Reisen

Marco Polo und der Camping-Bus

  • 11.05.2017, 20:19
Ein kleiner historischer Abriss des Reisens – von Alexander dem Großen bis zum Post-Tourismus

Ein kleiner historischer Abriss des Reisens – von Alexander dem Großen bis zum Post-Tourismus.

Reisen stammt laut Duden aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutete lange Zeit Aufbruch, (Heer-) Fahrt oder auch (Heer-)Zug, verweist also bereits etymologisch auf etwas, das sich von einem zu einem anderen Punkt bewegt und ein entferntes, meist unbekanntes Ziel ansteuert, das – durchaus auch militärisch – erschlossen werden soll.

REISELITERATUR. Aus der historischen Reiseliteratur geht zunächst hervor, dass das Reisen lange Zeit mehr Qual als Erholung bereitet hat und dass es außerdem nie funktionsfrei war. Die Reiseliteratur hat frühe Wurzeln: Der Indienraubzug Alexander des Großen wurde vermutlich erstmals im 3. Jahrhundert n. Chr. von dem Hofhistoriografen Kallisthenes anhand einer biografischen Nacherzählung literarisch gefasst.

Im Zuge der Erschließung neuer Handelsmärkte wurde fortan gereist – die Reiseliteratur galt künftigen Entdeckern als Leitfaden. Der erst 17jährige Marco Polo begleitete seinen Vater Niccolò auf einer 24 Jahre andauernden Reise, die erst 1295 ihr Ende nehmen sollte. Infolge einer Seeschlacht geriet er in genuesische Kriegsgefangenschaft und diktierte dort seine Erlebnisse einem Mitgefangenen. In den Büchern finden sich ausgiebige Landschaftsbeschreibungen, darüber hinaus berichtet er aber auch über religiöse Sitten und Herrschaftsverhältnisse. Columbus studierte vor seinem Aufbruch in die Neue Welt Marco Polos Schriften.

Reisen erfolgte selten aus freiwilligem Antrieb: Matrosen, die heute gerne romantisiert werden, waren meist schwer für die langwierigen Schifffahrten zu begeistern, die Lebensumstände auf und unter Deck eine Tortur. Oft zwang man auf Fernreisen Ganoven, Taugenichtse, Verbrecher, Sklaven und andere, die man in der Alten Welt nicht vermisste, unter majestätischer Flagge in See zu stechen.

REISEINDUSTRIE. Alsbald stellte sich auch das Reisen unter das Joch des Kapitals – aus der Tortur wurde ein Privileg. Bäderreisen galten im 18. Jahrhundert als Vorrecht von ArtistokratInnen und Beschreibungen dienten der schnellstmöglichen Route, ohne Landschaftsbeschreibungen und Sightseeing- Tipps. In dem 1836 erschienenen „Red Book“ von John Murray sind allerdings schon erste Sehenswürdigkeiten und romantische Wegrouten notiert.

Durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert war die Erschließung bislang unbekannter Flecke nicht mehr nur der Aristokratie vorbehalten, sondern auch dem aufstrebenden BürgerInnentum. Im Juli 1841 organisierte Thomas Cook als Erster eine, heute vielleicht so zu bezeichnende, Pauschalreise; vier Jahre später gründete er sein bis dato bekanntes Reisebüro, um die Bedürfnisse breiter kleinbürgerlicher Schichten zu bedienen. Reisen wurde alsbald zur Industrie, indem es sich dem Massentourismus öffnete. Der Campingtourismus der 1950er und ‘60er als Freizeitprogramm markiert den Höhepunkt der Reiseindustrie. Der VW-Bus – das romantisierende Sinnbild der Ferne. Doch das Reisen war auch hier nie funktionslos, diente nie dem einfach Schönen, es war – wie alle freie Zeit – auf die Reproduktion der Arbeitskraft ausgelegt.

Reisen war in der Moderne nie unabhängig vom Status der Reisenden zu sehen, denn diese schöpfen einen Mehrwert aus der Fahrt. Die Person selbst, wie Hans Magnus Enzensberger feststellte, tritt neben das Reiseziel und allein das soziale Prestige zählt: „Zum Programm der touristischen Reise gehört als letzter Punkt die Heimkehr, die den Touristen selbst zur Sehenswürdigkeit macht.“ 1950 mokiert der Vielreisende Gerhard Nebel in seinem Buch „Unter Kreuzrittern und Partisanen“ am Massentourismus, dass ein Land, das vollständig touristisch erschlossen wurde, nur noch eine Kulisse bilden würde, und behauptete, es gäbe eine dämonische Kraft des Reisens. Sein Groll brach sich gegen PauschaltouristInnen Bahn, die wie eine Krankheit über ihre Reiseziele hereinbrechen würden. In dieser Kritik äußert sich eine Abscheu gegenüber der Moderne und der Öffnung von Reisemöglichkeit auch für nicht-Privilegierte. Verachtet wird das Reisen der Unterschichten“ – Pauschaltourismus.

POST-TOURISMUS. Der Urbanist Johannes Novy charakterisiert die „Post-TouristIn“ – ein Modewort – als eine Person, die es vermeidet, in Hotels zu übernachten. Sie sei nicht interessiert an den wichtigen touristischen Attraktionen, sei auf der Suche nach unkonventionellen Erfahrungen und vertreibe sich die Zeit in angesagten Nachbarschaften. In der Sendung „Urlaub XXL – Europa macht frei!“ auf Arte wird erklärt, dass die Post-TouristIn sich „in der Stadt verlieren“ und hinter die „Fassade sehen“ möchte. Bei genauerer Betrachtung kann und will sie dem Alltäglichen überhaupt nicht mehr entfliehen, da sie dem alltäglichen Trott nur an anderem Ort nachgeht.

In Berlin, so gibt ein Guide für Post-TouristInnen zu verstehen, besuche man daher Hinterhöfe, Berliner Cafés und Flohmärkte – es wird jenes bestaunt, was es in jeder beliebigen größeren Stadt zu sehen gibt. Der Post-TouristIn geht es nicht um Erholung oder die Abwesenheit des Alltags, sondern um das Erlernen einer Sprache, sie nützt den Aufenthalt für die Arbeit oder das Studium. Dies wird sodann als authentische Erfahrung verkauft und nicht als das, was es erscheint: eine Selbstoptimierungskampagne, um sich in der (meist) akademischen Arbeitswelt besser zu platzieren. Reisen war und ist nie unabhängig von einer Funktion. Der Post-Tourismus betreibt die Ausweitung der Arbeitswelt ins Unendliche.

David Hellbrück ist freier Autor und Verleger und studiert u.a. Philosophie in Wien.

Sparschiene

  • 23.02.2017, 17:54
360 Euro für ein österreichweit gültiges Studi-Ticket: Die Forderung klingt utopisch. Wie schneidet sie im europäischen Vergleich ab?

360 Euro für ein österreichweit gültiges Studi-Ticket: Die Forderung klingt utopisch. Wie schneidet sie im europäischen Vergleich ab?

Österreich ist ein kleines Land. Wer öfters mit dem Zug unterwegs ist, wird das vielleicht anders empfinden. Laute Mitreisende, langsames Fahren über Berge und Verspätungen können schon mal an den Nerven zerren. Vor allem dann, wenn die Fahrt entsprechend teuer war. Österreich mag im Vergleich mit den deutschen Nachbar*innen ein relativ günstiges Bahnland sein, die Preise können dennoch ein empfindliches Loch in studentische Geldbörsen reißen. Wer zum Beispiel mit der ÖBB von Wien nach Villach fährt, um über das Wochenende Familie und Freund*innen zu besuchen, zahlt dafür 28,30 Euro. Vorausgesetzt, man verfügt über die „Vorteilscard Jugend“, die jedoch auch einmal im Jahr 19 Euro kostet und nur bis 26 Jahre gilt. Ohne Verbilligung kostet der Wochenendtrip zu den Eltern das Doppelte: 56,60 Euro. Wer also zum Beispiel 21 Jahre alt ist, in Wien studiert und einmal im Monat die Eltern in Kärnten besuchen will, zahlt dafür sogar bei Ausnutzung des günstigen Sommertickets knappe 600 Euro im Jahr. Nicht alle Studierenden besuchen ihre Eltern so regelmäßig, andere fahren öfters von der Unistadt „aufs Land“, etwa, weil sie dort eine Fernbeziehung haben. Zum Geburtstag gibt es mit 26 dann eine nette finanzielle Überraschung: die Jugend-Vorteilscard gilt nicht mehr. „26 bist du aber bald mal und dann darfst du für jede Fahrt das Doppelte zahlen oder musst dir ausrechnen, ob die ‚normale‘ Vorteilscard sich lohnt“, beschwert sich Janine, die wie viele Studierende in Österreich länger studiert hat, als sie anfangs geplant hatte. Das Durchschnittsalter der österreichischen Studierenden liegt laut der aktuellsten Studierendensozialerhebung bei 26,2 Jahren, etwa ein Drittel der Studierenden ist älter als 26. Die Kosten für Mobilität unterscheiden sich stark je nach Alter: Unter-Zwanzigjährige kommen im Schnitt mit 54 Euro im Monat aus, Studierende, die älter als dreißig sind, verbrauchen das Doppelte, um von A nach B zu kommen.

SCHIENENERSATZVERKEHR. Alternativen zum Zugfahren sind mittlerweile gerade in studentischen Kreisen sehr beliebt, das Jammern über die ungemütliche und langsame Zugreise ist mittlerweile den verzweifelten Geschichten aus dem nicht-klimatisierten Fernbus mit verstopftem Klo gewichen. Von Wien nach Villach gibt es jedoch kein Angebot, denn wie auch die WestBahn versuchen die Fernbusunternehmen vor allem lukrative Strecken zu befahren und konzentrieren sich auf die profitable Weststrecke oder Verbindungen zwischen großen Städten. Wer nicht aus einem größeren Ort kommt, muss sowieso längere Fahrtzeiten und höhere Kosten auf sich nehmen, um die Verwandten „am Land“ zu besuchen. Neben dem öffentlichen Verkehr besteht natürlich auch immer die Möglichkeit, mit dem Auto zu fahren und Mitfahrgelegenheiten zu nutzen. Wie sehr die verfügbar sind, hängt natürlich auch davon ab, wo man wohnt und wie gut man vernetzt ist. Noch komfortabler ist der eigene PKW, was aber erhebliche Kosten für Versicherung und Erhalt mit sich bringen kann – noch dazu wird er in der Stadt eher selten gebraucht. Die teure Bahn ist für viele Studierende die einzige Möglichkeit, überhaupt mobil zu sein und Freund*innen, Bekannte oder die Familie zu besuchen. In Zeiten steigender Ticketpreise und seit Ewigkeiten nicht an die Inflation angepasster Beihilfen kann das Reisebudget schon mal sehr knapp werden. Dabei war das alles bereits anders. In den 1970ern wurde von der Regierung Kreisky die sogenannte „Schüler- und Studentenfreifahrt“ eingeführt, die Studierenden wurden finanziell entlastet. Das aber nicht nur mit den kostenlosen Öffis in den Unistädten, sondern auch mit der „Schulfahrtbeihilfe“, mit der „auswärts Studierende“, je nach Entfernung des Elternhauses, eine finanzielle Hilfe für die Heimfahrt erhalten konnten.

STUDITICKET JETZT! Die Österreichische Hochschüler*innenschaft (ÖH) lobbyiert seit knapp einem Jahr mit der Kampagne #studiticketjetzt für ein österreichweites Studierendenticket. Im Oktober wurde dem Parlament eine Bürgerinitative mit über 25.000 Unterzeichner_innen präsentiert, dort wurde das Anliegen an den Verkehrsausschuss weitergeleitet. Außerdem gab es mehrere Treffen der ÖH-Spitze mit Minister*innen. Das Ticket soll nach Vorstellung der ÖH 360 Euro im Jahr kosten und für alle öffentlichen Verkehrsmittel österreichweit gelten. Anspruchsberechtigt sollen dabei alle Studierenden sein, die ab dem 3. Semester acht ECTS aus dem vorigen Semester nachweisen können. Die ÖH fordert also ein Ticket ohne Altersbeschränkung. Um „Schein-Studierende“ zu verhindern, die sich nur inskribieren, um das günstige Ticket zu erhalten, soll die Anspruchsdauer in Summe 120 Monate betragen, die jedoch nicht am Stück verbraucht werden müssen. Die Forderung ist ein seltenes Beispiel für harmonische Zusammenarbeit von ÖH-Exekutive und Opposition: Der Antrag auf der ÖH-Bundesvertretungssitzung wurde einstimmig beschlossen, die meisten großen Fraktionen beteiligen sich namentlich an der Kampagne. Mobilitätskosten sind mitunter auch bei der Studienwahl entscheidend. So wird das Studium nicht nur nach den eigenen Interessen, sondern eben auch nach den Fahrtkosten zum Studienort gewählt. Ein Studiticket, wie die ÖH es fordert, könnte hier helfen. Magdalena Hangel von der Maturant_innenberatung der ÖH-Bundesvertretung erklärt: „Ein österreichweites Studierendenticket lindert den finanziellen Druck bei der Studienwahl, es führt zu einer besseren Vernetzung von Region und Stadt und schafft Freiheit für zukünftige Studierende. Natürlich gehören da andere Faktoren auch dazu. Als Studienberater_innen wissen wir aus unserem Beratungsalltag aber, dass der Faktor Studienort nicht zu unterschätzen ist.“ Die ÖH argumentiert neben den sozialen Effekten auch damit, dass ein Studiticket der Umwelt zu Gute kommen würde – die Regierung könnte das Studiticket nicht nur als soziale Maßnahme, sondern auch als österreichischen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel, verkaufen.

ANDERE LÄNDER, ANDERE TARIFE. Wie sieht die Situation eigentlich in anderen Ländern aus? Zumindest was die Preise für den öffentlichen Nahverkehr angeht, kommen die Studierenden in Österreichs größter Universitätsstadt (Überraschung: Wien!) auch im europäischen Vergleich recht günstig weg: 75 Euro im Semester kostet das Ticket für die Wiener Linien, wenn der Hauptwohnsitz in Wien liegt und das magische Alter von 26 nicht überschritten ist. In Deutschland ist die Situation kompliziert, da die Hochschulen, anders als in Österreich, in die Kompetenz der Bundesländer fallen, die jeweils eigene Regelungen haben. Oft bezahlen Studierende in Deutschland gleichzeitig mit den Studiengebühren ein Semesterticket, mit dem sie meistens nicht nur die öffentlichen Verkehrsmittel ihres Studienortes, sondern auch den Regionalverkehr um den Ort herum, manchmal sogar im ganzen Bundesland, nutzen dürfen. Teilweise sind diese Tickets „vollsolidarisch“, d.h. alle Studierenden müssen sie kaufen – wer nicht mit den Öffis fährt, subventioniert die Fahrten der Anderen mit. Andere Tickets bestehen aus mehreren Komponenten, die optional hinzugekauft werden können. Mit mindestens 204 Euro im Semester wäre ein angedachtes Modell in Baden-Württemberg aber teurer geworden als das ÖH-Studiticket. Im Nordwesten Deutschlands gibt es hingegen erstaunliche Bewegungsfreiheit: Wer beispielsweise in Göttingen studiert, kann für knapp 110 Euro in der ganzen Region fahren, bis nach Hamburg oder gar an die Nordsee – allerdings nur mit dem Regionalverkehr, Schnellzüge der Deutschen Bahn dürfen die Studierenden nicht benutzen. In den Niederlanden können Studierende auswählen, ob sie am Wochenende oder werktags gratis fahren wollen. Allerdings müssen sie ihr Studium innerhalb von zehn Jahren abschließen, sonst gilt das kostenlose Ticket nur als „Darlehen“ für Tickets, die knapp 100 Euro im Monat kosten. Das Ticket ist eine Leistung der niederländischen Studienfinanzierung. Zusätzlich dazu gibt es die Möglichkeit, günstige Tarife für wenig frequentierte Reisezeiten auszunutzen und so auch am Wochenende günstig von Amsterdam nach Breda zu kommen. In Finnland gibt es kein Studi-Ticket, das für das gesamte Streckennetz gilt, allerdings bestehen hier spezielle Vergünstigungen für Studierende. Finnische Studierendenorganisationen haben im Februar 2016 einen 30-Prozent-Rabatt mit der VR Group, der finnischen Staatsbahn, ausgehandelt. Innerhalb der Städte zahlen finnische Studierende die Hälfte des Ticketpreises auf Zeitkarten, diese Ermäßigung besteht allerdings schon länger.

ES GEHT AUCH GRATIS. Die ÖH-Forderung nach einem österreichweit gültigen Ticket um 360 Euro im Jahr scheint im europäischen Vergleich also gar nicht so unrealistisch und günstig, wie das vielleicht auf den ersten Blick scheint. Vor allem dann nicht, wenn man den Blick nach Osten schweifen lässt: In der Slowakei fahren Studierende nämlich gratis. Allerdings gilt diese Regelung nur bis 26. Theoretisch können sogar alle studierenden EU-Bürger*innen einen Zero-Rate-Pass in der Slowakei beantragen, sofern sie ihre Studienbestätigung auf Slowakisch übersetzen lassen. Mit dem Pass lassen sich dann kostenlos Fahrkarten für das gesamte Schienennetz lösen. Die sind allerdings an Passagier*in und Zugverbindung gebunden – ein bisschen Vorplanung ist also vonnöten. Auch in Luxemburg gibt es ab August ein Gratisticket für Studierende – dabei soll der Studienort egal sein und das Ticket in allen öffentlichen Verkehrsmitteln gelten. Weit fahren können die luxemburgischen Studierenden damit allerdings nicht: Das Großherzogtum hat in etwa die Fläche von Vorarlberg. Diese Beispiele zeigen, dass es prinzipiell nicht unmöglich ist, Studierende günstig (beziehungsweise sogar gratis) mit der Bahn herumfahren zu lassen. Österreich sollte das doch auch schaffen können. Mit einem einheitlichen Studi- Ticket, das für Bus, Bahn und Bim gilt, würden die unfairen Tarifunterschiede zwischen den verschiedenen Studienorten innerhalb Österreichs ebenfalls abgeschafft werden. Die Umwelt, ganz besonders das Klima, würde sicherlich profitieren, angehende Studierende hätten einen Faktor weniger, den sie bei der Studienwahl berücksichtigen müssten und ältere Studierende hätten weniger Geldsorgen. Vielleicht würden auch weniger Fernbeziehungen in die Brüche gehen. Alleine das wäre doch Grund genug, das Studi-Ticket endlich einzuführen.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Women on the Road

  • 23.10.2014, 02:46

Als Frau alleine reisen? Bis heute scheidet diese Frage die Geister. Vor allem wenn es um Regionen geht, die für Frauen* als problematisch gelten. progress hat mit drei jungen Frauen geredet, die alleine unterwegs waren – und es nicht bereut haben.

Als Frau alleine reisen? Bis heute scheidet diese Frage die Geister. Vor allem wenn es um Regionen geht, die für Frauen* als problematisch gelten. progress hat mit drei jungen Frauen geredet, die alleine unterwegs waren – und es nicht bereut haben.

Meryl, Stephi und Tessa haben zwei Dinge gemeinsam: Sie haben den Wunsch gefasst, alleine wegzufahren, und sie haben sich nicht durch Vorurteile davon abhalten lassen. „Der Grund für meine erste Soloreise war damals nicht mehr als ein vages Gefühl. Ich habe gespürt, dass ich mal Zeit für mich brauche – und zwar wirklich“, erzählt Tessa, die nun schon mehrmals alleine in Norwegen war. Die Frage, ob sie anfangs unsicher war, bejaht sie: „Davor habe ich nur Nachteile gesehen: niemand, den ich kenne, niemand, mit dem ich reden kann, niemand, der mir helfen kann.“ Aber schließlich war alleine unterwegs zu sein für Tessa befreiend und ungezwungen. „Du bist sowieso nie ganz alleine“, erklärt Meryl, die nach Südostasien und Indien gefahren ist. „Du triffst vor Ort Gruppen oder lernst einzelne Leute kennen, mit denen du etwas unternimmst. Das geht viel besser, wenn du solo unterwegs bist. Du kannst dich richtig in das Land fallen lassen.“ Meryl fuhr weg, weil sie eine Auszeit brauchte: „Irgendwie ist es mir in Österreich einfach zu viel geworden. Ich hab mir gedacht – einfach weg. Und dann bin ich sechs Wochen nach Thailand gefahren.“ Nicht alle können einen solchen Entschluss sorglos hinnehmen. Als Stephi nach Indien und Australien reisen wollte, löste sie einen Familienstreit aus.

Reisevorbereitungen. Um als Frau alleine sicher zu sein, ist es nicht unbedingt notwendig, die ganze Reise bis ins kleinste Detail durchzuplanen – ganz im Gegenteil. Als Meryl sechs Wochen lang durch Südostasien reiste, hatte sie nur zwei Dinge geplant: Hinflug und Rückflug. Alles dazwischen überließ sie dem Zufall und war erfolgreich. Ähnlich hielt es Stephi. Tessa hingegen wusste im Vorhinein immer zumindest, zu welchem Zeitpunkt sie in welcher Stadt sein und wo sie unterkommen würde. Sie informierte sich davor aber kaum über die Städte: „Bei der Tagesplanung bin ich spontan. Ich will mich von der Stadt überraschen lassen und möglichst ohne vorgefertigtes Bild im Kopf hinfahren, damit ich einen eigenen Eindruck von der Stadt bekomme.“ Alle drei bekamen vor Ort oft Rat von anderen Tourist_innen oder Einheimischen – darunter auch „Geheimtipps“, die in keiner Reiseführerin erwähnt werden.

Spontan blieb Meryl auch auf ihrer zweiten Reise. Ursprünglich wollte sie nach Nordindien, doch dafür war sie zu kalt angezogen. „Ich dachte, ich könnte warmes Gewand am Weg kaufen, aber dazu war ich noch nicht weit genug im Norden.“ Schließlich ist sie umgekehrt und hat den Süden bereist, bis hin zu einer kleinen Inselgruppe vor der Küste Indiens, wo sie tauchen war. Auch wegen der günstigen Unterkünfte in Indien war es für Meryl nicht so wichtig vorauszuplanen wie für Tessa in Norwegen. Tessa wohnte dort oft in halbprivaten Unterkünften, um sich die Reise leisten zu können. Sie verließ sich bei der Wahl ihrer Unterkünfte auf ihr Bauchgefühl und fand über Airbnb und Couchsurfing Gastgeber_ innen. Durchs Couchsurfen können auch Reisen in teure Länder erschwinglich werden, hier bekommt frau auch alleine leichter eine Unterkunft. „Leute sind zu Frauen oft netter und hilfsbereiter“, meint Tessa, die sich im Vorfeld oft Gedanken über ihre Sicherheit gemacht hat.

Kennenlernen. Das wohl größte Abenteuer für alle drei war das Zusammentreffen mit anderen Menschen. „Ich bin relativ schüchtern“, meint Tessa, während sie von ihren Erlebnissen mit Fremden berichtet. Für sie war es ein Sprung ins kalte Wasser, der sich mehrfach bewährt hat. So lernte sie auf einer Zugfahrt jemanden kennen, der in einer Band spielt, und wurde von ihm zum Konzert und zu einer Backstageparty eingeladen. Zug- und Busfahrten so wie gemeinsame Ausflüge sind gute Möglichkeiten, andere nicht nur oberflächlich kennen zu lernen.

Auch Meryl berichtet von einer Fahrt im Zug, auf der sie sich für 24 Stunden mit zehn fremden Menschen ein Liegeabteil teilte. Überrascht hat sie, wie nah sie in solchen Situationen den anderen kam: „Obwohl wir alle aus unterschiedlichen Kontexten gekommen sind, haben wir alles gemeinsam gemacht – Essen geteilt und gemeinsam gegessen, auf ein Kind aufgepasst, miteinander geredet und einander trotzdem Freiraum gegeben. Nachdem ich aus dem Zug ausgestiegen bin, hab ich wieder niemanden gekannt. Eine schräge Erfahrung.“

Für Stephi war ihre Reise auch eine Möglichkeit, eine neue Sprache zu lernen: Hindi. „Im Vorfeld haben mir alle gesagt, dass in Indien alle Englisch reden. Ich hab’ dann aber eine Zeit lang mit Nepales_ innen zu tun gehabt, die in der Schule nur Hindi gelernt haben und kein Englisch.“ Meryl sprach zwar nicht Thai, dafür aber viel Englisch. „Irgendwann wollte ich nicht mehr auf Deutsch mit anderen reden. Ich habe sogar auf Englisch gedacht und auch mein Reisetagebuch auf Englisch geführt.“

In einer weiteren Hinsicht sind sich alle drei einig: Sie fielen als alleine reisende Frauen auf. Stephi meint, dass das in Australien am wenigsten der Fall gewesen sei, da sehr viele Frauen aller Altersgruppen alleine dorthin fahren. Einige Male fungierten Männer temporär als „Beschützer“, wenn sie zum Beispiel darauf bestanden, sie zum Markt zu begleiten, weil sie Angst um sie hatten. Für Stephi eine seltsame Erfahrung. Sie selbst wirkte auch als positives Vorbild: „Es war schön zu sehen, dass die indischen Mädchen, die total behütet aufwachsen – Mädchen aus reichen Familien werden behandelt wie Prinzessinnen –, das bei mir gesehen haben und dann gesagt haben, dass sie auch einmal alleine verreisen möchten.“

Keine Angst. Stephi fiel im Norden Indiens auf: „Ich war eindeutig Ausländerin, aufgrund meiner Sprache und meines Verhaltens. Aber wenn ich mich indisch gekleidet habe, bin ich gut untergetaucht.“ Manchmal fühlte sich Stephi in Indien sogar wohler als in Wien, wo sie schon öfter belästigt wurde. „Von Indien sagt man, dass Frauen dort nicht respektiert werden. Ich hatte dort aber eher das Gefühl, dass ich nicht angeschaut werde, wenn ich das nicht will“, meint Stephi. „Ich wurde nicht angegriffen. Die Männer waren viel vorsichtiger im Umgang mit mir, aber wahrscheinlich ist das auch lokal unterschiedlich.“ Gleichzeitig mit Stephis Indienreise waren Beiträge in Medien präsent, die von den Vergewaltigungen an Frauen und auch an Touristinnen in Indien berichteten. Viele davon wirkten für Frauen angstmachend. Dass der Situation in Indien so große mediale Auf merksamkeit zukam, findet sie aber auch positiv, weil dies auf eine Veränderung im Land zurückzuführen sei. Viele Freund_innen, die sie damals kennenlernte, gehen jetzt auf Demos für Frauenrechte und gegen die Tabuisierung von Sexualität.

Viele der Ängste, die Frauen betreffen, die alleine reisen, drehen sich um sexualisierte Gewalt, die durch Medienberichte über Vergewaltigungen vor allem mit asiatischen Ländern in Verbindung gebracht wird. Stephi machte, um Selbstbewusstsein zu tanken und um zu wissen, dass sie in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf bewahren kann, vor ihrer Abreise einen Selbstverteidigungskurs. Zu lernen, sich bei Übergriffen zu wehren, kann gut tun. Um mit lokaler Diskriminierung umgehen zu können, empfiehlt Stephi auch sich auf die religiösen und kulturellen Eigenschaften eines Landes vorzubereiten, vor allem, was Traditionen der Bekleidung betrifft. „Ein Bikini ist in Indien weniger als normale Unterwäsche. Das muss dir vorher klar sein.“

Viele Gefahren, die Frauen auf Reisen betreffen, gelten genauso für Männer, weshalb sich Stephi darüber ärgert, dass vor allem Frauen Angst gemacht wird. Sie erzählt von dem einzigen Mal, als sie in Indien wirklich Angst hatte – und das war nicht die Schuld von Menschen. „Einmal bin ich um fünf in der Früh laufen gegangen und wohl durch das Revier von Affen gekommen, die mich angeschrien und mit Zapfen und Nüssen nach mir geworfen haben.“

Dass es Situationen gibt, die vor allem für Frauen unangenehm sind, können die drei allerdings nicht abstreiten. Auch Tessa machte in Norwegen unangenehme Erfahrungen mit einem Mann, der ein „Nein“ nicht akzeptieren wollte, als sie abends Biertrinken war. Die Situation ging glimpflich aus und stellt für Tessa eine Ausnahme dar, da sie beobachtete, dass Männer in Norwegen im Allgemeinen ein „Nein“ besser verstehen als in Österreich. Ein unangenehmes Gefühl bleibt für sie trotzdem, wenn sie an den Vorfall zurückdenkt. Auch Meryl mied bestimmte Situationen – beispielsweise nachts allein am Strand unterwegs zu sein. Das Wichtigste sei, sich darauf einzustellen und immer selbstbewusst aufzutreten, egal ob in Verhandlungen mit dem Taxifahrer oder alleine auf der Straße. Falls es dennoch zu einem Übergriff kommt, ist es wichtig, sich nicht selbst die Schuld daran zu geben. In allen Ländern, in denen Frauen als schwach gelten, gibt es solche Probleme – Belästigung, Übergriffe oder auch Vergewaltigung. Doch aus Angst zu Hause bleiben sollten Frauen auf keinen Fall, da sind sich Stephi, Meryl und Tessa einig.

Magdalena Hangel lebt in Wien, schreibt an ihrer Doktorinnenarbeit im Bereich der Germanistik.

www.women-on-the-road.com

wikitravel.org/

Stephis Reiseblog: www.mahangu.com/trip/AFD/waypoint-1

 

 

Eine Reise auf acht Rädern

  • 02.08.2014, 09:24

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Im Spätsommer 2010 haben sich die beiden aufgemacht. Eigentlich sollte es eine sechsmonatige Auszeit vom österreichischen Winter werden. Es wurde schließlich eine zwölf Monate lange Reise durch Mexiko und Mittelamerika. Dabei bestaunten Victoria Reitter und Reinfried Blaha nicht nur die schönsten Strände, durchtauchten malerische Buchten und machten unzählige Bekanntschaften. Sie hatten auch mit Krankheiten zu tun, machten es sich auf verlassenen Terrassen gemütlich und entwickelten eine besondere Taktik im Umgang mit lästigen Polizeikontrollen. Bis nach einem Jahr sowohl ihr Auto, mit dem sie rund 20.000 Kilometer zurückgelegt hatten, als auch Reinfrieds Rollstuhl eine Generalsanierung nötig hatten.

Victoria pausierte für die Dauer des Trips ihr Studium der Kultur- und Sozialanthropologie in Wien, der studierte Architekt Reinfried ließ sich von seiner Arbeit in Graz karenzieren. Startpunkt der Reise war Los Angeles, wo sich die beiden einen alten Volvo, Baujahr 1984, zulegten. Denn eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre nur unter schweren Anstrengungen möglich gewesen. Seit einem Ski-Unfall im Jahr 2006 ist Reinfried von der Brust abwärts gelähmt und nur mit einem Rollstuhl mobil. Aufgrund seiner Querschnittslähmung ist er auch auf Einwegkatheter angewiesen, um seine Blase entleeren zu können, je nach Wassermenge benötigt er dafür sechs bis neun Stück am Tag. Für eine halbjährige Reise hatten die beiden also eine Unmenge an Kathetern im Gepäck; der zusätzliche Stauraum des Autos erwies sich deshalb als erhebliche Erleichterung. Kalifornien empfanden beide, auch im Vergleich zu Österreich, als relativ barrierefrei. Das änderte sich aber spätestens an der Grenze zu Mexiko: „Wir sind dann zu einem Team geworden, das voneinander abhängig war. Ich war angewiesen auf Vicki, sie aber auch auf mich. Ohne sie hätte ich quasi an einer Straßenecke sitzenbleiben müssen“, erklärt Reinfried.

Durch die Wüste. Für die erste, rund 1.600 Kilometer lange Etappe, die sie durch die dünnbesiedelte, wüstenartige Gegend von Baja California mit ihren einzigartigen Stränden führte, ließen sich die beiden gut fünf Wochen Zeit. Mit wenig Budget ausgestattet, schlugen sie dort ihr Lager auf, wo es ihnen gerade am besten gefiel. Wild zu campieren, hatte in dieser Gegend allerdings einen erheblichen Nachteil: Der Boden ist dort so sandig, dass Reinfried mit dem Rollstuhl schnell steckenblieb. Vicki musste sich um Zelt und Lagerfeuer also immer alleine kümmern. Auf der Suche nach Alternativen mieteten sie sich schließlich auf den Terrassen von verlassenen Ferienhäusern ein. Für Reinfried bedeutete das, seine Mobilität zurückzugewinnen. Überrascht von den vergleichsweise niedrigen Temperaturen in der Nacht, mussten sie zum Schlafen manchmal nahezu alles anziehen, was sie dabei hatten. Das Auto wurde bald zu einem zweiten Zuhause. Täglich mit neuen Herausforderungen konfrontiert, entwickelten beide im Zuge der Reise für so manches Problem kreative Lösungen. Da Reinfried auf Sitztoiletten angewiesen ist, solche in der Gegend aber dünn gesät waren, wurde kurzerhand ein Camping-Stuhl zu einer mobilen Toilette umfunktioniert. „Ich konnte mir jetzt die schönsten Toilettenplätze der Welt aussuchen“, erzählt er lachend. Zwei gestohlene Schlafsäcke, eine gebrochene Zeltstange und zwei löchrige Matten kostete die erste Etappe ihrer Reise, dafür hatten die beiden ihr Spanisch zu diesem Zeitpunkt bereits um gefühlte fünf Prozent verbessert.

In San José del Cabo, an der Südspitze Baja Californias angekommen, begann Reinfried in einem Architekturbüro zu arbeiten; Victoria fand Arbeit bei einer NGO, die Menschen im Slum-Gürtel rund um die Stadt unterstützt. Die Wohnungssuche gestaltete sich schwieriger, da es in San José del Cabo praktisch keine barrierefreien Gebäude gab. Konfrontiert mit der Aussicht, ihren Aufenthalt in Zelt und Auto verbringen zu müssen, tat sich aber plötzlich doch noch ein geeignetes Domizil auf: direkt am Meer, sogar mit einer Rampe bis zum Strand – ideal für einen Strandbesuch mit dem Rollstuhl.

Weihnachten am Strand. Statt mit einer importierten Tanne aus Kanada wurde Weihnachten mit Corona und Tequilla gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen Reinfried und Victoria auch, ihre Reise um drei weitere Monate zu verlängern. Damit standen sie aber auch vor einem Problem: Die Katheter würden früher oder später zur Neige gehen. Es musste Nachschub her. Ein Paket aus Österreich wurde allerdings vom mexikanischen Zoll festgehalten. Um die Katheder dort abzuholen, hieß es also wieder ab auf die Straße Richtung Mexiko-City.

Am Weg in die Millionen-Metropole verbrachten Victoria und Reinfried die Nächte immer öfter in Herbergen. Geeignete Unterkünfte zu finden, die ohne Treppen, ohne zu steile Rampen und durch ausreichend breite Türen zugänglich waren, stellte sich aber auf der gesamten Reise als äußerst schwierig heraus. Während Reinfried im Auto wartete, sah sich Victoria die Herbergen an. Dabei entwickelte sie ein besonderes Auge für Maße: „Ich konnte auf den Millimeter genau erkennen, ob Reini mit dem Rolli durch eine Tür passen wird oder nicht.“ Dass sie aufgrund mangelnder Barrierefreiheit viele Unterkünfte ausschließen mussten, sollte sich aber als Bereicherung erweisen: „Auf diese Weise haben wir viele Plätze gesehen, die in keinem Reiseführer verzeichnet sind und haben eine Art Negativabdruck des Reiseführers gemacht“, erzählt Victoria. Oft wurden von GastgeberInnen auch provisorische Rampen angelegt oder anderweitig geholfen. In der Hauptstadt Mexikos angekommen, war es zwar nicht möglich, die Katheter tatsächlich aus den Fängen des mexikanischen Zolls zu befreien, mit Hilfe von Victorias Bruder und der österreichischen Botschaft erhielten sie aber trotzdem Nachschub.

Gleichberechtigt unter Wasser. Der weiteren Erkundung Mexikos stand somit nichts mehr im Weg. Besonders fasziniert waren Reinfried und Victoria vielerorts von der Unterwasserwelt. Sie gingen nicht nur oft schnorcheln, sondern lernten auch Tauchen – eine Sportart, die sie beide gleichberechtigt ausüben konnten. „Es hat zwar ein wenig gedauert bis ich die Stabilität unter Wasser gefunden habe. Ich habe aber schnell gemerkt, dass es eigentlich allen Tauchanfängern dabei gleich geht“, erzählt Reinfried. Nach 180 Tagen stand schließlich die Ausreise aus Mexiko bevor. Das Ziel war Kolumbien.

Ihre Reise führte zunächst über Belize nach Guatemala, ein Land mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von rund 60 Prozent, in dem circa 50 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Osterzeit verbrachten sie in der Stadt Antigua und erlebten dort die tagelangen Osterprozessionen. „Die ganze Stadt spielt eine Woche lang verrückt. In stundenlanger Arbeit werden bunte Teppiche aus Holzspänen auf die Straßen gelegt, dann kommt die Prozession, danach werden neue Teppiche gelegt“, erzählt Victoria. In El-Salvador fing Victoria an, Vulkane zu besteigen. Für Reinfried hieß das zwar, dass er den ganzen Tag im Zimmer bleiben musste, das war aber nach den vielfältigen Eindrücken der bisherigen Reise eine entspannende Abwechslung für ihn.

Je länger Victoria und Reinfried unterwegs waren, desto mehr Schwierigkeiten begegneten ihnen. Auch das geliebte Auto zeigte zunehmend Verfallserscheinungen: Mal war es eine kaputte Benzinpumpe, ein anderes Mal gaben ausgerechnet zur Regenzeit die Scheibenwischer auf. Wie immer wussten sich Victoria und Reinfried aber zu helfen und erdachten eine Konstruktion mit Schnüren, mittels derer sie die Scheibenwischer aus dem Auto heraus manuell bedienen konnten. Reinfried zog sich gegen Ende der Reise eine Fersenverbrennung zu, die sich nur deshalb nicht erheblich entzündete, weil er aufgrund seiner immer wiederkehrenden Harnwegsinfekte regelmäßig Antibiotika einnehmen musste. Victoria wiederum erkrankte an Denguefieber, eine Krankheit, die mitunter tödlich verlaufen kann.

Boot statt Auto. Immer wieder waren die beiden auf ihrer Reise auch mit schlecht bezahlten PolizistInnen konfrontiert, die sich über Geld unter der Hand freuten. Für diese Situationen entwickelten sie eine spezielle Taktik: den Rollstuhlbonus. „Sobald uns die Polizei aufgehalten hat, ist Vicki ausgestiegen, zum Kofferraum gegangen und hat mühsam den Rolli ausgepackt“, erklärt Reinfried: „Meistens hat sich die Sache damit auch schon erledigt“. Sie entschieden sich schließlich, ihre Reise nochmals um weitere drei Monate zu verlängern; Victorias Bruder hat sie dafür noch einmal persönlich mit einer Katheterlieferung aus Österreich versorgt. Über Honduras ging es schließlich weiter nach Nicaragua. An der Grenze zu Costa Rica wurde schließlich der Plan, über Panama bis nach Kolumbien zu reisen, durchkreuzt: Die Grenzbehörden wollten die beiden mit ihrem alten Volvo nicht einreisen lassen. So entschlossen sie sich, die touristisch kaum erschlossene Ost-Küste Nicaraguas zu bereisen – eine Gegend, in der es kaum Straßen gibt. Die meisten Strecken legten sie dort, wie die Einheimischen, im Boot zurück.

Am gefühlten Ende der Welt sollte dann schließlich das Schlimmste passieren, was sie sich vorstellen konnten: Die Kugellager des Rollstuhls gaben nach und nach den Geist auf. Für Reinfried bedeutete dies den Verlust seiner Mobilität, ein Tiefschlag für beide. Nach einiger Suche konnten sie aber den 80-jährigen Schweißer Mr. Silvio ausfindig machen, der das Nötigste reparieren konnte. Reinfried war zwar nicht mehr so mobil wie zuvor, für die Rückreise nach Mexiko-City reichte es aber. Dort überließen sie ihren lieb gewonnenen Volvo einem Künstler – im Tausch gegen zwei Gemälde. Zurück in Österreich war es für Victoria und Reinfried nicht einfach, in den Alltag zurückzufinden. Die Reise wird ihnen unvergesslich bleiben. Rückblickend meint Reinfried: „Wir haben bei dieser Reise viel gelernt, sie hat unseren Horizont erweitert. Sie hat unsere Intuition geschult und wir haben gelernt, Perspektiven
zu wechseln. Trotz manchmal unüberwindbaren Barrieren haben wir erkannt, dass die meisten Barrieren in unseren Köpfen verankert sind.“

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung in Wien.

Reisevorträge von Victoria und Reinfried gibt es zu folgenden Terminen:
30. 9. Wien Energie (www.allesleinwand.at)
8. 10. Hartberg (Stmk.)
15. 10. Seestadt Aspern (Wien)
23. 10. VBH Schloss Retzhof, Wagna (Stmk.)
29. 10. Leoben (Stmk.)

Für mehr Informationen:
https://www.facebook.com/mebeguelhonicopa

Rainbow Nation unter Druck

  • 29.09.2012, 02:39

In Kapstadt wird soziale Ungleichheit in Autominuten gemessen: Zehn davon liegen zwischen dem reichen Zentrum und den informal Settlements. Dort herrscht Armut, und Widerstand. Besonders aktiv in Südafrikas einflussreicher Zivilgesellschaft sind feministische Organisationen. Zwei Monate Südafrika, zwischen diesen Extremen: Ein Reisebericht.

In Kapstadt wird soziale Ungleichheit in Autominuten gemessen: Zehn davon liegen zwischen dem reichen Zentrum und den informal Settlements. Dort herrscht Armut, und Widerstand. Besonders aktiv in Südafrikas einflussreicher Zivilgesellschaft sind feministische Organisationen. Zwei Monate Südafrika, zwischen diesen Extremen: Ein Reisebericht.

„For Nozizwe! Viva Nozizwe, viva!“ Eine Gruppe von etwa tausend Menschen hat sich vor der St. Georges Cathedral versammelt, Sprechchöre hallen in isiXhosa, Afrikaans und Englisch durch die Reihen. Ein Meer an Flugzettel, Bannern und lila T-Shirts rauscht durch die Straßen um sich schließlich in der Kathedrale im Herzen von Kapstadt einzufinden. Drinnen findet eine Kundgebung zur Bewusstseinsbildung für HIV/AIDS statt.

Ferienparadies statt Aidsbekämpfung. Die Kundgebung mehrerer Nichtregierungsorganisationen steht im Zeichen der Entlassung der stellvertretenden Gesundheitsministerin Nozizwe Mbela-Routledge. Der Grund für die Amtsenthebung: Neben dem Ausbau der Gesundheitseinrichtungen sprach sie sich auch dafür aus, HIV/AIDS nicht mehr totzuschweigen. „Südafrika leidet unter einer HIV/AIDS-Pandemie“, diesen Satz wollten einige nicht hören. Als Reaktion auf das Abweichen von der offiziellen Linie der Regierungspartei African National Congresses (ANC) wurde sie ihres Amtes enthoben.
Für viele NGOs und Gewerkschaften machen die Ereignisse Mbela-Routledge zur Heldin. Sie hat ein zentrales Problem angesprochen, Südafrika kämpft mit dem HI-Virus. Seit 1998 hat sich die Sterberate im Land bei den 20- und 40-jährigen um 150 Prozent erhöht. Aktuellen Schätzungen zufolge leben etwa 5 ½ Millionen SüdafrikanerInnen mit HIV/AIDS und jeden Tag sterben bis zu 1000 Menschen daran.
Die „Rainbow Nation“ steht innenpolitisch wie international unter Druck. Seit dem Ende der Apartheid, das sich unter weltweiter Beobachtung vollzog, gilt Südafrika als Vorzeigeprojekt für internationale Demokratisierungs- und Transformationsprozesse. Was diesem Bild nicht entspricht, schweigt die Regierung tot. Denn: die internationalen InvestorInnen und TouristInnen sollen nicht beunruhigt werden. Nicht jetzt, wo es um den Aufschwung des Landes geht.
Atemberaubend ist die Ansicht Kapstadts vor dem Hintergrund des Tafelberges, Blick auf das Meer. Zu einem international bedeutenden Zentrum und einer beliebten Reisedestination soll die Stadt werden. Und die Ernüchterung: Hinter diesen Wünschen stehen die wirtschaftlichen Interessen und Überlegungen der reichen, weißen Bevölkerung. Sie sind es auch, denen der Aufschwung hauptsächlich zu Gute kommt.

Unser Stolz. Entlang der Stadtautobahn N2 breiten sich so genannte informal settlements oder Townships aus, die einen Großteil der Bevölkerung Kapstadts beheimaten. Im Zuge der Segregation von Menschen nach Hautfarbe während des Apartheid-Regimes wurden viele in diesen Niederlassungen ausgesetzt. Die Standards unterscheiden sich von Township zu Township: Da gibt es Hütten und Verschläge – genannt Shacks – aus Wellblech, Holz, Plastik, alten Autoteilen oder Stroh, teilweise ohne Strom, fließendes Wasser oder Heizung. In den „besseren Gegenden“ sind die Häuser aus Backstein, die allerdings ungefähr 2000 Rand kosten. Das sind 200 Euro und mehr, als viele im Monat zur Verfügung haben.
Die Townships tragen Namen wie Unser Stolz, Mond, Sonne, Neue Heimat. Dort konzentrieren sich Armut, Arbeitslosigkeit (in manchen Townships liegt sie bei geschätzten 70 Prozent), HIV/AIDS aber auch politische Aktivität. Die Bevölkerung der Townships ist multikulturell und ethnisch vielfältig, sie hat aber Eines gemeinsam. Es klingt wie aus einer anderen Zeit: Sie ist nicht weiß.
Aber nicht still. In der politischen Debatte kommen die Township-BewohnerInnen und ihre Anliegen wenig bis gar nicht vor. „Es gibt kein HIV/AIDS-Problem“, sagt die amtierende Gesundheitsministerin Manto Tschabalala-Msimang und ist damit auf ANC-Linie. In der Kathedrale zu St. James begegnet man diesem Satz mit Wut und Sprechchören, obwohl viele der Anwesenden selbst ANC-VeteranInnen oder AnhängerInnen sind. Die starke Zivilgesellschaft Südafrikas ist ein Erbe aus dem Kampf gegen das Apartheid-Regime.
Besonders feministische Organisationen machen sich momentan für Mbela-Routledge, oder Nozizwe, wie sie von ihren UnterstützerInnen genannt wird, stark. „Es ist ein Zeichen, dass gerade an einer Politikerin ein Exempel statuiert wird,“ meint Edwina von der Organisation New Women’s Movement in der anschließenden Rede. „Und es ist auch ein Exempel, dass sie gerade für ein Thema einstehen wollte, dass Frauen betrifft und so viele andere Bereiche berührt. Frauen und Gewalt, Frauen und Sexualität, Frauen und Verhütung.“

New Women’s Movement ist eine Organisation, die in den Townships aktiv ist und sich speziell an Frauen richtet. Mit über 5000 Mitgliedern und Aktivistinnen, ist New Women‘s Movement eines der größten Frauennetzwerke in Kapstadt. Wie alle Organisationen, die eine regierungskritische Position einnehmen, erhält sich NWM von Mitgliedsbeiträgen und Spenden.
Zu den Finanzierungsschwierigkeiten kommen weitere Probleme hinzu, denn es ist schwierig die Frauen in den Townships zu erreichen. Viele von ihnen sind einer doppelten und dreifachen Belastung ausgesetzt: Kinder, Gelegenheitsarbeit und politische Aktivität. „Es braucht alles viel Zeit, abwaschen, kochen, Wäsche waschen“, erzählt Noma, eine der jungen Aktivistinnen des New Women’s Movment. „Wir haben keinen Strom, wenn das Geld aus ist. Und gleichzeitig machen sie auf SABC (einem staatlichen Fernsehkanal) Werbung für Geschirrspüler, weil es Wasser spart.“
Im September war „Heritage Month“ in Südafrika. Ziel sei es, dem gemeinsamen kulturellen Erbe zu gedenken und sich der Bedeutung der Republik bewusst zu werden. Doch einfach ist dieser Prozess der Bewusstseinsbildung nicht immer: Ob Noma schon einmal auf der Gefängnisinsel Robben Island war, wo Nelson Mandela die meiste Zeit seiner 27-jährigen Haft verbrachte? Nein, der Eintritt kostet 150 Rand, das sei die Hälfte von dem, was sie im Monat zur Verfügung habe.
Und im Sommer sind die Touren meist ohnehin von TouristInnen ausgebucht.

Maude Lake studiert Theologie in Linz.

Reise zu einem alten Nachbarn

  • 13.07.2012, 18:18

Die Autorin des vorliegenden Artikels entdeckte bei ihrer Reise in die Vojvodina erstaunliche Parallelen zwischen ihrer Kärntner Heimat und Serbien. Ein Essay.

Die Autorin des vorliegenden Artikels entdeckte bei ihrer Reise in die Vojvodina erstaunliche Parallelen zwischen ihrer Kärntner Heimat und Serbien. Ein Essay.

Der die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte“, sagte einst Kurt Tucholsky. Diesen Sommer verschlug es mich nach Serbien, nach Novi Sad, in die Hauptstadt der Vojvodina, um Serbisch zu lernen und das nächste Sommersemester werde ich dort verbringen. In Österreich gehen diesbezüglich außer in slawophilen Kreisen die allgemeinen Reaktionen in Richtung „Aha, Serbien, wieso machst du denn das?“, was mich aber nicht nachhaltig erschüttert, weil die Reaktionen ähnlich waren, als ich mit dem Slowenischstudium begann.
Diesen, im Allgemeinen diffusen „antislawischen Reflex“, um mit den Worten eines Freundes zu sprechen, kannte ich schon: Schließlich gelten etwa slawische Sprachen immer noch als ExotInnenstudien, der Balkan und Südosteuropa immer noch als stiefmütterliche Gebiete der Geschichtswissenschaften und als terra incognita der DurchschnittsösterreicherInnen, wenn man von der kroatischen Küste mal absieht. Noch einmal schlimmer und eigentlich genauso diffus wütet dieser antislawische, hier antislowenische Reflex in meinem Heimatbundesland Kärnten. Gerade als Kärntnerin zeigten sich mir erstaunliche Parallelen, als ich nun Serbien ein bisschen kennen lernte: Die Vojvodina bzw. ganz Serbien und Kärnten sind aus ähnlichen Gründen wunderschön, wie sie auch an denselben Problemen und Krankheiten laborieren.

In Geiselhaft. Zunächst vielleicht eine kurze Vorstellung: Die Vojvodina, einst „Kornkammer Serbiens“ genannt, ist der nördlichste Teil des Landes und unterschiedet sich vom restlichen Serbien. Die Vojvodina ist bunt in vielerlei Hinsicht, war sie etwa immer schon Heimat vieler verschiedener Volksgruppen, Religionen und Sprachen. Neben SerbInnen, die mittlerweile die Mehrheit stellen, leben hier UngarInnen, SlowakInnen, Roma und Sinthi, KroatInnen, BulgarInnen, RumänInnen, BunjewatzInnen, GoranInnen, RussInnen und viele mehr. Die Provinz kann als ein vorbildliches Beispiel für Mehrsprachigkeit, Minderheitenschutz und politischer Partizipation der Volksgruppen gelten – also etwas, was man sich für Kärnten nur wünschen kann.
Als Folge dessen sind offizielle Aufschriften und Anschriften sehr lang: Der Stempel der Universität etwa ist handtellergroß, um dem Namen der Universität in allen Amtssprachen Platz zu bieten. Bunt ist die Vojvodina auch landschaftlich, durchzogen von Donau, Theiß, Save und ihren unzähligen Nebenarmen, und sehr fruchtbar: Pannonisch flach sieht man oft nicht, wo die riesengroßen Sonnenblumenoder Weizenfelder enden.
In Serbien gibt es wie in vielen anderen Staaten ein Nord-Südgefälle. Die Vojvodina gilt als reicher, relativ gut entwickelter Norden mit (für serbische Verhältnisse) viel Wohlstand und Stabilität und wenig Arbeitslosigkeit und Nationalismus. Nicht so zufällig also, dass das größte Musikfestival Südosteuropas Exit in Novi Sad stattfindet, wo es vor elf Jahren von einer studentischen Bewegung gegen das Milošević-Regime gegründet worden ist.
Was wir in den letzten 20 Jahren über die Medien von Serbien gehört haben lässt sich leicht unter ein paar Schlagwörtern zusammenfassen: Nationalismus, Milošević, Kriegsverbrechen. Serbien ist medial (aus gutem Grund) schlecht weggekommen. Aber: Es gibt auch ein anderes Serbien. So wie ich oft betonen muss, dass es auch ein anderes Kärnten gibt, fern von dem Haidergeprägten. Es gibt junge Menschen, denen bei diesen Parolen schlecht wird, die sich nicht damit identifizieren und versuchen, es besser zu machen. Und solche gibt es eben auch in Serbien.

Erzählt von uns! Ein Anliegen kam auf der Sommerschule der Universität, die wir besuchten, öfter auf: Ihr, die ihr hier wart, habt nun gesehen, dass Serbien sehr schön und lebenswert sein kann – wenn ihr wieder nach Hause geht, dann erzählt dort davon. Jenen, die in Serbien die Stellung halten, ist also glasklar, wie Serbien in den letzten Jahren medial im Ausland rezipiert wurde. Ich tue es hiermit sehr gerne, weil ich noch nie gastfreundlichere Menschen getroffen habe als dort. An dieses Ausmaß an Gastfreundschaft muss man sich erst mal gewöhnen: Manches Mal war es uns schon unangenehm, weil wir das Gefühl hatten, nicht genügend zurückzugegeben. Aber das war eine falsche Denkweise. Mittlerweise habe ich ihre Art von Gastfreundschaft verstanden: Sie ist kategorischer Imperativ und hat nichts mit Berechnung oder Reichtum zu tun. Ja, wir sind „dem Balkan“ in vielerlei Hinsicht voraus (demokratiepolitisch, wirtschaftlich, in der Bekämpfung von Korruption und Arbeitslosigkeit), aber in mancherlei Hinsicht sollten wir uns was von ihm abschauen.
Es gibt noch eine andere traurige Parallele zwischen Serbien und Kärnten: Der Exodus der jungen, unternehmungslustigen, gebildeten Elite. Kärnten entschwinden pro Tag vier KärntnerInnen und neben der geringen Zuwanderung und der niedrigen Geburtenrate ist das Auswandern der Bildungselite der Hauptgrund dafür. Serbien leidet im Vergleich noch viel stärker an diesem Brain-drain: In den Neunzigern verließen fast eine halbe Million junge, gut ausgebildete SerbInnen ihr Land (darunter 33 Prozent der 20- bis 30-Jährigen) – und dieser Trend hält an. In einer Umfrage gaben 20 Prozent der hochqualifizierten SerbInnen an, sie seien fest entschlossen auszuwandern, und immerhin 54 Prozent waren der Idee nicht abgeneigt. Zurück bleiben vielfach die Unterprivilegierten und die schlecht Gebildeten, denen die korrupten PolitikerInnen auf der Nase herumtanzen können.
Es liegt mir fern, ein romantisch- verklärtes Bild von Serbien zu zeichnen. Klar liegt dort vieles im Argen. Jahrzehnte nationalistischer Manipulation haben ihre Spuren hinterlassen. Allerdings sind wir sehr schnell mit einem Urteil bei der Hand, wenn es um ein Land geht, das nur die wenigsten von uns selbst bereist haben. Ganz klar, in unserem GastarbeiterInnenbus, der einmal die Woche die Route von Bregenz nach Požarevac abfährt, waren wir auf weiter Flur die einzigen NichtserbInnen. Klar, das Tourismusziel Nummer Eins ist es nicht, wie etwa Kroatien, das übrigens mit ähnlichen Übeln zu kämpfen hat. Der Unterschied ist nur: Kroatien sehen wir es eher nach, „weil dahin fahren wir ja so gern auf Urlaub“. Es ist viel leichter, unbekanntes Land und Leute zu verdammen. Insofern ist es uns nur zu wünschen, in der Zukunft noch stärker zusammenzuwachsen und unsere Nachbarländer überhaupt erst mal kennen zu lernen.