Gewalt

Nicht länger wegsehen

  • 11.05.2017, 20:37
Seit zwölf Jahren steigt die Zahl rechtsextremer Straftaten rapide an. Linke Aktivist_innen und Künstler_innen geraten zunehmend ins Visier. Die Polizei bleibt tatenlos.

Seit zwölf Jahren steigt die Zahl rechtsextremer Straftaten rapide an. Linke Aktivist_innen und Künstler_innen geraten zunehmend ins Visier. Die Polizei bleibt tatenlos.

Rechtsextreme Gewalt nimmt rasant zu. Verzeichnete das Innenministerium im gesamten Jahr 2004 noch 322 Anzeigen wegen Verbrechen oder Vergehen mit rechtsextremem Tathintergrund, waren es 2015 bereits 1.691. Statistisch gesehen wird alle fünf Stunden eine solche Straftat verübt – von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.

Dieses Erstarken der militanten extremen Rechten manifestierte sich in den letzten Monaten in einer ganzen Serie an rechtsextremen Angriffen, Drohungen und Sachbeschädigungen gegen linke Strukturen, Räume und Personen. So wurden Tür und Fassade des linken Raumkollektivs w23 innerhalb weniger Monate gleich sechs Mal beschädigt. Zwei Mal versuchten die Täter dabei, sich Zugang zum Raum zu verschaffen. Auch die Anarchistische Buchhandlung im 15. Bezirk, das Ernst-Kirchweger-Haus sowie die Rosa-Lila-Türkis-Villa wurden in jüngster Vergangenheit Ziel rechtsextremer Sachbeschädigungen und Angriffe. Vor rund einem Jahr waren Personen auf dem Heimweg nach einer Kundgebung in Graz von bewaffneten Kadern der rechtsextremen „Identitären“ überfallen und verletzt worden. Ebenso ist 2014 einer Antifaschistin das Fenster eingeschossen worden, kurz nachdem sie ein Buch über die neofaschistische Gruppe veröffentlicht hatte. Nach einem Fernsehauftritt erhielt sie außerdem einen Drohbrief per Mail. Im Jahr 2012 wurde der betagte Antifaschist Albrecht Konecny am Rande der Proteste gegen den WKR-Ball von Neonazis mit einem Schlagring niedergeschlagen.

RECHTSEXTREMISMUS AN DER UNI. Auch vor der Universität machen rechtsextreme Umtriebe nicht Halt. Die Räumlichkeiten der Fakultätsvertretung Human- und Sozialwissenschaften (HUS) wurden mehrfach Ziel von Sachbeschädigungen, neben eingeschlagenen Fenstern hinterließen die Täter auch rassistische Botschaften an der Fassade. Erst im Jänner wurde eine Podiumsdiskussion der autonomen antifa [w] an der Universität Wien gestört, einschlägig bekannte rechtsextreme Hooligans stellten den Schutz für die Störaktion. Die Bühnenstürmung der „Identitären“ während der Aufführung von Jelineks „Schutzbefohlenen“ im Audimax ist nun schon ein Jahr her. Obwohl die Beteiligten zweifelsfrei identifiziert und auf ÖHInitiative auch wegen Besitzstörung rechtskräftig verurteilt wurden, gibt es nach wie vor keine Anklage wegen der im Zuge der Stürmung verübten Körperverletzungen.

Diese Aufzählung rechtsextremer Straftaten gegen linke Aktivist_innen, Künstler_innen und Räume ist keineswegs vollständig, macht aber die Bedrohung durch steigende rechtsextreme Gewalt deutlich. Außerparlamentarisch aktive Rechtsextreme werden derzeit selbstbewusster, organisieren sich verstärkt, bauen neue finanzstarke Strukturen und eigene Medienkanäle auf – das alles im Windschatten der FPÖ. Die steigende Reichweite und der bedeutend höhere Organisationsgrad eröffnen ihnen neuen Handlungsspielraum. Dieses Erstarken bringt nicht zuletzt eine merklich höhere Gefahr für politische Gegner_innen mit sich, ins Visier von Angriffen – von öffentlicher Diffamierung bis hin zu körperlicher Gewalt – zu geraten.

OPFERSCHUTZ FEHLANZEIGE! Bestärkt werden militante Rechtsextreme nicht zuletzt auch durch die Untätigkeit der Polizei, denn neben dem rechtsextremen Hintergrund haben all die genannten Fälle vor allem eines gemein: Die Täter_innen wurden nie verurteilt. Keine einzige der im Artikel erwähnten Straftaten wurde bisher aufgeklärt, keine Anklage erhoben, in den meisten Fällen wurden nicht einmal konkrete Beschuldigte ermittelt. Das sendet den Täter_innen ein fatales Signal: Dass ihnen nichts passiert, wenn sie politische Gegner_innen angreifen – dass der Staat wegsieht, solange die Betroffenen keinen Promistatus haben. Was den Schutz der Betroffenen von rechtsextremer Gewalt angeht, haben sich Polizei und Verfassungsschutz bisher nicht gerade als leuchtendes Vorbild hervorgetan.

Auf die Spitze trieb es dabei die Grazer Polizei, die nach dem erwähnten Angriff „Identitärer“ Kader im Jänner 2016 die Adressen und Telefonnummern der Betroffenen an die Täter_innen weitergab. Ein Antrag auf Schwärzung solcher personenbezogenen Daten der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“, der die Betroffenen juristisch vertrat und betreute, wurde abgelehnt.

Wenig überraschend: Die Ermittlungen wurden kurz darauf eingestellt. In einem anderen Verfahren wurde dem Opfer einer Nötigung durch Neonazis in der Vernehmung zur Tat ein Aktenauszug einer ganz anderen Anzeige – nämlich einer von Rechtsextremen gegen Unbekannt – vorgelegt und es wurde mehrfach versucht, sie nach einer Tatbeteiligung zu befragen. Ein weiterer Fall solch einer Täter-Opfer- Umkehr war der Umgang mit dem Angriff auf eine Gewerkschaftssitzung im Ernst-Kirchweger-Haus. Am Ende dieses Prozesses wurden Gewerkschafter verurteilt, während die angreifenden Hooligans aus dem Umfeld von „Eisern Wien“ und „Unsterblich Wien“ freigesprochen wurden.

IN DIE OFFENSIVE. Mit diesem Verhalten gefährdet die Polizei Betroffene rechtsextremer Gewalt noch zusätzlich, statt sie zu schützen. Dieser Umstand führt uns die Notwendigkeit antifaschistischen Selbstschutzes einmal mehr vor Augen. Die Bedrohung durch rechtsextreme Umtriebe und deren steigende Gewaltbereitschaft ernst zu nehmen, aber kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Vielmehr sollte sie zum Anlass genommen werden, antifaschistische Arbeit auf allen Ebenen weiterzuführen, Rechtsextremen das Selbstvertrauen, die Straße und jeglichen öffentlichen Raum konsequent streitig zu machen.

Julia Spacil studiert Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien.

24 Stunden Sicherheit?

  • 24.06.2015, 17:40

Ob auf Segways, am Gang oder am Campusgelände - Securities gehören oftmals zum Hochschulalltag dazu. Über öffentlichen Raum, lntransparenz und Millionenbeträge.

Ob auf Segways, am Gang oder am Campusgelände - Securities gehören oftmals zum Hochschulalltag dazu. Über öffentlichen Raum, lntransparenz und Millionenbeträge.

Vor einer der Türen der Universität Wien steht ein Sicherheitsbeamter. Sein Kopf ist kahl rasiert und in seinem Ohr steckt ein Kabel, das ihn mit dem restlichen Sicherheitspersonal über Funk verbindet. Er ist groß, ungefähr 1,80 Meter, sein Körper wirkt mus- kulös. Er trägt seine Arbeitskleidung: weißes Hemd, Hose und Schuhe sind schwarz. Er ist einer von zehn Securities an der Universität Wien, die in Zweier-Teams, 24 Stunden täglich, im Einsatz sind: sieben Männer und drei Frauen. „Die Universität besteht aus insgesamt 70 Gebäuden und unsere Sicherheitsteams haben Rundendienste", sagt Josef Scheibenpflug, Sicherheitskoordinator der Universität Wien. Bevor er sich der Sicherheit der Uni Wien verpflichtete, war er 35 Jahre lang im Polizeidienst tätig. Bei ihren Rundgängen müssen die Securities überprüfen, ob alle Lichter abgedreht und die Türen verschlossen  sind. Im Falle von Diebstahl, Belästigung oder Verletzungen sei das Sicherheitspersonal zuständig.

PRIVATANGELEGENHEIT. Es gibt zwar gesetzliche Regelungen zu Brand- und Arbeitnehmer*innenschutz, aus denen die Anwesenheitspflicht von entsprechendem Personal abgeleitet werden kann. Das heißt aber nicht, dass diese Aufgaben durch Sicherheitsdienste verrichtet werden müssen.

Foto: Mafalda Rakos

Die Anstellung der Sicherheitsfirmen selbst folgt einem durch das Bundesvergabegesetz geregelten Verfahren: Die Stelle wird öffentlich von der Universität ausgeschrieben, verschiedene Firmen erhalten die Möglichkeit der Bewerbung und das Rektorat wählt eine Firma aus. Die jeweilige Sicherheitsfirma erhält den Zuschlag für ein Jahr. Die Ausbildung, für die es in Österreich zurzeit keine Regelung gibt, findet durch Schulungen innerhalb der privaten Sicherheitsfirmen statt. Auch für die Wirtschaftsuniversität Wien sind „einschlägige und nachzuweisende Ausbildungen und Kenntnisse" erforderlich. Die Sicherheitskräfte sind für Scheibenpflug vor allem auch Serviceleistende und Repräsentant*innen der Universität. Auf die Frage, welche Sicherheitsfirmen momentan einen Vertrag mit der Uni Wien haben, gab es seitens der Universität keine klare Antwort.

„Das sind viele. Wir haben schon mit allen größeren Sicherheitsfirmen in Österreich zusammengearbeitet." Die drei größten Sicherheitsfirmen in Österreich sind G4S, der Österreichische Wachdienst (ÖWD), der an der Universität Innsbruck unter Vertrag ist, und Securitas. Diese drei setzten 2013 gemeinsam über 150 Millionen Euro bei über 7.500 Angestellten um.

2,1 MILLIONEN. Für die  Sicherheitsmaßnahmen an der Universität Wien stehen 500.000 Euro und ein zehnköpfiges Sicherheitsteam zur Verfügung. An der Technischen Universität Wien ist der Etat sogar mit 2,1 Millionen Euro bemessen. „Der Sicherheits- und Informationsdienst der TU Wien besteht aus 65 Mitarbeiter"'innen", weiß Gerald Hodecek, Leiter der Abteilung Gebäude und Technik. „Die Aufgabenbereiche der Securities an der TU sind denen an der Hauptuni und auch der Universität Innsbruck sehr ähnlich: Brandschutzwartung, Auskunft und Schlüsselverwaltung", sagt Hodecek. Dabei werden teilweise rund um die Uhr Leistungen erbracht.

Foto: Mafalda Rakos

Warum das nötig ist, erklärt die Universität Innsbruck: „Universitäten sind öffentliche Gebäude mit sehr großzügigen Öffnungszeiten. Das kann zum Problem werden, wenn Menschen die Räumlichkeiten ohne Rücksicht auf andere benutzen wollen und aggressiv oder zerstörerisch agieren. Das ist eher in den Wintermonaten hin und wieder problematisch. Daher betreut die Sicherheitsfirma in dieser Zeit auch tagsüber unsere Gebäude."

Die Handlungsrechte der Securities sind beschränkt. Laut eigenen Angaben spricht der Innsbrucker Wachdienst Personen an, die das Gastrecht missbrauchen, und bitten diese, das Gebäude zu verlassen. Das betrifft vor allem auch Obdachlose. Hier bewegen sich die Securities innerhalb der gesetzlichen Möglichkeiten, verfügen aber nicht über polizeiliche Rechte. Das heißt, sie dürfen nicht viel mehr, als auf die bestehende Hausordnung verweisen, aus Notwehr handeln und Nothilfe leisten. Deshalb ist es der Universität Wien wichtig, dass die Sicherheitskräfte Probleme durch Kommunikation lösen können. In unklaren Situationen sei es Scheibenpflug lieber, wenn das Sicherheitspersonal einmal mehr nachfragt. „Bei gröberen Sachen, wie zum Beispiel unangemeldeten Veranstaltungen, fragen sie automatisch nach, was zu tun sei", sagt  Scheibenpflug.

,,SAFETY“ FIRST. Die Rektorate greifen nicht nur dauerhaft auf Sicherheitskräfte des sogenannten dritten Sicherheitssektors zurück, wenn es um die Ordnung ihrer Hochschulen geht. Auch bei  akuten „Problemen" zögert man nicht, private Ordnungshüter_innen einzusetzen. So zum Beispiel bei einer gewaltsamen Räumung der BOKU-Flächen in Jedlersdorf. 2012 besetzte „SoLiLa - Solidarisch Land- wirtschaften in Jedlersdorf", eine Gruppe, die unter anderem aus Student innen der BOKU Wien bestand, ein brachliegendes Feld in einem ehemaligen Versuchsgarten der Universität. Der Widerstand, der sich für eine kollektive Nutzung der Flächen und Ermöglichung der partizipativen Landwirtschaft einsetzte, währte jedoch nicht lange. Nach zehn Tagen ließ das Rektorat die Fläche in Jedlersdorf durch Sicherheitsbeamt innen des Sicherheitsdientes Hellwacht gewaltsam räumen. Laut attac wurde auch die bereits davor von anderen Organisationen jahrelang aufge- baute Infrastruktur mit Motorsägen, Fräsen, LKWs und Containern zerstört und weggebracht. Auch bei #unibrennt wurden Sicherheitskräfte eingesetzt, um eine (erneute) Besetzung des Audimax der Universität Wien zu verhindern.

Viktoria Spielmann vom Vorsitzteam der ÖH-Bundesvertretung wünscht sich keine Zukunft mit Sicherheitskräften privater Firmen an Hochschulen. „Securities gehören raus aus der Hochschule. Soziale und gesellschaftliche Probleme müssen woanders als auf dem Unicampus oder in den Hochschulgebäuden bekämpft und gelöst werden. Zum Beispiel im Nationalrat."

(red)

Kein Asyl ohne Erektion

  • 25.03.2015, 18:42

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

LGBTI-Personen begegnen im Zuge ihres Asylverfahrens Klischees, Stereotypen und verschiedenste Grenzüberschreitungen.  Der Mord an der Türkin Hande Öncü, die vor Gewalt gegen Trans*Frauen und Sexarbeiter*innen nach Österreich geflüchtet ist, ist ein Beispiel dafür, dass die Gewalt an LGBTI-Flüchtlingen in Österreich leider weitergeht.

MISGENDERN IST GEWALT. Ein anderer bekannter Fall spielte sich 2011 ab: Die Trans*Frau Yasar Ö. wurde in der Türkei aufgrund ihrer Transsexualität mehrmals verprügelt, ihre Familie setzte einen Mörder auf sie an. Ihr Asylantrag in Österreich wurde trotzdem abgelehnt. Der Grund: Sie wurde von den Asylbehörden nicht als Trans*Frau, sondern als homosexueller Mann, dem keine Verfolgung in der Türkei drohe, behandelt.

„Klare Themenverfehlung“, fasst Judith Ruderstaller das Urteil zusammen. Sie war damals beim Verein Asyl in Not tätig und betreute Yasars Fall. Nachdem NGOs wie Asyl in Not oder transX die Sachlage klarstellten, konnte das Urteil doch noch aufgehoben werden. Yasar wurde aus der Schubhaft entlassen und ein neues Verfahren wurde eingeleitet. Für Judith Ruderstaller war der Fall ein Wendepunkt, was den Umgang der österreichischen Asylbehörden mit LGBTI-Flüchtlingen betrifft: „Durch diesen Fall ist sehr viel Sensibilisierung reingekommen.“ Generell habe sich in den letzten fünf Jahren vieles verbessert: „2010 habe ich die Judikatur in Österreich im Bezug auf LGBTI-FLüchtlinge analysiert. Ich habe viele Asylbescheide gelesen und das waren grauenhafte Interviews, voller Stereotypen, die auch in intime Details der Sexualität hineinreichten“, erinnert sich Ruderstaller, die heute bei der Organisation Helping Hands Rechtsberatung zum Thema Fremdenrecht anbietet. Von Schulungen für Betreuer_innen, Dolmetscher_innen oder Richter_innen war damals noch keine Rede. Die Probleme, mit denen LGBTI-Flüchtlinge sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in Österreich konfrontiert waren, konnten daher nur selten miteinbezogen werden.

BLUTFLUSSFRAGEN. Eine 2013 erlassene EU-Richtlinie sieht nun vor, dass Menschen, denen eine Haftstrafe aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung droht, Anspruch auf Asyl haben. In Österreich wurde die EU-Richtlinie noch nicht im staatlichen Gesetz verankert. Hier werden LGBTI-Flüchtlinge zur Kategorie der „sozialen Gruppe“ gezählt. Asylgrund besteht also dann, wenn eine „Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ gegeben ist. Zu einer sozialen Gruppe zählen all jene Menschen, denen von der Gesellschaft in ihrem Heimatland ein gemeinsames Merkmal zugewiesen wird. Damit der Asylantrag positiv ausfällt, muss die Verfolgung jedoch eine gewisse „Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten. Was das konkret bedeutet, ist Interpretationssache.

Die Personen müssen den Behörden glaubwürdig machen, dass sie homo-, bi-, trans- oder intersexuell sind. Im Bezug auf die Glaubwürdigkeit treten laut Ewa Dziedzic, Gründerin des Vereins MiGay, jedoch Probleme auf: „Wenn Menschen auf Grund einer Bedrohung flüchten, fällt ihnen in Europa nicht als erstes ein, über ihre Diskriminierungskategorie zu sprechen. Sie können auch zum Teil gar nicht wissen, wie hier mit diesem Thema umgegangen wird.“ Und doch: Über den Fluchtgrund mit geschultem und sensiblem Personal zu sprechen, ist ein weniger gewaltvolles und diskriminierendes Instrument als sogenannte „sexualpsychologische Gutachten.“ Zu diesen gehören die Forderung nach visuellen Beweisen intimer Handlungen oder wie bis vor kurzem in Tschechien noch üblich, phallometrische Messungen ebenso dazu wie indiskrete Fragen über das sexuelle Leben der Flüchtlinge. Gefragt wird zum Beispiel nach Sexstellungen bei gleichgeschlechtlichem Sex, der sexuellen Aktivität und der Anzahl der Partner_innen. Dass all diese „Gutachten“ nicht nur wissenschaftlich fragwürdig sind, sondern vor allem die Menschenwürde verletzen, stellte Anfang Dezember 2014 auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest.

SENSIBILITÄT. Trotz der Gewalterfahrungen, die Flüchtlinge aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemacht haben, muss wohl über diese Zugehörigkeit gesprochen werden. Denn es gibt kaum andere Instrumente, Fluchtgründe und ihre „Rechtfertigung“ zu ermitteln, als die eines sensiblen Nachfragens. Vereinzelt findet in Österreich noch ein anderes Instrument bereits Anwendung, so Ewa Dziedzic: „Was wir in Österreich auf NGO-Ebene machen, ist den Beweis dadurch zu erbringen, dass wir  den Behörden klarmachen, dass die betroffene Person in der LGBTI-Community aktiv ist. Insofern haben wir hier ein verstärkendes Instrument aus der Zivilgesellschaft.“

Auch wenn die Dolmetscher_innen, Berater_innen und Richter_innen schon etwas sensibler mit dem Thema umgehen als früher, gibt es immer wieder homo- und transphobe Situationen. So erzählt Ruderstaller von einem Gespräch zu einem Asylantrag: „Einmal hat sich ein Klient von einem Dolmetscher verletzt gefühlt. Auch die Vertrauensperson, die dabei war, empfand die Atmosphäre in dem Gespräch als homophob.“ Aufholbedarf sieht Ruderstaller auch bei der Judikatur. LGBTI-Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern zwar nicht mit harten Strafen rechnen müssen, denen es aber unmöglich gemacht wird, ihr Privat- bzw. Familienleben öffentlich auszuüben, haben auch heute noch eher schlechte Chancen auf einen positiven Asylbescheid: „Da sollten die Asylbehörden sensibler werden“, wünscht sich Ruderstaller: „Man sollte das Privatleben überhaupt nicht verbergen müssen, weil man sonst in der Persönlichkeit stark eingeschränkt wird. Das sollten die Asylbehörden gerade bei Ländern, in denen etwa Homosexualität ein Tabu ist, auch einsehen und Asyl gewähren.“

 

Valentine Auer ist freiberufliche Journalistin und studiert Theater-, Film- und Medientheorie an der Universität Wien.

Achtung, Triggerwarnung!

  • 25.03.2015, 18:40

Ein Foto, eine Filmszene, eine Phrase – sogenannte „Trigger“ können an traumatisierende Erlebnisse erinnern. Die psychischen Auslösereize beeinträchtigen den Alltag von Betroffenen ungemein.

Ein Foto, eine Filmszene, eine Phrase – sogenannte „Trigger“ können an traumatisierende Erlebnisse erinnern. Die psychischen Auslösereize beeinträchtigen den Alltag von Betroffenen ungemein.

„Für mich kann es nur eine Handbewegung sein, manchmal auch nur eine bestimmte Betonung eines Wortes“, erklärt Katharina Wilder, die in Wirklichkeit anders heißt. Mit 18 geriet sie in eine gewaltvolle Beziehung. Noch heute erlebt sie Flashbacks zu übergriffigen Situationen mit ihrem ehemaligen Partner. Grund dafür sind meist Auslösereize, sogenannte „Trigger“. Völlig unerwartet werden durch äußere Eindrücke Erinnerungen wach, die sie in Panik versetzen. „Ich fühle mich wieder in die Situation hineinversetzt, fange an zu schwitzen und bekomme einfach nur tierische Angst.“

HERZRASEN. Was ein Trigger sein kann und wie er sich äußert, ist individuell verschieden. Dadurch, dass es manchmal auch nur Daten oder Namen sein können, kann es zu Unverständnis von Seiten Außenstehender kommen. „Viele können nicht nachvollziehen, was da in mir passiert. Ich muss meine Freund_innen aktiv auf meinen Zustand aufmerksam machen. Es mag wie eine Kleinigkeit wirken, aber für mich kann ein Trigger echt den ganzen Tag zerstören.“ Trigger stehen häufig im Zusammenhang mit erlebter seelischer und/oder körperlicher Gewalt. Oft sind sie Teil einer posttraumatischen Belastungsstörung, weswegen sich Symptome überschneiden können. Laut der Internationalen Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen (ICD) lösen Trigger in der Regel Schweißausbrüche, Schwindel und Herzrasen aus. Brigitte Lueger-Schuster vom Institut für Angewandte Psychologie der Universität Wien erklärt: „In der Regel sind solche Erinnerungen an Gewalterfahrungen sehr belastend. In der Psychologie nennt man Flashbacks, das Wiedererleben von Situationen sowie dadurch entstehende Albträume Intrusion.” Nicht umsonst bedeutet das Wort Intrusion auch Eindringen oder Eingreifen. Ein großes Problem bei Triggern ist nämlich die Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit. Auch wenn Trigger Betroffenen bereits bekannt sind, so ist es nicht immer möglich, diese im Alltag zu vermeiden.

KONTROLLVERLUST. Gerade die Bilderflut im Internet spielt hierbei eine große Rolle. Gewaltvolle Darstellungen werden auf Netzwerken wie Facebook, Tumblr und Twitter verbreitet. Ob diese nun tatsächlich einer realen Situation entstammen, wie Kriegsberichterstattung oder Chronik-Schlagzeilen, oder fiktiv sind, wie eine Filmszene oder ein Musikvideo, ist für die getriggerte Person oft irrelevant. Daher kann eventuell der Konsum jeglicher Medien – auch von Literatur, Serien oder Filmen – eingeschränkt sein. Während manche Serien wie etwa Game of Thrones für ihre exzessive (sexualisierte) Gewalt bekannt sind, bergen auch vermeintlich „harmlose“ Formate wie Sitcoms Andeutungen oder Referenzen auf Gewaltsituationen. Vorwarnungen gibt es hierbei nicht.

Im Internet gibt es hingegen seit einigen Jahren den Trend zu Warnungen. Ihren Ursprung haben sie in Beiträgen in Selbsthilfeforen, wo Opfer (sexueller) Gewalt einander damit auf potenzielle Stressreaktionen hinweisen. Potenziell verstörende Inhalte werden durch ein „TW“ oder „CW“ (für trigger oder content warning, also Inhaltswarnung) eingeleitet. Wie es dann weitergeht, entscheiden die Nutzer_innen: Sie wägen nun selbst ab, ob sie trotzdem draufklicken und weiterlesen wollen.

MEDIENVERANTWORTUNG. „Es gibt so viele offensichtliche Trigger, etwa wenn es um glorifizierte Gewalt geht. Es würde definitiv mein Surfen im Internet erleichtern, wenn gerade gewaltvolle Bilder mit einer Warnung versehen wären. Viele Nachrichtenstationen machen das ja auch, das hilft sehr“, sagt Katharina. In visuellen Medien wie Film und Fernsehen ist es bereits üblich, vor Gewalt zu warnen. Gerade im US-amerikanischen TV wird vor jeder Sendung ein Hinweis auf mögliche problematische Inhalte eingeblendet – das könnte allerdings mehr mit einer konservativen Medienpolitik als mit Rücksicht auf Betroffene zu tun haben. Auch in einigen europäischen Ländern, wie etwa Estland, werden solche Informationen vorab gesendet. Gerade im Rahmen der Altersfreigaben wäre es bei visuellen Medien ein Leichtes, Warnungen auszusprechen. In Österreich sind Jugendfreigaben im Fernsehen gezeichnet, oft mit einem Ausrufezeichen oder einem ähnlichen Symbol neben dem Senderlogo. Das gilt aber nicht für Nachrichtensendungen.

„Alleine, dass sie für einige Menschen so notwendig sind, legitimiert meiner Meinung nach absolut ihre Existenz“, sagt Bloggerin Malaika Bunzenthal (malifuror.blog-space.eu). Sie selbst fühlt sich dadurch nicht in ihrer journalistischen Arbeit eingeschränkt. Doch viele Autor_innen und Filmemacher_innen arbeiten gerade mit Überraschungen und Schockmomenten, nutzen das Entsetzen der Zuschauer_innen und bauen darauf ihr kreatives Konstrukt auf. „Auch im Journalismus wird oft mit emotionaler Berichterstattung und Effekthascherei gearbeitet”, kritisiert Lueger-Schuster. „Das Totschlagargument der Medien ist immer, dass sie eben die Emotionen brauchen, um Leute aufzurütteln und überhaupt zum Lesen zu bringen.”

Die Verwendung von Trigger- und Inhaltswarnungen wird aber auch jenseits der Sensationsgeilheit kritisch diskutiert: Eingebracht wird etwa, dass eine inflationäre Verwendung die Sinnhaftigkeit von Warnungen mindern könnte. Weiters ist es nicht möglich, allen Dinge, die potenzielle Leser*innen triggern könnten, zu kennen. Schlussendlich meinen einige, die Konzentration auf individuelle Trigger würde gesellschaftliche Macht- und Unterdrückungsstrukturen individualisieren und damit die Systematiken dahiner verschleiern.

 

Gabriela Kielhorn studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Orientalistik an der Universität Wien.

Gespenstische Gewalt

  • 23.03.2015, 21:35

Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.

Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.

progress: Die Berichterstattung rund um den Akademikerball (früher: WKR-Ball) ist meist stark auf die Gegenproteste fokussiert. Warum sind Burschenschaften und Rechtsextremismus nicht öfter Thema?

Michael Staudigl: Es gibt sehr wohl einen Diskurs, der das ganze Spektrum – von den Burschenschaften bis hin zu Rechtsextremismus – permanent reflektiert. Nachhaltige Präsenz in den Medien hat dieser aber nicht. Sichtbarkeit spielt aber eine Rolle. Die Frage dabei ist, ob es einen Zwang zur Sichtbarkeit gibt beziehungsweise inwiefern diese Zustände fast schon gewaltsam sichtbar gemacht werden müssen.

Ist es gerechtfertigt gegen strukturelle Gewalt, die auch Burschenschaften ausüben, gewaltsam zu protestieren?

Strukturelle Gewalt ist ein notorisch umstrittener Begriff, weil überhaupt nicht klar ist, was er bezeichnen soll. Es war für den sozialwissenschaftlichen Mainstream lange klar, dass unter Gewalt intendierte körperliche Verletzung zu verstehen ist. (Sprachwissenschaft und feministische Ansätze definieren meist jede Form von Zwang als Gewalt, Anm.) Vielleicht muss man zwischen „Gewalt“ und „gewaltsam“ unterscheiden. Der adjektivistische Gebrauch erscheint sinnvoller beziehungsweise treffsicherer. Man kann damit auch die ausschließenden Effekte von Strukturen und nicht nur direkte, angreifende Gewalt fassen. Er zeigt an, auf welche Art und Weise Gewalt in ein System eingebaut ist. Alles läuft darauf hinaus, dass man eine körperliche und eine diskursive Seite von Gewalt anerkennt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Burschenschaften strukturelle Gewalt verkörpern.

Von Anti-Akademikerball-Seite wurden die Proteste oft damit legitimiert, dass der Ball als Symbolbild für die Gewalt steht, die auf bestimmte Gruppen wie Migrant_innen oder Jüd_innen strukturell ausgeübt wird.

Es geht also darum, darauf hinzuweisen, dass es Gewaltverhältnisse gibt, die dafür verantwortlich sind, dass „andere“ ohne größere Probleme oder sozialen Widerstand zu Opfern werden können: von Übergriffen oder rassistischer Gewalt zum Beispiel. Burschenschaften und die Art und Weise, wie diese politisch mobilisieren und argumentieren, sind mitverantwortlich dafür, wie Menschen als „andere“ etikettiert werden. Man weiß, dass Menschen gegenüber bestimmten Personen indifferenter sind als gegenüber anderen, wenn diese beispielsweise in einem Park verprügelt werden. Vielleicht kann man hier von struktureller Gewalt sprechen, die gleichgültig macht und betäubt. Dann wären Burschenschaften ein exemplarischer Fall von Akteuren, die ein feindliches Klima mit ermöglichen.

Also Burschenschaften als Mitverantwortliche an Missständen und rassistischen Übergriffen?

Ja, genau. Es gibt zwei Dimensionen: Einerseits die Erzeugung eines Klimas, in dem gegenüber dem einen oder der anderen Indifferenz und Apathie herrschen. Andererseits führt die Legitimation von Gewalt auch darüber hinaus. Zu erklären, wie und wann sich der Übergang von einem Szenario, in dem Gleichgültigkeit vorherrscht, zu einem Szenario, wo wirklich Gewalt ausgeübt wird, vollzieht, ist schwierig. Es stellt sich die Frage: Wo, und vor allem wie wird Gewalt plötzlich eine Handlungsoption?

Gibt es jemals eine Rechtfertigung dafür, sich für Gewalt zu entscheiden?

Es gibt eine Form der Gewalt, die vollständig gerechtfertigt wird, auch im modernen Recht: die Notwehr. Es gibt aber auch, wenn wir Walter Benjamin folgen, die Unterscheidung zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt. Letztere ist seinen Worten zufolge „gespenstisch“, denn sie schafft sich die Ausnahmezustände, in denen sie gewaltsam reagieren darf, selbst – und zwar gesetzlich legitimiert.

Man sieht mittlerweile auch, dass Gewalt vielfach in das Funktionieren von Gesellschaften eingearbeitet ist, dass sie also nicht schlichtweg als das Andere von kulturellem Sinn und gesellschaftlicher Ordnung verstanden werden darf. Ein einseitiger Gewaltbegriff lässt sich also nicht mehr halten, oder vielleicht nur dann, wenn man juristisch von Sachverhalten auf Tatbestände schließen muss. Das heißt aber nicht, dass man damit ein umfassendes Bild hätte; das wissen auch die Juristen und Juristinnen.

Die große Frage ist: Wo findet sich der Ausnahmezustand, der die Notwehr begründen kann? Wie lässt er sich rechtfertigen? Er muss immer als eine Form der Bedrohung für die Ordnung verstanden werden. Und wenn man näher hinsieht, so finden sich immer Imaginationen von Unordnung, die der ideale Träger von Gewaltrechtfertigungen sind. Egal, ob man jetzt die „Reinheit des Volkskörpers“ verteidigt oder vom „Clash of Civilisations“ spricht. Klarerweise gelingt die Legitimierung nie vollständig, sie hat immer blinde Flecken. Ich kann sagen, Gewalt ist das letzte Mittel, das ich ergreifen kann. Ich kann auch sagen, ich ergreife Gewalt im Blick darauf, die Gewalt zu beenden.

Zum Beispiel beim Aufzeigen von Diskriminierung und Missständen?

Damit eröffnet man ein spannendes Fragefeld: Was sind unbedingte Ansprüche, ohne die sich ein Menschenleben nicht realisieren lässt – sozusagen die Minimalbedingungen eines lebbaren Lebens? Das ist eine Sache des Kampfes um Anerkennung. Inwiefern ich mit Gewalt darauf aufmerksam machen darf, dass ich – oder andere – zählen, ist eine heikle Angelegenheit. Da muss man gewisse praktische Sicherheiten einziehen.

Wäre es eine Form solcher praktischer Sicherheit, zwischen Gewalt an Menschen und Gewalt an Sachen zu unterscheiden?

Allerdings. Eine Demokratie ist genau der Ort, an dem auch die, die keine Stimme haben, vernehmbar gemacht werden können und müssen. Der originäre Ort für jene, die in den klassischen Foren nicht gehört werden, ist die Demonstration. Jemandem den Eintritt in den Diskurs zu verweigern ist die schlimmste Form von Gewalt. Da wird nicht unmittelbar und direkt verletzt, sondern man ist nicht einmal mehr der Verletzung wert. Darum geht es aber in der Politik: die, die nicht zählen, zählbar zu machen.

 

Vanessa Gaigg studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

8 Monate

  • 23.03.2015, 20:55

Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.

Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.

Der damals 20-jährige Student Alex Plima* wollte gerade bei einem Würstelstand nahe einer Wiener U-Bahn-Station Schottentor Bier kaufen, als er Zeuge einer gewaltvollen Verhaftung wurde. Mehrere WEGA-Beamt_innen schleiften einen Mann, der nicht bei vollem Bewusstsein war und am Kopf blutete, die Treppen hoch. Alex stellte sich vor sie und schrie, um Passant_innen auf die Situation aufmerksam zu machen. Mehrmals forderte er die Beamt_innen auf, den Verhafteten ins Krankenhaus zu bringen und ihn ärztlich versorgen zu lassen. Angriffig, beleidigend oder gewalttätig wurde er aber nicht. Die Reaktion der Beamt_innen war für ihn überraschend und unerwartet aggressiv. „Von hinten hat mir ein Polizist die Hoden gequetscht. Nachdem ich ihn fragte, was das soll, wurde ich von sechs WEGA-Polizist_innen festgenommen. Auf meine Frage nach dem Grund für die Festnahme erhielt ich keine Antwort.“ Trotz Verhaftung wurde er jedoch nicht in Untersuchungshaft genommen. Erst ein halbes Jahr später erhielt er einen Brief, in dem er darüber informiert wurde, dass er wegen drei Vergehen angeklagt wird: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung und schwere Körperverletzung. Grund dafür sei ein wildes Herumschlagen seinerseits gewesen. Alex beteuert, nie Gewalt angewendet zu haben.

Eine Beschwerde wegen des Verhaltens der Polizei legte Alex jedoch nicht ein: „Du hast nur wenig bis keine Chance, dass dir Recht gegeben wird. Ich bin mir so ohnmächtig vorgekommen, weil sich die Polizist_innen so skrupellos über das Rechtssystem hinweggesetzt haben. Außerdem hätte es Energie, Zeit und Geld gekostet eine Beschwerde einzureichen und ich hatte nichts davon, weil ich mitten in der Vorbereitung für meine Studienberechtigungsprüfung steckte.“ Bei einer sogenannten Maßnahmenbeschwerde tragen von Polizeigewalt Betroffene ein Kostenrisiko von zirka 800 bis 900 Euro. Dass Personen, die eine Beschwerde einlegen, das Verfahren verlieren, ist statistisch eher die Regel als die Ausnahme. Nur zirka 10 Prozent der Misshandlungsvorwürfe werden überhaupt verhandelt.

„Rechtsschutz ist eine Frage der Ökonomie“, fasst die Verfassungsjuristin Brigitte Hornyik diesen Zustand zusammen. Sie legte kürzlich Maßnahmenbeschwerde gegen das Vorgehen der Polizei während der ersten Pegida-Kundgebung in Wien ein. „Eingekesselt wurden alle, auch Personen mit Presseausweis. Diese Freiheitsberaubung – wir wurden einzeln kontrolliert, Identitätsfeststellung, Perlustrierung – geschah frei nach US-Cop-Serien: Beine auseinander, Hände an die Wand! Die gesamte Aktion war einfach nur willkürliche Polizeirepression. Es hatte ja niemand von uns irgendwas verbrochen.“ Das wollte Hornyik nicht unwidersprochen lassen. Sie überlegt, bei Abweisung bis zum Verfassungsgerichtshof zu gehen. Sie ist sich aber ihrer Privilegien bewusst: „Das Institut für Kriminalsoziologie hat in den 80er Jahren eine Studie gemacht, welche Menschen ihr Recht am meisten verfolgen und welche am wenigsten: Akademisch gebildete Menschen männlichen Geschlechts standen ganz oben auf der Skala, Hausfrauen und Alleinerzieherinnen ganz unten – Rechtsschutz hat also auch eine geschlechtsspezifische Komponente.“

KEINE BEDAUERLICHEN EINZELFÄLLE. In den Sicherheitsberichten des Bundesministeriums für Inneres werden unter dem Punkt „Misshandlungsvorwürfe gegen Organe der Sicherheitsbehörden und ähnliche Verdachtsfälle“ Beschwerden gegen Polizist_innen statistisch erfasst und offengelegt. In den letzten zehn Jahren gingen 8.958 solcher Vorwürfe ein. Davon wurden ganze 8.004 Verfahren eingestellt.

Die hohe Zahl an Beschwerden und die vergleichsweise kleine Verfahrensanzahl wird wie folgt verteidigt: „Bei dieser Auswertung muss berücksichtigt werden, dass […] in einer überwiegenden Anzahl der angezeigten Fälle geringfügige Verletzungen beispielsweise durch das Anlegen von Handfesseln oder den Einsatz von Pfeffersprays eintrat (sic!) – zum Teil ohne dass ein Misshandlungsvorwurf gegen das einschreitende Organ erhoben wurde.“ Aufschlussreich ist die Tatsache, dass Verletzungen durch die Verwendung von Handfesseln und Pfefferspray als geringfügigbezeichnet werden, obwohl Pfefferspray in Österreich offiziell als Waffe gilt, die nur zur Notwehr eingesetzt werden darf, und jemanden zu fesseln als Nötigung.

„Ich denke, dass in einigen Fällen an den Vorwürfen gegen Polizist_innen tatsächlich nichts dran ist, sondern sich von Amtshandlungen Betroffene subjektiv ungerecht behandelt fühlen und sich über die Beamt_innen beschweren, obwohl die ihren Job korrekt gemacht haben“, sagt Anwalt Clemens Lahner, der unter anderem im Landfiredensbruchsprozess gegen Josef S. und im Fluchthilfeprozess gegen mehrere Aktivisten der Refugee-Bewegung Verteidiger war. Nun: Das 1989 gegründete „European Committee for the Prevention of Torture“, kurz CPT, kritisiert seit seinem Bestehen die Bedingungen der österreichischen (Schub-)Haft und die Zustände in Wachzimmern sowie Gefängnissen. Sogar bei absoluten Grundlagen sieht das CPT in Österreich Nachholbedarf und forderte etwa 1994 die österreichischen Behörden auf, in der Praxis den Haftbericht allgemein zu verwenden und richtig auszufüllen. Die Stellungnahme der Regierung: „Das richtige und vollständig (sic!) Ausfüllen der Haftberichte ist und wird Gegenstand der berufsbegleitenden Fortbildung sowie interner Schulungen sein.“ Im aktuellsten Bericht von 2010 wünscht sich das CPT von der österreichischen Regierung, „Polizeibeamte in ganz Österreich in regelmäßigen Abständen daran zu erinnern, dass jede Form von Misshandlung (z.B. auch Beschimpfungen) von Häftlingen nicht akzeptabel ist und Gegenstand strenger Sanktionen sein wird“. Sind die Festgenommenen einmal unter Kontrolle gebracht, gäbe es keinen Grund, sie zu schlagen. Lahner führt aus: „Gerade in Situationen, wo Gedränge und Lärm herrschen und die Beamt_innen eine Menschenmenge subjektiv pauschal als feindlich wahrnehmen, liegen die Nerven oft blank. Es kommt zu unverhältnismäßigen Einsätzen und bei Festnahmen werden Menschen oft am Boden fixiert, obwohl das gar nicht nötig wäre.“

Weiters kritisierte das CPT die niedrigen Strafen für straffällig gewordene Polizist_innen und rief angesichts bisheriger Fälle dazu auf, die Straftat „Folter“ so bald wie möglich in das Strafgesetz aufzunehmen, was Ende 2012 dann auch geschah. Schon 1991 schrieb das CPT über Österreich: „There is a serious risk of detainees being ill-treated while in police custody.“ 1999 erstickte der Nigerianer Marcus Omofuma während seiner Abschiebung in einem Flugzeug; 2006 wurde der Gambier Bakary J. von drei Polizisten nach einer gescheiterten Abschiebung in eine leere Lagerhalle gebracht und schwer misshandelt. 2009 erschoss ein Kremser Polizeibeamter einen unbewaffneten 14-jährigen. In allen drei Fällen fassten die Hauptangeklagten nur acht Monate Haft aus, Entlassungen folgten erst viele Jahre später oder gar nicht. Seit 1999 wurden mindestens acht Fälle bekannt, bei denen Schwarze Männer bei Festnahmen oder in Polizeigewahrsam gestorben sind. People of Color, Migrant_innen, Demonstrant_innen, Sexarbeiter_innen, Obdachlose, drogenabhängige und sozial schwache Menschen sind laut sämtlichen NGOs überdurchschnittlich von Polizeigewalt betroffen.

BESCHWERDE? GEGENANZEIGE! Dina Malandi berät beim Verein Zara (für „Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit“) Betroffene und Zeug_innen von Rassismus und dokumentiert im jährlich erscheinenden Rassismusreport auch Fälle rassistischer Polizeigewalt. Besonders körperliche Übergriffe seien schwierig nachzuweisen. Sollte man es doch versuchen, muss man mit einer sofortigen Gegenanklage wegen schwerer Körperverletzung rechnen. „Es wird schnell einmal gesagt, dass schwere Körperverletzung vorliegt. Diese Schutzbehauptung wird getätigt, um einer Beschwerde entgegenzuwirken. Jede kleinste Verletzung auf Seiten der Polizist_innen – ein Kratzer oder ein blauer Fleck – sind von Rechts wegen schon schwere Körperverletzung. Hier findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt.“

Aber auch Zeug_innen und Beobachter_innen mit Zivilcourage erfahren, wie etwa Alex’ Fall zeigt, massive Repression. Mit Geld- und Verwaltungsstrafen oder auch Verhaftungen wird es Menschen schwer gemacht, bei Übergiffen einzuschreiten, auf Missstände aufmerksam zu machen oder auch nur eine Demonstration, einen Einsatz oder eine Festnahme zu beobachten.

Maria Nym* saß an einem Freitagabend in einem Lokal, als sie vor dem Fenster eine Festnahme bemerkte. Sie versuchte, die gewaltsame Festnahme zu beobachten und ließ sich auch nicht durch Beleidigungen, Drohungen und physische Übergriffe durch die Polizei einschüchtern oder vertreiben. Nun werden ihr vier Verwaltungdelikte vorgeworfen: „öffentliche Anstandsverletzung“, „ungebührliche Erregung störenden Lärms“, „aggressives Verhalten gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht“ und Nicht-auf-dem-Gehsteig-Gehen. Die Höhe der Strafe: 350 Euro. Diese könnte sie zwar zahlen, aber sie hätte dann kein Geld mehr für die Miete. Deswegen legte Maria nun Einspruch ein und hofft darauf, dass die Strafe heruntergesetzt oder ganz fallen gelassen wird.

Dass nur wenigen, die wie Maria gegen Polizeigewalt und Schikane vorgehen wollen, Recht gegeben wird, liegt oft daran, dass die eigene Aussage gegen jene mehrerer Polizist_innen steht. „Unter den Polizist_innen gibt es nicht unbedingt den Willen, gegen Kolleg_innen auszusagen. Da herrscht noch oft eine falsch verstandene Solidarität“, so Dina Malandi. Das kann sich verheerend für die Person auswirken, die die Maßnahmenbeschwerde eingereicht oder Anzeige erstattet hat. Sobald Verantwortliche durch Kolleg_innen gedeckt werden, kann der_die Betroffene auch wegen Verleumdung angeklagt werden – statistisch gesehen passiert dies in fast vier Prozent der Fälle. Laut Malandi sind dies wesentliche Gründe dafür, dass viele Betroffene erst gar nicht Beschwerde einreichen. Die Dunkelziffer dürfte dementsprechend hoch sein.

FUCK THE SYSTEM. Diese „Cop-Culture“ zu brechen, sieht auch Florian Klenk als eine der wichtigsten Aufgaben im Rahmen der Polizeigewaltprävention: „Es braucht eine Beförderungsstruktur, die BeamtInnen, die auf Misstände hinweisen, belohnt. Momentan ist es noch so, dass jemand, der oder die seine Kollegen und Kolleginnen kritisiert oder verpfeift, absolut unten durch ist.“ Gerade machte Klenk einen Fall bekannt, bei dem eine 47-jährige Frau zu Silvester bei einer Tankstelle der Wiener Innenstadt offenbar ungerechtfertigt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen und misshandelt worden ist. Steißbeinbruch, Schädelprellungen und Blutergüsse: für ihre Verletzungen oder für die Sicherstellung der Videobeweise nach der Anzeige der Frau interessierte sich die Staatsanwaltschaft vorerst nicht.

Der Falter-Chefredakteur und Jurist, der seit den 90ern investigativ über Missstände in österreichischen Gefängnissen und bei der Exekutive berichtet, meint, es habe sich aber seit damals auch einiges getan. Brigitte Hornyik dazu: „Der Polizei sind durch das Sicherheitspolizeigesetz nach wie vor sehr weitreichende Befugnisse eingeräumt. Vor 1991 war das noch schlimmer. ´Übergangsbestimmungen von 1929 waren oft die einzige Grundlage polizeilichen Handelns.“

Trotzdem kritisiert Klenk (genau wie das CPT und der Menschenrechtsbeirat der Volksanwaltschaft) die immer zunächst schleißig und intern angestellten Nachforschungen: „Es muss endlich eine unabhängige Stelle geben, die für Beschwerden gegen die Exekutive zuständig ist.“ Alle von progress kontaktierten Expert_innen sind sich übrigens einig, dass eine Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen (etwa eine sichtbar an der Uniform angebrachte Dienstnummer) sowie am Körper angebrachte Kameras bei der Gewaltprävention aber auch bei der Aufklärung extrem hilfreich wären. Doch dagegen wehrt sich die Polizeigewerkschaft vehement. „Die blau unterwanderte Polizeigewerkschaft stellt sich leider allzu oft auf die Seite der schwarzen Schafe und diskreditiert damit die Arbeit der korrekten Polizistinnen und Polizisten. Sie ist Teil eines Systems des Schweigens und Verharmlosens. Wie in der RichterInnenschaft sollte auch bei der Polizei Äquidistanz zu politischen Parteien herrschen“, meint Klenk.

Zudem sähen Richter_innen und Staatsanwält_innen die Polizei als Verbündete im Kampf gegen das Verbrechen und wähnten einander trotz Gewaltenteilung auf derselben Seite, sagt Klenk. „Sie poltern zwar manchmal im Gerichtssaal, verhängen dann aber sehr milde Strafen. Man soll sich nur vorstellen, was zwei Nigerianer ausfassen würden, wenn sie einen Polizisten so gefoltert hätten wie es Bakary geschah.“ Verschwindend niedrig ist die Zahl der Polizist_innen, die nach einer Anklage überhaupt schuldig gesprochen werden. In den letzten zehn Jahren, von 2004 bis 2013, waren das insgesamt 13 Beamt_innen.

Im Fall von Edwin Ndupu, der von 15 Justizwachebeamten verprügelt worden war und kurz darauf in der Justizanstalt Krems/Stein starb, gab es sogar Anerkennung:  Laut Falter 41/04 lud Justizministerin Miklautsch Anfang Oktober 11 der 15 an dem Einsatz beteiligten Justizbeamten zu sich ins Ministerium ein. Da die 11 Beamten bei dem Einsatz mit dem Blut des HIV-positiven Häftlings in Berührung gekommen waren, erhielten sie 2.000 Euro Schadensersatz.

Brigitte Hornyik meint, dass diese Zusammenarbeit zwischen Justiz und Exekutive kein Zufall sei: „Für mich ist das Ausdruck eines autoritären und hierarchischen Denkens: Die Staatsgewalt braucht eben Repression, um an der Macht zu bleiben. Letztlich sind das Ausläufer des Absolutismus und des Metternich’schen Überwachungsstaates.“

Zusammengefasst: Die Polizei handelt (nicht selten) gewaltsam. Es gibt keine unabhängigen Untersuchungsgremien bei Streitfällen. Sich zu wehren oder zu beschweren ist ein finanzielles, rechtliches und gesundheitliches Risiko. Die Justiz stärkt gewalttätigen und straffälligen Polizist_innen den Rücken, die Politik weigert sich zu handeln, obwohl internationale Gremien seit Jahrzehnten warnen und mahnen. Der längere Ast, auf dem die Staatsgewalt sitzt, ist ein Prügelknüppel. „Trotzdem würde ich vorschlagen, an diesem längeren Ast zu sägen und die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns in Frage zu stellen“, sagt Brigitte Hornyik. „Durchaus mit Hilfe der Gerichte, so lange wir noch nichts Besseres haben.“

*Name von der Redaktion geändert.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien. 
Olja Alvir studiert Physik und Germanistik an der Uni Wien.

 

force, power and violence

  • 10.04.2015, 12:55

Sechs Dinge über Gewalt, die du noch nicht wusstest.

stark sein
Der Begriff Gewalt kommt von dem althochdeutschen Wort „waltan“, was so viel wie „stark sein“ oder „beherrschen“ bedeutet. Im Allgemeinen werden damit Vorgänge, Handlungen, aber auch soziale Zusammenhänge bezeichnet, mit denen auf Menschen, Tiere und – der besorgte österreichische Umgang mit Fensterscheiben und Mistkübeln lässt es schon erahnen – Gegenstände eingewirkt werden kann. Und zwar so, dass diese beeinflusst, verändert oder geschädigt werden. Je nach Kontext kann mit Gewalt ein direkter Einfluss oder auch nur eine Machtquelle, wie beim Begriff „Gewaltentrennung“, gemeint sein. Im Englischen gibt es für diese unterschiedlichen Bedeutungen eigene Wörter: Wer mit Gewalt einen Nagel einschlägt, benutzt force, die Gewalt als Machtquelle wird power genannt.


unterhaltsame Gewalt
Diskussionen über Gewaltdarstellungen in Filmen und Videospielen beherrschen regelmäßig Schlagzeilen, oft in Zusammenhang mit angeblich davon inspirierten nicht-virtuellen Gewalttaten. In Österreich hat jedes Bundesland sein eigenes Jugendschutzgesetz, was prinzipiell neun verschiedene Zulassungen von Filmen bedeuten könnte. In der Praxis prüft jedoch die Jugendmedienkommission des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur Filme und spricht eine Altersempfehlung aus, die von allen Bundesländern mit der Ausnahme Wiens übernommen wird. In der Hauptstadt sieht sich ein eigener Filmbeirat die Werke vor der Veröffentlichung an und gibt eine Altersempfehlung aus. Verpflichtend sind diese Empfehlungen jedoch weder bei Filmen noch bei Computerspielen. Anders sieht es in Deutschland aus: Dort wird von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) jedes Computerspiel durchgespielt, von unabhängigen Expert_innen geprüft und mit einer verbindlichen Altersfreigabe versehen.


thermonukleare Metaphernexplosion
Sollte es in naher Zukunft in Österreich zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, wird manchen Medien die sprachliche Munition ausgehen. So werden jedes Jahr im Jänner bereits im Vorfeld die Proteste gegen den FPÖ-„Akademikerball“ als „Chaos“, „Krawalle“, „Ausschreitungen“ beschrieben, es wird vor „Gewaltexzessen“ gewarnt und nach den Protesten werden dann gar „bürgerkriegsähnliche Zustände“ herbeifabuliert. Diese verbale Aufrüstung wurde heuer auch von der Forderung der Bezirkshauptfrau des 1. Wiener Gemeindebezirkes nach einem Bundesheereinsatz in der Innenstadt begleitet. Wer sich Bilder von Städten wie Kobanê oder Aleppo, wo tatsächlich Bürger_innenkrieg herrscht, ansieht, wird relativ schnell erkennen, dass es sich bei Demonstrationen, an deren Rand Mistkübel umgeworfen (und wieder aufgestellt) und Fensterscheiben zerbrochen werden, mitnichten um Ereignisse handelt, die man als „Krieg“ bezeichnen könnte.


„bürgerkriegsähnliche Zustände“

ohne Graustufen
Die „erotische“ Romanreihe „Fifty Shades Of Grey“ von E. L. James ist von den Bestsellerregalen in die Kinos gewandert und feierte auch dort Erfolge. Während die Buchreihe von einigen als sexuelle Befreiung gefeiert wurde, hagelt es gerade aus der BDSM-Szene Kritik: Der beschriebene Sex sei zwar BDSM-Praktiken nachempfunden, die dargestellte Beziehung sei jedoch durch Missbrauch gekennzeichnet. Während in der BDSM-Szene Vertrauen, Konsens und sogenannte Safe-Words (Wörter, die im Vorhinein ausgemacht werden und „Stop“ oder „Nein“ bedeuten) eine wichtige Rolle spielen und das Ausleben gewisser Kinks überhaupt erst möglich machen, kommen diese Aspekte in James’ Roman überhaupt nicht vor. Nein-Sagen wird von der Romanfigur Grey konsequent ignoriert und gewalttätige Praktiken wie Stalking und Gaslighting werden glorifiziert und als sexy dargestellt. Laut einer Studie der Michigan State University haben Fifty-Shades- Leserinnen* ein höheres Risiko, in einer missbräuchlichen Beziehung zu leben, was zusammen mit dem Bild, das das Buch von BDSM vermittelt, zu einer Normalisierung häuslicher Gewalt führen könnte.


Monopol
In modernen Demokratien herrscht das sogenannte „Gewaltmonopol“ des Staates. Dieser Begriff stammt vom deutschen Soziologen Max Weber und drückt aus, dass die Mitglieder einer Staatsgemeinschaft darauf verzichten, selbst Gewalt auszuüben, um ihre Rechte durchzusetzen. Einzig die (meist demokratisch legitimierte) Exekutive hat das Recht, mittelbare (physische) oder unmittelbare Gewalt anzuwenden, um „Recht und Ordnung“ durchzusetzen. Lange Zeit galt dieses Gewaltmonopol in jedem Bereich, außer einem: der Familie (vgl. nächste Box). Aber auch Staaten geben gerne Stückchen und Scheibchen ihres Monopols ab: Private Sicherheitsfirmen oder gar Söldner_innen übernehmen Aufgaben des Staates und schrecken dabei – oft nicht ganz legal – vor Gewaltanwendung nicht zurück. Ein besonders schwerwiegender Fall ist das Militärunternehmen Blackwater (heute Academi). Im letzten Irakkrieg haben dessen Mitarbeiter_innen in mehreren Fällen Zivilist_innen getötet und Gefangene misshandelt. In Europa gibt es eine einzige legale Privatarmee: Die Atholl Highlanders stehen im Dienst des schottischen Duke of Atholl und sind heute eine Tourismusattraktion.


ungeschützt
Nicht alle sind gleichermaßen vor Gewalt geschützt. Während dies bei Eigentum und weißen Männern wenig Probleme bereitet, gibt es Personengruppen, die unverhältnismäßig oft Gewalt erleben. Zum Beispiel Kinder: Eltern hatten in Österreich bis 2000 (!) das Recht, zur „Erziehung“ Gewalt gegen ihre Kinder zu verüben. Auch gegen Gewalt in der Ehe, die meist von Männern ausgeht, gibt es erst seit 1997 ein eigenes Schutzgesetz, das Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie. In diesem Jahr beschloss die EU eine Kampagne zur „vollständigen Ächtung von Gewalt gegen Frauen“. Auch Gewalt gegen trans*Menschen ist traurige Normalität: Das Transmurder Monitoring Project der NGO Transgender Europe, das systematisch Hassmorde an trans*Menschen analysiert, hat seit Projektbeginn im Jänner 2008 über 1.600 Morde an trans*Personen gezählt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Mehr im Dossier Gewalt:
Gespenstische Gewalt  Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.
8 Monate  Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.
Kein Asyl ohne Erektion  Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.
The internet is for hate  Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.
Achtung, Triggerwarnung!  Ein Foto, eine Filmszene, eine Phrase – sogenannte „Trigger“ können an traumatisierende Erlebnisse erinnern. Die psychischen Auslösereize beeinträchtigen den Alltag von Betroffenen ungemein.
Was bedeutet Gewalt für dich? Sechs Studierende zum Gewaltbegriff in unserer Umfrage.


 

Last Exit Frauenhaus

  • 01.04.2013, 13:52

Vor 35 Jahren wurde in Wien das erste österreichische Frauenhaus eröffnet. Claudia Aurednik hat mit der Leiterin des Vereins Autonome österreichische Frauenhäuser und zwei Frauen über die aktuelle Situation der Frauenhäuser sowie Partnergewalt gesprochen.

Vor 35 Jahren wurde in Wien das erste österreichische Frauenhaus eröffnet. Claudia Aurednik hat mit der Leiterin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser und zwei Frauen über die aktuelle Situation der Frauenhäuser sowie Partnergewalt gesprochen.

„Ich werde die schweren Schwellungen im Gesicht meiner Mutter und ihren Körper voll blauer Flecken wohl niemals vergessen“, erzählt Alice Maier* (42): „Mein Vater konnte mit Enttäuschungen sehr schlecht umgehen und war für seine cholerischen Wutanfälle und seinen Hang zur Gewalt in der Familie gefürchtet. Ein verlorener Gerichtsprozess, ein nicht auffindbarer Akt und manchmal  auch nur eine Kleinigkeit, wie kein Parkplatz für sein Auto, waren für ihn Anlass, die Beherrschung zu verlieren.“ Maier, die heute als  Ärztin in einem Krankenhaus arbeitet, beschreibt ihren Vater als Mann mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, der sich in der  Rechtsanwaltskanzlei und in der Öffentlichkeit beherrschen konnte und in der familiären Wohnung seinen Wutanfällen freien Lauf ließ. Am meisten hatte ihre mittlerweile verstorbene Mutter, die von ihrem Mann regelmäßig verprügelt wurde, darunter gelitten.

Maier und ihre jüngere Schwester hatten bereits als Kinder einen Spürsinn für die Launen ihres Vaters entwickelt: „Bereits an Vaters Gang und Blick haben wir erkannt, wann es besser wäre, sich im Kinderzimmer einzuschließen.“ Auch die NachbarInnen in dem großbürgerlichen Altbau hatten die Gewaltexzesse von Maiers Vater mitbekommen. Doch bis auf einige seltsame Blicke im Treppenhaus habe niemand je etwas gesagt: „Es gab so etwas wie einen stillen Konsens darüber, dass nach außen hin das Bild einer  intakten und glücklichen Anwaltsfamilie gewahrt wird. In der großbürgerlichen Schicht spricht man ja über solche Dinge nicht, denn  schließlich kommt Gewalt ja nur in den sogenannten unteren Schichten in Arbeiterfamilien vor.“

BÜRGERTUM. Als Alice Maier 14 Jahre alt war, hatte sie ihre Mutter dazu gedrängt, sich scheiden zu lassen: „Damals hatte ich den Eindruck, dass meine Mutter ernsthaft über eine Scheidung nachdenken würde. Doch bereits nach ein paar Tagen hat sie denGedanken wieder verworfen, weil sie Angst vor einem langwierigen Scheidungsprozess und den beruflichen Netzwerken meines Vaters hatte.“ Maier erzählt mit bitterer Stimme, dass natürlich auch die finanzielle Abhängigkeit und die Sorge, dass ihr Vater das  Sorgerecht für die beiden Mädchen erhalten könnte, eine Rolle spielte. „Meine Eltern hatten sich während ihres Studiums auf einem  Ball kennengelernt. Mutter hatte damals Kunstgeschichte studiert und das Studium nach meiner Geburt abgebrochen. Somit war sie  von Vater ökonomisch abhängig“, ergänzt sie.

Das erste Wiener Frauenhaus wurde 1978 eröffnet. Warum hat Maiers Mutter dort  nicht Zuflucht gesucht? „Meine Mutter hat sich  wohl aufgrund ihres sozialen Status nicht vorstellen können, in ein Frauenhaus zu gehen, weil das für sie auch den sozialen  Ausschluss aus dem Familienkreis und dem Umfeld bedeutet hätte“, merkt Maier an. Nachdenklich ergänzt sie: „Heute betrachte ich  es als einen großen Fehler, dass sie nicht insFrauenhaus gegangen ist und eine Scheidung durchgezogen hat. Denn bis zu ihrem  Tod hat sie unter der Tobsucht und der Gewalt meines Vaters gelitten.“ Seit dem Tod ihrer Mutter vor fünfzehn Jahren hat Maier den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen. Sie resümiert: „Gewalt an Frauen und Kindern kommt in allen Schichten vor. Aber ich  denke, dass die Scham, darüber öffentlich zu reden, in bürgerlichen Kreisen noch viel höher ist, weil Gewalt in der Familie als  verpönt gilt.“

FRAUENHAUS. „Alle Frauen, die Gewalt in der Familie, in der Partnerschaft oder durch nahe Angehörige erfahren, finden Zuflucht in  den Frauenhäusern. Ganz unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, ihrem Alter, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrem sozialen Status“, erklärt Maria Rösslhumer, die seit 1997 Mitarbeiterin und seit 2001 Geschäftsführerin des Vereins Autonome  Österreichische Frauenhäuser (AÖF)  ist. Von 1991 bis 2012 suchten insgesamt 52.863 Frauen und deren Kinder in den österreichischen Frauenhäusern Schutz. Heute gibt es landesweit 30 Frauenhäuser. „Die Bezeichnung autonom stammt aus der zweiten Frauenbewegung und bedeutet parteipolitisch und ideologisch unabhängig, im Sinne der Frauen und deren Kinder arbeiten zu können“, erläutert Rösslhumer, die in den 1990er-Jahren Politikwissenschaft und Frauenforschung an der Universität Wien   studierte und über den Katholizismus zum Feminismus fand. Jedes Frauenhaus ist außerdem auch eine eigene Einrichtung, die von   der jeweiligen Landesregierung finanziell unterstützt wird. „Die Finanzierung der Frauenhäuser ist daher unterschiedlich. Wir sind laufend mit finanziellen und personellen Einsparun gen und Kürzungen oder sogar mit der Schließung von Frauenhäusern seitens  der Politik konfrontiert“, merkt Maria Rösslhumer an. „Aber wir benötigen langfristige und ausreichende Finanzierungen sowie eine gesetzliche Verankerung der Finanzierung der Frauenhäuser, damit nicht jährlich der Kampf um die Existenz dieser gesellschaftspolitisch wichtigen Einrichtungen geführt werden muss.“

Doch obwohl die österreichischen Frauenhäuser mittlerweile anerkannte und nicht mehr wegzudenkende Opferschutzeinrichtungen darstellen, sind sie manchen PolitikerInnen ein Dorn im Auge. Im vergangenen Sommer lehnte die FPÖ in Amstetten eine Subvention für das lokale Frauenhaus ab. Die blaue Stadträtin Brigitte Kashofer warf der Einrichtung vor, maßgeblich an der Zerstörung von  Ehen und Partnerschaften beteiligt zu sein. „Die FPÖ will offensichtlich die Realität der Gewaltproblematik in unserer Gesellschaft nicht wahrnehmen und stellt die Wichtigkeit von Schutz und Sicherheit für Frauen und Kinder infrage“, sagt Rösslhumer. Sie erzählt,dass die Frauenhäuser zu Beginn von allen politischen Parteien und von der Kirche sehr skeptisch und ablehnend betrachtet wurden: „Auch die SPÖ- Politikerin Johanna Dohnal, die sich sehr stark für die Errichtung des ersten Frauenhauses in Wien 1978 eingesetzt hat, musste einen harten Kampf in ihrer eigenen Partei führen.“

Rösslhumer ist neben ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin des Vereins der AÖF auch Leiterin der Frauenhelpline 0800/222 555 und  des europäischen Netzwerks WAVE (Women against Violence Europe). Außerdem ist sie Koordinatorin der Plattform gegen die Gewalt in der Familie. „Die Gewalt an Frauen ist meist Partnergewalt und kann viele Formen annehmen. Sie äußert sich in  psychischer, sexueller, physischer und finanzieller Form und kommt oft in Kombination vor. Sie kann auch tödlich sein, denn die  Mehrheit der orde an Frauen erfolgt im Familienkreis“, berichtet Rösslhumer: „Kinder sind von der Gewalt gegen ihre Mütter immer   mitbetroffen, entweder direkt oder indirekt ZeugInnen.“ Die Frauenhäuser bieten den Frauen und ihren Kindern umfangreiche Hilfe. diese beginnt bei Schutz und Sicherheit und reicht bis zu psychosozialer und juristischer Beratung und medizinischer Hilfe. Auch die Begleitung zu Ämtern, Behörden sowie die Prozessbegleitung und die Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche gehören zu den Aufgaben der Frauenhäuser. Aber auch die politische Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil der Einrichtungen, betont Rösslhumer: „Die  Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser waren mit dem Verein AÖF maßgeblich an den Gewaltschutzgesetzen beteiligt, die seit mehr als  15 Jahren existieren und den Schutz und die Sicherheit von betroffenen Frauen und Kindern wesentlich verbessert haben.“

ARBEITERiNNENSCHICHT. „Die Zeit im Frauenhaus habe ich positiv in Erinnerung, denn endlich hatten meine Mutter und ich das  Gefühl, an einem sicheren Ort zu sein“, erinnert sich Sigrid Schneider* (25). Schneiders Mutter war mit ihrer damals sechsjährigen Tochter vor ihrem gewalttätigen Ehemann in einer Nacht- und Nebelaktion aus einem Dorf bei Linz ins Frauenhaus geflohen. Die  Entscheidung hatte die Mutter kurzfristig gefällt, nachdem ihr damaliger Mann sie brutal zusammengeschlagen hatte und dazu übergegangen war, auch die gemeinsame Tochter zu  schlagen. Zuvor hatte sie bei einem Kinderarztbesuch im Warteraum einen Artikel über die Frauenhäuser und deren Aufgaben gelesen, der ihr Mut gemacht hatte. „Mein Vater – den ich heute eigentlich nicht mehr als solchen bezeichne – war neun Jahre älter als meine Mutter. Er hat als Stahlarbeiter gearbeitet, war krankhaft eifersüchtig  und regelmäßig betrunken“, erzählt die heutige Kindergartenpädagogin, die nebenberuflich an der Universität Wien Pädagogik  studiert. „Nach meiner Geburt hat er meine Mutter sukzessiv von ihrer Familie und ihrem früheren Freundeskreis isoliert und   psychisch fertiggemacht. Auch das Ausüben ihres gelernten Berufs als Verkäuferin hat er ihr verboten“, erklärt Schneider. Als ihre Mutter mit ihr im Frauenhaus Zuflucht suchte, war sie genauso alt wie Sigrid Schneider heute. „Durch die Betreuung im Frauenhaus konnten meine Mutter und ich die Erlebnisse viel besser verarbeiten. Ich weiß nicht, was sonst passiert wäre und ob wir eine  Trennung von ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – überlebt hätten“, sagt sie mit einem leichten Zittern in ihrer Stimme.

Das Frauenhaus hat ihrer Mutter auch bei der Scheidung geholfen und sie dabei unterstützt, ein neues Leben zu beginnen. „Durch  seine Hilfe haben wir eine Übergangswohnung in Wien bekommen und Linz rasch verlassen.“ Der Neustart in Wien war nicht einfach,  weil Schneiders Vater die Zahlungen der Alimente einstellte und ihre Mutter als Verkäuferin finanziell auf sich alleine  gestellt war. Als Schneider zehn Jahre alt war, kam ihr Vater schwerst alkoholisiert bei einem Verkehrsunfall in Oberösterreich ums Leben: „Das mag sich jetzt hart anhören, aber für meine Mutter und mich begann erst nach seinem Tod ein richtig sorgenfreies Leben. Denn selbst in Wien hatten wir Angst, dass er uns finden würde.“ Dass ein selbsternannter „Väterrechtler“ die Adressen der  vier Wiener Frauenhäuser auf einer Website veröffentlicht hat, macht sie wütend: „Ich möchte gar nicht daran denken, was mein  Vater damals in Linz getan hätte, wenn ihm die Adresse des Frauenhauses bekannt gewesen wäre. Aber ich kann mir gut vorstellen,  dass er meine Mutter und mich im besoffenen Zustand physisch attackiert hätte. Im schlimmsten Fall würde ich heute nicht hier  sitzen und von seiner Gewalt erzählen können.“

*Die Namen wurden auf Wunsch der Interviewpartnerinnen geändert und sind der Redaktion bekannt.

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