Kapitalismus

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  • 13.07.2012, 18:18

Der neoliberale Ökonom Pascal Salin war Präsident der so mächtigen wie klandestinen Mont Pelerin Society und spricht normalerweise nicht mit Medien. Das PROGRESS hat die Gelegenheit erhalten, eine der seltenen Ausnahmen abzudrucken. Salin spricht Tacheles. Das Gespräch mit ihm wird ergänzt durch Dieter Plehwe, der sich am Wissenschaftszentrum Berlin mit der Mont Pelerin Society beschäftigt.

Der neoliberale Ökonom Pascal Salin war Präsident der so mächtigen wie klandestinen Mont Pelerin Society und spricht normalerweise nicht mit Medien. Das PROGRESS hat die Gelegenheit erhalten, eine der seltenen Ausnahmen abzudrucken. Salin spricht Tacheles. Das Gespräch mit ihm wird ergänzt durch Dieter Plehwe, der sich am Wissenschaftszentrum Berlin mit der Mont Pelerin Society beschäftigt.

Zur Vorgeschichte: Im November erschien in der Financial Times Deutschland ein viel beachteter Artikel. Das Ende unseres Währungssystems stehe bevor, der Währungskrieg sei bereits ausgebrochen, insinuierte der Text mit dem Titel „Die Geldrevolutionäre“. Für die Zeit nach dem Währungs-Supergau wird die Einführung des „freien Marktgeldes“ als Alternative präsentiert. Somit stehe es allen Menschen frei, ihr Geld selbst zu wählen, jederzeit Banken zu gründen und neue Währungen zu schaffen. Solche Meinungen werden nicht etwa von unbedeutenden Spinnern vertreten, sondern von Chefökonomen in Frankfurts Bankenfestungen. Die Ideen sind nicht neu, sie fußen auf der „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“. Ein kleines, elitäres Netzwerk hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie weltweit zu verbreiten: Die Mont Pelerin Society (MPS), laut Sunday Times die einflussreichste Denkfabrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1947 wurde die „Denkerfamilie“, wie sich ihre Mitglieder nennen, vom Österreicher August von Hayek auf den Anhöhen um den Genfersee gegründet. Nach den staatlichen Interventionen während der Wirtschaftskrise schien die Lehre der MPS vollkommen diskreditiert, doch nun gewinnt sie wieder an Gewicht. Geht es doch jetzt um nichts weniger als um die Deutung der größten Finanzkrise der vergangenen Dekaden.

Herr Salin, glauben Sie, dass die Ökonomie eine wirkliche Wissenschaft ist?'

Ja. Es gibt zwei Denkschulen: Die eine sind die Keynesianer. Sie gehen von unrealistischen Annahmen aus. Die andere ist die Österreichische Schule der Nationalökonomie, die auf die Österreicher Karl Menger, Ludwig Mises und Friedrich Hayek zurückgeht. Ich fühle mich dieser zweiten Schule zugehörig. Wir gehen von realistischen Annahmen aus und sehen den Menschen als rational handelndes Individuum.

Herr Plehwe, Pascal Salin unterteilt die Ökonomen in zwei Denkschulen, was sagen Sie dazu?
Es wurde immer versucht, die Ökonomie in die Nähe der harten Naturwissenschaften zu rücken, auch die Schaffung des quasi Nobelpreises für Ökonomie* der Schwedischen Reichsbank ist ein Schritt in diese Richtung. Wird die Ökonomie in nur zwei Denkrichtungen unterteilt, werden damit alle anderen wirtschaftspolitischen Sichtweisen ignoriert. Denken Sie etwa nur an die Marxisten oder die Institutionalisten.

Herr Salin, interpretieren Sie denn die Krise als Markt- oder als Staatsversagen?

Viele Leute behaupten, die Krise sei ein Beweis dafür, dass der Markt schlecht funktioniere und der Kapitalismus einen instabilen Charakter habe. Deshalb soll der Staat intervenieren. Ich sage das Gegenteil: Alle Ursachen der Krise resultieren immer aus staatlichen Interventionsversuchen. Märkte können nur ins Gleichgewicht kommen, wenn sich Staaten und Politiker raushalten. Dennoch wurde überall in die Wirtschaft eingegriffen. Das widerspricht sämtlichen Prinzipien der Österreichischen Schule. Alle Staaten haben Geld aufgenommen. Das ist der große Fehler der Keynesianer. Sie denken, der Staat muss in Zeiten der Krise die Wirtschaft ankurbeln. Damit provozieren wir doch nur die nächste Krise!

Herr Plehwe, Pascal Salin sagt, dass durch die Interventionspolitik der Staaten mehr Inflation entstehe und somit die nächste Krise bereits vor der Tür steht. Was sagen Sie dazu?

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie sagt: Der Staat kann nur zum Preis einer anderen Krise einen Transfer von fiktivem Geld machen. Deswegen argumentieren sie, dass man dann im konkreten Fall die irische oder die griechische Wirtschaft einfach zusammenbrechen lassen muss. Geldwertstabilität ist das höchste Primat der Österreichischen Schule. Jede Politik produziert Gewinner und Verlierer. Es gibt keine neutrale Politik. Die Geldwertstabilität nützt natürlich den Vermögensbesitzern. Die Logik der Österreichischen Geldtheorie ist somit eine Logik der Vermögensbesitzer. Zentralbanken sind politische Instrumente, die Einfluss auf die Geldwertstabilität haben. Deswegen spricht sich Salin genauso wie Hayek für die Abschaffung der Zentralbanken aus. Hayek hat zwei große Ideen propagiert: Eine beschränkte Demokratie à la Ständestaat und die Privatisierung der Zentralbanken.

Herr Salin, Sie haben viel über „Freie Banken“ geschrieben, ein Ideal von Banken fernab von staatlicher Regulation. Sind Sie immer noch Verfechter dieses Ideals?

Unsere Epoche ist von der Illusion geprägt, Geld produzieren zu können. Es ist nicht notwendig, ja es ist sogar gefährlich, mehr Geld zu schaffen. Banken sollten doch nur als Intermediäre im Wachstum der Wirtschaft existieren. Das Übel liegt nicht in den Aktienmärkten, sondern den Zentralbanken. Nur sie haben die Funktion, Geld zu schaffen. Wir leben in einer total unverantwortlichen Finanzwelt und zwar nicht weil die Banker und Manager unverantwortlich sind, sonder weil ihnen die Staaten dieses Verhalten suggerieren.

Sollte Geld wieder durch einen realen Wert gedeckt sein, wie früher zu Zeiten des Goldstandards?

Mit monetären Problemen wie diesen haben sich die Mitglieder der MPS sehr oft auseinandergesetzt. Dabei gab es immer einen gemeinsamen Nenner: wir sind gegen Inflation und gegen unlimitierte Macht der Zentralbanken. So war Milton Friedmann nicht prinzipiell gegen Zentralbanken, aber er wollte ihre Macht deutlich einschränken. Ökonomen um Hayek waren von der Idee freier Banken überzeugt und wollten die Zentralbanken abschaffen. Andere wünschen sich den Goldstandard zurück.

Herr Plehwe, Pascal Salin schlägt als Alternative zu Zentralbanken, „Freie Banken mit echten Kapitalisten“ vor. Ein wichtiger Bankier ging in einem Artikel in der Financial Times Deutschland sogar so weit, völlig beliebige Währungen zu propagieren: Gold, Silber, Kupfer und vielleicht ein paar Muscheln könnten unser Papiergeldsystem ersetzen?

Das sind Gedankenspielereien, mit denen sich Teile des neoliberalen Lagers beschäftigen. Die Angst der Vermögensbesitzer ist immer die gleiche: Ihr Vermögen nicht ausreichend sichern zu können. Das ist natürlich eine sehr beschränkte und naive Sicht.

Eine Art Dagobert Duck-Perspektive?

Genau, die wirtschaftspolitische Vorstellung der MPS ist eine Art Konflikt zwischen Dagobert Duck und den Panzerknackern.

Herr Salin, nun zu Europa: Wäre Griechenland pleite gegangen, wenn die europäischen Staaten nicht reagiert hätten?

Ein Staat kann nicht Pleite gehen. Auch hier wäre es wichtig zu sagen, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Aber es gibt eine Art Komplizenschaft unter den europäischen Regierenden. Die europäischen Länder haben beschlossen, die Verrücktheit von Staaten und Regierenden nicht durch Märkte kontrollieren zu lassen. Deshalb haben sie Griechenland aufgefangen, mit Geld, das jetzt in Ländern wie Deutschland, Frankreich und England für Investitionen fehlt. Das finde ich skandalös!

Aber Europa hängt doch monetär eng zusammen.

Ja, aber auch als es noch Nationalwährungen gegeben hat, wurde eine Art Plünderung betrieben. Zuerst wurden Budgetdefizite gemacht, dann wurde Geld geschaffen, um die Defizite abzudecken, danach hatten die Staaten Schwierigkeiten, die Schulden zurückzuzahlen. Deswegen werde Währung abgewertet. Das ist eine Beraubung an allen Individuen, die Geld besitzen. Ihr Geld verliert an Wert!

Ein paar Fragen zur MPS. Sie waren während der neunziger Jahre Präsident dieser Vereinigung. Die Sunday Times hat einen Artikel veröffentlicht, in dem sie die MPS als den einflussreichsten Think Tank der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt. Das ist doch sehr erstaunlich, weil man kaum etwas davon hört.

Von uns werden Sie nirgends auf der Welt ein Büro oder eine Adresse finden. Sie können sich die MPS wie eine Denkerfamilie vorstellen. Hayek wollte ein Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikern gründen. Unter uns finden sich viele Direktoren von Think Tanks, auch sieben Nobelpreisträger zählen zu unserem Kreis. Wir sind das Herz des weltweiten Liberalismus.

Kennen Sie Assar Lindbeck**?

Ja, Assar Lindbeck ist ein guter Freund von mir.

Herr Plehwe, gibt es denn einen Zusammenhang zwischen den vielen Nobelpreisträgern der MPS und der eventuellen Ausrichtung dieses Wissenschaftspreises?

Inzwischen gibt es mit Vernon L. Smith acht Nobelpreisträger aus den Reihen der MPS. Die Ausrichtung des Preises und seine sehr starke Orientierung hin zu US-amerikanischen Preisträgern ist im Endeffekt ein wissenschaftspolitisches Instrument. Man kann dieses Nobelpreiskomitee nicht als neutrale Bewertungseinrichtung wissenschaftlicher Forschung sehen. Das Faszinierende am Nobelpreis der Ökonomie ist, dass sehr triviale Erkenntnisse mit einem Nobelpreis ausgezeichnet werden.

Herr Salin, wie viele Mitglieder hat die MPS eigentlich?

Wir haben 500 Mitglieder. Weltweit gibt es hunderte liberale Think Tanks, die von MPS-Mitgliedern gegründet wurden. Sie müssen verstehen, dass dies kein sichtbarer Einfluss ist. Diskretion ist uns sehr wichtig. Deshalb publizieren die Mitglieder der Gesellschaft niemals im Namen der Gesellschaft. Wir sind nur unseren Ideen treu, bezeichnen uns aber als unpolitisch. Unsere Epoche ist sehr politisch, aber wir trauen den Politikern nicht. Von Medien halten wir uns strikt fern.

Es gibt also hunderte Think Tanks, die entweder von Mitgliedern der MPS oder von Personen, die ihr nahestehen, gegründet wurden.

Ja, sicher. Ich denke dabei an das Institute of Economic Affairs in London. Dessen Gründer hat Hayek gefragt, wie er den Zustand seines Landes durch ein politisches Institut verbessern könne. Hayek hat ihm geraten, im Bereich der Konzepte und Ideen zu arbeiten, um politisches Terrain zu gewinnen. Dieses Institut hat die Politik von Margaret Thatcher maßgeblich beeinflusst.

Der amtierende MPS-Präsident Deepak Lal hat letztes Jahr in New York Keynesianer zu einem Treffen geladen. Intern soll das Treffen für Unstimmigkeiten gesorgt haben, waren Sie dabei?

Keynesianer? Sind Sie sich sicher, dass Sie von einem Treffen der MPS sprechen? Ach ja, ich erinnere mich, ich war auch in New York und wollte teilnehmen. Unglücklicherweise ist meine Mutter gerade am Tag davor verstorben.

Herr Plehwe, wie kann es dazu kommen, dass Keynesianer zu einem MPS-Treffen geladen werden?

Der aktuelle Präsident Deepak Lal wollte, ähnlich wie Hayek seinerzeit, in der großen Krise als Gemäßigter auftreten. MPS-intern gab es eine Auseinandersetzung zwischen gemäßigten Neoliberalen und Betonköpfen. Lal wurde auf dieser Konferenz von seinen Reihen als Keynesianer beschimpft, weil er bereit ist, an manchen Stellen intellektuell Zusammenhänge zu sehen, die viele seiner Leute nicht wahrhaben wollen. Ich denke, nach dem doppelten Scheitern der Hauptlehren der jüngsten Kapitalismusgeschichte – des Neoliberalismus und des Keynesianismus – gibt es einen dringenden Bedarf, die Karten offen auf den Tisch zu legen und neu zu mischen. Ich würde mir wünschen, dass Intellektuelle verschiedener Lager offener diskutieren würden.

Herr Salin, noch bevor die MPS gegründet wurde, gab es 1938 in Paris ein Kolloquium zu Ehren des Ökonomen Walter Lippmann. Fast alle der damals anwesenden Ökonomen waren auch 1947 bei der Gründung der MPS dabei. Stimmt es, dass von den Anwesenden des Kolloquiums der Terminus „Neoliberalismus“ geprägt wurde?

Über das Kolloquium reden wir viel, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob wir damals schon von Neoliberalismus gesprochen haben. Vielleicht schon, weil der Liberalismus durch die Krise von 1929 attackiert wurde. Auch diese Krise wurde schlecht interpretiert. Die dominierende Interpretation war, dass es sich um eine Krise des Kapitalismus handelt.

Herr Plehwe, hat die MPS den Begriff Neoliberalismus geschaffen?

Der Begriff wurde während des Kolloquiums zu Lippmanns Ehren, dem Vorläufer der MPS, geprägt. Dort wurde der Neoliberalismus zum ersten Mal in Abgrenzung zum traditionellen Liberalismus definiert.

Sehen sie die MPS wie Salin als „Herz des weltweiten Liberalismus“?

Dem würde ich zustimmen und hinzufügen, dass sie vor allem das Herz des weltweiten Neoliberalismus sind.

Warum betont Salin, dass sich die MPS stets im Hintergrund hält und dass ihnen Diskretion sehr wichtig ist?

Wissenschaftler der MPS wie Salin werden als Wissenschaftler gewissermaßen entwertet, wenn ihre Leistung in der Öffentlichkeit nicht als individuelle, sondern nur als Kollektivleistung eines Kampfverbandes für Intellektuelle und Think Tanks diskutiert wird.

Pascal Salin sagt, die MPS sei unpolitisch. Was sagen Sie dazu?

Die moderne westliche Demokratie geht seit US-Präsident Theodor Roosevelt davon aus, dass sich öffentliche Interessen am besten auf expertenbasierte, neutrale wissenschaftliche Beratung stützen sollen. Geht es nach dieser Theorie, leidet die Qualität der Politik, wenn Partikular-Interessen und Ideologien in die Politik kommen. Wenn sich nun ein großer Kreis von Neoliberalen zusammenschließt, um Wirtschafts-, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zu machen, und sich dann hinstellt und erklärt: Wir machen doch keine Politik. Also das spricht wirklich für sich.

Herr Salin, können Sie mir ein paar Namen von MPS-Mitgliedern in Österreich nennen?

Mir fallen die Namen gerade nicht ein.

Herr Plehwe, fallen Ihnen ein paar österreichische Mitglieder der MPS ein?

Da gibt es eine Menge: Erich Streissler vom Institut für Volkswirtschaft an der Universität Wien, die Generalsekretärin des Hayek-Instituts, Barbara Kolm-Lamprechter, Christoph Kraus von der Constantia Privatbank, Wilhelm Taucher und Heinrich Treichl vom International Institute of Austrian Economics, Albert H. Zlabinger, der Präsident des Carl Menger Instituts. Sie alle sind als Mitglieder der MPS bekannt.

* Der Wirtschaftnobelpreis wurde nicht von Alfred Nobel gestiftet, sondern wird erst seit dem Jahr 1969 von der schwedischen Reichsbank vergeben.

** Lindbeck ist ein schwedischer Wirtschaftswissenschaftler und war von 1980 bis 1994 Vorsitzender des Entscheidungskomitees zur Vergabe des Preises für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank.

Gutes Leben statt Wachstumswahn

  • 13.07.2012, 18:18

Von der Wachstumskritik zur solidarischen postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Von der Wachstumskritik zur solidarischen postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Die Weltwirtschaftskrise verläuft wie ein Schwelbrand, flackert erst hier und dann dort auf. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das ist kein Wunder, denn Krisen gehören zur Normalität der kapitalistischen Ökonomie, wie ein Blick in die Geschichtsbücher schnell verrät. Und bis sich eine Krise vom Kaliber der Großen Depression der 1930er Jahre voll entfaltet hat, dauert es seine Zeit. Schließlich liegt der Kollaps der Lehmann Bank erst zwei Jahre zurück. Gleichzeitig wirft die Doppelkrise des fossilistischen Weltenergiesystems ihre verheerenden Schatten voraus. Die Fluten im Sommer dieses Jahres in Pakistan demonstrierten dramatisch die Folgen der Klimaerwärmung. Und Ressourcenkriege wie im Irak oder die Straßenproteste in Mosambique gegen hohe Lebensmittel- und Energiepreise Anfang September deuten an, wie sich Energie- und Rohstoffverknappung und das baldige Erreichen des Fördermaximums von Öl (Peak Oil) auswirken könnten.

Angesichts der Desaster, die das derzeitige Akkumulationsmodell (accumulare, lat.: anhäufen) des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mit sich bringt, hat gegenwärtig eine Renaissance des Nachdenkens über andere ökonomische Systeme, über Leben und Wirtschaften ohne Wachstum, begonnen. Trotz der multiplen Krise sitzen allerdings die neoliberalen PropagandistInnen von „rationalen“ und „effizienten“ (Finanz-) Märkten weiterhin fest im Sattel. Lernkurve = sehr flach. Dementsprechend ist „mehr Wachstum“ die Parole aller Regierungen, um aus der Krise herauszukommen und insbesondere die Banken zu retten. Und welche Relevanz eine tatsächliche Bearbeitung der Klimakrise für die meisten Regierungen hat, ist an dem Kollaps der Klimaverhandlungen im vergangenen Dezember in Kopenhagen abzulesen: Keine Große. Dass ein auf Wachstum basiertes Wirtschaftssystem an ökologische Grenzen stoßen wird, ist allerdings spätestens seit Anfang der 1970er Jahre ein Allgemeinplatz. „Jeder, der glaubt, dass exponentielles Wachstum auf eine begrenzten Planeten unendlich weitergehen kann, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom“, sagte in diesem Kontext Kenneth Boulding (1910–1993), selbst Mitglied der Ökonomenzunft und ehemals Präsident der einflussreichen American Economic Association.
Trotzdem greifen viele als Alternativmodell zum Casino-Kapitalismus auf die bis Ende der 1970er Jahre vorherrschenden so genannten keynesianischen Politikrezepte zurück. Der britische Ökonom John M. Keynes hatte in den 1930er Jahren eine ökonomische Entwicklungsweise skizziert, die auf hohen Löhnen, stabilen sozialen Sicherungsystemen und massiven öffentlichen Investitionen beruhte, um so die Basis für eine breite Massennachfrage zu schaffen. Ganz im Gegensatz also zum neoliberalen Modell, welches Niedrigstlöhne, Prekarisierung und mit Hilfe von Steuersenkungen für die Reichen nur ausgetrocknete öffentliche Haushalte im Angebot hat. Unbestritten boten keynesianische Strategien für viele Bevölkerungsgruppen einen Ausweg aus der Armut und einen angenehmen Lebensstandard – zumindest wenn man im Norden des Globus lebte und nicht im Süden, der schlicht billige Rohstoffe zu liefern hatte. Der Journalist Gerald Fricke fragt noch einen Schritt weiter: „War eigentlich früher, als der goldene Keynesianismus noch funktionierte, alles besser? Als man noch für sein Auto arbeitete, mit dem man dann zur Arbeit fuhr, um für sein Auto zu arbeiten, mit dem man dann wieder zur Arbeit fuhr, auf Straßen, die Papa Staat fleißig baute und Scheiß auf die Umwelt? Natürlich nicht, aber manchmal glaubt man‘s irgendwie fast.“

Einen ansatzweise kohärenten Versuch einer korrigierenden Weiterentwicklung bemühen sich (öko-) keynesianische Ansätze zu skizzieren – mit Hilfe von Regulierungskonzepten und Investitionen in zum Beispiel erneuerbare Energien und Bildung. Angesichts der Dimension der Verwerfungen der Weltwirtschaft und der Zerstörungen der Biosphäre greifen sie jedoch zu kurz. Ein Abschied vom Wachstumswahn wird nicht gewagt. Im Gegenteil: es geht gerade um die Dynamik eines neuen, „grünen“ oder „nachhaltigen“ Wachstumszyklus. Eine solidarische Gesellschaft, die ohne die Nutzung eines imperialen UmweltraumS (Öl aus Kuwait, Kohle aus Kolumbien, Soja aus Brasilien etc.) auskommt und darauf zielt, Bedingungen zu schaffen, die allen weltweit die Verwirklichung sozialer Rechte ermöglicht, wird es allerdings ohne den Schritt in eine Postwachstumsökonomie kaum geben können. Denn die imperiale Lebensweise, das fossilistische Produktionsund Konsummodell, das sich in den entwickelten Ökonomien des globalen Nordens durchgesetzt hat, ist  nicht verallgemeinerbar, auch nicht durch technischen Fortschritt. Zum Beispiel lassen sich die im Norden notwendigen CO2-Reduktionen um 95 Prozent bis 2050 nicht bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum erreichen. Die technischen (Effizienz-) Innovationen, die den notwendigen Grad von absoluter Entkopplung von BIP-Steigerung bei gleichzeitigem massivem Sinken des Naturverbrauchs ermöglichen, sind nicht möglich. Der Ausweg: Eine zunächst deutlich schrumpfende und sich dann auf einem ökologisch tragfähigen Niveau stabilisierende Ökonomie.

Inzwischen gibt es eine Reihe wissenschaftlicher Tagungen, es werden laufend neue Artikel und Bücher veröffentlicht und die Diskussion wird von aktivistischen Klima- Aktionscamps bis in Parteien geführt. Dabei besteht zum einen die Gefahr, dass zwar die richtigen Fragen gestellt, die daraus folgenden weit reichenden Antworten aber gescheut werden. Schließlich würde der ernsthafte Versuch eine Postwachstumsökonomie zu denken und durchzusetzen, grundsätzliche Prinzipien von Wirtschaft und Gesellschaft umstoßen, insbesondere das Profitprinzip. Zum anderen besteht die Gefahr falscher, unsolidarischer Antworten: Einige Neoliberale – in Deutschland zum Beispiel Meinhard Miegel – sind inzwischen zu Wachstumskritikern geworden. Ihre Formel ist simpel: Wegen ökologischer Grenzen muss die Ökonomie schrumpfen, und auf diesem Wege kann man praktischerweise den Sozialstaat auch schrumpfen und das Rentenalter erhöhen. So kann Wachstumskritik zur Legitimaton von Armut benutzt werden, statt Umverteilung und soziale Gleichheit als Bedingung für eine schwierige Transformation zu fordern.

Besonders in Südeuropa gibt es seit einigen Jahren eine sehr lebendige Diskussion, die sowohl lokal in Netzwerken solidarischer Ökonomie verankert ist, als auch transnational vernetzt über die internationalen Degrowth Konferenzen (Paris 2008, Barcelona 2010) stattfindet. In Frankreich gibt sich diese Bewegung das Label décroissance – frei übersetzt „Ent-Wachstum“ (engl. degrowth), als der aktive Prozess der Rücknahme von Wachstum und Schrumpfung hin zu einer solidarischen Postwachstumsökonomie. Nur in einer solchen ist die Zukunft, die Verwirklichung sozialer Rechte und ein gutes Leben weltweit für alle möglich. Es geht daher darum, grundlegende Alternativen zu denken und diese in konkreten Kämpfen zuzuspitzen.

Blog: www.postwachstum.net

Zeit statt Zasta

  • 13.07.2012, 18:18

Tauschkreisexperimente verstehen sich als Alternative zum geldbestimmten Wirtschaftssystem und als eine Form von Solidarischer Ökonomie. Es gibt sie auch in Österreich.

Tauschkreisexperimente verstehen sich als Alternative zum geldbestimmten Wirtschaftssystem und als eine Form von Solidarischer Ökonomie. Es gibt sie auch in Österreich.

Die Idee der Solidarischen Ökonomie hat viele Projekte mit sehr unterschiedlichen Ansätzen hervorgebracht. In der Praxis werden unter diesem weitgefassten Begriff Initiativen wie Kost-Nix-Läden, Faire Gemeinden, ReproduktionsgenossInnenschaften, solidarische Mikrokredite und viele andere zusammengefasst. Ihr Ziel ist es eine Ökonomie zu schaffen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht umgekehrt. Erreicht werden soll dies unter anderem über regionale Projekte, die sich aber durchaus interregional vernetzen. Ein Teil davon bilden Tauschkreise, auch Zeittauschbörsen genannt, bei denen geldloses Tauschen von Dienstleistungen und Waren auf regionaler Ebene ermöglicht wird.

Zeit ist Geld? Die ersten Tauschkreis- Projekte starteten in den 1990ern und konnten sich seither einer stetigen Verbreitung erfreuen. Vor allem in den letzten Jahren bildeten sich viele neue Zeittauschbörsen, nicht nur in Österreich. Die Idee leitet sich von einer grundsätzlichen Kritik am vom Geld gesteuerten Wirtschaftssystem ab. Vor allem Zins und Zinseszins werden dabei stark abgelehnt. Als Alternative wird bei Tauschkreisen die Zeit als „Währungseinheit“ begriffen. Eine Stunde bleibt immer gleich viel wert, egal ob es dabei ums Abwaschen oder Computer-Programmieren geht. Bei dieser Form von Tausch entsteht wegen Zins noch Wertverlust. Dabei muss es sich nicht um einen direkten Tausch zwischen zwei Personen handeln, es kann jede Leistung aus dem Pool an Angeboten ausgewählt werden. Ein einfaches Beispiel: Mirijam hilft Thomas eine Stunde lang bei der Gartenarbeit und lässt sich dafür zwei Wochen später beim Ausmalen von Nadin unterstützen. Auf diese Weise kann jede Person für eine erbrachte Leistung das Angebot von anderen Mitgliedern des Tauschkreises in Anspruch nehmen. Es können auch Schulden gemacht werden, die am Stunden-Konto der Person verbleiben.
In Niederösterreich beteiligen sich momentan etwa 300 Menschen am Talente-Tauschkreis, der in sieben Regionalgruppen unterteilt ist. Neben einer Online-Datenbank, die Übersicht für alle Mitglieder garantiert werden auch monatliche Koordinationstreffen veranstaltet.
Die aktive Teilnahme an dieser Form der Nachbarschaftshilfe ist für Menschen mit wenig Geld natürlich besonders interessant. So sind es hauptsächlich PensionistInnen, Arbeitslose und „Hausfrauen“, die das Angebot nutzen. Jugendliche und Erwerbstätige beteiligen sich nur in Ausnahmefällen am Projekt.
Für Arbeitslose etwa kann ein Tauschkreis eine wichtige Organisation sein. Ob die Teilnahme daran einen Arbeitsplatz ersetzen kann, dürfte aber von Fall zu Fall unterschiedlich zu bewerten sein. So können Zeit-Gutscheine, sofern diese in Anspruch genommen werden, nur zu einem gewissen Ausmaß eingesetzt werden, da das Finanzamt auch diese als Einkommen verrechnet und die Grenze von knapp 4000 Euro pro Jahr (1h = 10 Euro) nicht überschritten werden darf. Vergessen werden darf auch nicht, dass ein Tauschkreis nur Teilweise ein Ersatz für ein monetäres Einkommen ist. Die Miete für eine Wohnung etwa kann über dieses Tauschsystem nicht beglichen werden.

Barter-Ring. Auch für kleine und mittlere Unternehmen besteht die Möglichkeit, sich am Niederösterreichischen Tauschkreis zu beteiligen. Dieses System wird als Barter-Ring bezeichnet und bietet lokalen Unternehmen die Möglichkeit beim Tauschsystem mitzumachen. Dieser funktioniert in den Grundzügen gleich wie das Zeit-Tauschen zwischen Privatpersonen. Unternehmen, die Zeit-Gutscheine von Mitgliedern annehmen, können diese gleichwertig weiterverwenden. Entweder sie nehmen das Angebot einzelner Personen in Anspruch oder sie tauschen wiederum mit anderen Unternehmen in der Umgebung. Will ein Unternehmen aus den eingenommenen Zeit-Gutscheinen aber Geld machen, muss eine Abgabe entrichtet werden. Das soll dazu animieren, vermehrt Geschäfte mit andern regionalen Betrieben zu machen, als mit großen internationalen Billiganbietern. Auf diese Weise bekommt der Tauschkreis eine größere wirtschaftliche Bedeutung, indem lokale Unternehmen und ProduzentInnen gefördert werden. Die teilnehmenden Unternehmen sind auch dazu verpflichtet, die Leistungen, die mit Zeit-Gutscheinen beglichen werden, zu versteuern, denn ob in Zeit oder Geld bezahlt wird, ändert nichts an der Steuerpflicht.
Tauschkreise werden von Franz Holzer, Obmann des Talente- Tauschkreis Niederösterreich, aber nicht als Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem gesehen, sondern nur als Ergänzung dessen. Gezielt wird sowohl auf den lokalen Einfluss als auch in die Hoffnung, über kleine Veränderungen in der Gemeinde schließlich auch größere Prozesse anstoßen zu können. Der Tauschkreis ist gänzlich von der Motivation und Beteiligung der Mitglieder abhängig und kann auch in diesem Sinne mit anderen Projekten der Solidarischen Ökonomie verglichen werden. Im Unterschied zu Kost-Nix-Läden oder Volksküchen werden durch den Barter-Ring auch UnternehmerInnen in das Projekt einbezogen.
Franz Holzer sieht im Tauschkreisexperiment durchaus auch eine Perspektive für die Zukunft. Er geht davon aus, dass die regionalen Gruppen weiterhin an Zulauf gewinnen werden. Denn das Vertrauen in das gegenwärtige Wirtschaftssystem werde weiter sinken. Schließlich ist es schwer, Vorhersagen über die Entwicklung von Wert und Bedeutung des Geldes zu treffen. Eine Stunde, die ich heute tausche, bleibt aber voraussichtlich auch in 20 Jahren noch eine Stunde.

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