Kunst

Was ist Kunst?

  • 13.07.2012, 18:18

Wikipedia sagt Folgendes: „Im engeren Sinne werden damit Ergebnisse gezielter menschlicher Tätigkeit benannt, die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind. Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Das Kunstwerk steht meist am Ende dieses Prozesses, kann aber seit der Moderne auch der Prozess selber sein.“
Weil uns diese Definition zu spröde ist, bedienten wir uns für das Dossier lieber eines Tom Wolfe-Zitats: „Die moderne Kunst ist durch und durch literarisch geworden: Die Gemälde und anderen Werke dienen nur zur Illustration des Textes.“ (siehe auch Buchrezension S. 24). Wir wollten uns an seinen Worten ein Beispiel nehmen und baten sechs KünstlerInnen, das Wort Kunst über ihre eigene Biographie zu definieren.
Ob dieser Versuch erfolgreich war, davon könnt Ihr euch auf den folgenden Seiten selbst überzeugen.

Die so gern verschwinden möchte

  • 13.07.2012, 18:18

Bettina Földesi (25). Tänzerin und Performerin

Bettina Földesi (25). Tänzerin und Performerin

„21 und freischaffende Künstlerin? Dazu habe ich mich damals einfach nicht bereit gefühlt“, sagt Bettina Földesi, Tänzerin, seit Beginn des Interviews im Schneidersitz auf der noch kühlen Frühlingswiese sitzend. Sie tanzt seit sie sechs Jahre alt ist. Es beginnt mit Ballett und rhythmischer Sportgymnastik, mit 14 kommen Abendklassen in zeitgenössischem Tanz dazu, in der Schule mit Tanzschwerpunkt choreographiert sie selber. Nach der Matura beginnt sie in Salzburg am SEAD (Salzburg Experimental Academy of Dance) eine dreijährige Ausbildung zur zeitgenössischen Tänzerin. Mit 21 macht sie dort ihren Abschluss. Nach ihrer Ausbildung geht sie nach Wien, trainiert dort mittels eines Förderstipendiums des Tanzquartier Wien und macht Stücke.

Dann folgt allerdings die Krise. „Ich hatte nach meiner Ausbildung das Gefühl, gut, technisch bin ich vielleicht soweit. Aber von PerformerInnen wird erwartet, dass sie ihre Arbeit künstlerisch genau verorten können, dazu muss man viel über Kunsttheorie, aktuelle Kunstschaffende und zeitgenössische Kunst wissen. Für mein Gefühl hatte ich damals definitiv noch nicht genug Zeit gehabt, mich theoretisch damit zu befassen. Jedenfalls wusste ich absolut nicht, was ich der Welt als Künstlerin eigentlich sagen will.“ So inskribiert sie Philosophie und will vom Tanz zwei Jahre lang nichts wissen: „Das war wie ein Ventil, um Druck abzulassen. Endlich einmal etwas machen, wo keiner etwas von mir erwartet. Einfach in der Masse von Studenten untergehen, wo jedem egal ist, was du tust.“
Kunst schaffen sei für sie schon immer mit starken Erwartungshaltungen verbunden gewesen. Zu Beginn ist es der starke körperliche Leistungsdruck in der rhythmischen Sportgymnastik. Als sie mit 14 zeitgenössischen Tanz entdeckt, erlebt sie zum ersten Mal, dass es nicht wichtig ist, wie dick oder dünn jemand ist, wie hoch die Beine sind. Vielmehr geht es darum, den eigenen Körper sinnvoll einzusetzen, zum Beispiel die Gravitation und das eigene Gewicht bei Sprüngen zu nutzen. Földesi, die unter den SportgymnastInnen immer als „zu unbeweglich“ galt, ist fasziniert: „Ich habe plötzlich gemerkt, dass mein Körper nicht per se schlecht ist – er ist einfach so, wie er ist, und wenn ich ihn so nütze, wie er ist, kann ich mehr daraus kriegen.“ Als die junge Frau sich mit fortschreitender Zeit zunehmend mit Performance beschäftigt, merkt sie allerdings, dass du dich als KunstschaffendeR immer behaupten musst: „Du musst das, was du sagst, immer sehr wichtig finden. Was diesen Umstand betrifft, muss ich noch hart an mir arbeiten, um künstlerisch erfolgreich zu sein.“ Denn sie habe sich beim Training schon immer gern in die hintere Reihe gestellt, oder sehr lange den anderen zugehört, bevor sie ihre eigene Idee aussprach.

Auf der Bühne verschwinden. Ironischerweise plant die Tänzerin derzeit ein Projekt, das fast so wirkt, als greife es ihre Selbstzweifel auf: „Ich möchte in diesem Stück probieren, ob ich auf der Bühne verschwinden kann, obwohl ich körperlich anwesend bin.“ Bei genauerer Betrachtung ist aber zu erkennen, dass hier kein Zusammenhang besteht – vielmehr interessiert Földesi das Spiel mit der Bühnenpräsenz. Wenn sie selber Tanzstücke ansehe, falle ihr immer wieder auf, dass eine Tänzerin mit ihrer Präsenz eine gewisse Zeitspanne lang ihre volle Aufmerksamkeit fordere, dann aber würden als Zuschauerin irgendwann die Gedanken wieder abschweifen. „Mich interessiert genau dieser Moment, in dem die Präsenz der Tänzerin für die ZuschauerInnen verschwindet. Ob sich die Tänzerin durch gewisse inszenatorische Mittel zum Beispiel auch vor den ZuschauerInnen verstecken kann.“ Um das zu untermalen, erzählt sie von einem Tänzer, der fünf Minuten lang auf der Bühne nichts anderes tut, als mit den Beinen zu stampfen. „Je länger er das tut, umso mehr entzieht sich der Tänzer der Aufmerksamkeit des Publikums.“
Dass der Tanz als Bühnenkunst immer im Moment existiert, hat für Földesi Vor- und Nachteile. Einerseits sei er durch seinen vergänglichen Charakter weniger leicht zu vermarkten als zum Beispiel Kunstobjekte. Andererseits liege genau in dieser Vergänglichkeit der Zauber des Erlebens für TänzerIn und ZuschauerIn. Manchmal überlegt die junge Tänzerin auch, ob sie ohne den Tanz leben könnte. Sie weiß es noch nicht. „Aber ich weiß, dass mein Körper beim Tanzen auf der Bühne ganz genau weiß, was er zu tun hat. Ich bin dann in jeder Sekunde hundertprozentig anwesend. Nicht wie sonst, beim Kaffeekochen etwa, wo man mit den Gedanken auch nicht beim Kaffeekochen ist, sondern woanders. Es ist ein so Genau-Drinnen-Sein in sich selbst, dass man das Gefühl hat, frei zu sein … das fällt mir dazu ein.“

Der Wal als Utopie

  • 13.07.2012, 18:18

Studierende der Universität für angewandte Kunst konzipierten einen 14 Meter langen Wal, der während des EU-Bildungsgipfels vorm Burgtheater in Wien stehen soll. Nun wird um die Symbolik der Konstruktion gerungen. Olivia Kaiser, die den Wal miterschuf, unternimmt einen Deutungsversuch.

Studierende der Universität für angewandte Kunst konzipierten einen 14 Meter langen Wal, der während des EU-Bildungsgipfels vorm Burgtheater in Wien stehen soll. Nun wird um die Symbolik der Konstruktion gerungen. Olivia Kaiser, die den Wal miterschuf, unternimmt einen Deutungsversuch.

Der Wal, das größte Tier auf dieser Welt, noch nicht völlig ausgestorben, aber gefährdet durch die ihn jagenden Menschen und die fortschreitende Zerstörung seiner Lebenswelt, ist dem Menschen dennoch ein Medium des Nachdenkens über sich selbst.
Hat der Wal, dessen Hirnmasse wohl ausgereicht hätte, Logarithmen zu berechnen, doch keine Hände ausgebildet, kein Werkzeug entwickelt, sich nicht auf jene endlose, qualvolle Reise begeben, die die Menschen Geschichte nennen und meist schon vergessen haben, dass sie selbst sie machten – täglich, stündlich, bewusst und bewusstlos zugleich.
Den Tieren soll das Denken überlassen werden, eine Polemik, zu der es einen ziehen mag, wenn sich nicht unvergnügt, sei es mit Ironie, über die menschliche Dummheit, die wirren Ideologien, die notorischen Fehlentscheidungen und verqueren Machtverhältnisse dahin geärgert wird. (Die Wahrheit läuft hinterher, blitzt auf, wenn es dunkelt, und ist bald auch verdunkelt.) Die einhergehende Verdunkelung der Wahrheit und der daraus resultierenden Malaise, zum Beispiel in der wissenschaftlichen und akademischen Kultur, lassen die Realität einmal grotesk aus der Ferne als Panorama, dann sich selbst und seinen eingenommen Befugnissen gegenüber unveränderbar erscheinen.

Wir harren bloß noch aus. Der Wal ist ein Symbol für ein Denken, in dem alles auf alles wirkt, das bedeutet: Alles hängt mit allem zusammen, alle Aspekte eines Weltgeschehens in ihrer andauernden Aktualität erzeugen eine Rundumsicht, in der alles gleichzeitig zusammenwirken mag. Eine Welt, die nicht von vornherein in Sektoren, Disziplinen, Sparten eingeteilt ist, die einen flüssigen Zusammenhang kennt, in der nichts bedeutungslos ist, alles seine Aktualität hat. Dagegen die Stockung, das Beiseite-, das auf sich Zurückgeworfensein: Der gestrandete Wal, zur Bewegungslosigkeit verdammt, mimt auch festgefahrene Strukturen, jedwede Aktivitäten sind eingestellt, wir harren bloß noch aus.
Dem Rathaus gegenüber, das Burgtheater im Rücken, direkt am Ring, richtet sich der Wal an ein bunt zusammengewürfeltes Publikum, verwandelt den innerstädtischen öffentlichen Raum, der sich gegen jedwede Veränderung stellt, in einen Ort der Subversivität. Sein Potential sind Bücher ohne Besitzer-Innen, die nach wissbegierigen, aufmerksamen Leserinnen und Lesern fragen, ob diese sich nun einstellen oder nicht.
Vielleicht vertritt der Wal, dessen Gerippe mit Büchern gefüllt ist, die Vorstellung einer aktiven, gestaltenden Teilnahme am Aufbau einer anders gearteten Gesellschaft: „Nimm dir ein Buch, es ist umsonst, bringe eines zurück, und wundere dich über den freien Mut.“
Das Warten und Hoffen auf eine passive, individuelle Rettung seitens der gelehrten Institutionen, ohne selbst nach dem Buch zu greifen und sich nicht wirkungsmächtige Erkenntnis und nützliches Wissen zu erarbeiten, bedeutet höchstens, sich den Bewegungen der Welt anzupassen und mitzuschwimmen.
Studierende aus verschiedenen Klassen der Angewandten, freier und angewandter Kunst, haben sich wöchentlich zusammengesetzt, nachgedacht in offenen Gesprächen, mit Freude an den Assoziationen, in gemeinsamer Vertiefung in Lektüre und anschließenden weit reichenden Diskussionen, Entschlüsse gefasst.

Utopisch und hoch gefährdet. Wir bauen einen Wal, wir suchen nach einem Symbol, welches alt und utopisch, zu schützen und hoch gefährdet ist. Wir arbeiten zusammen und ergeben uns nicht den Sorgen, welche auf den Einzelnen lasten, aber doch in vielen Punkten gemeinsame sind. Wie wir leben wollen, was sich für uns alle zu ändern hat, können wir nicht als Einzelne, sondern nur aus einem gemeinsamen Streit heraus in Erfahrung bringen.
So verbindet sich das Politische mit dem Sozialen.
ArchitektInnen, BühnenbildnerInnen, MalerInnen, KunstpädagogInnen und FotografInnen waren an der Konzeption und an der technischen Realisierung beteiligt, eine Mixtur aus verschiedenen Studien! Freundschaften sind entstanden, ein reger Austausch über die eigenen Studienrichtungen hinaus hat zu einer viel beschworenen inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit in der Angewandten geführt, zwischen so genannten angewandten und freien Fächern der Kunstuniversität. Transdisziplinarität in Form von Projektarbeiten zwischen den Studiengängen ist in jedem Uni-Entwicklungsplan als ein fixer Gestaltungspunkt angedacht und verordnet, aber war und ist kaum durchzusetzen.
Selbstorganisation und Selbstsozialisation sind da vielleicht die ausschlaggebenden Kriterien, welche nicht verordenbar sind. „Sie zeigen, dass unsere Zivilisation, bei aller Bedrohung der sie ausgesetzt ist, auf die tragfähigen Bündnisse von selbstreflektierenden Individuen angewiesen bleibt, die sich gegenseitig unterstützen und die universelle Forderungen nach Gerechtigkeit und Menschwerdung erheben, um sie in einer sich idealiter selbstkorrigierenden Praxis weiterzutragen.“ (Manfred Bauschulte: Klaus Heinrichs faszinationsgeschichtliche Analysen der Zivilisation.) 

Die Bastel-Fee

  • 13.07.2012, 18:18

Sarah, 23 stellt Schmuck her.

Der Wiener Charme bekommt nicht jedem. Mir zumindest nicht. Der Anfang in dieser Stadt war schwierig, denn die Leute hier sind ein bisschen unfreundlich. Mittlerweile habe ich mich aber daran gewöhnt. Ich kann mir sogar gut vorstellen, hier zu bleiben. Ursprünglich bin ich aus Deutschland. Bevor ich nach Wien kam, reiste ich lange in Südamerika herum. In Uruguay habe ich meinen Freund kennen gelernt und mit nach Wien gebracht. Mit Leon zusammen bastle ich Schmuck und kleine Pfeifen, die wir auf verschiedenen Märkten in der Stadt verkaufen. Diesen Monat bieten wir unsere Sachen am Weihnachtsmarkt am Spittelberg an.

Die Arbeit ist nicht gerade eine Goldgrube. Ich versuche schon lange nicht mehr, mir den Stundenlohn für meine Arbeit zu berechnen, weil mich das deprimieren würde. Darum geht es auch nicht. Ich brauche die Arbeit als Ausgleich zu meinem kopflastigen Studium am Afrikanistik-Institut. In jeder Kette und jedem Ohrring steckt etwas von mir drin. Diese Arbeit macht mir mehr Spaß als ein stinknormaler Studentenjob. Zu mehr als zum bloßen Überleben reicht es aber mit dem Geld nicht.

Die Bedingungen an der Universität hier sind schlimm, aber mir gefällt das Studium, trotz am-Boden-sitzen in den Hörsälen. Vielleicht wäre es angenehmer, zuhause in Deutschland zu studieren. Mein Leben in Wien ist oft ziemlich karg. Ich will aber auf jeden Fall weitermachen.

 

Malen nach Zahlen

  • 13.07.2012, 18:18

Schon bei den Revolutionen der 68er Jahre wurde mit einem wirksamen Mittel gekämpft: der Kunst. Seit dieser Zeit wird sie mehr als je zuvor als ein Zeichen des Protests genutzt und erreicht bei den Hochschulprotesten einen neuen Höhepunkt.

Schon bei den Revolutionen der 68er Jahre wurde mit einem wirksamen Mittel gekämpft: der Kunst. Seit dieser Zeit wird sie mehr als je zuvor als ein Zeichen des Protests genutzt und erreicht bei den Hochschulprotesten einen neuen Höhepunkt.

We don’t need no education“ tönt es im Kinderchor aus den Lautsprechern in das besetzte Audimax der Universität Wien. Eine kleine Gruppe Spielwütiger hat sich dem aktuellen Thema des Studierendenstreiks und den Ergebnissen der bisherigen Verhandlungen angenommen und versucht nun, gemeinsam mit dem überwiegend studentischen Publikum nach Lösungsansätzen zu suchen. Auf der „Bühne“ verzieren nach Graffiti Art gestaltete, übermenschenhohe Bilder den sonst neutralen Vorlesungssaal. Sie karikieren den maroden Bildungszustand auf den Universitäten und die dafür verantwortlichen PolitikerInnen auf äußerst kreative Weise.
Seit über einem Monat wird das Audimax als alternativer Ausstellungs- und Veranstaltungsort für Konzerte, Filmabende, politische Diskussionen und Plena genutzt. Ebenso lang vereinigen sich schon Kreative in vielseitigen Arbeitsgruppen, um dem Protest ein künstlerisches Gesicht zu geben.  Ganz dem basisdemokratischen Leitgedanken der über Wikipedia solidarisierten StudentInnen-Generation „Niemand tritt in den Vordergrund – jedeR ist wichtig“ folgend und entgegen des am Profit orientierten Kunstmarktes, wird in den besetzten Hörsälen momentan eine Kunst produziert und konsumiert, welche sich am weltweiten Protest orientiert. 

Zeichen des Protests. In Arbeitsgruppen aufgeteilt, werden Transparente mit einschlägigen Bannern gestaltet und Buttons mit dem Logo der „brennenden Uni“ gebastelt. LiedermacherInnen schreiben Protestlieder. Es werden Filmabende veranstaltet und öffentliche Aktionen geplant. Alles in allem bieten die besetzten Unis ein breit gefächertes Angebot an Kunst und Kultur. Und all das passiert im Zeichen des Widerstands. In Frankreich werden als Blockade Skulpturen aus Stühlen und Tischen gestapelt, in anderen Ländern werden Banken und Theateraufführungen gestürmt. AktivistInnen schlafen aus Protest in den Eingangsbereichen von Schulen und Universitäten, spielen in U-Bahnen den Fahrgästen den Platzmangel an den Lehranstalten vor und tragen T-Shirts bedruckt mit grinsenden Credit Points oder einfach nur mit der Aufschrift „Elite StudentIn“. Doch wären es nur die StudentInnen die protestieren und wäre das Ziel zu konfus, hätte das Lauffeuer, entzündet an der Uni der Bildenden Künste, nicht in so kurzer Zeit einen der größten internationalen Protestbrände entfacht. Ein Katalog an Forderungen wurde nach nur einer Woche erstellt. Das Ziel ist keine Auktion, bei der mit dem niedrigsten Gebot begonnen wird, sondern richtige Verhandlungen. 

Weiteres Wichtiges: Solidaritätsbekundungen von Gewerkschaften, Schulen, Kindergärten und vor allem von Seiten der Kunst, die das Problem der Präkarisierung seit längerem kennen und mit den StudentInnen teilt. Im Zuge der Privatisierung der Kunst und finanzieller Kürzungen für öffentliche Ausstellungen können viele Museen nur noch das ausstellen, was ihnen als Leihgabe von privater Hand zur Verfügung gestellt wird. Der Kunstmarkt ist auf der von Sinneskälte vereisten  Autobahn ins finanzielle Schleudern geraten und mitten in den Crash seiner Financiers geprallt – ohne staatlichen Aushilfsairbag. ARCO-Direktorin Lourdes Fernández über die in Madrid platzierte, Preis angebende Kunstmesse: „Wir arbeiten das Doppelte, um am Ende die Hälfte zu erreichen.“  Mehr als sonst gelte das Prinzip, dass vor allem Qualität und Innovation zum Überleben notwendig seien. „Wenn wir die Verkäufe des Vorjahres erreichen, können wir zufrieden sein“, sagte der Chef der Messegesellschaft, Luis Eduardo Cortés. Es ist ergo nicht die freie Kunst, die sich vielfältiger denn je in diesen Tagen dem öffentlichen Auge präsentiert, sondern der Kunstmarkt, der mit seinen Elite-Mäzenen in deren Blase geplatzt ist. 

Kunst und Bildung. Früher wurde die Kunst bemüht, um Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen. Heute lebt sie ihre Aufgabe wieder und läuft Seite an Seite mit StudentInnen, Gewerkschaften und anderen Bildungsdialogbeteiligten. Denn so unterschiedlich ihre Meinungen voneinander auch sind, haben sie ihren kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden: den kapitalorientierten Neoliberalismus samt seinen AnhängerInnen. Dies befördert den Titel Studierendenprotest zur Protestbewegung und in manchem Munde sogar zur Revolution.
Die Protestierenden von heute scheinen die Revolutionsversuche der 68er, 76er und 89er analysiert und ihnen eine Fehlerdiagnose unterzogen zu haben. Heraus kam ein basisdemokratisches Modell, welches spielerisch versucht, die Öffentlichkeit zu finden und sie nicht nur zu provozieren. Es gibt kein Alphatier, das die Politik symbolisch enthaupten kann.

Der wohl signifikanteste Vorteil gegenüber anderen Bewegungen in der Geschichte sind die Neuen Medien und die Kunst, sich derer zu bedienen.  In unfassbarer Geschwindigkeit erschaffen die Studierenden Webseiten, um den besetzten Hochschulen eine Internetpräsenz zu erstellen und sich über Foren digital zu vernetzen. Die unlängst als neue Kunstform gehandelte Kommunikationsguerilla stellt Videospiele her, in denen ECTS-Punkte gejagt und die letzte Demo auf Videoplattformen angeschaut werden können. Das Internet bringt auch eine gewisse Notwendigkeit mit sich, Meldungen und Aufrufe auf die Monitore zu posten, welche sich in den letzten Hinterstübchen der jungen MeinungspartizipantInnen befinden. Darüber hinaus soll es auch die Scham entkräften, welche entstehen kann, wenn man sich über den Individualisierungsdruck einer Bewegung anschließt.
Doch um die Empathie der Gesellschaft zu gewinnen, bedarf es immer noch einer alten authentischen Demonstration und einer haptischen Form des Protests auf der Straße. So hat die Aktion „Licht ums Dunkel“ als Lichterkette, bestehend aus mit Fackeln bewaffneten Menschen, das Parlament umstellt und somit wieder für eine Schlagzeile in der Presse und für Gesprächsstoff in Büros gesorgt. 

Es wird keine Kunst erschaffen, die man Generationen später in Museen besichtigen kann. Vielmehr wird ein Gesamtkunstwerk von Performances, Theaterstücken und all den unsammelbaren Werken kreiert, derer sich schon die 68er-KünstlerInnen bedienten. Diese konnten mit Hilfe eben dieser Kunstwerke einen Teil des  konservativen BürgerInnentums auf Dauer entstauben.

Bicasso Jürgenssen *

  • 13.07.2012, 18:18

Zahlreiche Arbeiten der vor sieben Jahren verstorbenen Künstlerin Birgit Jürgenssen werden diesen Winter in einer groß angelegten ersten Retrospektive in Wien zu sehen sein. Dies bietet den perfekten Anlass, sich dem Wandel feministischer Kunst und deren Anliegen zu widmen.

Zahlreiche Arbeiten der vor sieben Jahren verstorbenen Künstlerin Birgit Jürgenssen werden diesen Winter in einer groß angelegten ersten Retrospektive in Wien zu sehen sein. Dies bietet den perfekten Anlass, sich dem Wandel feministischer Kunst und deren Anliegen zu widmen.

In der 1975 von Valie Export kuratierten Ausstellung Magna. Feminismus: Kunst und Kreativität waren Fotos einer Küchenschürze tragenden Frau zu sehen. Anstatt eines die Kleidung vor Schmutz schützenden Stoffes wurde der Trägerin hier aber ein Herd plastisch vor den Körper geschnallt. Dem traditionellen Gewand einer Hausfrau in Form und Länge nachempfunden irritiert der an der Hüfte ausladende Vorbau, der neben zwei Kochstellen auch ein Backrohr vorzuweisen hat. Die in erkennungsdienstlicher Manier aufgenommenen Bilder zeigen frontal und im Profil wie aus der offenen Lade ein Brotlaib hervorlugt. Um das Gewicht dieser Konstruktion zu tragen stützt die adrett gekleidet und gekämmte Frau ihre Arme ab wie es auch Schwangere tun. Kochen und Backen werden folglich mit Konnotationen des Austragens und Gebärens zusammengebracht, und so die Last und das Spektrum reproduktiver Pflichten versinnbildlicht.

„Ich als Bonsai“. Die hier abgebildete Frau ist gleichzeitig Urheberin dieser Fotografien. Birgit Jürgenssen, eine zu diesem Zeitpunkt 26-jährige Wiener Künstlerin, die zuvor ihr Studium an der Hochschule für Angewandte Kunst abgeschlossen hat, wo ihr Lehrbeauftragte mit Sagern wie „Ach, Fräulein Jürgenssen, warum schleppen Sie sich denn mit den schweren Lithosteinen ab, Sie werden doch eh bald heiraten!“ begegnet sind. Was die Künstlerin daraufhin thematisiert und kritisiert, mag aus heutiger Sicht fern wirken, entspringt aber ihrer direkten Lebenserfahrung in einer Nachkriegsgesellschaft, die von einer vielseitigen und tiefgreifenden „Zurück-an-den-Herd“-Politik geprägt war.
Auf dieses Umfeld reagierte Jürgenssen mit dezidiert feministischen Arbeiten, die sich zu Beginn, wie die Hausfrauen-Küchenschürze zeigt, vor allem mit traditionellen Bildern von Weiblichkeit im Spannungsverhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auseinander setzten. Auch in anderen Medien wie der Grafik arbeitete sich die Künstlerin an den ihr zugewiesenen, festgefahrenen Geschlechterrollen und deren Auswirkungen ab. So stellt sie 1976 eine Frau in engen Hosen und Stiefeln dar, der die Bewegungsfreiheit durch eine ausgeklügelte Konstruktion aus Seilen und Holz vollständig genommen wurde. Zu einem rein funktionalen Ding degradiert bleibt ihr nichts anderes übrig als in dieser hörigen, soldatisch anmutenden Stellung zu verharren und an die Decke zu starren. Der weibliche Körper, der in Jürgenssens Bildern immer auch als ihr eigener erkannt werden kann, wird zur Materie, in die sich Machtmechanismen und Normen einschreiben. Die Künstlerin bringt dies mit einem anderen Sinnbild in einer kurzen Notiz so auf den Punkt: „Ich als Bonsai. (durch besondere Behandlung niedrig gehaltene Baumpflanze)“.

Körper / Grenzen überschreiten. Birgit Jürgenssen bezog zeitgemäß Stellung zu gerade in der zweiten Frauenbewegung wichtigen Themen wie Körper, Machtverhältnissen oder den engen Grenzen weiblicher Lebensentwürfe. Früh lassen sich bei ihr aber auch Strategien der Maskerade und Fragmentierung erkennen, die in feministischen und dekonstruktivistischen Diskursen in den folgenden Jahrzehnten besondere Wichtigkeit erlangten. Sich selbst nimmt die Künstlerin dabei immer mehr aus ihren Arbeiten heraus und verstellt den Blick der Betrachter*innen durch Motive wie beispielsweise den eines Fuchskopfes, mit dem sie ihr Gesicht verhüllt. „Ich maskiere mich, weil es weniger um mich als um die Situationen geht, in denen ich mich darstelle, um die Geschichten, die eine Visualität bekommen. Und sowieso darum, in andere Rollen und Identitäten zu schlüpfen.“1 Durch die Tier-Werdung, die Jürgenssen in mehreren Fotostrecken durchgespielt hat, schafft sie einen Rahmen, der weniger stark von geschlechtlichen Zuschreibungen beeinflusst ist und ihr die Möglichkeit gibt, sich selbst in neuen identitären Konstrukten zu versuchen. Diesen Ansatz variiert sie ihr gesamtes Schaffen hindurch und kann so, selbst wenn sie nicht dezidiert mit Geschlechterrollen und deren Überschreitung spielte, als Wegbereiter*in eines queeren Verständnisses von Identität begriffen werden.

Gegen glatte Frauenkörper. Dieser Brückenschlag von Auseinandersetzungen mit traditionellen Rollenbildern wie dem der Hausfrau hin zu Identität als Variable ist es, der Jürgenssens Werk nicht leicht fass- und kategorisierbar macht. Bis heute haben wir es täglich mit einer allzu glatten, kulturell gefestigten, bildlichen Präsenz von Frauenkörpern zu tun, die solch ambivalente Stellungnahmen nicht toleriert. Birgit Jürgenssen arbeitete durch variationsreiche Verfremdungen dreißig Jahre lang gegen diese Mechanismen an und bietet somit auch für die Gegenwart inspirierende Denkanstöße. Die Birgit Jürgenssen Retrospektive, die in Kooperation mit der Sammlung Verbund entstanden ist, kann ab 16. Dezember 2010 im Bank Austria Kunstforum besucht werden.

* Mit diesem Pseudonym signierte Birgit Jürgenssen als Achtjährige ihre Zeichnungen.

1 Birgit Jürgenssen im Gespräch mit Rainer Metzger: Kunstforum International, 164, 2003, S. 243.

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