arbeit und eventuell auch Geld in die Realisierung von Projekten und Veränderungen. Doch manchmal geben sie zu viel, um die Welt zu retten. progress hat mit Aktivist_innen über Burnout, Überlastung und fehlende Anerkennung gesprochen.

Aktivist_innen stecken Zeit, Arbeit und eventuell auch Geld in die Realisierung von Projekten und Veränderungen. Doch manchmal geben sie zu viel, um die Welt zu retten. progress hat mit Aktivist_innen über Burnout, Überlastung und fehlende Anerkennung gesprochen.

Mahriah berichtet über Prozesse und Repression, die Antifaschist_innen erfahren. Auf Twitter und Facebook teilt sie Infos über Abschiebungen und organisiert Treffen für Netzfeminist_innen, kurz: Mahriah ist politische Aktivistin. „Über einen Freund habe ich 2008 von den Prozessen gegen zehn Tierschützer_innen, die in U-Haft waren, erfahren. Der hat mich zum Landesgericht mitgenommen, das war meine erste Kundgebung. Seitdem bin ich aktiv.“ Für Mahriah gibt es immer was zu tun. Sie gündete prozess.report mit, organisiert das femcamp Wien mit, hält Verschlüsselungs- sowie Netzfeminismusworkshops, ist bei der Initiative für Netzfreiheit dabei und macht sonst noch „1.000 andere Dinge“. Irgendwann wurde ihr jedoch alles und „1.000 andere Dinge“ zu viel. „Ich habe lange nicht gemerkt, dass ich an einem Burnout leide.“

Julia Freidl vom Vorsitzteam der ÖH-Bundesvertretung (BV) begann ihr Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien. Politisch aktiv wurde sie, weil sie die Studieneingangsphase (StEOP) als unfair empfand und das ändern wollte. Als Teil des Vorsitzteams weiß sie, was Stress bedeutet und kennt auch das Gefühl der Überlastung. „Ich arbeite ehrenamtlich 60 Stunden in der Woche neben dem Studium. Gerade in der Prüfungszeit kann das sehr anstrengend werden.“

Aus Wut auf den Rassismus der schwarz-blauen Regierung und ihre konservativen Bildungspolitik ging Aaron Bruckmiller mit vierzehn zum ersten Mal auf eine Demonstration. Seitdem kämpft er „für eine andere, schönere Gesellschaft“ und ist heute bei der Interventionistischen Linken (iL) in Berlin und Blockupy aktiv. Dass Aktivist_innen manchmal zu viel geben, liegt für ihn auf der Hand. „Wer wie ich ehrenamtlich und in außerparlamentarischen Gruppen aktiv ist, fühlt sich immer wieder überfordert. Schließlich müssen wir unsere politische Arbeit neben unserem Job, Studium oder unseren Kindern tun.“

Selbstausbeutung in ehrenamtlichen Tätigkeiten ist keine Seltenheit. Lisa Tomaschek-Habrina vom Institut für Burnout und Stressmanagement weiß, dass das ehrenamtliche Engagement seine Tücken hat. Nicht nur, weil der monetäre Ausgleich fehlt: „Wenn das Arbeitsaufkommen mit den Ressourcen im Gleichgewicht ist, kann man ein Ehrenamt Jahrzehnte lang machen, ohne dass etwas passiert. Kippt diese Waage und die Belastung überwiegt, kann man es mit den eigenen Ressourcen nicht mehr ausgleichen.“

DICKE HAUT. Im politischen Aktivismus bereitet Abgrenzung oft besondere Schwierigkeiten: Man steht mit seinem Gesicht und Namen für eine Sache, das Engagement ist Sinnbild persönlicher Hoffnung. Reagierten das politische System und die Öffentlichkeit gar nicht oder negativ auf den eigenen Einsatz, trifft das direkt ins Mark des_r Engagierten.

Julia Freidl kennt es, dass Anerkennung und Wertschätzung ausbleiben oder gar negative Rückmeldungen sie erreichen. Als Mitglied des Vorsitzteams der ÖH steht sie genauso wie die anderen Mitglieder des Teams nicht selten unter Kritik von Seiten Studierender, Medien oder auch politischer Fraktionen. „Man lässt sich eine dicke Haut wachsen. Aber leicht ist es nicht. Nicht alles, was du tust, bekommen alle Studierenden automatisch mit.”

Eine besondere Möglichkeit, die eigene politische Arbeit sichtbar zu machen, bietet das Internet. Laut Christopher Hubatschke, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien, ist es nicht verwunderlich, dass Aktivist_innen das Medium Internet früh für sich entdeckt haben. „Politischer Widerstand hat sich quer durch die Geschichte dadurch ausgezeichnet die neusten Technologien zu vereinnahmen. Schließlich geht es um die Verbreitung von Information und Gegenöffentlichkeit. Das Internet eignet sich besonders gut, um die eigene Position darzustellen und Solidarität aufzubauen.”

Mahriah benutzt seit Beginn ihrer politischen Arbeit Twitter und Facebook und würde sich auch als Netzaktivistin bezeichnen. Das erste, was sie nach dem Aufwachen – noch vor einem Kaffee – tut, ist ihre Mails zu checken. Aktivismus und Internet gehen für Mahriah Hand in Hand.

TOPFHOTLINE. Christopher Hubatschke setzt sich in seiner Dissertation theoretisch mit Protest- und sozialen Bewegungen in Verbindung mit neuen Technologien auseinander. Da er aber auch bei #unibrennt dabei war, kennt er auch die praktische Seite. Er schwärmt von den Möglichkeiten, die das Internet bietet, um Aktivismus vor Ort zu unterstützen. „In der Volxküche hat uns mal ein Topf gefehlt. Wir haben das auf unseren Social-Media-Kanälen gepostet. Innerhalb von 20 Minuten hat uns jemand einen Topf vorbeigebracht.“ Vor der Allmachtfantasie, dass das Internet von selbst Demokratie und Freiheit bringen würde, warnt Hubatschke jedoch. „Auch im Netz müssen Strukturen, Organisation und Kommunikationswege von Aktivist_innen aufgebaut werden.”

In Zeiten von Blogs, Social Networks und anderen Wortmeldeplattformen braucht man nicht mehr unbedingt auf die Straßen zu gehen, um etwas zu bewirken. Ein Klick, Like oder Post lässt sich bequem vom Smartphone absenden und schon kann man sich zum Team Weltrettung zählen. Die Vorteile liegen auf der Hand. Onlineaktivismus ist wesentlich kostengünstiger. Er ist spontan, schnell und nicht an Raum und Zeit gebunden. Jede_r kann. Immer. Von überall.

Mahriah weist auf die Besonderheit des Internets hin, als Aktivist_in rund um die Uhr etwas tun zu können. „Wenn andere Leute schlafen gehen, gibt es tausend andere Leute, die gerade was tun. Du kannst dich gut beschäftigen und das lenkt auch effektiv vom Burnout ab.“ Auf die Frage, wie viele Stunden sie vor dem Computer verbringt, kann sie keine eindeutige Antwort geben. „Es ist sehr schwer für mich einzuschätzen. Seitdem ich mein Smartphone habe, bin ich rund um die Uhr online.“

ENEMY’S WATCHING. Sich oft und viel im Netz zu bewegen bedarf auch etwas an Vorsicht. Die Gesetzeslage bezüglich Onlineaktivismus ist nach wie vor uneindeutig. So etwas wie Demonstrationsrecht wird nicht gesichert. Die Blockade von Webseiten kann, muss aber keine Folgen nach sich ziehen. Hubatschke, Aaron und Mahriah wissen, dass es als Onlineaktivist_in notwendig ist, sich vor staatlicher Repression und Überwachung zu schützen. „Es ist klar, dass die Polizei auf Twitter und Co mitliest. Man versucht sich zu schützen, indem man nicht jede Information teilt oder nicht unter dem Klarnamen postet. Ich versuche egal welche Information verschlüsselt zu senden“, sagt Mahriah.

Aber auch im Sinne der Selbstausbeutung und Verletzlichkeit bringt der Cyberaktivismus Nachteile. So können Hassmails und Shitstorms persönlicher und kräftiger auf eine_n niederpeitschen. „Als Blockupy-Pressesprecher habe ich ein paar Fernsehinterviews gegeben, die zu einem kleinen Shitstorm im Internet führten. Neben Morddrohungen erreichten mich Empfehlungen nach Nordkorea, zum IS oder in einen PR-Kurs zu gehen. Als ich das zum ersten Mal las, musste ich mehrmals schlucken.“, erzählt Aaron. Die Unmittelbarkeit verlangt prompte Reaktionen bei gleichzeitigem Mangel an Schutz und Struktur. Für Mahriah ist es besonders schwierig, sich aus Onlinediskursen auszuklinken oder mal das Handy abzuschalten.

I’M A CREEP. Für das Ausbrennen spielen neben privaten Belastungen auch Persönlichkeitsfaktoren eine ebenso große Rolle. Gefährdet, sich für eine Sache bis zur Erschöpfung zu verausgaben, sind vor allem Menschen, die nicht wissen, wann „perfekt“ perfekt genug ist, oder alle Aufgaben stets sofort erfüllen möchten. Gerade im Bereich des politischen Engagements, das 24 Stunden am Tag einnehmen kann und wo Geschehnisse oft eine sofortige Reaktion verlangen, ist ein Vertagen auf morgen, das oftmals gesundheitsfördernd wäre, nicht möglich.

Auch für Mahriah ist es nicht leicht, sich auszuklinken. „Mir fällt es ehrlich gesagt sehr schwer, mal eine Pause zu machen. Allein wie viel Zeit wir in den letzten Monaten, in denen wir prozess.report gegründet haben, investiert haben. Wir waren ständig in Gerichtssälen, sind von einem Prozess zum nächsten und haben uns keine Pause gegönnt. Das hat auch zu dem Burnout geführt, an dem ich gerade arbeite.“ Die Erschöpfung kann sich dann auf körperlicher und geistiger Ebene manifestieren, erklärt Tomaschek-Habrina. Von Beschwerden im Verdauungstrakt über Konzentrationsschwierigkeiten bis hin zu depressiven Stimmungen oder Angstzuständen reichen die Symptome einer Überlastung.

Nach einer Zeit der intensiven Prozessberichterstattung bemerkte Mahriah, dass sie nicht mehr so fit war und immer häufiger krank wurde. Auch fiel ihr auf, dass sie weniger schaffte als früher. „Ich war phasenweise eher erschöpft. Dann hab ich eine Pause gemacht, aber ich hab das nie als Burnout anerkannt, sondern hab’ mir gedacht, ich hab’s etwas übertrieben. Ich habe mir zwar nach den Urteilen eine Auszeit gegönnt, aber das hat nicht ausgereicht.“ Erst durch viele Gespräche mit anderen Aktivist_innen, die auch ein Burnout durchmachen oder durchgemacht haben, konnte sie ihren Schwierigkeiten einen Namen geben: Burnout.

POLITISCHE HERZEN. Laut Tomaschek-Habrina ist es wichtig, Warnsignale früh genug zu erkennen und für sich selbst zu sorgen: mittels ausreichender Bewegung, Entspannung, guter Ernährung, Psychohygiene und sozialen Kontakten. Für Mahriah sind es vor allem Freund_innen aus dem Netz, die sie auffangen und von denen sie sich Unterstützung holen kann. „In Wien kann man beim Netzfeministischen Bier oder femcamp über Hasspostings oder solche Dinge reden. Der Vorteil vom Netzaktivismus ist ja: Wenn man es gerade nicht schafft, kann man das Internet abschalten. Aber dann ist man nicht mehr Teil des Diskurses. Das fällt mir manchmal schwer. Aber es funktionert ganz gut, um sich wieder Energie zu holen.“ Aaron nimmt sich auch mal eine Auszeit vom Aktivismus: „Wenn ich mich ausgebrannt fühle, schiebe ich alles von mir, treffe mich mit netten Leuten, gehe tanzen, schaue stundenlang Serien oder lese ein gutes Buch.“

Auf Mahriahs Laptop klebt ein Sticker, auf dem steht: „Unsere Herzen sind politisch.“ Ob sie schon mal daran gedacht hat, ihre Aktivist_innenarbeit aufzugeben? „Nein! Es macht natürlich auch sehr viel Spaß, auch wenn es frustriert. Man lernt tolle Menschen kennen und man macht Erfahrungen. Ich liebe ihn einfach, den Aktivismus. Ich könnte mir das gar nicht vorstellen, diese Arbeit zu beenden.“ Auch Julia möchte ihre Erfahrungen, auch wenn es mal frustrierend ist, nicht missen. Für Aaron muss Aktivismus aber irgendwann ohne Selbstausbeutung möglich sein: „Kein Aktivismus ist auch keine Lösung. Wir kämpfen gegen die Grobheit des Kapitalismus und für eine zärtliche Gesellschaft. Dieser Kampf schließt den zärtlichen Umgang mit sich selbst ein.“

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien. 
Alisa Vogt studiert Psychologie und Germanistik an der Universität Wien.

 

Von der Fantasie, die Welt zu retten

  • 11.05.2015, 08:36

Viele junge Europäer_innen „helfen“ und „erweitern ihren Horizont“ durch Freiwilligendienste im Ausland. Aber brauchen die Menschen in Asien, Lateinamerika und Afrika überhaupt unsere Hilfe? Über koloniale Denkmuster und rassistische Überlegenheitsgefühle.

Viele junge Europäer_innen „helfen“ und „erweitern ihren Horizont“ durch Freiwilligendienste im Ausland. Aber brauchen die Menschen in Asien, Lateinamerika und Afrika überhaupt unsere Hilfe? Über koloniale Denkmuster und rassistische Überlegenheitsgefühle.

Natalie aus Vorarlberg wollte nach der Matura so weit weg wie möglich – und dabei etwas Sinnvolles tun. Till aus Norddeutschland wollte nach dem Abitur die Entscheidung für ein Studium um ein Jahr verschieben, etwas von der Welt sehen – und etwas Gutes machen. Oleksandr aus der Ostukraine wollte nach dem Bachelor etwas Neues entdecken, sich weiterentwickeln – und sich an einer guten Sache beteiligen. Alle drei haben einen sogenannten Freiwilligendienst in einem anderen Land gemacht und bleiben hier lieber anonym. Wer wo hingeht, ist aber kein Zufall, sondern von globalen Machtverhältnissen diktiert.

VON DER FANTASIE... „Die Motivationen, einen Freiwilligendienst zu absolvieren, sind unterschiedlich“, meint Jana Herbst. Als Trainerin begleitet sie im Rahmen von Vor- und Nachbereitungsseminaren für verschiedene Organisationen junge Menschen, die sich ein Jahr im Ausland engagieren wollen. Herbst hat Internationale Entwicklung studiert und legt in ihren Seminaren den Schwerpunkt auf die Sensibilisierung für Rassismus und (post)koloniale Strukturen. „Ich begrüße es, wenn junge Menschen sich engagieren wollen und eine neue Sprache, ein neues Land oder die eigenen Grenzen in einem anderen Setting kennenlernen wollen“, sagt die Trainerin. Die Freiwilligen müssten sich aber bewusst sein, dass es vor allem um die eigene Erfahrung geht. Herbst beobachtet, dass das meist nicht der Fall ist. Die eigene Erfahrung ist den Freiwilligen vor ihrem Auslandsaufenthalt zwar auch wichtig, im Mittelpunkt steht aber der Wunsch zu helfen. Sehr oft haben die Freiwilligen ein exotisierendes und stereotypes Bild von Asien, Lateinamerika oder Afrika: „Es ist eine koloniale Vorstellung zu glauben, anderen zeigen zu können, wie es besser geht und was der richtige Weg ist.“

Illustration: Marlene Brüggemann

Die Menschen im Globalen Süden werden dabei als Objekte gedacht, denen geholfen werden muss. Diese Logik entspringt einem Überlegenheitsgefühl, das auf den europäischen Kolonialismus zurückgeht. In der weißen Allmachtsfantasie vom Weltretten werden Schwarze Menschen beziehungsweise People of Color nicht als eigenständige Subjekte wahrgenommen, die ihr Leben selbst regeln können. Es wird ausgeblendet, dass die teilweise extremen Formen der Armut im Globalen Süden nicht auf die Unfähigkeit seiner Bewohner_innen zurückgeht, sondern auf die postkolonialen Machtverhältnisse im Kapitalismus. Diese strukturellen Probleme können nicht durch Freiwilligendienste gelöst werden.

Genau mit diesen Fantasien spielen aber so gut wie alle Organisationen, die Auslandsaufenthalte für Europäer_innen im Globalen Süden anbieten, kritisiert Herbst: „Sie arbeiten mit klassischen kolonialen Bildern auf ihren Homepages. Auf den Fotos wird beispielsweise ein weißer Freiwilliger mit einem Buch inmitten von Schwarzen Kindern abgebildet – eine klassische koloniale Ästhetik. Das ist Teil eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses, in dem der Globale Süden als andersartig dargestellt wird und als Objekt, das unserer Hilfe bedarf. Die Motivation der Freiwilligen wird damit bestätigt: zu helfen, die Welt zu verändern und aus einer erhabenen Position heraus bestimmen zu können, wer Hilfe braucht und wie diese Hilfe auszusehen hat.“

...UND DER REALITÄT. Die Erkenntnis, dass es doch nicht so einfach ist, die Welt zu retten, machen viele Freiwillige dann im Laufe ihrer Zeit im Ausland. Natalie, 28 und Lehramtsstudentin, war vor dem Studium fünf Monate in Ecuador. Unter anderem half sie einer alten Frau bei der Arbeit auf dem Feld, einer Schule beim Pflanzen von Bäumen im Schulhof und einer Sozialarbeiterin bei der Projektdokumentation. „Ich und die anderen Freiwilligen haben den Leuten bei alltäglichen Dingen geholfen, aber das hätten sie auch ohne uns geschafft“, erzählt Natalie. Heute sieht sie ihren Freiwilligendienst als eine Form von Tourismus. Damals war das anders: „Ich bin mit der Erwartung in die Projekte gegangen, etwas Sinnvolles machen zu können.“ Geholfen hat der Freiwilligendienst vor allem ihr selbst: „Ich bin kurz nach der Schule nach Ecuador gegangen und habe dort viel an Selbstverantwortung mitgenommen.“

 

Illustration: Marlene Brüggemann

Till ist heute 24 und studiert Internationale Entwicklung. Mit 19 Jahren war er zwölf Monate in Ruanda, wo er bei der Umweltorganisation ACNR arbeitete. Er war dort Bürokraft und Ansprechperson für Projektpartner_innen. Gemeinsam mit sogenannten Nature Clubs in Schulen in Kigali hielt er Seminare zu ökologischer Landwirtschaft. Dabei wurde ihm bewusst, dass er eigentlich sehr wenig Ahnung vom Thema hatte. „Bis auf mich und den zweiten Freiwilligen aus Deutschland haben in der Organisation nur Ruander_innen gearbeitet, die alle viel mehr Plan hatten. Das ist eigentlich eine ganz banale Erkenntnis, dass Leute, die das studiert haben, viel kompetenter sind als Leute, die gerade das Abitur gemacht haben.“ Würde Till das heute wieder machen, dann nur mit einer zumindest teilweise abgeschlossenen Ausbildung oder mit einem konkreten Plan, was er arbeiten will und wie er das umsetzen kann.

Dass der Einsatz im Ausland vor allem ein Lernfeld für die Freiwilligen selbst ist, wird ihnen kaum vermittelt, kritisiert Jana Herbst. Wenn sie davon erzählt, spricht sie nicht nur von den Freiwilligen in ihren Vor- und Nachbereitungsseminaren, sondern auch von sich selbst. Auch sie hat vor dem Studium Freiwilligendienst, in einem Kinderfreizeitzentrum in Honduras geleistet. Heute sieht sie ihre damalige Motivation sehr kritisch: „Ich wollte helfen, die Welt zu verändern und hatte ein sehr exotisierendes Bild von den Menschen in Honduras. Als ich dann dort war, habe ich gemerkt, dass ich nicht viel verändern kann, dass ich nicht einmal eine pädagogische Ausbildung habe und dass – umgekehrt – ich die Unterstützung der Menschen dort brauchte, um mich zurechtzufinden, die Sprache zu lernen und so weiter.“ Diese Erfahrung stoße bei einigen Freiwilligen einen Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Rassismen und weißen Privilegien an, erklärt die Trainerin. „Sie haben nicht die Welt verändert und es ging darum, dass sie selbst Hilfe brauchten. Sie erkennen, dass sie selbst sehr viel nehmen mussten und gar nicht so viel geben konnten, wie sie sich vielleicht gewünscht hätten.“

Jana Herbst kritisiert, dass koloniale Kontinuitäten und Rassismus bei den meisten Organisationen in der Vor- und Nachbereitung aber kaum Thema sind. „Es spricht nichts dagegen, ein freiwilliges soziales Jahr zu machen. Aber muss es in diesem kolonialen Setting sein? Die Frage ist, woher der Wunsch kommt, es im Globalen Süden zu machen, und was das reproduziert. Ich kann mich ja auch im europäischen Ausland engagieren“, merkt die Trainerin an.

Auch Oleksandr hat sich während seinem Freiwilligendienst gefragt: „Warum ist hier der Bedarf nach einem ausländischen Freiwilligen? Ich habe oft nicht gewusst, was von mir erwartet wird.“ Der 23-Jährige, der heute in Kharkiv (Ukraine) im IT-Bereich arbeitet, hat vor zwei Jahren seinen neunmonatigen Freiwilligendienst bei Lužánky, einem Freizeitzentrum für Kinder in Tschechien, angetreten. Dort hat er Workshops abgehalten, Veranstaltungen organisiert und beim Buffet geholfen. Die Arbeit mit Kindern war für ihn neu und die Sprache musste er erst lernen.

AUSTAUSCH AUF AUGENHÖHE? Auch bei einer guten Vor- und Nachbereitung der Freiwilligenarbeit bleibt die Ungleichheit bestehen. Die europäischen Freiwilligen im Globalen Süden befinden sich in einer privilegierten Situation. „Aus Mitteleuropa werden jährlich tausende Freiwillige entsendet. Das wäre umgekehrt nie möglich. Das ist ein massives Ungleichgewicht und eine machtvolle Position“, erklärt Jana Herbst.

Das schlägt sich auch in den Werbebildern nieder: Welche Organisation wirbt mit Fotos, auf denen eine Freiwillige aus Kolumbien oder Nigeria in einem österreichischen Kindergarten von lächelnden weißen Kindern umringt wird? Nur wenige Organisationen bieten Freiwilligendienste in Europa für Menschen aus Asien, Lateinamerika oder Afrika an. Hinzu kommt die EU-Aufenthaltspolitik, die Menschen zahlreiche Barrieren in den Weg legt, wenn sie im Schengenraum Freiwilligenarbeit leisten wollen. Globale Bewegungsfreiheit gibt es nur für einen bestimmten Teil der Menschheit. Viele junge Menschen engagieren sich sozial, die Möglichkeiten, das auf anderen Kontinenten zu tun, haben aber nur wenige.

Oleksandr kommt zwar auch aus Europa, aber nicht aus der EU. Für ihn war es schwieriger als für Natalie und Till, sich einen Freiwilligendienst zu organisieren. Auf die Frage, warum er sich für EVS (European Voluntary Service) entschieden hat, um einen Freiwilligendienst zu machen, meint er: „Ehrlich gesagt war es die einzige Option. Es gibt nicht viele Möglichkeiten für Menschen aus Drittstaaten, vor allem wenn du nicht aus einer reichen Familie kommst. Der EVS ist der einzige Freiwilligendienst, der dir die Möglichkeit gibt, ein Jahr im Ausland zu verbringen, und die Kosten dafür übernimmt.“ Leider gibt es kaum solche Angebote, die sowohl auf die koloniale Logik verzichten als auch für die Finanzierung sorgen. Auch Till musste die Kosten für sein Jahr in Ruanda nicht übernehmen. Einen Teil konnte er über einen Förderkreis aufstellen. Drei Viertel wurden vom deutschen Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung übernommen, denn in Deutschland gibt es „weltwärts“, ein staatliches Förderprogramm für Freiwilligeneinsätze. Dieses fördert auch den Verein Solivol, mit dem Till nach Ruanda ging und der sich für eine Nord-Süd-Kooperation zur nachhaltigen Energiegewinnung einsetzt.

Ein entsprechendes Förderprogramm gibt es in Österreich nicht. Natalie ging über die österreichische Entsende-Organisation „Grenzenlos“ nach Ecuador und musste die Kosten ihres Auslandsaufenthalts selbst übernehmen. Das begünstigt junge Menschen aus gutsituierten Familien. Positiv an „Grenzenlos“ ist, dass es einen gegenseitigen Austausch zumindest anbietet und internationale Freiwillige nach Österreich kommen können, erklärt Jana Herbst. In Deutschland wurde nach massiver Kritik an „weltwärts“ das Programm „weltwärts-Reverse“ eingeführt, in dem internationale Freiwillige nach Deutschland kommen können. Allerdings wird „weltwärts-Reverse“ in weit geringerem Ausmaß gefördert. Von einem gegenseitigen Austausch auf gleicher Augenhöhe ohne Rassismus und koloniale Kontinuitäten sind Freiwilligendienste also noch weit entfernt.

 

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der Jugendarbeit sowie als freie Journalistin tätig.

 

Rettet die Wale und stürzt das System!

  • 11.05.2015, 08:36

Sechs Dinge übers Weltretten, die du noch nicht wusstest

Sechs Dinge übers Weltretten, die du noch nicht wusstest

Ohne Gage

Der Begriff „Engagement“ kommt – Überraschung! – aus dem Französischen. Er hat zwei hauptsächliche Bedeutungen: Auf der einen Seite bezeichnet er eine berufliche Verpflichtung, auf der anderen den persönlichen Einsatz aus einem Gefühl der Verbundenheit und der Verpflichtung heraus. Das zugehörige Verb „engager“ besteht aus den beiden Worten „en“ (in) und „gage“ (Gehalt, Lohn). Hier wird der implizite finanzielle Aspekt des Begriffs sichtbar.

Paradoxerweise ist gerade das soziale Engagement oft unbezahlt und erfolgt rein aus moralischen Überzeugungen – oder um den eigenen Lebenslauf aufzupolieren. Nicht umsonst wird soziales Engagement häufig auch als Freiwilligenarbeit bezeichnet.

Die Ziele von sozialem Engagement sind so divers wie die Personen, die sich engagieren. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass soziales Engagement einen Status quo, der als verbesserungswürdig wahrgenommen wird, verändern soll.

Crowds, Change, Cash

Auf Onlineplattformen wie change.org oder avaaz.org kann jede und jeder eine Unterschriftenaktion starten und unterschreiben. Doch diese Plattformen sind nicht etwa gemeinnützige Organisationen oder Vereine: Nein, sie sind ganz klassische Unternehmen, die sich durch Kooperationen, Aufträge und Werbung finanzieren. Crowdfunding-Webseiten wie gofundme.org oder kickstarter.comkassieren meist einen Teil der Gesamtspenden bzw. jedes einzelnen Spendenbeitrages über Gebühren ein. Und nicht zuletzt bezahlen die meisten NGOs gewinnorientierte Agenturen, die junge Menschen prekär beschäftigen, um die heiß gefragten Mitgliedsbeiträge einzuholen (vgl. progress 4/14). Die traurige Wahrheit: Aktivismus ist manchmal auch nur ein Business.

Freiwilligenarbeit

In Österreich ist Freiwilligenarbeit sehr beliebt. 46 Prozent der Bevölkerung über 15 leisten Freiwilligenarbeit – also ca. 3,3 Millionen Menschen. Aber was genau bedeutet der Begriff „Freiwilligenarbeit“? Wie so oft gibt es hier verschiedene Definitionen. Das Freiwilligengesetz bezieht sich auf jene Leistungen, die freiwillig und unentgeltlich von Personen in einem organisatorischen Rahmen für andere erbracht werden, aus sozialen Motiven und ohne Erwerbsabsicht. Der Aspekt der informellen Arbeit ohne organisatorischen Kontext, zum Beispiel „Nachbar_innenschaftsdienst“, wird hierbei nicht berücksichtigt.

Gebiete, in denen Österreicher_innen sich engagieren, sind zum Beispiel soziale Dienste, Kultur, Politik, Sport, Gesundheit und Pflege sowie Rettungs- und Katastrophenhilfsdienste. Für alle Interessierten: Die Seite freiwilligenweb.at enthält ein Verzeichnis etlicher Freiwilligenorganisationen, bei denen man sich in Österreich engagieren kann.

Period.

„I will not apologize for not feeding the ego and pride of misogynist society that will have my body in an underwear but not be okay with a small leak.“ Die kanadische Künstlerin Rupi Kaur zeigt in ihrer Fotoserie „period.“ Bilder von Menstruationsblut in verschiedenen Kontexten. Sie wehrt sich damit gegen eine Gesellschaft, die mit der Sexualisierung und Degradierung von Frauen einverstanden ist, nicht aber mit natürlichen Prozessen ihres Körpers, die sie als krank und schmutzig erachtet. Eines von Rupis Fotos zeigt eine Frau, auf deren Hose Menstruationsblut zu sehen ist. Auf Instagram wurde das Bild zweimal gesperrt. Allerdings nicht lange: Rupi empörte sich in mehreren sozialen Netzwerken darüber und erhielt so enorme öffentliche Unterstützung, dass Instagram sich gezwungen sah, das Bild wieder freizuschalten. „You made a giant see that it is only a giant cause you are part of its existence“, schreibt Rupi zum gemeinsamen Erfolg.

Clicktivism

Der Begriff „Clicktivism“ bezeichnet den Gebrauch sozialer Medien zur Förderung einer Sache. Durch das schnelle und einfache Teilen und Verbreiten von Anliegen und Protestaktionen sollen Aktivismus und gesellschaftlicher Wandel erleichtert werden.

User_innen organisieren sich in Gruppen und machen auf Twitter und Facebook auf Inhalte aufmerksam. Doch dieser Online-Aktivismus ist auch als bequeme, wirkungslose Gewissensberuhigungsmaßnahme verschrien: „Clicktivism will never bread social revolution“, meint etwa Micah M. White, Occupy-Aktivist der ersten Stunde. das wichtigste Gegenbeispiel für diese These des einen, richtigen Aktivismus sind wohl der gesamte arabische Frühling und seine vielen Nachwehen, wo Soziale Medien eine große Rolle spielten. Auch Hashtag-Aktivismus wie #Aufschreiin Deutschland und aktuell #BlackLi vesMatter in den USA SORGT dafür, dass Themen gehört und besprochen – und oft von anderen Aktionsformen begleitet – werden. Nicht zuletzt bietet Online-Aktivismus marginalisierten Gruppen Raum für Vernetzung, Austausch und Planung gemeinsamer Aktionen.

Karten der Katastrophen

Naturkatastrophen verändern komplette Landschaften in nur wenigen Minuten gravierend. Herkömmliche Karten und sporadisch aktualisierte Dienste wie Google Maps bieten Helfer_innen vor Ort dann keine Orientierung mehr. Die Community des Open-Source-Dienstes Open Street Map (OSM), der wie eine Wikipedia für Weltkarten funktioniert, versucht zu helfen, indem sie die Karten so schnell wie möglich anpasst. Firmen, die Satellitenbilder anfertigen, liefern für die Online-Kartograph_innen aktuelles Material, aufgrund dessen diese die Karten verändern. Schon 2010 beim Erdbeben in Haiti und 2013 nach dem Taifun Hayan auf den Philippinen wurde das System erprobt. Mit Erfolg: Das Rote Kreuz in den USA empfiehlt den Einsatz von OSM in Katastrophengebieten. Waren es 2010 erst 500 Helfer_innen, so kartieren aktuell über 2.000 Menschen auf tasks.hotosm.org das Erdbebengebiet in Nepal.

 

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien.

 

„Ein Mord passiert, damit er zum Bild wird“

  • 11.05.2015, 08:36

Enthauptungen, Steinigungen, Verbrennungen – der Islamische Staat (IS) entsetzt durch die Verbreitung der Video-Dokumentation seiner Greueltaten. Bildexpertin Petra Bernhardt geht in ihrer Forschung den Bildstrategien der Terrororganisation auf den Grund.

Enthauptungen, Steinigungen, Verbrennungen – der Islamische Staat (IS) entsetzt durch die Verbreitung der Video-Dokumentation seiner Greueltaten. Bildexpertin Petra Bernhardt geht in ihrer Forschung den Bildstrategien der Terrororganisation auf den Grund.

progress: Sollten Medien prinzipiell auf die Verwendung von propagandistischem IS-Bildmaterial verzichten?

Petra Bernhardt: Diese Frage kann nicht mit einem generellen Ja oder Nein beantwortet werden. Wenn ein Video tatsächlich einen hohen Nachrichtenwert hat und es gut kontextualisiert wird, kann eine Veröffentlichung durchaus Sinn machen. Aber Terrorbilder eignen sich nicht als Teaser. Ich verstehe das natürlich aus der Logik des Medienschaffens heraus. Solange man aber nicht weiß, was diese Bilder konkret auslösen, würde ich mir einen reflektierteren Umgang damit wünschen.

Aber selbst wenn die Bilder ausreichend kontextualisiert werden, ihre affektive Wirkung lässt sich nicht „wegerklären“.

Richtig. Genau deswegen sprechen wir von der Macht der Bilder.

Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, dem IS diese Bildmacht zu nehmen?

Nein, das glaube ich nicht. Ich halte den Begriff „Bildmacht“ selbst schon für eine Konstruktion. Es ist ein strategisches Spiel. Der IS kennt die Logiken einer globalisierten Medienbranche sehr gut. Diese kann seinen Bildern nichts entgegensetzen. Es wäre vermutlich recht sinnlos, wenn wir offensiv demokratische Strukturen bewerben. Das wird so nicht funktionieren.

Wie die IS-Bilddebatte geführt wird, ist überholt. Alle reden von der „Wirkmacht“ der Bilder, die RezipientInnen selbst stehen kaum im Fokus. Woran liegt das?

Die NutzerInnen kommen tatsächlich nur sehr am Rande der Debatte vor. Das ist in hohem Maß irritierend. Ich glaube, ein Grund dafür ist die Selbstreferentialität des Mediensystems: JournalistInnen diskutieren mit JournalistInnen über Darstellungsformen. Auch die bisherige Forschung beschäftigt sich sehr stark mit der Repräsentationsebene. Welche Botschaften vermitteln die Bilder? Wie sieht es mit den technischen Rahmenbedingungen aus? Dabei fehlt die Frage, was die NutzerInnen wollen. Tatsächlich ist das schwer zu erforschen. Eine groß angelegte NutzerInnenstudie bräuchte nicht nur die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen, sondern auch einen größeren zeitlichen Abstand.

Verweisen Popkultur-Anleihen und die Imitation der westlichen Bildsprache in den IS-Videos auf ein westliches Zielpublikum?

All die Strategien, die wir beim IS finden – die Videospiel-Zitate, die Popkulturanleihen –, sind in der zeitgenössischen Politik gängige Praxis. Die Unterscheidung liegt darin, was gezeigt wird und nicht wie es gezeigt wird. Der IS spricht mit den Videos verschiedene Teilöffentlichkeiten an. Zum einen geht es um die ganz banale Verbreitung der Botschaft. Dann gibt es eine regionale Zielgruppe, wo es auch um Abschreckung geht. Wir haben mit Irak und Syrien zwei politische Gebilde, die komplett in Erosion begriffen sind. Es ist vermutlich nicht leicht, dort noch eine Armee zu mobilisieren, wenn es Videos gibt, in denen SoldatInnen massenhaft gefoltert und grausam ermordet werden. Andererseits wird in den Medien immer wieder die These vertreten, dass die Terrorvideos als Anwerbungs- und Mobilisierungswerkzeug eingesetzt werden. Dazu gibt es bislang noch keine systematischen Untersuchungen. Was Menschen tatsächlich dazu bringt, sich dem IS anzuschließen, ist schwer festzumachen. Momentan überwiegen Mutmaßungen darüber, was diese Videos können. Es wird sehr viel über die Leute gesprochen und sehr wenig mit ihnen. Ich war von einigen Medienbeiträgen aufgrund ihres hochspekulativen Charakters befremdet.

Das Video, das die Enthauptung des Journalisten James Foley zeigt, hat eine Ethikdebatte im Journalismus entfacht.

Das war ein Dammbruch. Es ist kein Zufall, dass genau dieses Bild so viel ausgelöst hat. Es hat eine extrem starke Bildkomposition und viele verschiedene Bezüge verdichten sich darin: einerseits der visuelle Bezug auf die Häftlingskleidung in Guantanamo, dann die Kompositionslogik des Raumes, die Wüstenlandschaft, das Täter-Opfer-Verhältnis, der verhüllte Kapuzenmann. Das Bild ist quasi ein Selbstläufer und als Medienereignis geeignet. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, der Terror als Bildakt beschreibt, würde es einen substitutiven Bildakt nennen. Das heißt: Menschliche Körper werden mit Bildern kurzgeschlossen und ein Mord passiert, damit er zum Bild wird.

Welche Bedeutung hat die Frage der Authentizität?

Ich beobachte, dass viele der Fiktion aufsitzen, diese Bilder hätten dokumentarischen Gehalt. Die Bilder werden ohne Kontextwissen weiterverbreitet. Mir ist auch aufgefallen, dass eine starke Vermischung von Terrorbildern und fotojournalistischem Material stattfindet. Da wäre ein höheres Reflexionsniveau nötig. Aber aufgrund der Lage dort steht wenig Material zur Verfügung, das fotojournalistischen Gehalt hat.

Was bedeutet diese Abwesenheit fotojournalistischer Bilder?

Wenn es keine Bilder gibt, dann gibt es auch kein visuelles Gedächtnis. Das wissen auch die Terrororganisationen. An diesem Punkt geraten die Medien unter Druck. Hier zeigt sich, warum die Debatte nicht bei der Frage danach, welche Bilder gezeigt werden, aufhören darf. Es geht auch um die Rahmenbedingungen, unter denen fotojournalistische Bilder entstehen. Und darum, warum wir diese Bilder brauchen und wie wir ihr Entstehen sicherstellen können. Es ist eine etwas scheinheilige Debatte, immer über die Bilder zu reden und nicht über die Menschen, die diese Bilder machen.

 

Cornelia Grobner ist freie Journalistin und Doktoratsstudentin im Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg.

In einer Bank arbeiten statt sie zu putzen

  • 11.05.2015, 08:36

Im März eröffnete in Wien das erste muslimische Frauenhaus. Über die Notwendigkeit von Hilfen, öffentliche Missverständnisse und Zukunftsvisionen sprach progress mit Silke Kettmann-Gamea bei einem Lokalaugenschein.

Im März eröffnete in Wien das erste muslimische Frauenhaus. Über die Notwendigkeit von Hilfen, öffentliche Missverständnisse und Zukunftsvisionen sprach progress mit Silke Kettmann-Gamea bei einem Lokalaugenschein.  „Angefangen hat alles in der Frauengruppe im muslimischen Zentrum vor ein paar Jahren“, erzählt Silke Kettmann-Gamea. Ein neu eingerichtetes Büro zwischen Donaukanal und Hannovermarkt, im Herzen von Brigittenau: In den Ecken stapeln sich Decken, Kleidung und Kuscheltiere – Spenden, die für das neu gegründete Projekt „Hatice“ abgegeben wurden. „Damals stieß eine konvertierte Frau zu uns, die nicht wusste wohin. Ich bot ihr meine Hilfe an.“ Das sei ein häufiges Problem, fährt die Mittvierzigerin fort. Viele Familien reagieren mit Ablehnung darauf, wenn ihre Kinder den Islam für sich entdecken. „Das ist ganz normal, dass das anfangs ein Schock ist. Man muss bloß den Fernseher einschalten und schauen, wie über den Islam berichtet wird.“ Doch nicht nur Konvertitinnen brauchen Hilfe. Die Frauengruppe war oft die erste Anlaufstelle für Probleme jeder Art.

WAS HAST DU FÜR EIN PROBLEM? Kettmann-Gamea arbeitete damals als Begleitlehrerin in der islamischen Volksschule des Vereins Jetzt – Zukunft Für Alle. Immer wieder baten dort Frauen um ihre Unterstützung. Da war es für sie der konsequente nächste Schritt, mehr anzubieten als spontane Privatunterkunft oder hier und da ein behördliches Schreiben in Alltagsdeutsch zu übersetzen. Anfang des Jahres wurden durch den Verein günstige Wohnungen angemietet und hergerichtet. Vor Kurzem sind die ersten Frauen eingezogen, sie leben in Wohngemeinschaften verschiedener Größe, je nachdem, wer sich miteinander versteht oder wer wie viel Platz braucht. „Das war uns wichtig, dass die Frauen quer durch die Stadt verteilt wohnen. Nicht nur aus Sicherheitsgründen. Wir hoffen, dass durch die WGs gegenseitige Unterstützung entsteht, aber auch, dass der Kontakt zu den NachbarInnen leichter fällt.“ Je nach Einkommen zahlen die Frauen Miete. Finanziert wird das Projekt aus Spenden und privaten Mitteln. „So lange wir uns das leisten können, soll es so bleiben.“

In der Anlaufstelle stehen eine Sozialarbeiterin und Integrations- und Frauencoaches zur Verfügung. „Viele Frauen kommen und wissen gar nicht genau, was sie wollen oder welche Möglichkeiten sie haben. Anfangs muss man grundlegend klären: Was hast du überhaupt für ein Problem?“ Wie in jedem Hilfeprozess wird sortiert, Prioritäten werden gesetzt und Zuständigkeiten ermittelt. Es wird auch geklärt, was „Hatice“ anbieten kann, wofür die verschiedenen öffentlichen Einrichtungen da sind, und was andere Vereine aus dem bestehenden Netzwerk übernehmen können.

NICHT NUR PUTZFRAUEN. Kettmann-Gamea schildert, dass es für viele Musliminnen schwierig sei Hilfe anzunehmen. Sie fürchten, nicht akzeptiert und unterstützt zu werden, auf Vorurteile zu stoßen oder aufgefordert zu werden, das Kopftuch abzulegen. Viele der Frauen sind nach islamischem Recht verheiratet. Bei Trennungen, Konflikten und auch wenn Kinder im Spiel sind, besteht häufig der Wunsch, Lösungen im Sinne der Scharia zu finden. Hier wird gemeinsam mit einer Rechtsberaterin und einem Juristen nach einem gangbaren Mittelweg gesucht.

Der Diskriminierung am Arbeitsmarkt möchte man durch Kooperationen mit Ausbildungsstellen entgegensteuern. Derzeit werden Frauen vorwiegend im Care-Bereich, in Kinderbetreuung und Altenpflege, vermittelt. Kettmann-Gamea möchte Frauen, die Kopftuch tragen, ermutigen, beruflich Fuß zu fassen und in der Öffentlichkeit präsent zu sein. „Vor ein paar Jahren gab es Berufe, die waren regelrechte Männerdomänen, das bricht langsam auf. Und warum sollte es nicht auch irgendwann möglich sein, dass eine Frau mit Kopftuch in der Bank hinter dem Schalter arbeitet, statt sie zu putzen?“

KRITISCHE STIMMEN. Der Trägerverein Jetzt – Zukunft Für Alle stand nach der Schließung der privaten Volksschule Anfang des Jahres in der Kritik. Auch das Projekt „Hatice“ wurde medial angegriffen. „Zunächst einmal sind wir nicht die Schule, sondern ein eigenes Projekt“, stellt Kettmann-Gamea klar. „Und zweitens: Die polizeilichen Ermittlungen dazu sind abgeschlossen, die Schule wurde von allen Anklagepunkten freigesprochen. Darüber berichtet niemand. Vom Stadtschulrat kam noch keine Reaktion.“ Weder Rechtsabteilung noch PressesprecherInnen des Stadtschulrats wollten progress diesbezüglich Auskunft geben.

Auch der Verein Wiener Frauenhäuser reagierte verschnupft auf das neue Projekt, nachdem es hieß, in seinen Einrichtungen dürften Muslimas ihre Religion nicht frei ausüben. „Das war ein Missverständnis“, räumt Kettmann-Gamea ein. „Ich glaube nicht, dass sie sagen: Du darfst nicht beten. Ich finde es wichtig, dass es solche Einrichtungen gibt, aber ich finde es genauso wichtig, dass es uns gibt. Man sieht ja, es wird gebraucht. Sonst würde es keinen Menschen interessieren.“ Kontakt gab es zwischen den beiden Vereinen bislang nicht, so Irma Lechner, Leiterin des dritten Wiener Frauenhauses: „Eigentlich ist das üblich in Wien, dass neue Projekte sich ankündigen und vernetzen. Aber mit Sicherheit ergeben sich irgendwann Schnittstellen.“ Eigenständig wolle man jedoch nicht auf das neue Projekt zugehen.

ZUKUNFTSMUSIK. Dass „Hatice“ sich als „Frauenhaus“ bezeichnet, folgt einem anderen Gedanken als jenem, der hinter Frauenhäusern steht, die Gewaltschutzeinrichtungen mit hohen Sicherheitsstandards sind: Es soll ein Ort für Frauen sein, für alle Frauen. Auch trans* Frauen. Egal welches Problem und welche Religion sie haben. Wenn sie sich etwas wünschen könnte, dann, dass alle Menschen eine Gemeinschaft sind. „Jeder für jeden, jede mit jedem, egal welcher Herkunft, egal ob Christ, Jude oder Moslem. Vielleicht erleb’ ich das ja noch.“

Zum Abschied überreicht Kettmann-Gamea einen Folder der noch jungen Dokumentationsstelle zur Durchsetzung von Gleichbehandlung für Muslime der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ). Eigene Folder hat „Hatice“ noch nicht, auch die Homepage ist noch im Aufbau. So wie vieles derzeit: Aktuell verhandelt der Trägerverein mit der Wiener RosaLilaVilla über die Bereitstellung leistbaren Wohnraums für LGBTI-Flüchtlinge: „Eigentlich hat alles ja gerade erst angefangen.“

 

Eva Grigori hat Germanistik in Göttingen und Wien studiert und beendet derzeit den Master Soziale Arbeit in St. Pölten.

 

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