Jenseits bloßer Vorurteilsforschung

  • 10.03.2016, 15:12
Dem Band „Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus“ ist eine Zusammenstellung von Texten gelungen, die präzise und anschaulich verschiedene Aspekte und Formen von Antisemitismus ausleuchten, ohne ihn als bloße Feindseligkeit gegen Juden und Jüdinnen zu vereinfachen.

Dem Band „Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus“ ist eine Zusammenstellung von Texten gelungen, die präzise und anschaulich verschiedene Aspekte und Formen von Antisemitismus ausleuchten, ohne ihn als bloße Feindseligkeit gegen Juden und Jüdinnen zu vereinfachen.

Er bricht mit der häufigen Annahme, Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit Juden und Jüdinnen zu tun und könne bekämpft werden, indem man nur zeigt, dass pejorative Vorstellungen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Stattdessen sind die Beiträge gesellschaftstheoretisch wie psychoanalytisch fundiert und zeigen, dass Antisemitismus aus der sozialen und psychischen Lage der AntisemitInnen zu erklären ist. Inhaltliche Klammer ist dabei die Anlehnung an Theorien und Erkenntnisse von Karl Marx, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Abgesehen davon haben die Texte erstaunlich wenig gemeinsam. Der Sammelband ist transdisziplinär angelegt und enthält Zugänge aus Geschichtswissenschaft, Psychologie, Linguistik, Philosophie und kritischer Ökonomie. Das thematische Spektrum erstreckt sich von Grundlagen einer Sozialpsychologie des Antisemitismus über den Zusammenhang von Antisemitismus und Antiziganismus mit ökonomischen Verhältnissen über die nationalsozialistische Auffassung von Arbeit bis hin zur Demaskierung eines sich feministisch begreifenden Antisemitismus. Zudem wird im Buch dem nicht zuletzt auch im akademischen Milieu weitverbreiteten Antizionismus eine konsequente inhaltliche Kritik entgegengesetzt.

Neben den für sich genommen jeweils sehr gelungenen Beiträgen wurde es allerdings versäumt, sich mit islamischem Antisemitismus als einer der aktuell drängendsten Gefahren – nicht nur für Juden und Jüdinnen – auseinanderzusetzen. Dies mag daran liegen, dass eine Benennung islamischer Spezifika häufig zu einer automatischen Stigmatisierung als rassistisch und islamophob führt. Dabei würde sich eine Analyse des islamischen Antisemitismus hier gerade aufgrund des besonderen Fokus auf psychische Dispositionen und Subjektkonstitution anbieten, die eben nicht biologistisch argumentiert, wie dies in der populistischen Meinungsmache gegen MuslimInnen der Fall ist.

Marlene Gallner studiert Politikwissenschaft und Austrian Studies an der Universität Wien.

AutorInnen: Marlene Gallner