Kunst

Messerscharfe Nippel

  • 16.06.2016, 20:11
1978, Kunsthalle Düsseldorf: Eine hochschwangere Braut im weißen Kleid mit Schleier, Schnullermaske und Schnullerhaube sammelt Spenden für die Reliquie des Heiligen Erectus.

1978, Kunsthalle Düsseldorf: Eine hochschwangere Braut im weißen Kleid mit Schleier, Schnullermaske und Schnullerhaube sammelt Spenden für die Reliquie des Heiligen Erectus. Der Klingelbeutel hat die Form eines Riesenkondoms. Wird das Geld verweigert, ertönt Babygeschrei, das erst durch eine Spende wieder zum Verstummen gebracht werden kann. Auch in Wien lässt sich die gruselige Braut im selben Jahr blicken – hier allerdings im Rollstuhl, in der Galerie Modern Art. Die Düsseldorfer Aktion führte dazu, dass die Künstlerin, Renate Bertlmann, von den folgenden Stationen der Ausstellung in Eindhoven und Paris wieder ausgeladen wurde. Die Videodokumentation der Wiener Performance ist nun in der Vertikalen Galerie der Sammlung VERBUND zu sehen.

Anhand von zahlreichen Werken aus den 1970er- und ’80er Jahren wird Bertlmanns konsequent-ambivalente Auseinandersetzung mit Materialien, Formen und Themen hier wohltuend un-didaktisch präsentiert. In ihren Zeichnungen, Fotografien, Objekten und Installationen ragen Messerspitzen aus Nippeln, enden Fingerkuppen in Schnullern, hängen Latex-Nabelschnüre an einer Wäscheleine, und Kondome – inszeniert als Brüste – liebkosen einander. AMO ERGO SUM – Ich liebe, also bin ich – lautet Bertlmanns Motto seit den 1970er-Jahren, das nun auch Titel der Einzelschau der 1943 in Wien geborenen Künstlerin ist. Der Untertitel, „Ein subversives Politprogramm“, scheint sarkastisch auf ihren Austragungsort anzuspielen – ist doch die Firmenspitze des Stromunternehmens ausschließlich mit Männern besetzt. Dass sich ausgerechnet die Sammlung VERBUND der Aufarbeitung der „feministischen Avantgarde“ verschrieben hat, ist ebenso bemerkenswert wie ironisch. Und in diesem Fall äußerst treffend – teilt Renate Bertlmann doch ihr Gesamtwerk in die drei Bereiche Pornografie – Ironie – Utopie. Gleichzeitig verdeutlicht eben diese Diskrepanz, dass Bertlmanns Arbeiten drei Jahrzehnte nach Produktion immer noch aktuell sind. Nichtsdestotrotz weht durch die acht Stöcke der Vertikalen Galerie ein leichter Wind der Vergangenheit – ein Blick in das gegenwärtige Schaffen der Künstlerin wäre wünschenswert gewesen.

„Renate Bertlmann. AMO ERGO SUM. Ein subversives Politprogramm“
Kuratorin: Gabriele Schor
Vertikale Galerie in der VERBUND Zentrale, Wien
Bis 30. Juni 2016

Flora Schausberger studiert Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.

„Did you try to find out where this comes from?“

  • 04.07.2015, 14:29

Wer sind die legitimen Besitzer_innen der Abermillionen Objekte in ethnologischen Sammlungen aus kolonialen Kontexten, die heute in europäischen Institutionen lagern? Wie können sie wem wo gezeigt werden und vor allem: wozu? Wer sollte darüber entscheiden? Ein Konferenzbericht.

Wer sind die legitimen Besitzer_innen der Abermillionen Objekte in ethnologischen Sammlungen aus kolonialen Kontexten, die heute in europäischen Institutionen lagern? Wie können sie wem wo gezeigt werden und vor allem: wozu? Wer sollte darüber entscheiden? Ein Konferenzbericht.

Nicht zuletzt die Konflikte rund um die Etablierung des „Humboldt-Forums“ im rekonstruierten Berliner Stadtschloss haben die Diskussionen über Sammlungen aus kolonialen Kontexten in ethnologischen und anthropologischen Museen in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum in eine breitere Öffentlichkeit getragen.

Die Legitimität dieser Sammlungen und der sie beherbergenden Institutionen an sich wird zunehmend in Frage gestellt. Damit wird ein Prozess fortgesetzt, der schon zu Zeiten der Dekolonisierung erhebliche Veränderungen in akademischen Diskursen und musealen Repräsentationen mit sich brachte: Kämpfe gegen eurozentristische Herrschafts- und Deutungsansprüche resultierten in der Hinterfragung einer objektiven Perspektive, die als weiß, bürgerlich und männlich dekodiert wurde. Ethnologische Museen stellen hier einen Kristallisationspunkt der Konstruktion des „Eigenen“ und „Fremden“ dar.

Manche Häuser scheinen von dieser Kritik bis heute vollkommen unbehelligt zu bleiben. Viele haben sich – mit unterschiedlich starker inhaltlicher Veränderung –  in den letzten Jahrzehnten umbenannt und einer Transformation verschrieben, so wie jüngst auch das Weltmuseum Wien. Bei einer Konferenz zur Positionierung ethnologischer Museen im 21. Jahrhundert, ausgerichtet von der Volkswagen Stiftung und dem Deutschen Museumsbund, waren Mitte Juni einige Größen der internationalen Museumsszene ethnologischer und anthropologischer Sammlungen ins Schloss Herrenhausen in Hannover eingeladen, um aktuelle Fragen zur Provenienzforschung, zu internationaler Zusammenarbeit, Restitutionsprozessen und Ausstellungspraxen zu diskutieren, sowie Perspektiven für die Zukunft auszuloten.

Wie Wilhelm Krull (Volkswagenstiftung) in seiner Begrüßung anmerkte, waren dazu Menschen aus mehr als 20 Nationen angereist. Zehn von 23 Präsentationen wurden jedoch aus weißer deutscher Perspektive gehalten, vier weitere aus weißer österreichischer und schweizerischer.

DIE FRAGE DER LEGITIMITÄT. Die Konferenz war spezifisch den Sammlungszugängen aus Kolonialzeiten gewidmet. Interessanterweise hoben vor allem jene Vortragenden, deren Haltung „ihren“ Sammlungen gegenüber als konservativ im doppelten Wortsinn bezeichnet werden kann, den kolonialen Kontext besonders hervor.

So hieß es bei Wiebke Ahrndt, Vizepräsidentin des Deutschen Museumsbundes und Direktorin des Übersee-Museums Bremen sowie Ko-Organisatorin der Konferenz: „Museum professionals have to admit that they very often do not know how exactly individual objects found their way into the museum. None of them would say that every piece was acquired legitimately. But why should we believe that every piece was stolen? Yes, the colonial system caused structural asymmetries and deep injustices. But were all non-Europeans always unable to make a good deal because of this?“
Ähnlich Herrmann Parzingers (Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) Erwähnung des Kolonialismus in seiner Präsentation der Pläne für das Humboldt-Forum: „Of course the history of the collections is a colonial one and this will be presented, but it is also a history of research.“ Der koloniale Kontext wird hier zum Zugeständnis, die Selbstverständlichkeit desselben zur rhetorischen Figur: Dass die Mehrheit der Objekte ohne adäquate Dokumentation und unter (nicht nur) strukturellen Unterdrückungsverhältnissen in die Sammlungen gelangten, wird als Gemeinplatz dargestellt, um Relativierungen anzuschließen.

Dem entgegen schienen diejenigen, deren Museumsarbeit tatsächlich die historischen Bedingungen zum Ausgangspunkt nimmt, weniger darum bemüht, die (Il)legitimität der Aneignungen zu diskutieren. In den Präsentationen von Nanette Jacomijn Snoep (Staatliche Kunstsammlungen Dresden und Ethnographische Sammlungen Sachsen), Adriana Muñoz (Värlskulturmuset Göteborg) oder Mauricio Estrada Muñoz (Musée d´Ethnographie de Genève) stand vielmehr die gesellschaftspolitische Verantwortung der Institutionen heute im Vordergrund. Hier bildete das Wissen um sexistische, rassistische, klassistische Machtverhältnisse und die eigene Eingebundenheit in postkoloniale Verhältnisse den Ausgangspunkt zur Entwicklung diverser Strategien, mit den Sammlungen zu arbeiten – im Versuch, mit dieser Arbeit auch an Machtverhältnissen inner- und außerhalb der Institutionen zu rütteln. Zugleich wurden (koloniale) Aneignungspraxen in diesem Zusammenhang sehr wohl problematisiert.

ZUSAMMENARBEIT. Auch im Sprechen über mögliche oder etablierte Kollaborationen mit sogenanntenSource Communities“, mit Expert_innen aus Gesellschaften, von denen sich Objekte in den Sammlungen befinden, zeigten sich erhebliche Unterschiede im Selbstreflexionsvermögen der Vortragenden.

So sprach etwa Parzinger von „Dialogen“ bei Workshops: „We travelled a lot, we were not only in Vancouver, (…) we also went to Australia, New Zealand, Africa, Sao Paulo…and we will again do a workshop in Africa.” Zugleich wurde er nicht müde zu betonen, dass die „Integration” der betreffenden Leute von Berlin aus besonders schwierig sei, weil sie tausende Kilometer weit weg seien. Auch wenn er später zugab: „The world is already around us as well, I mean in Berlin there live not only Turks, there are more than 180 nations“. Seine Kollegin Viola König (Ethnologisches Museum Berlin) stellte am letzten Tag der Konferenz jedoch noch einmal klar: „We don´t have diaspora communities connected to our collections in Berlin”. 

Das Publikum während des Votrages von Viola König. Fotograf: Ludwig Schoepfer

Weniger drastisch ignorant, aber in der Überzeugung, dass es heute keine ungleichen Machtverhältnisse mehr zwischen ihr als Kuratorin eines deutschen ethnologischen Museums und den Nachfahren von bei Völkerschauen ausgestellten Samoaner_innen gäbe, berichtete Hilke Thode-Arora (Museum Fünf Kontinente München) von ihren Recherchen auf Samoa. Die dort gesammelten Informationen zur Perspektive der Samoaner_innen auf ihre Teilnahme an den Völkerschauen und ihre Strategien zur Nutzung derselben für ihre Zwecke schienen in Thode-Aroras Darstellung leider zur Relativierung kolonialer Machtverhältnisse eingesetzt zu werden. Etliche andere Präsentationen – zum Beispiel jene von Adriana Muñoz und Anthony Shelton (Museum of Anthropology Vancoucer), aber auch von Michael Kraus (Abteilung Altamerikanistik Bonn) –  zeigten hingegen positive Beispiele langjähriger Kollaborationen auf unterschiedlichen Ebenen: als Berater_innen, Ausstellungsgestalter_innen, Partner_innen in der Durchführung von Community-Veranstaltungen und Weiterbildungen. Dabei beschrieb Andriana Muñoz ihre Position als in stetiger Ausverhandlung begriffen; als in Argentinien sozialisierte Kuratorin habe sie sich immer auch als Aktivistin verstanden – als Kuratorin in einem schwedischen Museum stelle sich ihre Rolle je nach Kontext neu dar.

INTERVENTIONEN UND KONTROVERSEN. Die gab es leider trotz der sehr heterogenen Vortragsinhalte wenige. Es war zwar sogar eine „Interjection“ geplant gewesen – von dem Politikwissenschaftler und Aktivisten Joshua Kwesi Aikins – doch sagte dieser kurzfristig ab. Zu Recht würde man meinen, denn so zeigte sich, dass provokante Fragen fast ausschließlich den wenigen (Schwarzen) Teilnehmer_innen überlassen blieben, die aus Ländern angereist waren, die massiv von Raub kultureller Güter für europäische ethnologische Sammlungen betroffen waren und sind.

Indra Lopez Velasco, Beatrix Hoffmann, Karoline Noack, Limba Mupetami, Clara Himmelheber, Michael Kraus und Emmanuel Kasarhérou als Chair bei der Session zu Kooperationen. Fotograf: Philip Bartz

Ihre Fragen in Bezug auf konkrete Provenienzen bzw. die Bemühungen, die von den jeweiligen Institutionen in Bezug auf die Klärung der Herkunft bestimmter Objekte (oftmals mit unzureichender Kontextualisierung on display) ausgegangen seien, wurden immer mit ausweichendem Verweis auf die fehlenden Ressourcen und gleichzeitiger Beteuerung der Notwendigkeit zur Recherche beantwortet. Limba Mupetami (Museum Association of Namibia) stellte ein Projekt vor, das auf diese Situation mit Eigeninitiative antwortet: Das Africa Accessioned Project, das in europäischen Sammlungen nach Objekten aus vier afrikanischen Ländern sucht – Botswana, Namibia, Zambia, Zimbabwe – um zumindest Wissen um sie und potentielle Forschung über sie zu ermöglichen.

Und so lassen sich denn auch neben all den möglichen komplexen Strategien und Herausforderungen, die sich in Bezug auf die Arbeit mit ethnologischen und anthropologischen Sammlungen zeigen, wohl doch zwei recht einfache Beobachtungen machen: Erstens, eine eigentliche Kernaufgabe der Museen, die sorgfältige Auf- und Bearbeitung ihrer Sammlungsbestände, inklusive Herkunftsort und Bedeutung, wurde und wird nicht erfüllt. Oder wie Caroline Mutahanamilwa Mchome (Ministry of Natural Resources and Tourism, Tanzania) es formulierte: „The museums just don´t seem to be doing their job“. Zweitens braucht es personelle Veränderungen in den Museen: Die „Communities of Origin“ müssen auch die „Communities of Authority“ werden und dafür bezahlt werden.

Podcasts der Vorträge werden Ende Juli hier abrufbar sein.

 

Sophie Schasiepen ist Kulturwissenschafterin und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation zur Repatriierung von Klaas und Trooi Pienaar.

 

In Hitlers Badewanne

  • 25.06.2015, 11:23

„Mein Name ist Lee Miller, und ich bin Ihre neue Schülerin.“ Mit diesen an Man Ray gerichteten Worten begann Lee Miller ihre Karriere als Fotografin im Jahr 1929 in Paris.

„Mein Name ist Lee Miller, und ich bin Ihre neue Schülerin.“ Mit diesen an Man Ray gerichteten Worten begann Lee Miller ihre Karriere als Fotografin im Jahr 1929 in Paris.

Zuvor war die damals 22-Jährige in New York vor den Kameras renommierter Fotografen wie Edward Steichen gestanden. Das Werk der Amerikanerin ist untrennbar mit ihrer legendären Biografie verbunden. In der Albertina wird nun anhand von 100 Fotos aus den Jahren 1929 bis 1945 Lee Millers Entwicklung von der surrealistischen Fotokünstlerin zur fotografierenden Kriegskorrespondentin nachvollzogen. In den 1930ern schuf sie gemeinsam mit Man Ray ikonische Bilder des Surrealismus; als Statue in Jean Cocteaus Film „Le

Sang d’un Poète“ wurde Lee Miller zum steinernen Mythos. Ironisch gebrochen wird die Reihe weiblicher Akte durch ihre Fotos von amputierten Brüsten, arrangiert auf Tellern mit Messer, Gabel und Dessertlöffel. Ab 1940 inszenierte die Fotografin Mode und Mannequins – etwa mit Brandschutzmasken am Eingang zu Schutzkellern – für die englische Vogue. Der leicht(fertig)e Schritt an diesen vom Surrealismus geprägten Bildwelten vorbei wird im hinteren Raum  der  thematisch  angeordneten Ausstellung dann abrupt unterbrochen.

1945 fotografierte Lee Miller als Kriegsreporterin in Deutschland. Einschneidend ist bei diesen Aufnahmen nicht nur die Brutalität der Sujets selbst – der tote, im Kanal treibende SS-Mann oder die befreiten Häftlinge in Lageruniform, aufgereiht vor einem Leichenberg – sondern auch deren Inszenierung durch die Fotografin. Die ganze Wucht von Lee Millers „ungeheurer" Persönlichkeit  offenbart sich in jenen berühmten Aufnahmen, die ihr Kollege David E. Scherman am 30. April 1945 von ihr machte. Während sich Hitler im sogenannten Führerbunker mit der Pistole der Verantwortung entzog, wusch sich Lee Miller den Staub der Konzentrationslager in der Badewanne dessen Münchner Wohnung vom Körper und legte sich in legerer Pose mit Zigarette in Eva Brauns Bett. Der Gang aus der Wiener Albertina nach draußen ist kein lässiger, hingehen und um eine beeindruckende Erzählung reicher werden, ist trotzdem empfehlenswert.

„Lee Miller“ Kurator: Walter Moser
Albertina Wien
bis 16.8.2015


Flora Schausberger studiert Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Sprühtherapie

  • 25.06.2015, 11:12

Graffiti: Vandalismus oder Kunst? Gedankenlose Schmierereien oder ein Stück Jugendkultur? Abseits dieser Debatten ziehen trotzdem Menschen los, die ihre eigenen Ideale verfolgen. progress hat zwei von ihnen bei ihrer Tour durch Wiens Untergrund begleitet.

Graffiti: Vandalismus oder Kunst? Gedankenlose Schmierereien oder ein Stück Jugendkultur? Abseits dieser Debatten ziehen trotzdem Menschen los, die ihre eigenen Ideale verfolgen. progress hat zwei von ihnen bei ihrer Tour durch Wiens Untergrund begleitet.

„Scheiße, nicht cool!", flüstert Dennis"' und hastet zurück, „Nicht cool, nicht cool!“. Er hopst so leise wie möglich über Gleiskörper, aufgetürmte alte Schienen und die gelb ummantelte 750 Volt Starkstromleitung in der Mitte des Tunnels. Dann wieder über Schienen und Schwellen, bis zur gegenüberliegenden Wand. Schwarze Konturen eines mehrere Meter großen Schriftzugs prangen auf ihr, ein Buchstabe ist grau gefüllt, ein anderer zur Hälfte. Eine Männerstimme hallt an den Wänden des stillgelegten U-Bahn-Schachtes wider. Sie klingt entspannt. Dennis greift den Rucksack, der auf den Schwellen steht. Dose für Dose  stopft er hinein. Noch haben die schwarzen Silhouetten die beiden Sprayer nicht bemerkt. Noch haben Dennis und Marco* einen kleinen Vorsprung.

DON’T GIVE UP. Das Gemurmel wird lauter, deutlicher. „In die Richtung, lauf", flüstert Dennis bestimmt und deutet an das andere Ende des Tunnels. Er greift nach Marcos halbleerer Bierdose und senkt den Kopf. Keine Spuren hinterlassen. Kapuze auf, Rucksack an, los.

Die Stimme ist hinter der Kurve angekommen und verstummt. Dennis und  Marco setzen  zum Sprint an. „Halt, stehen bleiben!“, ruft ein Mann mit tiefer, voller Stimme. Der Schacht hat zwei Ausgänge: Ihr Hinweg ist versperrt, bleibt nur die Flucht nach vorne. Die U-Bahn-Station, das buchstäbliche Licht am Ende des Tunnels. Dennis und Marco sehen nichts, der Schacht ist stockdunkel. Am Boden Gleise, Schwellen, Weichen, Starkstromleitung, alles kreuz und quer. „Stehen bleiben!“, hallt es an den Betonwänden wider.

Aufgeben ist keine Option, zu viel steht für sie auf dem Spiel. In Deutschland sind sie aktenkundig, fast schon alte Bekannte der örtlichen Polizei. Beide waren schon mehrere Monate in Haft, daheim sitzen sie auf einem Schuldenberg aus Schadensersatzansprüchen und Prozesskosten. In Wien sind sie ein unbeschriebenes Blatt und konnten sich eine neue Existenz aufbauen. „Im Exil“, wie sie es nennen.

„Halt, stehen bleiben!“ Die Stimme ist näher gekommen. Vielleicht fünfzig, vielleicht zwanzig, vielleicht zehn Meter. Wie nahe, weiß Dennis nicht. Würde er sich umdrehen, könnte er die Schatten am Boden nicht mehr ausmachen. Immer wieder flackert das Licht für den Bruchteil einer Sekunde auf. Der Lichtkegel einer Taschenlampe erreicht die beiden. Das Aufleuchten ist zu kurz, um etwas am Boden erkennen zu können. Sie hinterlässt nur noch mehr Dunkelheit. Blind sprintet Dennis weiter. Der grobe Schotter unter seinen Füßen kracht und knirscht bei  jedem Schritt:  Klick, Klack, Klick, Klack. Plötzlich ist ein dumpfer Aufprall zu hören. Dennis hat eine Weiche übersehen. Er schlägt am Boden auf. Das Flackerlicht der Taschenlampe kreist in zackigen Bewegungen um ihn.

I’M THE QUING. Zwei Stunden zuvor ist noch alles in Ordnung. Dennis und Marco sitzen gemütlich in einem kleinen verrauchten Pub, trinken Bier und sinnieren über die Graffiti-Szene. Und die kennen sie schon lange. Der heute 30-jährige Dennis ist seit seiner Jugend aktiver Sprayer. „Aus Einsamkeit", wie er sagt. Dennis ist Vollblutkünstler. Er hat Kunst studiert, steckt all seine Energie in seine Passion. Tagsüber illustriert er Kinderbücher, fotografiert und macht Kurzfilme. Viel verdient er dabei nicht, aber es reicht zum Leben. Fast jede Nacht zieht er um die Häuser und malt. Ohne Sprühdose oder Marker geht er sowieso nie aus dem Haus. Er sieht sich als „Impuls-Sprüher“ und zieht am liebsten alleine los. Zwischen legalen und illegalen Flächen macht Dennis keinen  Unterschied.  Auch was er malt, legt er nicht fest. „Abstrakt, Buchstaben, Figuren… Es soll Spaß machen“, meint er.

Mit der Graffiti-Szene will Dennis nichts mehr zu tun haben. Zu viele Selbstdarsteller_innen seien unterwegs. „Du brauchst nicht Graffiti machen und meinen, du bist hart. Da wird viel aufgebauscht“, kritisiert er. Außerdem: Sprayer_innen arbeiten entgegen der gesellschaftlichen Norm und trotzdem gebe es gerade auch in der Szene Regeln und Hierarchien, etwa im Bezug auf beliebte Sprayflächen. Spätestens wenn jemand das Werk eines oder einer anderen übersprüht, herrscht Krieg. Verletzte Egos lassen schnell die Fäuste fliegen. Trotzdem gibt Dennis zu: „Dieser romantische Gedanke, der Mythos vom Unbekannten… Klar habe ich mich schon auch manchmal als König gefühlt.“ Heute sprüht er seinen Namen aber nur mehr aus Nostalgie. Als wäre auch der Sprayer in ihm mit den Jahren erwachsen geworden.

LEGAL, ILLEGAL? SCHEISSEGAL. Marco hat die Sprühdosen dabei. Sie besprechen, ob seine Farbe für die ganze Tour reichen wird. Marco kramt eine Bierdose aus seinem Rucksack, dann machen sie sich auf den Weg. Zwischen Wohnhäusern und U-Bahn spazieren sie, unterhalten sich. Hier und da malt Marco sein Erkennungszeichen, den so genannten „Tag“, an alles, was halbwegs senkrecht emporragt. So wissen alle aus der Szene, dass er hier war. Nach einer Viertelstunde Fußweg werden die beiden langsamer. Ein Zaun trennt Wiese von U-Bahn-Tunnel, legal von illegal. Noch ein kurzer Blick nach links und rechts, dann geht es  bergab.

Wie genau sie in die U-Bahn-Schächte kommen, will Dennis nicht publik machen. Er will die Sicherheitsverantwortlichen der Wiener Linien nicht provozieren, und schon gar nicht will er, dass Überwachungsmaßnahmen  verschärft werden. Dabei sind die beiden ohnehin Profis. Aus Dennis' Mund klingt das Überbrücken von Alarmanlagen wie das kleine Einmaleins: Unbedarft, simpel und absolut harmlos. Und wenn doch einmal die Polizei kommt? „So lernt man, schnell zu malen. Und zu rennen.“

Die Strafen für das Sprühen sind in Dennis' Augen viel zu hoch. An ein bisschen Farbe am Zug sei schließlich noch niemand gestorben. Leben und leben lassen, so wäre es ihm am liebsten. Dennis will kritisieren, aufmerksam machen und keiner Privatperson schaden. Und Unternehmen hätten ohnehin gute Versicherungen, die die Reinigungskosten übernehmen  würden.

Dass nicht alle Dennis' legeren Umgang mit der hiesigen Legislative teilen, versteht sich von selbst. Vor allem jene Menschen, denen die besprühten Flächen gehören, sind von Graffiti selten begeistert. Die Aufklärungsrate von Sachbeschädigung durch Graffiti liegt zwischen zehn und 20 Prozent, folglich bleiben viele auf den Reinigungskosten sitzen.

Florian Gross, Pressesprecher des österreichischen Haus- und Grundbesitzerbundes meint dazu: „Wir schätzen die künstlerische Freiheit, jedoch ist uns die Freiheit, über das eigene Eigentum zu verfügen, mindestens genauso wichtig“. Diese sei schließlich ein „demokratisch verankertes Grundrecht“ und als solches auch entsprechend zu schützen. Gross würde sich deshalb mehr Überwachung auf Wiens Straßen wünschen.

Dennis versteht nicht, warum viele Menschen lieber graue Wände anstarren als bunte. Er sieht sich als antikapitalistischer Stadtverschönerer, als Künstler und Gesellschaftskritiker. Er will nicht Schaden erzeugen, sondern die Stadt durch seine Graffiti mitgestalten. Warum dann manche Graffiti nun wirklich nicht sonderlich schön aussähen? „Wenn wir nicht davonlaufen müssten, hätten wir auch mehr Zeit und könnten aufwendigere  Dinge  machen“, kontert er. Die Illegalität stelle sie eben unter Zeitdruck. Dass die Stadt Wien unter dem Projekt „Wienerwand" öffentliche Flächen zur Besprühung freigibt, löst das Problem nicht. Legale Flächen sind für viele Sprayer_innen keine Alternative. Zu viele Dosen bräuchte es, um die Werke des Vorgängers oder der Vorgängerin wirksam zu übersprühen, zu vergänglich ist das Kunstwerk, das oft schon nach wenigen Tagen erneut übersprüht wird. Wer zumindest ein wenig Beständigkeit will, muss, so scheint es, den illegalen Weg gehen.

PARALLELWELT. Es ist elf Uhr nachts, als Dennis und Marco im stillgelegten U-Bahn-Tunnel ankommen. Züge fahren hier schon lange keine mehr. Zielstrebig hopst Dennis über die Gleise und drückt den Lichtschalter an der Wand. Die Neonröhren gehen an und tauchen den Tunnel in ein schummrig-düsteres Licht. Marco nippt an seinem Bier und stapft hinter Dennis her, immer tiefer in den grauen Tunnel. Nur das Nötigste wird besprochen.

Für Dennis sind die U-Bahn-Schächte eine kleine Parallelwelt. Ein bisschen ausbrechen aus der Realität und aus ihren Normen. „Hier bist du mit all dem konfrontiert, was die Stadt nicht sehen will. Da triffst du Bettler, Obdachlose, Leute, die nicht erwünscht sind.“ Ein zweites, ein anderes Wien, nur ein paar Meter unter der Stadt.

Nach zweihundert Metern bleibt Dennis hinter einer Biegung stehen und deutet an die rechte Tunnelwand. Sie wird von zwei Neonröhren von oben beleuchtet wie in einer Galerie. Die Sicht auf den Ausgang ist versperrt, in die andere Richtung ist der Schacht dunkel. In zielsicheren zügigen Armbewegungen beginnt Dennis, schwarze Linien über die graue Mauer zu ziehen. Für ihn sind „Spaziergänge“ wie dieser eine Art Therapie. Die Wand ist sein Tagebuch, die Farbe seine Worte. Die beiden sind so in ihre Arbeit vertieft, dass sie den dumpfen Widerhall der Männerstimme erst sehr spät bemerken.

ZERO TOLERANCE. Wenn es um Graffiti geht, verstehen die Wiener Linien keinen Spaß. Sie fahren eine „Null-Toleranz-Politik“, wie Pressesprecher  Daniel Amann erklärt: „Unsere Fahrgäste zahlen für ihren Fahrschein beziehungsweise ihre Jahreskarte und erwarten sich dafür Pünktlichkeit, Sicherheit  und Sauberkeit. Deshalb entfernen wir auch umgehend alle Graffities in den Stationen." Die Reinigung macht jedoch nur einen Bruchteil des jährlichen Gesamtschadens durch Graffiti aus, nämlich rund 260.000 Euro. Der weitaus größere finanzielle Schaden entstehe durch Überstellungsfahrten, zusätzliche Personalkosten und die Reservehaltung von Ersatzzügen. Im Jahr 2014 sei so ein Gesamtschaden von rund 2,7 Millionen Euro entstanden, heißt es seitens der Wiener Linien. Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, werden Securities angeheuert. Immer wieder treffen diese auf Sprayer, manchmal kommt es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, oft mit Verletzten auf beiden Seiten. Darauf will es Dennis nicht ankommen lassen. Er rappelt sich vom Boden auf und läuft weiter, ohne sich umzusehen. Marco ist jetzt einige Schritte vor ihm, die U-Bahn-Station kommt näher.

Ein letztes „Halt! Stehen bleiben!“ hallt an den Wänden wider. Dennis springt über die Starkstromleitung in der Mitte und läuft die letzten Meter an der linken Tunnelwand weiter. Marco bleibt rechts. Sie sprinten in die hell erleuchtete Station, das grelle Licht blendet sie. Die wartenden Fahrgäste wirken surreal, wie Wachsfiguren. Dennis hat aufgeholt, die beiden laufen auf die jeweils nächsten Bahnsteige zu, die Köpfe gesenkt. Das Ziel im Kopf sprinten sie  über die U-Bahn-Gleise auf den Bahnsteig. Sie hasten die Stufen hinauf, hinaus aus der Station. Einen Augenblick später sind die schwarzen Figuren in der Nacht verschwunden.

 

Milena Moro hat für das progress die beiden Sprayer eine Nacht lang begleitet.

*Name von der Redaktion geändert

Schauen, was ich kann

  • 25.06.2015, 10:43

Natalie Ofenböck ist eine der beiden Stimmen des #oehwahlfahrts-Jingles und Ohrwurms „Hallo“ von Krixi, Kraxi und die Kroxn. progress hat mit ihr über Aufwecklieder, Tastatur-Klack-Geräusche und Katzenkalender gesprochen.

Natalie Ofenböck ist eine der beiden Stimmen des #oehwahlfahrts-Jingles und Ohrwurms „Hallo“ von Krixi, Kraxi und die Kroxn. progress hat mit ihr über Aufwecklieder, Tastatur-Klack-Geräusche und Katzenkalender gesprochen.

progress: Gehst du tatsächlich jeden Tag in den Prater?
Natalie Ofenböck: Nein. (lacht) Aber ich bin schon oft dort, ich wohne ja nicht weit weg. Ich mag den Prater sehr gerne, den Grünen wie auch den Wurstelprater.

Krixi, Kraxi und die Kroxn sind nicht drei Freund_innen, sondern 17 Menschen: Wie funktioniert das als Bandprojekt?
Bei der ersten CD haben wir zu zweit bzw. zu dritt Lieder geschrieben und aufgenommen. Später erst haben wir Leute eingeladen, ihnen unsere Lieder vorgestellt und dann hat jeder dazu gemacht, was er wollte oder konnte. Irgendwann waren wir dann bei 17. Aber bei keinem Lied haben alle 17 mitgemacht. Wir hatten kein einziges Konzert, wo alle dabei waren. Einmal  waren wir 16.

Du und Nino aus Wien tretet öfter zu zweit auf. Ihr habt auch die Krixi,-Kraxi-und-die-Kroxn-Lieder geschrieben. Wie kommt ihr auf so unkonventionelle Ideen wie „Hallo“ oder  „Käfer“?
Mit „Käfer“ hab ich begonnen, um Nino aufzuwecken, weil er nicht aufwachen wollte. Irgendwann dann haben wir daraus ein ganzes Lied gemacht. Und „Hallo“ war das erste Lied, das wir gemeinsam gemacht und aufgenommen haben. Das haben wir an einem traurigen Tag geschrieben.

Das Artwork zur CD „Die Gegenwart hängt uns schon lange zum Hals heraus“ hast du gemacht. Im Booklet findet man dein Zitat „Das Fröhlichste das ich je machte.“ Warum?
Weil alles so spontan passiert ist. Ich arbeite sonst ewig an Dingen und das war viel leichter. Auch weil so viele Leute dazu beigetragen haben und es so gut funktioniert hat. Wenn ich allein arbeite, dauert es ewig und ich mache ständig Verbesserungen. Bei dem Projekt haben wir ein Lied geschrieben und es am nächsten Tag aufgenommen. 

Du bist ja nicht nur bei Krixi, Kraxi und die Kroxn dabei, sondern hältst auch Lesungen, arbeitest mit Stoffen und illustrierst. Siehst du dich als interdisziplinäre Künstlerin?
Ich will einfach schauen, was ich alles kann. Oder ob ich das kann. Ich finde Zeichnen, Schreiben und das Mit-Stoffen-Arbeiten sehr ähnlich. Bei Kleidung war es so, dass es mich lange nicht interessiert hat, ob sie tragbar ist. Für mich war es eher Bildhauerei, nämlich, dass man etwas formt – nur eben am Körper. Es ging mir eher darum zu schauen, welche Formen und Farben es gibt. Das, was dabei herausgekommen ist, war dann oft nicht etwas, was man so im Alltag trägt. Bei den Sachen, die ich im Studium gemacht habe, war es mir nicht wichtig, dass es zumindest angenehm zu tragen ist, sondern, dass es eher eine Art Bild wird.

Welches Studium war das?
Das  Bachelorstudium  Mode in Hetzendorf in Wien. Zuvor habe ich ein Jahr in Antwerpen Mode studiert. 

War das für dich als Künstlerin eine Ergänzung oder eine Herausforderung?
Alle Studien, die ich begonnen habe, habe ich gemacht, um eine bestimmte Art von Lernen kennenzulernen. In Hetzendorf war es sehr zeitintensiv, weil es sehr schulisch und mit Anwesenheitspflicht war. Aber ich wollte nähen und mich mit Mode beschäftigen, auch theoretisch.

Unter kkkatzenadvent.com findet man von dir detailreiche  und  animierte  Illustrationen. Hast du an jede Kunstform  verschiedene Ansprüche?
Die Katzenzeichnungen sind eher so wie einen schnellen Text zu schreiben oder ein schnelles Lied zu machen. Aber wenn man ein Kleidungsstück macht, braucht es viel mehr Vorbereitung und Änderungen. Aber beim Zeichnen oder Schreiben passiert alles viel mehr im Moment, das ändert sich dann oft auch nicht mehr. Zumindest bei den Katzenzeichnungen oder den Texten.

Deine Texte sind manchmal sehr assoziativ, dann gibt es wieder ganz andere wie: „man muss die liebe umpolen. die liebe die zäh ist wie trockene kaugummifäden.“  Wie schreibst du?
Diese aneinandergereihten Wörter oder Assoziationsketten sind mit einer Art Rhythmus in meinem Kopf geschrieben. Das geht sehr schnell und das lass ich dann auch so. Es gibt aber natürlich andere Texte, zum Beispiel Strophen, wo man auch reimt. Ich finde man kann ganz gut mit einer Tastatur schreiben, weil das ein Klack-Geräusch macht. Das finde ich angenehm. Da kommt ein Rhythmus zustande.

Das heißt du kannst das 10-Finger-System?
Nein. So schnell bin ich auch nicht. (lacht)

Viele deiner fragmentarischen Werke, Wortspiele und Katzenskizzen publizierst du auf Facebook, Tumblr und auf deiner Webseite. Ist das Internet für dich Möglichkeit oder  Einschränkung?
Ich bin mir nicht sicher. Natürlich ist es eine Möglichkeit, dass Leute das sehen und mitbekommen, was du machst. Zum Beispiel der Katzenkalender würde ohne Internet  nicht  funktionieren. Dann ist es schon gut, aber sonst finde ich es auch ein bisschen seltsam, dass Sachen so schnell nach außen gehen können ohne einen Rahmen. Ich poste auch gar nicht so viel, weil ich mir oft auch nicht so sicher bin, ob ich das sofort teilen will.

„Fräulein Gustl“ als Buch mit Hörspiel tendiert da eher in die analoge Form.
Da wollten Lukas Lauermann, Raphael Sas, Stefan Sterzinger, Nino und ich was Fertiges in der Hand haben. Das ist was anderes als einen Text zu posten. Etwas in physischer Form zu haben, finde ich allgemein besser. Aber das ist eine Kostenfrage. Damals ging  das, weil wir einen Verlag gefunden hatten.

Kannst du uns eine Wortassoziation machen? salzlackengedächtnisse händigen mir die brühe aus. salzaugen. salzorgane. salzorganisten. salzprinz. spiegelsalz. augentracht. spitzenwerk. fliegendreck. zwirbelspeck. spielkatze. zwischenmagen. kitzelkatze. schmirgelkatze, kastenpratze. (gekürzt)

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Smash it!

  • 18.05.2015, 12:58

Neon, Verzerrungen und auszuckende Frauen. Die Kunsthalle Krems zeigt mit der Ausstellung „Komm Schatz, wir stellen die Medien um fangen nochmal von vorne an“ Werke der Schweizer Video- und Objektkünstlerin Pipilotti Rist aus den letzten 30 Jahren.

Neon, Verzerrungen und auszuckende Frauen. Die Kunsthalle Krems zeigt mit der Ausstellung „Komm Schatz, wir stellen die Medien neu um und fangen nochmals von vorne an“ Werke der Schweizer Video- und Objektkünstlerin Pipilotti Rist aus den letzten 30 Jahren.

Begrüßt wird man von einem Kronleuchter aus ähnlich alt aussehenden Unterhosen, der den Weg in einen Raum mit gemütlichen Betten weist. Liegend wird man von kaleidoskopartigen Aufnahmen eingesogen. Mal eine Zunge hier, mal eine Vulva da, auch Himbeeren kommen vor. Alles Motive, die sich durch die ganze Ausstellung ziehen. Großes Highlight: der Film „Ever Is Over All“. Eine Frau in einem Kleid zerschmettert mit lachendem Gesicht willkürlich Autofensterscheiben mit einer Stange, die wie eine Blume aussieht.

(c) Pipilotti Rist - Homo Sapiens Sapiens

Sonst findet man in den großen Räumen immer wieder kleine experimentelle Filmchen in Handtaschen, Teppichen oder Muscheln versteckt. Es ist auf den ersten Blick nicht klar ersichtlich, wo im Raum die Kunst anfängt und aufhört. „Bitte nicht die Kunstobjekte berühren!“, so eine Museumsangestellte zu einem Typen, der sich lässig auf ein Gitterbett aufstützt, in dem eine Stoffbombe liegt, in der wiederum ein Film gespielt wird. Daneben fließt auf den Boden projiziertes Blut.

Gerade zu Beginn changiert die Ausstellung immer wieder zwischen faszinierenden, grellen Aciderfahrungen und erschreckendem Horrortrip, bei dem zuerst noch alles lustig war und dann auf einmal Blut zwischen den Zähnen eines lachenden Gesichts hervorsprudelt. Gegen Ende wird die Ausstellung zunehmend ruhiger. Dazu tragen Lämmer-, Früchte- und Wassermotive bei. Aber auch Teppiche, Sitz- und Liegesäcke, auf denen man sich vom Boden aus wandgroße Videoprojektionen von Füßen auf der Wiese oder zermatschenden Granatäpfeln ansehen kann, verstärken den Effekt.

(c) Pipilotti Rist - Sip My Ocean

Pipilotti Rist bricht mit der klassischen Rolle der Betrachtenden durch die Vielfalt der Positionierungen der Videos, aber auch der Zuseher_innen. Dementsprechend radikal verarbeitet sie auch Körperbilder und Geschlechterrollen, zum Beispiel in dem Covervideoclip zu „I’m Not A Girl Who Misses Much“ der Beatles. Sie schafft es mit ihren Werken Alternativen zum, wie sie es nennt, „Blickregime“ zu zeigen, in denen für den Moment des Betrachtens die Utopie real wird.

 

Pipilotti Rist: „Komm Schatz, wir stellen die Medien neu um & fangen nochmals von vorne an“
Kurator_innen: Stephanie Damianitsch, Hans-Peter Wipplinger
Kunsthalle Krems, Niederösterreich
bis 28.06.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Ich publiziere, also bin ich

  • 26.03.2015, 08:36

Wer heutzutage etwas publizieren möchte, braucht nicht mehr unbedingt einen Verlag oder ein Label. Über die Möglichkeiten und Grenzen des Self-Publishing.

Wer heutzutage etwas publizieren möchte, braucht nicht mehr unbedingt einen Verlag oder ein Label. Über die Möglichkeiten und Grenzen des Self-Publishing.

Dank Internet können alle alles in Echtzeit publizieren, sei es ein Gedicht oder ein GIF, einen Comic oder ganze Serien. Die/Der KünstlerIn in uns ist für die Veröffentlichung ihrer Werke nicht mehr auf Communities angewiesen – er/sie kann sich ihre Plattform selber bauen. Die technischen Möglichkeiten, eigene Werke zu produzieren, sind heutzutage jedem und jeder zugänglich.

SCHLAFENDE MANUSKRIPTE. Seit der Erfindung der Druckerpresse durch Gutenberg um 1450 herum hat sich in der Vertriebslogistik des gedruckten Wortes so einiges getan. Die unzählige Male totgesagte Kulturtechnik des Lesens ist lebendiger denn je, ob auf Papier oder neuerdings auf dem E-Reader – womit jedoch nichts über die Qualität des Geschriebenen sowie der Rezeption gesagt ist. Technologie hat Einfluss auf die Lesegewohnheiten und diese ändern sich auch. AutorInnen stehen vor der Frage: Soll ich auf die herkömmlichen Vertriebskanäle der etablierten Verlage zurückgreifen oder die Sache selbst in die Hand nehmen und alle technischen Möglichkeiten ausschöpfen, um mir in Eigenregie Gehör zu verschaffen? Oder kann ich vielleicht sogar beides haben?

Der Weg vom Erstlingswerk in der Schublade bis zur Veröffentlichung in einem renommierten Verlag ist meist lang und steinig. Die Dunkelziffer der unveröffentlichten Romane lässt sich kaum eruieren, sie muss jedenfalls horrend sein. Eine Anekdote, die über Glanz und Elend der AutorInnen in den Mühlen des Literaturbetriebs viel aussagt, betrifft Robert Schneiders Manuskript zum Roman „Schlafes Bruder“. Es wurde von 23 Verlagen abgelehnt, bis es beim Reclam-Verlag zum Welthit wurde. Im Anschluss soll der Autor einen Vorschuss in noch nie dagewesener Höhe vom Blessing-Verlag für seinen zweiten Roman „Die Luftgängerin“ erhalten haben. Allerdings wurde dieses Werk von der Literaturkritik einhellig verrissen.

Illustration: Anna Diem

PUBLIKATIONSKONTROLLE. Self-Publishing-Verlage wie etwa tredition, der seinen Sitz in Deutschland hat, sind mit dem Versprechen angetreten, künftigen AutorInnen solche Umwege und Achterbahnfahrten zu ersparen. Sönke Schulz, Geschäftsführer von tredition, beschreibt die Misere der deutschsprachigen Verlagslandschaft: „2013 ergab eine Umfrage von tredition unter deutschsprachigen Publikumsverlagen, dass diese zwischen 3.000 und 10.000 unverlangt eingereichte Manuskripte pro Jahr erhalten. In der Regel wird kein einziges davon veröffentlicht. Und nicht etwa, weil alle diese Manuskripte keine Veröffentlichung wert sind. Die Verlage schaffen es schlichtweg nicht, die Einreichungen allesamt zu sichten. Die Chancen, als neuer unbekannter Autor in das Programm eines traditionellen Verlags aufgenommen zu werden, sind also äußerst gering.“ Vor diesem Hintergrund ist es für AutorInnen verlockend, das eigene Buch sofort veröffentlichen zu können, dabei höhere Provisionen zu erzielen als bei traditionellen Verlagen, an der Umschlaggestaltung beteiligt zu sein und den Verkaufspreis des Buches selbst festlegen zu können. „Grundsätzlich kann heute jeder jederzeit ein Buch veröffentlichen“, stellt Schulz fest. Wodurch die Frage, warum jede und jeder jederzeit ein Buch veröffentlichen können sollte, natürlich noch lange nicht beantwortet ist. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bei tredition erschienene Bücher erhalten auch eine ISBN-Nummer, was ihre Auffindbarkeit gewährleistet. tredition betreibt auch aktiv Marketing: Für jedes Buch wird eine individuelle Pressemitteilung an Nachrichtenportale und Newsticker versendet, wird eine Suchmaschinenoptimierung vorgenommen, die Bücher werden auf der Frankfurter Buchmesse ausgestellt, und JournalistInnen erhalten kostenfreie Rezensionsexemplare.

AUF EIGENE FAUST. Wer seine oder ihre Texte, Fotos, Musik, Comics und anderes einfach unter die Leute bringen will, kann das heutzutage aber im Grunde genommen auch ohne einen Self-Publishing-Verlag tun. Schier unendlich sind die Möglichkeiten: ein Blog, eine eigene Homepage, Facebook, SoundCloud, WordPress – um nur die wichtigsten Plattformen zu nennen. Unabhängig und flexibel ist, wer auf diese Weise publiziert, aber zugleich stellt sich die Frage nach der finanziellen Vergütung sowie nach der Sichtbarkeit auf einem Markt, auf dem in erster Linie Anerkennung und „symbolisches Kapital“ akkumuliert und gehandelt werden.

„Bildet Banden“, rät Eva Schörkhuber, freie Autorin, Lehrende, Lektorin und Redakteurin, jungen Kunstschaffenden. Alternative Distributionswege, etwa gemeinsam betriebene Plattformen, können helfen, die Abhängigkeit von gewachsenen Institutionen und Mechanismen zu verringern und sich in der Verlagslandschaft mit mehr Selbstbewusstsein zu behaupten: „Bei der Zusammenarbeit mit Verlagen ist es, finde ich, wichtig, sich nicht als Bittsteller_in zu begreifen, der oder die unter allen Umständen dankbar sein muss, dass die eigenen Arbeiten publiziert werden.“
Illustration: Anna Diem

KORREKTORAT, LEKTORAT? Das Lektorat ist definitiv ein Aspekt, der Self-Publishing von herkömmlichen Publikationsmethoden unterscheidet. Bei tredition etwa gibt es zwar eine „Qualitätsprüfung“ und AutorInnen haben die Möglichkeit, auf ein „ExpertInnen-Netzwerk“ von LektorInnen, KorrektorInnen, IllustratorInnen und ÜbersetzerInnen zurückzugreifen. Aber schlussendlich liegt es in der Verantwortung der/s AutorIn, das Endprodukt in einer entsprechenden Form abzuliefern. Schulz dazu: „Autoren müssen sich bewusst sein, dass eine professionelle Umsetzung ihres Buchprojektes, also einwandfreie Rechtschreibung und Grammatik, professionelles Cover, aussagekräftiger Rückentext und so weiter die Grundvoraussetzung für jegliche Verkaufschance ist.“

Eva Schörkhuber, die den Prozess der Textproduktion aus verschiedenen Blickwinkeln kennt, ist überzeugt, dass es Texten – literarischen, journalistischen und wissenschaftlichen – gut tut, wenn sie von mehreren Menschen gelesen, diskutiert und begleitet werden. „Ein seriöses, ausführliches Lektorat macht genau das – den Text zu begleiten“, erklärt sie und fügt hinzu: „Lektorieren heißt eben nicht, bei einem fertigen Manuskript den Rotstift anzusetzen, zu streichen und zu korrigieren, sondern sich über den Text auszutauschen, Stärken und Schwächen zu besprechen, und das auf- und ausatmen zu lassen, was in den solitären Schreibstunden produziert wurde.“ Leider führe Zeitmangel dazu, dass auch in klassischen Verlagen inzwischen eher Korrektorate als Lektorate durchgeführt würden. Schörkhuber betont aber, dass ein Lektorat auch in selbstorganisierter Form, also in Lesekreisen oder Leseforen, stattfinden kann.

Wie sieht es mit dem Publikum aus? Kann sich einE Self-PublisherIn sein oder ihr eigenes Publikum „heranzüchten“? Nur bedingt. Schörkhuber warnt vor Allmachtphantasien selbstpublizierender AutorInnen: „Nur weil meine Texte jetzt online sind, heißt das noch lange nicht, dass sie gefunden, wahrgenommen und gelesen werden. Ich werde mich auch als Self-Publisher oder Self-Publisherin auf verschiedene Weisen vernetzen müssen, um sichtbar zu werden, zu sein, zu bleiben.“

Die junge, mehrfach ausgezeichnete Fotografin Mafalda Rakoš berichtet, dass selbst publiziertes Material eher ein spezialisiertes LiebhaberInnen-Publikum anspricht als die breite Masse: „Schon allein durch die Anzahl – meistens bewegt sich ein Fotobuch zwischen 50 und 900 Stück, wenn es selbst gemacht ist. Ein Verlag produziert sicher auflagenstärker.“

Die Comiczeichnerin und Self-Publisherin Anna Heger schätzt den unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum: „Ich habe das Gefühl, dass ich steuern kann, welches Publikum ich erreiche. Natürlich nicht zu 100 Prozent, aber mit Self-Publishing komme ich in Kontakt mit Leuten, die feministisch oder queer sind, oder was auch immer zu mir passt. Das ist ein Publikum, das ich ansonsten so gar nicht gezielt finden könnte.“

Die Kontrolle über den gesamten Prozess der Veröffentlichung zu haben, ist für Anna Heger eine gute Sache. Sie veröffentlicht ihre Comics auf einem Blog, druckt sie selbst aus und faltet sie per Hand zu kondomgroßen Heftchen: „Die Vorteile beim Selberpublizieren liegen darin, dass ich über jeden Schritt Kontrolle habe. Ich kann etwas ausprobieren und sehen, ob und wie es funktioniert. Im direkten Austausch mit Leser_innen merke ich, wie sie ticken und was sie an meinen Comics interessiert.“

KRAMPFIGE VERSCHRÄNKUNG. Mafalda Rakoš kennt auch die Schattenseiten dieser Gestaltungsfreiheit: „Du kannst alles selbst machen, schön und gut – trotzdem: Es ist deine Zeit, dein Geld, dein Risiko. Dass Fotograf_innen ihr Projekt quasi von Anfang bis Ende selbst betreuen und nicht am Ende ‚abgeben’, kann oft zu sehr krampfartigen Verschränkungen mit der Arbeit führen. Der Erfolg danach ist zwar umso toller, aber auch für emotionalen Abstand und Pausen bist du allein verantwortlich. Freund_innen und Eltern müssen herhalten. Das ist Schweiß und harte Arbeit.“

Auch Schörkhuber gibt zu bedenken, dass die Eigenverantwortlichkeit einen Haken haben kann: „Das Gefühl, alle Entscheidungen absolut eigenmächtig treffen zu müssen, kann auch eine Falle sein. Begreife ich mich als absolut ‚frei‘ in all meinen Publikationsentscheidungen, werde ich mich für alles verantwortlich fühlen und auch verantwortlich machen – sowohl für einen Erfolg als auch für ein Scheitern. Ich denke, dieses Pendeln zwischen Allmachtphantasien bei Erfolg und Selbstvorwürfen bei Niederlagen paralysiert.“

Oft muss es aber gar keine Entweder-oder-Entscheidung sein. Konventionelle Publikationswege und neue Möglichkeiten zur Verbreitung von Inhalten können sich auch ergänzen. Gemeinhin würde man annehmen, dass jene AutorInnen auf Self-Publishing zurückgreifen, die bei keinem Verlag unterkommen konnten. Zumindest eine berühmte Ausnahme gibt es aber: Elfriede Jelinek, die es sich seit dem Nobelpreis leisten kann, auf den von ihr als „extrem korrupt“ und „nepotistisch“ kritisierten deutschsprachigen Literaturbetrieb zu verzichten: „Wenn ich im Netz veröffentliche, dann gehört der Text mir, und er bleibt es auch. Gleichzeitig hat jeder darauf Zugriff, der will“, sagte Jelinek in einem Interview mit fiktion.cc.

Ein Problem wird jedoch auch durch noch so niederschwelliges Self-Publishing nicht zu lösen sein, nämlich die Frage, wer denn noch, wie Michael Endes kleine Momo „mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme“, zu lesen und zuzuhören vermag, wenn alle damit beschäftigt sind, selbst zu publizieren.

 

Mascha Dabić hat Translationswissenschaft (Englisch und Russisch) fertig und Politikwissenschaft fast fertig studiert und unterrichtet Russisch-Dolmetschen an den Universitäten Wien und Innsbruck.

 

Lesestoff für den Sommer

  • 02.08.2014, 09:01

Für faule Nachmittage am See, lange Zugfahrten oder als Abwechslung zum faden Ferienjob. progress empfiehlt vier Neuerscheinungen für die heiße Jahreszeit.

Für faule Nachmittage am See, lange Zugfahrten oder als Abwechslung zum faden Ferienjob. progress empfiehlt vier Neuerscheinungen für die heiße Jahreszeit.

Wie sollten wir sein?

„Wir leben in einer Zeit ziemlich großartiger Blowjob-Künstlerinnen. Jede Ära hat ihre Kunstform. Das 19. Jahrhundert, das weiß ich, war super für den Roman.“ Ein bisschen ist Sheila Hetis Roman wie die HBO-Serie „Girls“. Er handelt von schlechtem, ungeschöntem Sex und von Kunst, vor allem aber geht es um die Freundschaft zwischen zwei Frauen. Als „Wie sollten wir sein?“ 2012 in den USA erschien, wurde es zum großen Erfolg. Zu Recht. Der Kanadierin Sheila Heti ist ein Künstlerroman gelungen, der ganz ohne Form auskommt und die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Literarischem auflöst. Eine junge Frau namens Sheila soll seit Jahren ein feministisches Theaterstück fertigschreiben, lässt sich von ihrem Mann scheiden und führt mit ihrer besten Freundin, der Malerin Margaux, zahllose Gespräche darüber, was der Mensch, das Ich, die Kunst sein sollte. „Margaux ergänzt mich auf eine Weise, die spannend ist. Sie malt mich, und ich nehme auf Band auf, was sie sagt. Wir tun beide, was wir können, damit die andere sich berühmt fühlt.“ Die transkribierten Gespräche sind dann auch ein großer Bestandteil von Hetis Roman, der in seiner Stillosigkeit alles sein kann: geschwätzig, banal, klug, berührend und komisch. Antworten gibt er im Übrigen keine. (Sara Schausberger)

Sheila Heti: „Wie sollten wir sein? Ein Roman aus dem Leben“, aus dem Amerikanischen von Thomas Überhoff, Rowohlt Verlag, 2014, 336 S., gebunden 19,95 Euro, als e-book 16,99 Euro.

 

Mit Kindersicherung der Apokalypse entgegen

Jess ist 15, und allein schon die Nennung dieses Alters reicht ja, die Dämonen der späten Kindheit, die erwachenden Begehrlichkeiten des ungeschlachten Körpers, die ganze geballte Unzufriedenheit und fahrige Euphorie zu beschwören. Der Fall von Jess ist aber noch ein bisschen härter; sie ist die Tochter fundamentalistischer Christen, die glauben, dass die Endzeit unmittelbar bevorsteht, weshalb sie mit Jess und ihrer 17-jährigen Schwester Elise einen Roadtrip von Alabama nach Kalifornien unternehmen – mit aktivierter Kindersicherung der Apokalypse entgegen. Elise ist Vegetarierin, unglaublich hübsch und heimlich schwanger, während Jess, die pummelige Ich-Erzählerin, mit ihren Eltern von Fiesta Omelette zu Hamburger, von Schoko-Milchshake zu Bean Burrito zieht. Geschlafen wird in billigen Motels oder im Days Inn, die Familie ist sparsam, obwohl sie das Geld im Jenseits ja nicht mehr braucht. Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist, dass das Szenario nie zum Ausnahmezustand gerät; die Figuren sind alle so himmelschreiend normal und plausibel – die schwitzige Autonähe, die schlecht verheimlichte Arbeitslosigkeit des Vaters. Dieses Buch ist eine großartige Mischung aus klassischem Road Trip, Coming of Age und liebevoll angeekelter Phänomenologie der amerikanischen Gegenwart. (Hannah Lühmann)

Mary Miller, „Süßer König Jesus“, aus dem Amerikanischen von Alissa Walser, Metrolit Verlag, 2. Auflage Berlin 2013, 288 S., gebunden 19,99 Euro, als e-book 14,99 Euro.

Geniale Fingerübung

In der deutschen Feuilletonlandschaft taucht in jüngster Zeit immer dann das Wort „Institutsprosa“ auf, wenn der Rezensent oder die Rezensentin darauf hinaus möchte, dass ein Werk, vorzugsweise ein Debüt, irgendwie „blutleer“ und „erfahrungsarm“ sei und man ihm anmerke, dass der Autoroder die Autorin einem bildungsbürgerlichen Elternhaus entstammt, welches ihm oder ihr das Studium an einem der großen Literaturinstitute ermöglicht habe. Fabian Hischmann, der sowohl am Hildesheimer als auch am Leipziger Literaturinstitut studiert hat, hatte es nach Erscheinen seines Debüts nicht leicht, weil sich die RezensentInnen förmlich auf ihn stürzten und in seinem Roman eine „Fingerübung“ oder gar „infantile Hilfsverb-Prosa“ sahen. Neben diesen rezensorischen Gleichgültigkeits- bis Wutbekundungen steht die Nominierung für den Leipziger Buchpreis. Was ist los mit diesem Buch? Es ist ein solider, am Anfang wirklich und am Ende nur noch sanft verstörender, nun ja, Debütroman. Er erzählt die Geschichte des werdenden Lehrers und Hobbytierfilmers Max Flieger, der während eines Griechenlandurlaubs der Eltern in sein westdeutsches Herkunftsdorf zurückkehrt. Aus einem beunruhigenden Geflecht latent psychotischen Naturerlebens erhebt sich die reale Katastrophe, die den Ich-Erzähler nach Kreta und schließlich nach New York führt. Ziemlich großes Kino eigentlich. (Hannah Lühmann)

Fabian Hischmann, „Am Ende schmeißen wir mit Gold“, Berlin Verlag, 2. Auflage Berlin 2014, 256 S., gebunden 19,60 Euro, als e-book 14,99 Euro.

Der Nazienkel

Es ist die Geschichte von Martin, der jeden Abend das gleiche Ritual vollzieht, den exakt vermessenen Aufstrich in kleinen Portionen auf verschiedene Stellen des Tellers verteilt, der seine Zigarre mit der Laubsäge portioniert, „weil Tabak Laub ist“. Martin ist Anthroposoph, „Kulturmensch“, körperlich behindert, die Nazis wollen ihn sterilisieren lassen. Es ist aber auch die Geschichte von Martins Bruder Friedrich. Friedrich wird Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS. Er glaubt, dass körperliche Eigenschaften natürlicher Ausdruck von „Rasse" und Charakter seien; seine Aufgabe ist es, die Bevölkerung in den Grenzgebieten zu selektieren, zu entscheiden, wer „eingedeutscht“ werden soll und wer nicht. Und es ist die Geschichte von Friedrichs Enkel Per, einem deutschen Historiker, der zu Beginn der Handlung einen etwas plakativen Nazi-Enkel- Trauma-Zusammenbruch erleidet und dann beginnt, in einem Akt biographischer Selbstermächtigung der verästelten Geschichte seiner uralten protestantischen Bildungsbürgerfamilie nachzuspüren. Leos autobiographisches Buch ist besonders, weil es, wenn es das Genre „Aufarbeitungsliteratur von Nazienkeln“ gibt, dieses völlig neu verhandelt. Es ist gleichzeitig Bildungsroman von fast Thomas Mann’schem Geist, historische Forschungsarbeit und existenzielle Grundsatzreflexion. Nicht immer leicht zu lesen, aber unbedingt lesenswert. (Hannah Lühmann)

Per Leo, „Flut und Boden“, Klett-Cotta, zweite Auflage Stuttgart 2014, 350 S., gebunden 21,95 Euro, als e-book 17,99
Euro.

Von der Straße ins Atelier

  • 29.12.2013, 15:47

Street Art ist in Österreich groß. Egal ob auf kahlen Häuserwänden oder in schmucken Galerien, diese Kunstform bietet immer mehr jungen Leuten Raum, um sich selbst zu verwirklichen. Ein Portrait von zwei leidenschaftlichen Künstlern, deren Werke sowohl in Ateliers als auch auf der Straße zu sehen sind.

 

Street Art ist in Österreich groß. Egal ob auf kahlen Häuserwänden oder in schmucken Galerien, diese Kunstform bietet immer mehr jungen Leuten Raum, um sich selbst zu verwirklichen. Ein Portrait von zwei leidenschaftlichen Künstlern, deren Werke sowohl in Ateliers als auch auf der Straße zu sehen sind.

Der Bus 48A donnert nur so vorbei, der großgewachsene Mann mit der roten Maske huscht gerade noch von der Straße auf den Gehsteig. „Perfekt“, sagt er sichtlich erfreut, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Ein großes, mit weißer Kreide gemaltes „K“ prangt nun neben der Straßenmarkierung, im Zusammenspiel mit den Buchstaben „BUS“ ergibt es den Namen des Urhebers: BUSK. Es ist Mittag, Ecke Burggasse/Kirchberggasse und der Street Art-Künstler Paul Busk spricht angeregt über die Faszination des „toten Punktes“ zwischen den Verkehrsfrequenzen: Es bleibt ihm nur etwa eine Minute, sich auf die Straße zu bewegen, galant hinunter zu bücken und mit einer sauberen Linie den Buchstaben zu malen - bevor die Autos wieder Richtung Volkstheater preschen. Der gänzlich in schwarz gekleidete Künstler wirkt routiniert und gleichzeitig verspielt, er hat solche nicht ganz ungefährlichen Verkehrssituationen schon öfter erlebt. Auch die verwunderten Blicke der PassantInnen stören ihn nicht, im Gegenteil: Zwischendurch posiert er freudig für die Kamera, lehnt sich lässig gegen einen Straßenmast und lässt es sich letztlich auch nicht nehmen, auf das Fensterbrett des italienischen Lokals Ragazzi „Busk“ hinzufetzen.

 

BUSK - "Von der Straße ins Atelier" from Progress on Vimeo.

Am Anfang war Graffiti. Öffentliche Verkehrsmittel scheinen den Wiener schon immer auf gute Ideen gebracht zu haben: Vor gut 20 Jahren legt Paul Busk mit der S-Bahn täglich den Schulweg nach Hetzendorf* zurück, dabei bestaunt er zahlreiche bunte Graffiti-Bilder. Schließlich beginnt er mit einem Schulfreund selbst zu sprayen. „Mich hat an Graffiti interessiert, einen Raum zu finden, wo ich mich aktiv bewegen kann“, erzählt Paul Busk - diesmal in einem großflächigen Atelier, mit einer langgezogenen Bar und schillernden Bildern an der Wand. Im Hintergrund laufen sanfte, jazzige Beats. Er sitzt nach vorne gebeugt, die Hände zwischen den Beinen zusammengefaltet und wirkt etwas zurückhaltend, seine Antworten wählt er mit Bedacht. „Damals hat es den Begriff ‚Street Art‘ in Österreich nicht gegeben, dieser wurde erst in den letzten fünfzehn Jahren geläufig“, erklärt er. Heute zählt Paul Busk zu den bekanntesten Street Art-KünstlerInnen des Landes. Wer mit wachem Blick durch die Straßen Wiens streift, entdeckt an unzähligen Häuserwänden sein bekanntestes Motiv: den breit grinsenden Affenkopf mit den abstehenden Ohren. Doch auch das Innere der Grellen Forelle, den Stiegenlauf auf der Donauinsel oder das Ovaldach der U-Bahn Station Hietzing durfte Paul Busk bereits mit seinen ausgefallenen Schriftzügen und Malereien schmücken – letzteres gemeinsam mit dem KünstlerInnenkollektiv DEEP INC. Dabei verwendet er was ihm gerade so in die Finger kommt: vom klassischen Marker und der Sprühdose bis hin zu Stickern und gefaltetem Papier.

Die Stadt als Spielplatz. Ein besonderes Projekt war jenes im zweiten Bezirk, direkt beim Ausgang der U-Bahn Station Praterstern, wo ein schmaler Durchgang – untypisch für Wien – keinen Straßennamen aufwies. Grund genug für Paul Busk sein eigenes Straßenschild anzufertigen, dort aufzuhängen und die Gasse prompt „Busk-Cmod-Gasse“ zu nennen. Er versucht die damit angesprochene „Raumfrage“ weiter zu skizzieren: „Es interessiert mich besonders, einen Zugang zu einem Raum zu finden und eine Einheit mit ihm zu bilden.“ sagt er merklich angetan, nun redefreudiger als zu Beginn des Gespräches. Überhaupt dient die weitläufige Hauptstadt dem Urban Art-Künstler nicht selten als Inspirationsquelle, so nimmt er bewusst Umwege mit dem Fahrrad, wenn er auf Ebay oder Willhaben.at erstandene Artikel abholt: „Ich nutze diese Onlinebörsen, um neue Stadtteile und Wohnsiedlungen zu erkunden. So lerne ich die Stadt immer neu kennen und kann über meinen Tellerrand schauen.“

 

Genau im Blick haben muss Paul Busk auch immer wieder die vorbeirollenden Autos, während er das dritte und letzte „K“ auf den Straßenboden der Burggasse setzt – diesmal mit zwei Kreiden gleichzeitig. Die wuchtigen Autoreifen lassen den Schriftzug allmählich verblassen, Kreidepartikel wirbeln in der Luft.

Paul Busk lässt ein lautes, freudiges Lachen von sich und hüpft auf den Gehsteig. Seine schwarzen Handschuhe sind mittlerweile abgewetzt vom Asphalt, die Kreide bis auf Daumengröße abgenutzt. Für ihn sei das Ganze eine „Spaßaktion“ gewesen, wiewohl er auf deren kleine Details hinweist: die verwendete Kinderkreide oder „wie die Farbpartikel in die Stadt getragen“ werden. Nur ein paar 100 Meter weiter stadtauswärts hat ein anderer Straßenkünstler eines seiner großflächigen Tags hinterlassen, die er mittlerweile über ganz Wien verstreut: Der Schriftzug „Puber“ breitet sich in roter Farbe über die Wand einer Apotheke aus. Städte wie Zürich oder Amsterdam können davon bereits ein Lied singen: Der Sprüher hat es sich einzig zum Ziel gesetzt, sich auf so vielen Wänden wie möglich zu verewigen. Dabei schreckt er auch nicht davor zurück, Werke anderer KünstlerInnen zu übermalen. „Ich kenne Puber zwar nicht persönlich, aber aus Graffiti-technischer Sicht ist es interessant. Auch wenn dieser trashige Look aus den 80ies nichts Neues für mich ist, denn ich habe Graffiti so kennengelernt“, sagt Paul Busk, ohne näher auf Pubers – etwaige - Kunst eingehen zu wollen.

Street Art meets Politics. Für so viel Wirbel wie der mysteriöse Mister Puber hat Paul Busk wohl noch nicht gesorgt, trotzdem gebe es hie und da auch hitzige Diskussionen mit PassantInnen. Erst vor ein paar Wochen habe sich ein älterer Herr durch das Sprühen bei einer U-Bahn Station gestört gefühlt: „Der hat uns angeschrien und gleich die Polizei gerufen, obwohl alles genehmigt war. Das muss man einfach ausblenden, aber zu polarisieren ist auch gut“, meint der Künstler abgeklärt. Allein die Herangehensweise bei Street Art-Graffiti sei bereits ein politischer Akt: „Es ist ähnlich wie die Entscheidung, ob ich bei Rot über die Straße gehe oder nicht. Letztlich muss das jeder im Moment für sich entscheiden, unabhängig von den gesetzlichen Regelungen. Dieser autonome Zugang hat mich immer fasziniert.“ Wenn Paul Busk mit angenehmer Stimme über seine bisherigen Arbeiten spricht, versteift er sich nicht krampfhaft auf einen Kunstbegriff. So besteht für ihn etwa kein Unterschied zwischen Graffiti und Street Art, wiewohl er durch seine „Zwischenform“ mehr Leute erreichen könne, als „wenn er nur seinen Schriftzug malt.“ Auch hat er keinerlei Probleme mit kommerzieller Auftragsarbeit: „Wenn diese gut gemacht ist, kann dabei auch mehr Volumen entstehen: Es bringt Sponsoren, interessiert die Leute und ein breites Netzwerk entwickelt sich. Ich finde, das spießt sich nicht mit der Street Art-Philosophie. Ich stelle auch gerne in Ausstellungsräumen aus, denn die Auseinandersetzung ist dort eine gänzlich andere als autonom auf der Straße.“ Trotzdem habe es Street Art hierzulande nach wie vor schwer: Einerseits sei die eng gewachsene Stadtmorphologie und das in der Gesellschaft tief verwurzelte Obrigkeitsgefühl ein Problem, andererseits greife die Wiener Stadtverwaltung äußerst rasch zu Reinigungsmaßnahmen. Wirklich große Kopfschmerzen scheint das Paul Busk aber nicht zu bereiten. Vielmehr träumt er bereits davon, wie Street Art in 50 Jahren aussehen könnte: „Ich glaube, dass Street Art-Graffiti Einzug halten wird in die Kunst des 21. Jahrhunderts, sei es in Museen oder in Publikationen der Kunstgeschichte.“ Street Art ist Busks Leidenschaft. So richtig abschalten von der Kunst kann der Kreative sowieso nicht, selbst im Urlaub habe er früher die Wände vollgesprüht. Auf die Frage, wo es denn die schönsten Wände gäbe, antwortet er grinsend: „Dort, wo ich auf Urlaub war.“

2005 gründete Lucia Friedrich zusammen mit Nychos die Street Art-Crew Rabbit Eye Movement.

Rabbits in der Galerie. Nicht nur Paul Busk hat seine vielfältigen Arbeiten bereits in Ausstellungsräumen präsentiert. Immer mehr Street Art-KünstlerInnen finden den Weg in die österreichischen Galerien. Dennoch gibt es Stimmen in der Szene, die bereits die Auseinandersetzung in einem Atelier kritisch beäugen. Lucia Friedrich ist eine Streetart-Künstlerin, deren Zugang zur Kunst. sich deutlich von jenem von Paul Busk unterscheidet. Während sie mit einem dünnen Pinsel Farbstriche auf eine Leinwand aufträgt, überlegt die junge Künstlerin. Sie ist darauf bedacht, was sie sagt und wie sie es formuliert. Ihre Visionen und Konzepte sind klar definiert: “Ich denke, dass jeder Mensch eine Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft trägt. Kunst ist ein mächtiges Mittel, um dieser Verantwortung gerecht zu werden. 'Art is a weapon' oder vielleicht auch nur ein intimes Ventil, zu dem paradoxerweise jeder Zugang haben kann.“ Ihren eigenen Zugang zur Kunst fand die in Frankreich geborene Künstlerin bereits sehr früh. Mittlerweile lebt sie seit fünf Jahren in Wien, wo sie eine Ausbildung an der Graphischen abschloss. Trotz ihrer jungen Jahre liest sich ihre Referenzliste wie die eines alten Hasen: Unter anderem für RedBull Media, Paar-Laden und Stillwerk bis hin zu Yves Sait Laurent hat sie bereits Auftragsarbeiten gemacht. “Solange ich mich auf eine Art und Weise mit den Vorgaben identifizieren kann, finde ich Auftragsarbeiten cool. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich nicht Kompromisse eingehe, doch wenn ich das Gefühl habe, dass ich mich mit meinem Handwerk prostituieren müsste, würde ich schreiend davonlaufen“, meint die Street Art-Künstlerin mit scharfem Blick, ihre blonden Haare nach oben zusammengebunden.

I met Lucy. Neben ihren eigenen Projekten ist die Kreative auch in Gemeinschaftsprojekte involviert. Zusammen mit dem Urban Street Art-Artist Nychos hat sie 2005 die bekannte Wiener Street Art-Crew Rabbit Eye Movement gegründet deren Art Director sie auch ist. Der steirische Künstler Nychos machte sich mit seinen “Rabbits” und seinen anatomischen Arbeiten schnell einen Namen in und außerhalb der Szene. Für Lucia Friedrich spielt der eigene Name bei ihrem Projekt “I met Lucy” (IML) keine Rolle: “Das Werk hinter der Unterschrift spiegelt die eigene Authentizität wider. Der Name ‚I met Lucy‘ unterstreicht nur die Interaktion zwischen dem fremden Betrachter und meiner Arbeit.” In dem Crew-eigenen Artspace in der Gumpendorfer Straße stellt Friedrich regelmäßig ihre neuen Werke vor. Der politische Charakter mancher ihrer Bilder ist nicht zu übersehen: “Kunst ist der Spiegel der Gesellschaft. Jede Zeit bekommt die Kunst, die sie verdient. Für mich spielt das Gesellschaftskritische oder Gesellschaftspolitische eine wichtige Rolle. Meine ‚Vandals‘-Serie ist das Ergebnis davon. Sie bezieht sich auf die Kettenreaktionen der Aufstände des Arabischen Frühlings. Ich setze die Vandals vor widersprüchliche, teilweise aus dem Kontext fallende, Hintergründe und Kulissen. Die Kernaussage bleibt aber quasi immer gleich”, erzählt sie. Lucia Friedrich findet man jedoch auch außerhalb der Galerie: “Ein wichtiges Element von Street Art ist die Fähigkeit mit dem öffentlichen Raum und mit dem Blick des Betrachters zu spielen. Das funktioniert nicht zwangsläufig nur in einem Ausstellungsraum.”

*Ortsname von der Redaktion geändert

 

Autoren: Lukas Klingan studiert Publizistik in Wien, Niklas Hintermayer studiert Rechtswissenschaften in Wien.

Foto: Alexander Gotter studiert Sozioökonomie in Wien.

Arbeitsverweigerung als politisches Kapital

  • 15.05.2015, 21:23

Mit ihrer Single „Turn“ haben es Chili and the Whalekillers letztes Jahr auf Platz drei der isländischen Charts geschafft. Jetzt erhofft sich die isländisch-österreichische Band Wettbewerbsvorteile in Japan und Norwegen. Mit progress sprachen sie über ihr neues Album, Humor und Arbeitsverweigerung.

Mit ihrer Single „Turn“ haben es Chili and the Whalekillers letztes Jahr auf Platz drei der isländischen Charts geschafft. Jetzt erhofft sich die isländisch-österreichische Band Wettbewerbsvorteile in Japan und Norwegen. Mit progress sprachen sie über ihr neues Album, Humor und Arbeitsverweigerung.

progress: Ihr habt Alben über Weihnachten, den Zirkus und die Finanzkrise gemacht. Ist euer neues Album „a dot in the sky“ auch ein Konzeptalbum?

Chili Tomasson: Bei dem Projekt gibt es kein übergeordnetes Thema. Wir haben kurz überlegt, ob wir dem Ganzen für uns selber ein Thema geben sollen und haben über einen Piloten mit Superman-Umhang nachgedacht, der in einer alten Maschine über Erdbeerfelder fliegt. Aber im Prinzip haben sich einfach Songs angesammelt und wir haben sie zusammengestellt. Das Album deckt musikalisch sehr viele Bandbreiten ab. Wir haben zum Beispiel Akkordwechsel benutzt, die man eigentlich nicht verwenden darf, die aber trotzdem funktionieren – wie zum Beispiel bei „Industry“.

Michael Szedenik: Wir haben versucht, nicht immer nur mit Klischees zu arbeiten. Es ist toll, wenn etwas eine catchy Melodie hat und bei genauem Hinhören auch eine tolle Struktur aufweist. Das macht gute Popmusik aus, wenn sie inhaltlich und musikalisch anspruchsvoll ist und trotzdem greifbar bleibt.

Foto: Alexander Gotter

In euren Liedern verbindet ihr oft ernste Themen mit tragisch-komischen Erzählungen. Welche Rolle spielen Humor und Ironie in euren Texten?

Michael: Wenn man einfach nur kritische Songs schreibt, wirkt es oft wie ein Schuldzuweisen – so auf die Art: „Das ist falsch, das ist falsch und sowieso ist alles scheiße“. Gewisse Zustände muss man einfach mit Humor nehmen. Dann wird es als Musiker lustiger und ich glaube, die Leute merken es sich auch besser. Ich schaue mir zum Beispiel sehr gerne politisches Kabarett an.

Chili: Hagen Rether und so.

Michael: Genau. Das Programm bei manchen Kabarettisten ist sehr informativ und bleibt gut im Kopf.

Chili: Ich denke Humor ist auch insofern wichtig, weil man es sonst selbst irgendwann nicht mehr packt. Wenn man einen Song im Studio probt und ihn hunderttausendmal hört, ist es besser, sich damit nicht in eine Depression zu stürzen, sondern Spaß dabei zu haben. Aber es ist ein schwieriger Grat und Humor funktioniert für mich persönlich ab einem gewissen Punkt auch nicht mehr, wenn das Thema zu ernst wird.

Was wäre denn ein zu ernstes Thema?

Chili: Ich finde es schwierig, aus einer Außenposition über Dinge zu schreiben. Ich stehe momentan nicht in Griechenland und ich ertrinke nicht im Mittelmeer. Ich würde mir zum Beispiel über die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer keinen Humor anmaßen, da finde ich ihn fehl am Platz.

In eurem Song „Industry“ lautet eine Zeile „refusing to work is capital“. Was sind die Hintergründe zu dem Lied?

Chili: Ich bin auf das Thema Arbeitsverweigerung gestoßen und habe mir lange sehr schwer getan damit, weil ich – das ist jetzt sehr persönlich – von einer kommunistischen Seite her gekommen bin und da geht das nicht, Arbeitsverweigerung. Dann habe ich langsam begonnen, anarchistische Theorien zu verstehen, und zwar so richtig zu verstehen – im Bauch zu spüren, worum es geht. Ich habe dann nach Wörtern gesucht, um dieses Riesenthema in kompakte Lyrik zu fassen. Das Lied versucht, Arbeitsverweigerung als politisches Kapital zu behandeln. Im Prinzip ist es kläglich gescheitert, weil das Thema viel größer ist als das, aber es war kein schlechter Versuch.

Michael: Ich weiß nicht, ob man es so sehen kann. Es bleibt so oder so ein Popsong.

Chili: Das Lied selbst beginnt mit einer Szene in einer leeren Nähfabrik. Alle Menschen, die dort gearbeitet haben, haben die Fabrik verlassen, weil sie Besseres zu tun haben. Das Wichtige ist der Refrain, der musikalisch das behandelt, wo die Menschen sind, wenn sie nicht mehr arbeiten – und das ist unter Umständen ein ganz guter Ort. Die Strophen des Liedes führen immer wieder dorthin, an einen Ort, den ich mir gar nicht anmaße zu beschreiben, weil er für alle anders ist.

Foto: Alexander Gotter

Betrachtet ihr das Musikmachen als eure Arbeit?

Beide: Ja klar.

Spielt Arbeitsverweigerung für euch persönlich eine Rolle?

Michael: Wir mussten das zum Glück noch nie machen.

Chili: Auch deswegen, weil es eine Arbeit ist, die wir irrsinnig gern machen, und uns niemand dazu gezwungen hat, das so zu machen.

Michael: Weil wir selbst bestimmen und unsere Marke selbst vertreten.

Chili: Genau, wir haben das Kapital, zumindest in Gerätschaften. Wir haben zwar kein Geld, aber die Produktionsmittel sind da.

 

Flora Schausberger studiert Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.

www.chiliandthewhalekillers.com

 

 

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