Eine Reise auf acht Rädern

  • 02.08.2014, 09:24

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Im Spätsommer 2010 haben sich die beiden aufgemacht. Eigentlich sollte es eine sechsmonatige Auszeit vom österreichischen Winter werden. Es wurde schließlich eine zwölf Monate lange Reise durch Mexiko und Mittelamerika. Dabei bestaunten Victoria Reitter und Reinfried Blaha nicht nur die schönsten Strände, durchtauchten malerische Buchten und machten unzählige Bekanntschaften. Sie hatten auch mit Krankheiten zu tun, machten es sich auf verlassenen Terrassen gemütlich und entwickelten eine besondere Taktik im Umgang mit lästigen Polizeikontrollen. Bis nach einem Jahr sowohl ihr Auto, mit dem sie rund 20.000 Kilometer zurückgelegt hatten, als auch Reinfrieds Rollstuhl eine Generalsanierung nötig hatten.

Victoria pausierte für die Dauer des Trips ihr Studium der Kultur- und Sozialanthropologie in Wien, der studierte Architekt Reinfried ließ sich von seiner Arbeit in Graz karenzieren. Startpunkt der Reise war Los Angeles, wo sich die beiden einen alten Volvo, Baujahr 1984, zulegten. Denn eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre nur unter schweren Anstrengungen möglich gewesen. Seit einem Ski-Unfall im Jahr 2006 ist Reinfried von der Brust abwärts gelähmt und nur mit einem Rollstuhl mobil. Aufgrund seiner Querschnittslähmung ist er auch auf Einwegkatheter angewiesen, um seine Blase entleeren zu können, je nach Wassermenge benötigt er dafür sechs bis neun Stück am Tag. Für eine halbjährige Reise hatten die beiden also eine Unmenge an Kathetern im Gepäck; der zusätzliche Stauraum des Autos erwies sich deshalb als erhebliche Erleichterung. Kalifornien empfanden beide, auch im Vergleich zu Österreich, als relativ barrierefrei. Das änderte sich aber spätestens an der Grenze zu Mexiko: „Wir sind dann zu einem Team geworden, das voneinander abhängig war. Ich war angewiesen auf Vicki, sie aber auch auf mich. Ohne sie hätte ich quasi an einer Straßenecke sitzenbleiben müssen“, erklärt Reinfried.

Durch die Wüste. Für die erste, rund 1.600 Kilometer lange Etappe, die sie durch die dünnbesiedelte, wüstenartige Gegend von Baja California mit ihren einzigartigen Stränden führte, ließen sich die beiden gut fünf Wochen Zeit. Mit wenig Budget ausgestattet, schlugen sie dort ihr Lager auf, wo es ihnen gerade am besten gefiel. Wild zu campieren, hatte in dieser Gegend allerdings einen erheblichen Nachteil: Der Boden ist dort so sandig, dass Reinfried mit dem Rollstuhl schnell steckenblieb. Vicki musste sich um Zelt und Lagerfeuer also immer alleine kümmern. Auf der Suche nach Alternativen mieteten sie sich schließlich auf den Terrassen von verlassenen Ferienhäusern ein. Für Reinfried bedeutete das, seine Mobilität zurückzugewinnen. Überrascht von den vergleichsweise niedrigen Temperaturen in der Nacht, mussten sie zum Schlafen manchmal nahezu alles anziehen, was sie dabei hatten. Das Auto wurde bald zu einem zweiten Zuhause. Täglich mit neuen Herausforderungen konfrontiert, entwickelten beide im Zuge der Reise für so manches Problem kreative Lösungen. Da Reinfried auf Sitztoiletten angewiesen ist, solche in der Gegend aber dünn gesät waren, wurde kurzerhand ein Camping-Stuhl zu einer mobilen Toilette umfunktioniert. „Ich konnte mir jetzt die schönsten Toilettenplätze der Welt aussuchen“, erzählt er lachend. Zwei gestohlene Schlafsäcke, eine gebrochene Zeltstange und zwei löchrige Matten kostete die erste Etappe ihrer Reise, dafür hatten die beiden ihr Spanisch zu diesem Zeitpunkt bereits um gefühlte fünf Prozent verbessert.

In San José del Cabo, an der Südspitze Baja Californias angekommen, begann Reinfried in einem Architekturbüro zu arbeiten; Victoria fand Arbeit bei einer NGO, die Menschen im Slum-Gürtel rund um die Stadt unterstützt. Die Wohnungssuche gestaltete sich schwieriger, da es in San José del Cabo praktisch keine barrierefreien Gebäude gab. Konfrontiert mit der Aussicht, ihren Aufenthalt in Zelt und Auto verbringen zu müssen, tat sich aber plötzlich doch noch ein geeignetes Domizil auf: direkt am Meer, sogar mit einer Rampe bis zum Strand – ideal für einen Strandbesuch mit dem Rollstuhl.

Weihnachten am Strand. Statt mit einer importierten Tanne aus Kanada wurde Weihnachten mit Corona und Tequilla gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen Reinfried und Victoria auch, ihre Reise um drei weitere Monate zu verlängern. Damit standen sie aber auch vor einem Problem: Die Katheter würden früher oder später zur Neige gehen. Es musste Nachschub her. Ein Paket aus Österreich wurde allerdings vom mexikanischen Zoll festgehalten. Um die Katheder dort abzuholen, hieß es also wieder ab auf die Straße Richtung Mexiko-City.

Am Weg in die Millionen-Metropole verbrachten Victoria und Reinfried die Nächte immer öfter in Herbergen. Geeignete Unterkünfte zu finden, die ohne Treppen, ohne zu steile Rampen und durch ausreichend breite Türen zugänglich waren, stellte sich aber auf der gesamten Reise als äußerst schwierig heraus. Während Reinfried im Auto wartete, sah sich Victoria die Herbergen an. Dabei entwickelte sie ein besonderes Auge für Maße: „Ich konnte auf den Millimeter genau erkennen, ob Reini mit dem Rolli durch eine Tür passen wird oder nicht.“ Dass sie aufgrund mangelnder Barrierefreiheit viele Unterkünfte ausschließen mussten, sollte sich aber als Bereicherung erweisen: „Auf diese Weise haben wir viele Plätze gesehen, die in keinem Reiseführer verzeichnet sind und haben eine Art Negativabdruck des Reiseführers gemacht“, erzählt Victoria. Oft wurden von GastgeberInnen auch provisorische Rampen angelegt oder anderweitig geholfen. In der Hauptstadt Mexikos angekommen, war es zwar nicht möglich, die Katheter tatsächlich aus den Fängen des mexikanischen Zolls zu befreien, mit Hilfe von Victorias Bruder und der österreichischen Botschaft erhielten sie aber trotzdem Nachschub.

Gleichberechtigt unter Wasser. Der weiteren Erkundung Mexikos stand somit nichts mehr im Weg. Besonders fasziniert waren Reinfried und Victoria vielerorts von der Unterwasserwelt. Sie gingen nicht nur oft schnorcheln, sondern lernten auch Tauchen – eine Sportart, die sie beide gleichberechtigt ausüben konnten. „Es hat zwar ein wenig gedauert bis ich die Stabilität unter Wasser gefunden habe. Ich habe aber schnell gemerkt, dass es eigentlich allen Tauchanfängern dabei gleich geht“, erzählt Reinfried. Nach 180 Tagen stand schließlich die Ausreise aus Mexiko bevor. Das Ziel war Kolumbien.

Ihre Reise führte zunächst über Belize nach Guatemala, ein Land mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von rund 60 Prozent, in dem circa 50 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Osterzeit verbrachten sie in der Stadt Antigua und erlebten dort die tagelangen Osterprozessionen. „Die ganze Stadt spielt eine Woche lang verrückt. In stundenlanger Arbeit werden bunte Teppiche aus Holzspänen auf die Straßen gelegt, dann kommt die Prozession, danach werden neue Teppiche gelegt“, erzählt Victoria. In El-Salvador fing Victoria an, Vulkane zu besteigen. Für Reinfried hieß das zwar, dass er den ganzen Tag im Zimmer bleiben musste, das war aber nach den vielfältigen Eindrücken der bisherigen Reise eine entspannende Abwechslung für ihn.

Je länger Victoria und Reinfried unterwegs waren, desto mehr Schwierigkeiten begegneten ihnen. Auch das geliebte Auto zeigte zunehmend Verfallserscheinungen: Mal war es eine kaputte Benzinpumpe, ein anderes Mal gaben ausgerechnet zur Regenzeit die Scheibenwischer auf. Wie immer wussten sich Victoria und Reinfried aber zu helfen und erdachten eine Konstruktion mit Schnüren, mittels derer sie die Scheibenwischer aus dem Auto heraus manuell bedienen konnten. Reinfried zog sich gegen Ende der Reise eine Fersenverbrennung zu, die sich nur deshalb nicht erheblich entzündete, weil er aufgrund seiner immer wiederkehrenden Harnwegsinfekte regelmäßig Antibiotika einnehmen musste. Victoria wiederum erkrankte an Denguefieber, eine Krankheit, die mitunter tödlich verlaufen kann.

Boot statt Auto. Immer wieder waren die beiden auf ihrer Reise auch mit schlecht bezahlten PolizistInnen konfrontiert, die sich über Geld unter der Hand freuten. Für diese Situationen entwickelten sie eine spezielle Taktik: den Rollstuhlbonus. „Sobald uns die Polizei aufgehalten hat, ist Vicki ausgestiegen, zum Kofferraum gegangen und hat mühsam den Rolli ausgepackt“, erklärt Reinfried: „Meistens hat sich die Sache damit auch schon erledigt“. Sie entschieden sich schließlich, ihre Reise nochmals um weitere drei Monate zu verlängern; Victorias Bruder hat sie dafür noch einmal persönlich mit einer Katheterlieferung aus Österreich versorgt. Über Honduras ging es schließlich weiter nach Nicaragua. An der Grenze zu Costa Rica wurde schließlich der Plan, über Panama bis nach Kolumbien zu reisen, durchkreuzt: Die Grenzbehörden wollten die beiden mit ihrem alten Volvo nicht einreisen lassen. So entschlossen sie sich, die touristisch kaum erschlossene Ost-Küste Nicaraguas zu bereisen – eine Gegend, in der es kaum Straßen gibt. Die meisten Strecken legten sie dort, wie die Einheimischen, im Boot zurück.

Am gefühlten Ende der Welt sollte dann schließlich das Schlimmste passieren, was sie sich vorstellen konnten: Die Kugellager des Rollstuhls gaben nach und nach den Geist auf. Für Reinfried bedeutete dies den Verlust seiner Mobilität, ein Tiefschlag für beide. Nach einiger Suche konnten sie aber den 80-jährigen Schweißer Mr. Silvio ausfindig machen, der das Nötigste reparieren konnte. Reinfried war zwar nicht mehr so mobil wie zuvor, für die Rückreise nach Mexiko-City reichte es aber. Dort überließen sie ihren lieb gewonnenen Volvo einem Künstler – im Tausch gegen zwei Gemälde. Zurück in Österreich war es für Victoria und Reinfried nicht einfach, in den Alltag zurückzufinden. Die Reise wird ihnen unvergesslich bleiben. Rückblickend meint Reinfried: „Wir haben bei dieser Reise viel gelernt, sie hat unseren Horizont erweitert. Sie hat unsere Intuition geschult und wir haben gelernt, Perspektiven
zu wechseln. Trotz manchmal unüberwindbaren Barrieren haben wir erkannt, dass die meisten Barrieren in unseren Köpfen verankert sind.“

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung in Wien.

Reisevorträge von Victoria und Reinfried gibt es zu folgenden Terminen:
30. 9. Wien Energie (www.allesleinwand.at)
8. 10. Hartberg (Stmk.)
15. 10. Seestadt Aspern (Wien)
23. 10. VBH Schloss Retzhof, Wagna (Stmk.)
29. 10. Leoben (Stmk.)

Für mehr Informationen:
https://www.facebook.com/mebeguelhonicopa

AutorInnen: Georg Sattelberger