März 2016

Zwei antidemokratische Ideologien

  • 10.03.2016, 15:18
Antisemitismus und Sexismus tragen dazu bei, dass die Welt so schlecht bleibt wie sie ist. Und das nicht nur für Frauen, Jüdinnen und Juden.

Antisemitismus und Sexismus tragen dazu bei, dass die Welt so schlecht bleibt wie sie ist. Und das nicht nur für Frauen, Jüdinnen und Juden. In ihrem Buch „Antisemitismus und Sexismus“ analysiert Karin Stögner die „vielschichtigen vermittelten Konstellationen“ der beiden Ideologien und geht ihren gesellschaftlichen Grundlagen und Funktionen nach.

Ihr ist dabei zweierlei selbstverständlich: Erstens ist nicht ein „Wesen“ von Frauen oder Juden und Jüdinnen, sondern die Welt der SexistInnen und AntisemitInnen Gegenstand des Buches. Zweitens geht es nicht darum, die Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Frauen gegen die von Juden und Jüdinnen aufzuwiegen oder gar in Konkurrenz zu setzen. Solch ein Vergleich wäre nicht nur falsch, sondern würde, zumal nach der Shoah, den Vernichtungswillen im Antisemitismus relativieren.

Karin Stögner hingegen analysiert kenntnis- und quellenreich das Verhältnis beider Ideologien zur Gesellschaft und zueinander. Sie stützt sich auf die ältere Kritische Theorie und die Psychoanalyse, verengt die Zusammenhänge dabei aber in keine Richtung und bezieht Historisches und seine Wandlungen ebenso wie Fragen der Repräsentation ein. „Wo Natur bloß zur bearbeiteten Materie herabgedrückt wird, bedeutet mit ihr identifiziert zu werden ein Verdikt.“ Das ist es, was Juden und Jüdinnen sowie Frauen in einer Gesellschaft, die krampfhaft auf Naturbeherrschung aufbaut, auf unterschiedliche und widersprüchliche Weise widerfährt. Sie waren und sind die Projektionsflächen, die das abbekommen, was das Individuum, um Subjekt zu sein, verdrängen muss, um dem „identischen und zweckgerichteten männlichen Selbst zu entsprechen.“

Bemerkenswert ist an Stögners Buch, wie vielschichtig sie die Ideologien seziert und wie diese Kritik Hand in Hand geht mit der Analyse von Interviews mit jüdischen Frauen in Österreich im letzten Kapitel. So taugt das Buch nicht nur zur Erhellung von Antisemitismus und Sexismus, sondern auch zur Einführung in die gelungene materialistische Gesellschaftskritik. Die Lektüre dieses umfangreichen wissenschaftlichen Werks ist außerdem sprachlich eine Freude.

Nikolai Schreiter studiert Politikwissenschaft in Wien und Jerusalem.

Jenseits bloßer Vorurteilsforschung

  • 10.03.2016, 15:12
Dem Band „Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus“ ist eine Zusammenstellung von Texten gelungen, die präzise und anschaulich verschiedene Aspekte und Formen von Antisemitismus ausleuchten, ohne ihn als bloße Feindseligkeit gegen Juden und Jüdinnen zu vereinfachen.

Dem Band „Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus“ ist eine Zusammenstellung von Texten gelungen, die präzise und anschaulich verschiedene Aspekte und Formen von Antisemitismus ausleuchten, ohne ihn als bloße Feindseligkeit gegen Juden und Jüdinnen zu vereinfachen.

Er bricht mit der häufigen Annahme, Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit Juden und Jüdinnen zu tun und könne bekämpft werden, indem man nur zeigt, dass pejorative Vorstellungen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Stattdessen sind die Beiträge gesellschaftstheoretisch wie psychoanalytisch fundiert und zeigen, dass Antisemitismus aus der sozialen und psychischen Lage der AntisemitInnen zu erklären ist. Inhaltliche Klammer ist dabei die Anlehnung an Theorien und Erkenntnisse von Karl Marx, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Abgesehen davon haben die Texte erstaunlich wenig gemeinsam. Der Sammelband ist transdisziplinär angelegt und enthält Zugänge aus Geschichtswissenschaft, Psychologie, Linguistik, Philosophie und kritischer Ökonomie. Das thematische Spektrum erstreckt sich von Grundlagen einer Sozialpsychologie des Antisemitismus über den Zusammenhang von Antisemitismus und Antiziganismus mit ökonomischen Verhältnissen über die nationalsozialistische Auffassung von Arbeit bis hin zur Demaskierung eines sich feministisch begreifenden Antisemitismus. Zudem wird im Buch dem nicht zuletzt auch im akademischen Milieu weitverbreiteten Antizionismus eine konsequente inhaltliche Kritik entgegengesetzt.

Neben den für sich genommen jeweils sehr gelungenen Beiträgen wurde es allerdings versäumt, sich mit islamischem Antisemitismus als einer der aktuell drängendsten Gefahren – nicht nur für Juden und Jüdinnen – auseinanderzusetzen. Dies mag daran liegen, dass eine Benennung islamischer Spezifika häufig zu einer automatischen Stigmatisierung als rassistisch und islamophob führt. Dabei würde sich eine Analyse des islamischen Antisemitismus hier gerade aufgrund des besonderen Fokus auf psychische Dispositionen und Subjektkonstitution anbieten, die eben nicht biologistisch argumentiert, wie dies in der populistischen Meinungsmache gegen MuslimInnen der Fall ist.

Marlene Gallner studiert Politikwissenschaft und Austrian Studies an der Universität Wien.

Leben in den unendlichen Weiten

  • 10.03.2016, 14:46
Sind wir alleine im Universum? Ein neues Buch versucht, diese und andere astrophysikalische Fragen für Laien zu erklären. Wir haben es gelesen.

Die Astrophysikerin Lisa Kaltenegger liefert Erklärungen der physikalischen Grundlagen für die Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten und zeichnet den Stand der Forschung dazu nach. Die theoretischen Basics sind durch Comics illustriert. Alles was für das bessere welträumliche Verständnis notwendig ist, wird hier anschaulich erklärt: Was ein Lichtjahr ist, wie die Dichte eines weit entfernten Planeten berechnet wird, warum Dopplereffekt und Relativitätstheorie für die Erforschung des Weltalls so wichtig sind, welche unterschiedlichen Formen von Planeten es gibt, welche Technologien gerade in Entwicklung sind und was man damit herausfinden kann. Neue Teleskope kommen da genauso vor wie die Erklärung, was Exoplaneten sind und warum auf manchen davon nach Leben gesucht werden kann.

Ein weiterer spannender Teil behandelt die Frage, wie andere Lebensformen aufgebaut sein müssten, um auf anderen Planeten zu überleben. Es wird erzählt, welche Rolle die Erforschung der Entstehung des Lebens auf der Erde und seiner widerstandsfähigsten Lebewesen, der Tardigradas, für erste Vermutungen über extraterrestrische Lebewesen spielt. Die Cornell-Professorin Lisa Kaltenegger war am Aufspüren der ersten beiden Planeten beteiligt, die in der habitablen Zone ihres Sonnensystems liegen. Sie erfüllen also viele Voraussetzungen für Leben. Doch wohin würde sich eine Mission von der Erde aus lohnen? Da in anderen Sonnensystemen als unserem nach Leben gesucht wird, sollte bei den Milliarden Möglichkeiten vorher ein rigoroses Auswahlverfahren stattfinden. Dabei interessieren die Wissenschaftlerin, nach der ein Asteroid benannt wurde, nicht nur jüngere und gleich alte Planeten wie die Erde, sondern vor allem auch solche, die älter sind und an denen wir beobachten könnten, was in Zukunft mit unserem Planeten geschehen könnte.

Nach der Lektüre dieses Buches kann man jedenfalls die Entdeckungen erdähnlicher Planeten der letzten Jahre besser verstehen und einordnen. Dass sich die Autorin oft wiederholt und viele Erklärungsmodelle verwendet, die schon Kinder verstehen würden, ist für physikalische Laien kein Nachteil. Es ist jedenfalls ein super Buch für HobbyastronomInnen und Science-Fiction-Fans, die nach qualifizierten Argumenten für das nächste Streitgespräch suchen.

Sarah Binder studierte Konzeptkunst an der Akademie der Bildenden Künste Wien.

Die vergessenen Frauen- KZs von Mauthausen

  • 10.03.2016, 14:15
An der Geschichte des ehemaligen Frauen-KZs in Hirtenberg werden die Kehrseiten der zentralistischen Förderstruktur österreichischer Erinnerungskultur und die Marginalisierung der Geschichte von Frauen im hegemonialen Erinnerungsdiskurs deutlich.

An der Geschichte des ehemaligen Frauen-KZs in Hirtenberg werden die Kehrseiten der zentralistischen Förderstruktur österreichischer Erinnerungskultur und die Marginalisierung der Geschichte von Frauen im hegemonialen Erinnerungsdiskurs deutlich.

Trotz der Bemühungen lokaler Gedenkinitiativen konzentriert sich der Großteil der österreichischen Gedenkstättenarbeit auf das ehemalige KZ Mauthausen, das seit 1949 vereinzelt und seit den 1960er Jahren regelmäßig von Schulklassen besucht wird. Bis heute sind schulische Gedenkstättenbesuche nicht verpflichtend, sondern werden lediglich empfohlen. So mag es auch nicht verwundern, dass die meisten der rund 50 ehemaligen Außenlager von Mauthausen weder Schüler_innen bekannt, noch in den hegemonialen Erinnerungsdiskurs integriert worden sind. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert die vergessene Geschichte des ehemaligen Frauen-KZs Hirtenberg. In der kleinen Gemeinde im Bezirk Baden erinnert bis auf wenige – von Bäumen überwachsene – Fundamentreste am Gelände der ehemaligen Produktionsanlagen kaum etwas an die Existenz des ehemaligen KZs, in dem Frauen Zwangsarbeit in einer bis heute bestehenden Munitionsfabrik verrichten mussten.

Mit Kriegsbeginn waren die lokalen Arbeiter_innen der seit 1859 bestehenden Munitionsfabrik unter anderem zur Wehrmacht eingezogen und wie an vielen anderen Orten auch durch Zwangsarbeiter_innen ersetzt worden. Rund 400 mehrheitlich politische sowie wenige als „asozial“ verfolgte oder jüdische Frauen (vor allem aus Russland, Italien und Polen) wurden daher ab September 1944 in zwölfstündigen Schichtdiensten zu gefährlichen und gesundheitsschädlichen Arbeiten mit explosiven Materialien gezwungen.

Wenngleich im ehemaligen KZ Hirtenberg nur ein Todesfall bekannt ist, waren die Frauen konstanter Unterernährung und Krankheiten ausgesetzt. Insbesondere im Winter verschlechterte sich die Situation durch Kälte, da die Frauen weder über die nötige Kleidung verfügten, noch die Baracken beheizt werden konnten. Hinzu kamen, wie ehemalige Zwangsarbeiterinnen berichten, die Brutalitäten des Wachpersonals, das sich einerseits durch rund 25 für den äußeren Bereich des Lagers zuständige SS-Männer sowie andererseits durch in Mauthausen oder Ravensbrück ausgebildete KZAufseherinnen zusammensetzte, die die innere Überwachung des Lagers überhatten.

AKTIVE VERDRÄNGUNG. Gerade der Umstand, dass Aufseherinnen immer wieder aus der lokalen Bevölkerung rekrutiert wurden, das Lager selbst in Sichtweite und die Produktionsstätten in Hördistanz zur Ortschaft lagen, gibt Aufschluss darüber, dass das Wissen um das KZ nicht einfach nur vergessen, sondern auch vor Ort aktiv verdrängt wurde. Lediglich ein so genanntes „Kriegerdenkmal“ auf dem Hirtenberger Friedhof weist heute auf die Existenz des ehemaligen KZs hin, da auf dem Grabstein neben männlichen Zwangsarbeitern und zwei unbekannten SS-Männern, die bei einem Luftangriff ums Leben gekommen sind, auch das einzig bekannte Todesopfer des ehemaligen Lagers, Hulja Walja, erwähnt wird. Gleichzeitig verdeutlicht sich an Hand des „Kriegerdenkmals“ auch die im österreichischen Erinnerungsdiskurs oftmals betriebene Vermischung zwischen Opfern und Täter_innen unter dem Vorzeichen, dass Krieg für alle grausam und schlimm gewesen sei, da eine verstorbene ehemalige KZInsassin ganz selbstverständlich am gleichen Grabstein vermerkt wurde wie ehemalige SS-Angehörige.

Weitere Belege für den fragwürdigen Umgang mit dem ehemaligen Lagergelände ergeben sich auch dadurch, dass es phasenweise als Campingplatz benutzt wurde. Obgleich das „Mauthausen Komitee Österreich“ (MKÖ) seit 2011 Begleitungen durch das ehemalige KZ anbietet, werden diese, nicht zuletzt wegen der geringen Bekanntheit des ehemaligen Lagers, selten in Anspruch genommen. So mag es auch nicht verwundern, dass in Hirtenberg erst 2015 zum ersten Mal eine Gedenkfeier für die ehemaligen Zwangsarbeiter_innen abgehalten wurde.

KEIN EINZELFALL. Von den rund 50 ebenfalls kaum bekannten Außenlagern fungierten gleich mehrere als „Frauenlager“. So wurden KZ-Insassinnen von Mauthausen in die ehemaligen Lager Schloss Mittersill, Lenzing, Amstetten, Schloss Lannach und St. Lambrecht deportiert und gezwungen, Fabriks- und Bahnbauarbeiten sowie Reinigungstätigkeiten zu verrichten. Die Geschichte der Frauen in Mauthausen und der ehemaligen Frauenlager wird im hegemonialen Erinnerungsdiskurs sowie der Gedenkkultur bis heute verdrängt oder marginalisiert.

Dies liegt neben herrschenden Geschlechterbildern und -mythen in der Erinnerungskultur auch daran, wie beispielsweise Doris Neuhofer kritisiert, „dass die Förderung der Pluralität von NS-Gedenkstätten in Österreich keine Tradition hat und dass es offensichtlich auch keinen Bedarf von Seiten der Verantwortlichen gibt, dies zu verändern“. Somit behält Peter Gstettner, der sich seit geraumer Zeit um eine würdige Gedenkstätte auf der österreichischen Seite des ehemaligen KZs am Loiblpass in Kärnten/Koroška bemüht, Recht, wenn er meint: „Das Gedenken in Mauthausen zu konzentrieren, bedeutete aber auch, die anderen Verbrechensorte an die Peripherie abzudrängen und sie der Vergesslichkeit der Republik zu überantworten. An den peripheren Tatorten wurden fast alle Spuren des mörderischen Geschehens getilgt.“

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin sowie Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit.

Warum der Nationalsozialismus von den alliierten Staaten angeklagt wurde

  • 08.03.2016, 20:48
Zwischen November 1945 und Oktober 1946 fand im Nürnberger Justizpalast ein bisher einzigartiger Strafprozess statt.

Zwischen November 1945 und Oktober 1946 fand im Nürnberger Justizpalast ein bisher einzigartiger Strafprozess statt.

Vor dem zu diesem Zweck geschaffenen Internationalen Militärtribunal (IMT) wurden 24 „Nazi-Führer“ und sieben nationalsozialistische Organisationen angeklagt. Die vier Hauptanklagepunkte stellten eine Reaktion auf das bis dahin nicht gekannte Ausmaß und die Schwere der Gewalt des Nationalsozialismus dar. Die Anklage ist auch das Ergebnis einer Deutung dieser verbrecherischen Gewalt und Herrschaftsform.

DER JURISTISCHE BLICK. Der Prozess gilt als Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts. Betont wird dabei die erstmalige individuelle Bestrafung von Spitzenfunktionären eines Staates. Die Alliierten selber nannten sie „Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter“. Das IMT wird als Beginn einer Zäsur im internationalen Strafrecht gesehen, an deren Ende die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag steht. Dieser soll einen überstaatlichen Schutz von Menschenrechten und die Verfolgung einzelverantwortlicher „Menschenrechtsverbrecher“ ermöglichen. Der IStGH steht vor der Herausforderung seine Gerichtsbarkeit durchzusetzen, und als überstaatliches Gericht von Staaten anerkannt zu werden. Das IMT in Nürnberg stand vor ganz anderen Herausforderungen: Der nationalsozialistischen Gewalt und der Wahrnehmung, dass es die Verbrechen waren, die überstaatlich, also international, waren. Für die Anklage der NSHerrschaft fehlte nicht nur das Gericht, es existierten noch nicht einmal strafrechtliche Kategorien für die bis dahin nicht gekannte Form der Gewaltverbrechen und der politischen Organisationsform der TäterInnen. Das Statut für das IMT wurde im August 1945 auf einer alliierten Konferenz in London verhandelt und schließlich beschlossen. Die Umsetzung einer Anklage der NS-Herrschaft erforderte mehr als Diplomatie.

VIER HAUPTANKLAGEPUNKTE. Das Verbrecherische an den Gewalttaten der NationalsozialistInnen musste zuerst bestimmt werden – auch, um darauf aufbauend völkerrechtlich relevante Brüche von „Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht und allgemeinem Gewissen“, den nach Aussage Whitney Harris, eines der US-amerikanischen Ankläger, drei Hauptquellen des Völkerrechts, bestimmen und strafrechtlich kodifizieren zu können. Das Ergebnis waren vier bis dahin völkerrechtlich nie zuvor angewandte Verbrechenskategorien: „Verbrechen gegen den Frieden“, „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Der vierte Vorwurf – „gemeinsamer Plan oder Verschwörung“ zur Begehung dieser genannten Taten – zielte vordergründig auf die Verantwortlichen ab, wobei die Anklagebehörden damit auch versuchten, einen Zusammenhang zwischen den Taten zu betonen.

Vor dem Schritt der Rechtsfindung und -anwendung mussten die Alliierten eine gewissermaßen kriminologische Einordnung, also das Verbrechen bestimmende oder erklärende Einordnung des Nationalsozialismus, vornehmen. Diese auch als Deutung des Nationalsozialismus und seiner Gewalt zu begreifen, erscheint hier besonders wichtig.

DIE ZIVILISIERTE STAATENWELT. Das Ergebnis dieser Deutung drückte sich in der Selbstwahrnehmung der Ankläger aus. So sah etwa der US-amerikanische Ankläger Robert Jackson als „wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts“ die Zivilisation. Die Verbrechen, die in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern begangen wurden, an jenen Orten, an denen der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) des Nationalsozialismus manifest wurde, standen allerdings gar nicht im Fokus der Anklage. Wie ist diese Aussage Jacksons dann aber zu verstehen? Die Anklagekonzeption war zu jedem Zeitpunkt auf den deutschen Angriffskrieg ausgerichtet. Zeitlich und logisch wurden seine Vorbereitung und Planung als „Knotenpunkt“ (Jackson) gesehen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurden als Folge der Vorbereitung und Durchsetzung des Krieges gesehen. Systematische – auch die antisemitisch und antislawisch motivierte – Gewalt wurden im zeitlichen Verlauf des Krieges und der Okkupation gesehen und unter „Kriegsverbrechen“ subsumiert. Dem Sinnbild der Alliierten entsprechend, klagte die Zivilisation den Krieg der Nazis an. Hannah Arendt schrieb in ihrem Denktagebuch: „Das internationale Recht beruhte im Kriege darauf, dass innerhalb der zivilisierten Welt, auch wenn der ‚consensus‘ zwischen den Staaten abgebrochen war, derjenige ‚consensus‘, auf dem jeder von ihnen beruhte, unangetastet bleiben musste. Ohne dies wäre jeder Krieg zu einer Bedrohung des gesetzlich festgelegten Systems des Staates selbst geworden.“ Die Anklage richtete sich genau gegen die vom nationalsozialistischen Krieg ausgehende besondere Bedrohung.

KRIEG GEGEN DIE ZIVILISATION. Die Beweisführung zu den „Verbrechen gegen den Frieden“ zeigte, worin die Bedrohung der Zivilisation gesehen wurde: in einer fundamental gegen die Anerkennung von staatlicher Souveränität gerichtete Kriegspolitik. Der britische Ankläger Hartley Shawcross beschrieb etwa am Beispiel der von Deutschland betriebenen Zerschlagung und Annektierung des tschechoslowakischen Staates, wie die Bedingungen internationaler Beziehungen zerstört wurden. Das zeigt sich an der Behauptung der NationalsozialistInnen dort Gebiete zu okkupieren, die man als von sogenannten „Volksdeutschen“ bewohnt ansah. Nach nationalsozialistischem Verständnis, erklärte Jan Philipp Reemtsma, war der Krieg keiner zwischen Staaten, sondern ein „Rassenkrieg“. Die Ankläger erkannten darin explizit einen Angriff auf die Bedingungen staatlicher Souveränität. Vor Gericht wurde damit der „Mythos von der Rassegemeinschaft“, wie es der französische Ankläger François de Menthon ausdrückte, thematisiert. Die rassenideologischen Versuche festzustellen, wer „Volksgenosse“ war, mündeten seiner Ansicht nach auch in der Hierarchisierung von „Rassen“.

Die „Resubstantialisierung der einst abstrakten staatsrechtlichen Begriffe“, wie Ingeborg Maus diesen politischen Prozess kritisch nannte, und die „Rassifizierung“ des Rechts waren ein Angriff auf die Herrschaft des Gesetzes, die in bürgerlich-kapitalistischen Staaten der Form nach gleiche Rechte und Schutz für alle sichert. So lange nämlich die Rechtsordnung universal ist, schrieb Franz Neumann in seiner Analyse der NS-Herrschaft 1942, garantiert sie „auch ein Minimum an Freiheit, da das allgemeine Gesetz zweiseitig ist und so auch den Schwachen wenigstens rechtliche Chancen einräumt“.

LOGIK DES VERBRECHENS. Deutschland betrieb in den überfallenen Staaten eine vom sowjetischen Ankläger Roman Rudenko beschriebene Vernichtung „aller demokratischen Einrichtungen und bürgerlichen Rechte der Bevölkerung“. Ankläger de Menthon sah in dieser ideologischen und praktischen Entgrenzung der Gewalt eine eigene „Logik des Verbrechens“. Das NS-Regime erkannte nicht nur keine völkerrechtlichen Beziehungen zwischen den Staaten an, „großangelegter, geplanter und systematischer Mord [wurden] zur wesentlichen Aufgabe einer fest gefügten und scheinbar sicheren kriegerischen Besetzung“, so Shawcross.

Die völkische Ideologie wurde vor allem in Gestalt ihrer logischen Feindschaft zu den Bedingungen eines „rechtlich gehegten Zusammenlebens der ‚zivilisierten‘ Völker“ (Erhard Denninger) angeklagt. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess war keine Sammelklage der von einem „Führerstaat“ in ihren Grenzen verletzten Staaten. Angeklagt wurde eine „Verschwörung gegen die Welt“ (Jackson).

VERSCHWÖRUNG, KEIN FÜHRERSTAAT. Otto Stahmer, der Verteidiger Hermann Görings in Nürnberg, erklärte vor Gericht, ein Diktator zwinge zur Umsetzung seines Planes, eine „Verschwörung mit einem Diktator an der Spitze [sei] ein Widerspruch in sich selbst“. Dieser Einwand überraschte die Ankläger wenig, war es ihnen mit der konzeptionellen Annahme einer „Verschwörung“ konkret daran gelegen zu verhindern, dass sich die Angeklagten hinter dem Staat als „metaphysischen“ Schuldigen oder Hitler als „Diktator“ der Verbrechen verstecken konnten. Zwar sah man auf der Nürnberger Anklagebank, den Worten des französischen Anklägers Charles Dubost nach, „das Gehirn dieses Staates“ sitzen. Die Deutung einer „Verschwörung“ ist jedoch auch Reaktion auf die spezifische Machtverteilung im Herrschaftsgefüge des NS, dessen politische Organisationsform an Stelle einer allgemein zentralisierten Gewalt vielmehr einen „gemeinsamen Plan“, etwa jene besagten „Knotenpunkte“, aufwies.

Die Ankläger hatten aus den Gewaltphänomenen auf die politische Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft geschlossen. Das heißt, der alliierte Deutungsprozess im Rahmen der Anklage limitierte sich auf eine herrschaftsstrukturelle Beschreibung des Nationalsozialismus. Schwachpunkt dieser Wahrnehmung ist, dass sie das „Selbststabilisierungspotenzial“ (Winfried Süß) des NS weiterhin in seiner politischen Organisationsform vermuten musste. Sie musste also so sehr auf die Existenz einer gemeinsamen „Verschwörung“ zur Begehung der Verbrechen pochen, dass sie gewissermaßen in jene Sackgasse lief, an deren Ende den spezifisch nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – dem „Zivilisationsbruch“ – eine sinnvolle Herrschaftsfunktion zugeschrieben werden musste. Darum erhielt der Antisemitismus ausgerechnet an dieser Stelle des Prozesses auch die meiste Aufmerksamkeit. Die antisemitische Verfolgung und Vernichtung wurde auf die Funktion als Speerspitze der Drohung gegen potenziellen Widerstand reduziert. Diese Wahrnehmung des Antisemitismus kann die in den Konzentrationslagern betriebene Vernichtung um ihrer selbst willen nur rationalisieren. Sie muss übergehen, dass in Auschwitz die „praktische Widerlegung der Prinzipien von Zweckrationalität und Selbsterhaltung“ wirklich wurde, wie Dan Diner sagte.

Wenn Ankläger Shawcross den Antisemitismus als „Bindemittel zwischen Volk und Regime“ bezeichnete, so scheint den Anklägern dennoch etwas von der Bedeutung des irrationalen Wahns für die Stabilisierung der nationalsozialistischen Gesellschaft bewusst geworden zu sein. „[D]ie Juden zu vernichten“, war Ankläger Jackson zufolge „eine bindende Kraft, die jederzeit die einzelnen Teilkräfte dieser Verschwörung zusammenhielt“.

ANALYSE UND ANKLAGE. Die Anklage war nicht das Ergebnis einer „herrschaftstheoretischen“ (Alfons Söllner) Analyse des Nationalsozialismus. Die Wahrnehmung der NS-Gewalt als verbrecherische implizierte eine Deutung der Herrschaft des Nationalsozialismus in Abgrenzung von den politischen Herrschaftsformen der anklagenden Staaten. Gegenstand des Prozesses war das „unstaatliche“ (Franz Neumann) Gewaltverhältnis des NS. Darin zeigt sich deutlich die Differenz der Gegenstände von IMT und IStGH. Eine kritische Analyse aktueller Ideen internationaler Strafgerichtsbarkeit kann hier ihren Ausgangspunkt finden.

Raphael Heinetsberger studiert Politikwissenschaft in Wien und Hamburg.

Cage the Elephant – „Tell me I’m pretty“

  • 08.03.2016, 19:48
Katja und Marie Luise rezensieren „Tell me I’m pretty“ von Cage the Elephant.

Marie Luise: Kaum läuft bei mir zuhause die neue Platte von „Cage the Elephant“ habe ich das Gefühl, ich kann und will mitsingen, will ein bisschen tanzen. Über sympathischem Indierock liegt eine angenehme Frauenstimme. „Cage the Elephant“ haben sich mit ihrem neuen Produzenten Dan Auerbach (Frontmann der Black Keys), der an „Tell me I’m pretty“ mitgearbeitet hat, in der Qualität ihrer Aufnahmen eindeutig gesteigert. Auf dem Cover ist eine rothaarige dünne Frau zu sehen, die romantisch zum Himmel schaut und so aussieht, als habe sie ein wenig zu viel Sonne abbekommen. Die Lyrics sind gut, die Songs fließen ineinander und funktionieren. Keines der Lieder sticht besonders heraus, zu allem lässt sich mit dem Kopf wippen, zurück bleibt ein angenehmes Gefühl. Charakterisieren würde ich das als „Sag mir, dass ich schön bin, aber sonst ist alles, alles in Ordnung“-Gefühl. Diesen Sound würde ich gerne in der Früh nach ekstatisch durchgetanzten Nächten oder auf einem langen Roadtrip hören. Vor meinem inneren Auge entstehen Bilder von den Mädchen im Club, die verschwitzte Haare psychedelisch in ihre Gesichter hängen lassen.

Katja: Also, „Cage the Elephant“, „Tell Me I’m Pretty“, nun ja, … die Platte läuft schon zum dritten Mal bei mir durch und mir fällt einfach gar nichts ein, was diesen Sound gut beschreiben würde. Moment, das ist gelogen, ich muss es umformulieren: Mir fällt dazu nichts ein, was nicht schon eine Milliarde Mal aufgeschrieben wurde. Wie viele vierköpfige Gitarrenbands aus den Vereinigten Staaten wird es wohl geben, die Indierock spielen? Mir fallen auf Anhieb gerade einmal 43 ein, von denen ich mir bei dreien nicht ganz sicher bin, ob sie nicht vielleicht aus Skandinavien kommen. Anyway, die drei Adjektive, die mir spontan zur Musik einfallen: beliebig, langweilig, Arschgeweih. Ich würde den Platz auf diesem Blatt Papier in diesem Magazin gerne für etwas Sinnvolleres nutzen, ein Kochrezept vielleicht oder eine Strickanleitung. Passend dazu tönt im Hintergrund gerade Sänger Matthew Schultz die beispielhafte Zeile „du dudub du du, oh yeah“. Die Recherche über Band und Album hat überhaupt keinen interessanten, erwähnenswerten Fakt ans Licht gebracht, es tut mir leid. Die Band soll – wie jede andere auch – live eine unheimliche Energie versprühen. Sänger Matt und Gitarrist Brad sind Brüder. Die Namen reimen sich. Total crazy.

Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien.
Katja Krüger ist Einzelpersonenunternehmerin und studiert Gender Studies an der Universität Wien.

David Bowie – „Blackstar“

  • 08.03.2016, 19:39
Malte und Moritz haben David Bowies letztes Album rezensiert.

Malte: „Blackstar“ ist David Bowies 25. und letztes Studioalbum, zwei Tage nach der Veröffentlichung verstarb der Meister. Wesentlich experimenteller als das, was die/der durchschnittlich versierte KennerIn des Pop von Bowie eben kennt, dürfte es in Bezug auf Klangfarben und Stimmung mit sehr viel Jazz- und Rockeinflüssen überraschen. Weil man jetzt Experte/In ist und das Album sehr überraschend quasi aus dem Grabe heraufschallen hört, lauscht man natürlich auf die inzwischen prophetisch gedeuteten Zwischentöne, die Themen Tod und Mortalität. In „Lazarus“, der Single, singt Bowie etwa „I'm in heaven […], everybody knows me now“. Es ist tatsächlich auf ehrliche Weise tragisch, aber auch sehr kryptisch, vor allem für eine/n frischgebackene/n Experte/In. Die Ausnahme bietet da vor allem „Girl Loves Me“, das durch sein treibendes Jazzschlagzeug, merkwürdig dissonante Instrumente und Bowies brechende Stimme, die in Polari, einem Slang aus der Londoner Gay-Scene der 70er, singt, aus der großen Melancholie des Albums ausbricht. Als Experte/In muss man „Blackstar“ wohl als Abschied, als Bowies Ahnung seines Todes hören, aber es ist auch einfach ein vielfältiges, schönes Album, vor allem für Freund/ innen von rätselhafter Traurigkeit und Alt-Saxophonen. Es gibt wirklich viel Saxophon, straight aus den 80ern.

Moritz: Wenn man, so wie ich, mit dem Schaffen Bowies wenig bis gar nicht vertraut ist, kann man sein letztes Album auch nicht im Kontext eines Lebenswerks betrachten. Nicht wissend, worauf man sich einlässt, ist es schwierig, Zugang zu „Blackstar“ zu finden, das mit einem Stück von zehn Minuten Länge mit so einigen Längen beginnt. Die darauf folgenden 35 Minuten Spielzeit decken das gesamte Spektrum von unerträglich triefend bis hin zu packend mitreißendem Musikgenuss ab. Kein Stück möchte sich mit irgendetwas vergleichen oder sich gar in eine musikalische Schublade einordnen lassen. Wenn überall, im einzelnen Track, aber auch innerhalb des gesamten Albums, alles bricht, Bowie über packende Rhythmen hinwegnölt und nichts zusammenpassen möchte, kann man das toll finden, es ist aber oft einfach nur anstrengend. Abgesehen von „Sue (Or in a Seasonofcrime)“ und „Girl Loves Me“ werde ich mir keines der Lieder bewusst ein drittes oder viertes Mal anhören wollen.

Malte Röhricht studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.
Moritz Rauch studiert Soziale Arbeit an der Fachhochschule Wien.

fiber_feminismus

  • 08.03.2016, 19:21
Ich habe endlich fiber. Seit 2015 ist das erste Buch des fiber-Kollektivs erhältlich.

Ich habe endlich fiber. Seit 2015 ist das erste Buch des fiber-Kollektivs erhältlich. Ein Herzstück des seit 2002 bestehenden Kollektivs und Wundertüte für alle fiber-Fanatiker_innen und für die, die es noch werden wollen. Jedes halbe Jahr ein Magazin herauszubringen ist eine Sache, doch ein Buch zu produzieren, das den dynamischen und queer_feministischen Geist des fiber-Kollektivs einfangen soll, eine ganz andere. Keine leichte Aufgabe für die fibrigen Freigeister. Auf 287 Seiten findet ihr zahlreiche neue und alte Texte zu den queer_feministischen Entwicklungen der letzten zwölf Jahre, die das Magazin festgehalten und behandelt hat.

fiber-Feminismus schenkt uns einen tiefen Einblick in die Arbeit und Herangehensweise des Kollektivs. An künstlerischer Gestaltung à la fiber wird ebenfalls nicht gespart. Von „Sprach-k(r)ämpfe“ zu „Wer ist die queerste im ganzen Land“. Von „Die kleine Geschichte vom endlosen Kommen“ zu „Did she put up a fight“. Von „Wiksern und Weibern“ zu „Punk – Das Ende der Utopie“. Das und vieles mehr stecken in der trilogischen Komposition Werkstoff, Feminismus und Popkultur, die das Buch gliedern. „This is a ‚must‘ read for anyone who wants to stay cool“, so Judith Butler anlässlich der Erscheinung des Buches. Ich stimme der Das-Geschlecht-ist-ein-Konstrukt-Göttin nur zu und werde es auch jeder/m so mit auf den Weg geben.

Carmela Migliozzi studiert Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität Wien.

Willst du mit mir online-shoppen?

  • 08.03.2016, 18:46
Outfittery will „Shopping für Männer“ bieten. Ein Selbstversuch.

Outfittery will „Shopping für Männer“ bieten. Ein Selbstversuch.

Curated Shopping ist ein Geschäftsmodell im Online-Versandhandel, dem sich einige Neugründungen gänzlich verschrieben haben und dem sich zur Zeit viele etablierte Online-Versender anschließen. Einer bestimmten Zielgruppe werden nach Austausch von Größenangaben und modischen Vorlieben komplette Mode-Outfits zugesendet. Der Kunde kennt die Produkte im Vorhinein nicht und vertraut auf die Stilsicherheit der Berater_innen. Lea von Outfittery ist vermutlich die bekannteste vermeintliche Online-Modeverkäuferin im deutschsprachigen Werbefernsehen und versucht der Zielgruppe Mann die Vorzüge dieses Konzeptes näherzubringen. Gleichzeitig repräsentiert sie die Modeberater_innen des Online-Modeversandhauses und soll deren Vorgehensweise dem potentiellen Kunden aufzeigen.

„Shopping für Männer“ lautet die Devise und da ist es wohl auch kein Zufall, dass neben einigen Männern vorwiegend attraktive Damen als Style-Expertinnen auf der Homepage des 2012 gestarteten Unternehmens, das sich als Branchenführer ausweist, aufscheinen und von einer „Taskforce Männerversteher“ befehligt werden. Um in die Zielgruppe dieses Werbekonzepts zu fallen, muss einem Menschen nur folgendes Unternehmenscredo genügen: „Eine Welt, in der Männer das tun, was sie glücklich macht“, was auch immer das sei. Shopping sei nämlich nicht für jeden Mann ein Vergnügen. Aber die Zeit und Mühe, durch Läden zu laufen, kann einem erspart werden, wenn er den Personal Shopping Service in Anspruch nimmt.

How I met my Stefanie. Eindrucksvoll wird vermittelt, dass diese modischen Menschen ihr Handwerk verstehen, denn im Einleitungsvideo zur Anmeldung wird gezeigt, wie zwei weitere Style- Expertinnen, Vanessa und Tanja, in Berlin (Berlin!!!), das so anders, kreativ und inspirierend sei, selbst modisch gekleidet fröhlich Outfits zusammenstellen. Obwohl mir weder zum eigenständigen Kaufen von Kleidung die Lust fehlt, noch die dafür benötigte Zeit Probleme bereitet, bin ich gespannt, ob ich einen Benefit aus einer Beratung ziehen könnte. Stefanie wird mir als meine persönliche Ansprechpartnerin zugewiesen und per automatisch generiertem Outlook-Termin wird ein Telefonat vereinbart. Sie lässt mich nicht lange warten und ein paar Stunden später stellt sie sich mir telefonisch vor und fragt, ob wir uns duzen sollten, schließlich seien wir ja gleich alt. Ich bejahe und beantworte etwas schüchtern ihre Fragen, bei denen sie voraussetzt, dass ich Mode-Fachvokabular verstehe. Meine Heimatstadt sei wunderschön, versichert sie mir und nennt mir eine Lieferdauer. Sie werde sich bemühen, verspricht sie mir und ich lese nach dem Gespräch auf der Unternehmensseite ihre Hobbys nach. Mit einem Klick auf ihr Foto erfahre ich darüber hinaus, wie sie ihren Kaffee trinkt und was sie glücklich macht.

„Styled with love“ ziert eine Woche später die Seitenwand meiner Outfit-Box! Darin liegen ein Foto von ihr und eine handgeschriebene Nachricht, die mit „Lieber Ernst“ beginnt. Ach, Stefanie! Die Kleidungsstücke sind natürlich auch in dem Paket, befinden sich jedoch zunächst nicht im Fokus des Interesses. Die Enttäuschung folgt jedoch abrupt. Warum verwendet sie für die direkte Anrede an mich am Ende des Briefes wieder „Sie“? Wahrscheinlich hat sie unser Gespräch vergessen und in mir erhärtet sich die Annahme, dass ich womöglich doch nur einer von unzähligen Kund_innen bin, der_die einer ungleichgeschlechtlichen Kontaktperson bereitwillig alle seine_ihre persönlichen Daten, Interessen und Vorlieben bekanntgibt und das obwohl ich doch immer darauf achte, nicht in die Falle interessensbezogener Werbung zu tappen. Ich frage mich, ob Stefanie nach Provision bezahlt wird oder Verkaufszahlen erreichen muss und erinnere mich an ihr Versprechen, dass meine Outfits besser werden, wenn wir uns besser kennenlernen. Außerdem wolle sie mich bald wieder anrufen, wie kann ich da einfach alles wieder zurücksenden? Kundenbindung wird hier erfahrbar gemacht.

Persönlichkeit. Alle Klischees, die Männer und Kleidung in Kombination bieten, werden ausgiebig bedient und die Lösung für den Mann liegt parat: weibliche Modeberaterinnen, die alle damit verbundenen ungewünschten und lästigen Aufgaben übernehmen und das auch noch kostenlos, wie zum Schein suggeriert wird. Frauen in Werbungen sind nun wahrlich nichts Neues, aber diese direkte Instrumentalisierung ist von enormem Ausmaß. Der konsumierenden Person sollen Interesse und Nähe vermittelt werden, in Wahrheit kommt hier lediglich ein ausgeklügeltes Businesskonzept zur Anwendung, das mit der versprochenen Persönlichkeit, Inspiration, Liebe zum Detail und Kreativität nichts zu tun hat. Ein armseliges Spiel. Viele Menschen lieben es, über Kleidung ihr Innerstes nach außen zu kehren, Neues zu wagen, Altes zum vielleicht wiederholten Male hervorzuholen und auf andere Weise zu kombinieren. Bei Curated Shopping kann mehr oder weniger teure Kleidung zwar durch Kaufkraft erworben werden, wie bei jedem gewöhnlichen Modehaus auch, Originalität muss dadurch trotzdem nicht gegeben sein. Die gelieferten Jeans, die karierten und einfarbigen Hemden, die grauen Sweater, die Sneakers und der schwarze Gürtel werden den Versprechungen nicht gerecht und werden meinen Kleiderschrank nicht bereichern. Wer an sich selbst einen modischen Anspruch stellt, sich seine Kleidung aber nicht selbst auswählen kann, wäre wohl auch über Hilfe beim Anlegen derselben froh. Glücklicherweise wird für Bittstellungen dieser Art kein Service angeboten, aber wer weiß, was zukünftig noch alles zur Kundenbindung angedacht wird.

Ernst Königshofer studiert Germanistik und Geographie und Wirtschaftskunde an der Universität Wien.

Kondome, Kohle, Kujau und Karrikaturen

  • 08.03.2016, 18:34
Antiquierte Verhütungsmittel, Abtreibungswerkzeuge, Toiletten aus der K.u.K.- Monarchie und mehr: Wer Wissbegierigkeit und Sinn für Unkonventionelles in sich trägt, ist mit einem Besuch in folgenden, weitgehend unbekannten Museen und Ausstellungsstätten gut beraten. Ein Überblick.

Antiquierte Verhütungsmittel, Abtreibungswerkzeuge, Toiletten aus der K.u.K.- Monarchie und mehr: Wer Wissbegierigkeit und Sinn für Unkonventionelles in sich trägt, ist mit einem Besuch in folgenden, weitgehend unbekannten Museen und Ausstellungsstätten gut beraten. Ein Überblick.

Museum für Heizkultur. Eigentlich trägt das unterirdisch gelegene Museum den Namen „Brennpunkt“, das Programm ist allerdings das gleiche geblieben: Es geht um das Heizen, nicht nur als technische, sondern auch als (anti)ökologische und gesellschaftliche Praxis. Was heute als hochtechnisierter, (für fast alle) selbstverständlicher Vorgang angesehen wird, ist hier abseits der Alltäglichkeit thematisiert. So wird auch der Zusammenhang von ökonomischen Umbrüchen – etwa der Übergang zum industrialisierten Kapitalismus und dessen energiepolitische Umstellungen auf Kohle – beleuchtet. Auch die sozialräumliche Dimension wird ins Licht gerückt. Wusstet ihr, dass der Westrand Wiens zu den kältesten Regionen der Stadt zählt und die Heizkosten dort im Schnitt um 15 Prozent höher sind als etwa im Stadtkern? Das liegt unter anderem an der weniger dichten Bebauung in diesem Gebiet. Im eng bebauten Stadtkern spricht man vom „Wärmeinseleffekt“. Im Zusammenhang mit der schlechteren Wärmeisolierung in den billigeren Wohngebieten ist dies sozial- und umweltpolitisch sicherlich ein brisantes Thema. Bis Mai dieses Jahres beherbergt der „Brennpunkt“ auch eine kleine Ausstellung mit dem Titel „Von Wegen stilles Örtchen“. Was zunächst banal klingt, ist eine historische, soziale und ökologische Betrachtung der Toilette. So sind etwa Beobachtungen einer Wartefrau in den öffentlichen Toiletten im Buch „Die Memoiren der Wetti Himmlisch“ nachzulesen. Die Ausstellung ist multimedial: So kann man etwa eine Sendung eines Schülerradios anhören, in der unter anderem das Phänomen der „Schüchternen Blase“ – vor allem Männer, die auf öffentlichen Toiletten nicht können/wollen – psychologisch beleuchtet wird. Eine akademische Betrachtung des Klos kann man sich zu Gemüte führen, wenn man dem Ausschnitt eines Vortrages von Slavoj Žižek über „Toilets and ideology“ zuhört. Der „Brennpunkt“ ist voll mit Alltäglichkeiten, in denen aber mehr steckt, als man anfänglich glaubt.

MUVS. Das Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch besteht lediglich aus zwei Räumen, bietet allerdings genügend Ausstellungsinhalte, um einen Nachmittag zu füllen. Chronologisch angeordnet kann man die Entstehung und Wandlung moderner Verhütungsmittel vom 18. Jahrhundert an nachvollziehen. So wurde etwa das Kondom in Europa schon vor rund 250 Jahren verwendet. Damals wurde es aber nicht wie heute meist aus Latex, sondern unter anderem aus Fischblasen hergestellt. Allerdings schimpfte der – nicht zuletzt wegen seiner Liebschaften bekannte – Schriftsteller Giacomo Casanova: „Ein Kondom ist ein Panzer gegen die Lust, aber ein Spinnweb gegen die Gefahr.“ Weiters sind auch die medizinischen und wissenschaftlichen Irrtümer, etwa bezüglich des weiblichen Zykluses, dokumentiert. Eines amüsierten Lächelns braucht man sich an mancher Stelle nicht zu schämen. Die zweite Kammer beschäftigt sich mit der Geschichte der Abtreibung, wobei das Thema in einer eurozentrischen Perspektive behandelt wird. Detailliert werden nicht nur die Folgen illegaler Abtreibungen gezeigt, sondern auch auf den weiblichen Körper als Kulminationspunkt verschiedener gesellschaftlicher Interessen verwiesen.

Fälschermuseum. Kunst und Fälschung sind einander verschwistert. Wer sich über die Geschichte der Kunstfälschung einen kleinen Überblick verschaffen will, ist im Fälschermuseum Wien gut aufgehoben. Hier kann man dutzende „Originalfälschungen“ betrachten und die Geschichte ihrer „Schöpfer_innen“ kennenlernen. Wer mit der Materie noch nicht allzu vertraut ist, kann sein kunstbezogenes Vokabular erweitern. Vorzufinden sind Stilfälschungen, Verfälschungen, Plagiate, Litographien (= Identfälschungen, bei denen detailgetreu gefälscht wurde) und Kopien. Noch interessanter als die Werke an sich sind die Fälscher_innen. Was treibt einen Menschen, der über genug Talent verfügt, eigene fabelhafte Malerei zu schaffen dazu, sich als Copycat zu gerieren? Ist es lediglich die Aussicht auf lukrative Geschäfte? Wenn dem so sein sollte, wie erklärt man sich dann, dass Fälscher_ innen wie der Brite Tom Keating „ihre“ Werke absichtlich präparierten, fremde Elemente gut versteckt einfügten, so dass sie sich früher oder später von selbst enttarnen? Es liegt der Verdacht nahe, dass diese Menschengattung auch der lustvolle Drang, Menschen zu täuschen und zu veralbern, antrieb. Selbst das Fälschermuseum wurde schon zum Opfer und stellte eins der geschätzt zehn Prozent musealer Ausstellungsstücke aus, die keine Originale sind. 2006 stellten sich die kurz davor erworbenen Kujau- Werke – Kujau wurde Anfang der 80er bekannt, als seine millionenschwere Fälschung der Hitler-Tagebücher aufflog – als „falsche Fälschungen“ heraus.

Karikaturmuseum. „Kult auf 4 Rädern“ ist der Titel der anlässlich des 130. Geburtstages des Automobils eröffneten Ausstellung im Kremser Karikaturmuseum. Konkret geht es um die Rolle des Autos in Karikaturen und Comics. Auffallend oft sind darunter politische Kommentare, in denen das Auto als Metapher wirkt. So fährt etwa David Cameron, der britische Premier, im Kreisverkehr „gegen den Strom“. Weiter gibt es Interessantes für Chauvinisten, die der Meinung sind, Frauen gehören nicht hinter das Steuer: Die erste Langstreckentestfahrt, die zum Erfolg des ersten Patent-Motorwagens von Carl Benz und damit des Autos insgesamt führte, wurde von dessen Frau Bertha absolviert. Wer hätte das gedacht? Weiters gibt es im „Kari“ Krems eine variierende, aber dauerhafte Ausstellung der Karikaturen von Manfred Deix. Per Kombiticket kann man auch die Kunsthalle vis-à-vis besuchen.

 

Johannes Mayerhofer studiert Soziologie und Psychologie an der Uni Wien.

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