Familie

Abenteuer Familie

  • 12.03.2016, 13:00
Die US-amerikanische Animatorin Patricia Beckmann Wells zeigte am diesjährigen tricky women-Festival ihren Kurzfilm „Family Tale“. Mit progress-Journalistin Marlene Brüggemann sprach sie über ihre Erfahrungen als Adoptivmutter, Shrek-Macherin und kreative Hundehüterin.

Die US-amerikanische Animatorin Patricia Beckmann Wells zeigte am diesjährigen tricky women-Festival ihren Kurzfilm „Family Tale“. Mit progress-Journalistin Marlene Brüggemann sprach sie über ihre Erfahrungen als Adoptivmutter, Shrek-Macherin und kreative Hundehüterin.

Sehnsucht, Verluste und Freude – in „Family Tale“ verarbeitet Patricia Beckmann Wells die Geschichte, wie sie zu ihrer jetzigen Familie kam. Aus einem Leben als sprunghafte Abenteurerin mit ihren beiden Hunden Thelma und Louise entwickelt sich der Wunsch Kinder zu bekommen. Was Patricia sich als natürliche Gegebenheit vorgestellt hat, entpuppt sich als ein schmerzvoller Weg geprägt von drei Fehlgeburten und missglückten Adoptionsversuchen. Zum Schluss gibt es aber den Anfang eines Happy End mit einem Sohn, dessen biologische Mutter und Geschwister zur erweiterten Familie werden.

progress: Bist du eine Familienperson?
Patricia Beckmann Wells:
Als ich jung war, dachte ich nie, dass ich eine bin. Aber jetzt schon. Als ich meinen Ehemann kennenlernte, hörte ich auf zu reisen und wollte nur noch mit ihm rumhängen. Davor lebte ich ein abenteuerliches Leben. Ich war so eine Person, die gerne alle ihre Sachen packte und dann einfach auf die andere Seite des Landes gezogen ist. Das ist mehr als einmal passiert. (Lacht)

In „Family Tale“ hast du dich als schemenhaftes Strichwesen dargestellt. Warum?
Als ich jünger war, fühlte ich mich eher wie ein Cartoon. Ich war sehr naiv, auch wenn ich bereit war überall hinzugehen und alles auszuprobieren. Auch die ältere Patricia ist in „Family Tale“ sehr skizzenhaft, das liegt aber daran, dass meine Arbeit mit dem Alter abstrakter wird.

Seit wann machst du Animationsfilme?
Ich schloss mein Animationsstudium 1996 ab. Seitdem arbeitete ich für Warner Bros an Filmen wie „Mars Attacks!“, „Eraser“ und einem Batmanfilm; für DreamsWorks Animation an „The Bee Movie“, „Shrek“, „Kung Fu Panda“ sowie für die Disney Animation Studios an dem 2D Film „The Princess and the Frog“ und Rapunzel und für Film Roman, das Studio das Die Simpsons macht. Eine Zeit lang war ich Freiberuflerin. Dann ging ich in den Bildungssektor, weil ich mehr Zeit für meine eigenen Filme haben wollte. Es ist wirklich hart in den Filmstudios, weil du dort ein Zahnrad in einer Maschine bist.

Was sind deine Erfahrungen mit den großen Animationsfilm-Studios?
Es hat etwas von einem Nomadenleben, weil du den Jobangeboten nachreist. Wenn du einmal in dem Studiosystem drinnen bist, , läufst du in dessen Rythmus mit. Das ist richtig cool. Irgendwann bemerkst du aber, dass deine Skillsets mehr und mehr verfeinert werden müssen. Es gibt so viele verschiedene Arten von Animator_innen, zum Beispiel für Visual Effects, Charaktere oder einfach nur Tentakeln oder Arme. Du kannst ein_e Animator_in sein, aber du wirst in eine sehr spezielle und enge Position gesteckt.

Für mich war das Problem: Ich wusste nicht mehr, was mein Stil ist. Ich arbeitete immer in dem Stil, der mir vom Filmkomitee aufgetragen wurde. Zusätzlich machte ich den Fehler, als Trainee zu arbeiten. Ich hätte gleich kreative Positionen belegen sollen, aber ich war nie wirklich dafür in Betracht gezogen worden, weil ich einen Hintergrund im Bildungswesen hatte. Das war eine persönliche Herausforderung, daraufhin kündigte ich meinen Job in den Filmstudios. Außerdem wurde ich nie als Künstlerin gesehen, obwohl ich von 2000 bis 2005 all diese Filmfestivals gewann. Ich fragte mich: Warum? Ich frage mich, ob das bei anderen Frauen auch so ist, dass sie nur in einer Schiene willkommen geheißen werden.

Wie ist es eigentlich für Frauen_ in der Animation?
Es gibt das Ziel, mehr Frauen in die kreativen Positionen zu bringen. In den USA machen sie an den Studios weniger als 20 Prozent aus. Es hält sie niemand auf, in der Animation anzufangen, aber sie tendieren dazu, entlang des Weges dahin zu verschwinden. Ich erarbeite gerade als Professorin am Irvine Valley College eine Studie, anhand der wir einhundert Frauen in der Animation über fünf Jahre begleiten werden, um herauszufinden, was mit ihnen passiert.

Du bist also jetzt in der Wissenschaft?
Nach meiner Kündigung machte ich mein Doktorat und konzentrierte mich auf meine eigenen Filme. Das war hart, weil ich alles aufgab. Menschen behandeln dich anders, wenn du nicht mehr in den großen Filmstudios arbeitest, sondern als Professorin.

Ist dein Leben jetzt weniger aufregend?
Anders aber auch aufregend, weil ich jetzt in Virtual und Augmented Reality arbeite und das explodiert zurzeit. Es heißt, VR würde eine Zwei-Milliarden-Industrie werden. Da kannst du noch experimentieren und deine eigenen Visionen realisieren.

Mit welchen Techniken hast du „Family Tale“ realisiert?
„Family Tale“ ist eine 2D-Animation und handgezeichnet. Dass ich alleine einen achteinhalbminütigen Film geschafft habe, liegt daran, dass alles sehr lose gezeichnet ist, weil es als Storyboard gedacht war. Ich mag Stop-Motion Filme, aber es hätte zehn Jahre gedauert, bis er fertig geworden wäre. „Family Tale“ war eine emotionale Arbeit und ich wollte sie einfach machen.
Zusätzlich trieb mich meine Hündin an. Sie war von einem Koyoten angegriffen worden und musste über die ganze Seite genäht werden. Um sie ruhig zu halten, saß ich zwei Monate lang neben ihr und zeichnete. Das hat mir geholfen, den Film fertig zu machen. Die Technik war „an-einen-Hund-gebunden“-Zeichnen. (Lacht)

„Family Tale“ ist ein schneller Film – eine ganze Familiengeschichte wird erzählt. Fehlt dir retrospektiv das Detail?
Was ich gern noch stärker reinbringenwürde, ist die Perspektive der Mutter. Sie hat so eine interessante Geschichte und eigene Angelegenheiten, mit denen sie umgehen muss. Sie zu behandeln, wäre eine eigene Geschichte.

Dein Film handelt auch von Fehlgeburten. Wieso ist es so schwierig, darüber zu sprechen?
Ich war bei einer meiner Fehlgeburten sehr wütend auf einen Arzt, der auch im Film vorkommt. Er hätte sich nach meiner Fehlgeburt 30 Sekunden nehmen und Mitgefühl auszudrücken können. Stattdessen sagte er zu mir: „Das passiert allen. Glauben Sie, Sie sind etwas Besonderes?“ Es schockierte mich, so etwas nach einem Verlust zu hören. Du brauchst nach einer Fehlgeburt eine Entlastung und die wurde mir nicht gegeben. Ich fühle sehr mit den Frauen, die mit niemandem darüber sprechen können. Was ich mit „Family Tale“ ansprechen will, ist, dass es wichtig ist, die mentale Gesundheit der Patientinnen, die eine oder mehrere Fehlgeburten erlebt haben, ernst zu nehmen. Es gibt oft den Moment des kollektiven Stolzes, wenn Frauen ihre Babys zum ersten Mal herumtragen. Das ist eine unfaire Verteilung von Aufmerksamkeit. Es gibt so viele Frauen, die ihre Kinder verloren haben und du hörst nie davon, außer du sprichst über deinen eigenen Verlust. Wieso ist das so? Ich möchte mit meinem Film zu mehr Kommunikation über Fehlgeburten anregen, weil es ein großes psychisches Gesundheitsproblem ist.

Neben Fehlgeburt ist das Thema Adoption zentral – eine Ermutigung zur Mutterschaft abseits der biologischen Mutter-Kind-Bindung?
Die ersten Tage, in denen mein Sohn bei uns war, fragte ich mich ständig: „Liebe ich dieses Kind?“ Aber jetzt liebe ich ihn sehr. Ich kann – er ist drei Jahre alt – seine biologischen Brüder und Schwestern in ihm sehen, aber auch mich und meinen Mann. Das versichert mir, dass er mich und meinen Mann in sich erkennen wird, wenn er später mal merkt, dass wir nicht seine biologischen Eltern sind. Außerdem wird er seine biologische Familie kennen, weil wir uns für eine offene Adoption entschieden haben. Er trifft seine biologische Mutter, seine Brüder und Schwestern zweimal im Jahr, sie spielen dann miteinander und geben sich Geburtstagsgeschenke. In einer offenen Adoption nimmst du dich nicht nur des Kindes an, das du adoptierst, sondern auch der biologischen Mutter und deren Familie. Ich wollte einen Sohn, jetzt habe ich acht Kinder! (Lacht) Jede_r ist anders, aber ich und mein Ehemann haben uns für das Konzept der offenen Adoption entschieden und für uns funktioniert es, weil die richtigen Leute involviert waren. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen das nicht funktioniert. Aber wenn es funktioniert, ist es eines der fantastischsten Abenteuer, die eins erleben kann.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Familienprobleme

  • 20.03.2014, 17:16

 

Die Familie gab stets Anlass zum Kopfzerbrechen, im Leben wie in der Literatur. Sie fordert dazu heraus über das Verhältnis von Generationen, Einzelnen und Gesellschaft nachzudenken.

Familien sind überall. Im Fernsehen sind sie himmlisch und schrecklich, haben kleine Farmen und Anwesen in Bel Air. Auch jenseits der Fiktion sind sie nicht unterrepräsentiert, es gibt ein Ministerium für Familie und Jugend sowie eigene Familiensprecherinnen und -sprecher bei den großen Parteien. Die ersten Assoziationen zu Familie betreffen das traute Heim, die (verlogene) Idylle und die (erzwungene) Harmonie. Eigentlich steht die Familie aber im Zentrum gesellschaftlicher Konflikte und ist Austragungsort zahlreicher Kämpfe. Sie nimmt eine Scharnierfunktion zwischen Privatem und Öffentlichem ein.

Sozialtümpel. Die Familie bildet deshalb ein äußerst reizvolles Experimentierfeld für die Literatur. In ihr verdichtet sich Gesellschaft, sie ist Kulminationspunkt abstrakter Verhältnisse und macht diese greifbar. Darüber hinaus ermöglicht die Auseinandersetzung mit den Eltern einen persönlichen Zugang zur Vergangenheit. Das motivierte etwa die sogenannten „Väterbücher“, in denen sich, beginnend mit den 1970er-Jahren, eine ganze Reihe von Autoren und einige Autorinnen mit ihren gestorbenen Vätern auseinandersetzten. Peter Henischs „Die kleine Figur meines Vaters“ und Elisabeth Plessens „Mitteilung an den Adel“ sind Beispiele für diese Art der Vergangenheitsbewältigung. Bis heute erfreut sich diese Form der Kontaktaufnahme mit den toten Ahnen gewisser Beliebtheit. So legte Erich Hackl gerade einen Band voll dichter Prosa vor, die sich vorsichtig dem Leben seiner Mutter im Waldviertel annähert. Charakteristisch für diese Art der Literatur ist ein einfühlsamer Stil, der sich Wertungen enthält. Dennoch idealisiert Hackl das Landleben keinesfalls, sondern schildert verhältnismäßig nüchtern auch dessen Grausamkeiten; etwa wenn es um den Umgang mit Abtreibung geht.

Pars pro toto. Bereits 2010 hatte Hackl einen anderen Familienroman vorgelegt. Er beschreibt die Geschichte der Familie Salzmann über drei Generationen. So behutsam das Buch mit dem Untertitel „Erzählung aus unserer Mitte“ die individuelle und genau recherchierte Geschichte der Figuren erzählt, so sehr ist es auch ein Buch über gesellschaftliche Kontinuität und das Fortleben von Antisemitismus und autoritärem Charakter. Es ist ein Buch über eine Familie, aber auch ein Buch über Postnazismus. Noch der Enkel des Kommunisten und Widerstandskämpfers Hugo Salzmann und der in Ravensbrück ermordeten Juliana Salzmann wird an seinem Arbeitsplatz bei der Grazer Gebietskrankenkasse antisemitisch gemobbt und 1997 schließlich entlassen.

Diese Verbindung des Erzählens über einzelne Personen und Familien auf der einen Seite und über eine Gesellschaft als Ganze auf der anderen Seite könnte als widersprüchlich verstanden werden. Schließlich hat das Leben einer eingewanderten Hilfsarbeiterin mit dem einer erfolgreichen Anwältin aus eingesessener Familie zunächst scheinbar wenig zu tun. Aber kreuzen sich die Wege dieser Bewohnerinnen unterschiedlicher Welten nicht dennoch, und sind ihre Positionen nicht im Grunde voneinander abhängig?

Solche Zusammenhänge kann ein Roman in einer Situation zuspitzen. Die Herausforderung liegt darin, Beispiele auszuwählen, die nicht einfach als Einzelfälle abgetan werden können. Dazu müssen sie mehr sein, als ein Beleg für ein Problem. Sie müssen etwas Zwingendes erhalten, das es ihnen erlaubt, sich ein Stück weit zu verselbstständigen. Solche Geschichten sind wahr, ohne dafür auf historischer Wahrheit beruhen zu müssen.

Verwandtes. Die Probleme, die der Familien- und Generationenroman aufwirft, gehen somit über die Sphäre der Verwandtschaft hinaus. Zentral ist dabei der Gegensatz zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. Dieses Verhältnis kann sehr unterschiedlich gedacht werden. Auch über völkischrechte Kreise hinaus ist die Vorstellung von Gesellschaft als Organismus, dessen Zellen die einzelnen Menschen seien, weit verbreitet. In dieser Vorstellung wird das Ganze hoch bewertet, die Einzelnen werden jedoch zu funktionalen Rädchen und Schrauben herabgesetzt.

In einer anderen Sicht, die mitunter von Teilen der modernen Sozialwissenschaft vertreten wird, stellt sich Gesellschaft als die Summe ihrer Teile vor. Auf eine Gesellschaftstheorie verzichten VertreterInnen dieses Weltbilds. Die Forschung beschränkt sich dann darauf, die Reaktionen der Menschen auf gewisse Impulse aufzuzeichnen und Prognosen für zukünftiges Verhalten zu treffen. Aussagen über ein gesellschaftliches Ganzes scheinen aus dieser Perspektive spekulativ und unseriös.

Gesellschaft ist jedoch weder ein für sich selbst existierendes Wesen, noch einfach ein Sammelbegriff für einen Haufen unzusammenhängender Einzelteile. Eher müsste sie als das Verhältnis der Menschen zueinander gedacht werden. Sie ist zwar als eigenständige Dynamik beschreibbar, aber nicht als von einzelnen Menschen und Geschichten unabhängig existierende Wesenheit. Walter Benjamin hat einmal das Bild der Sternenkonstellation bemüht, um seine Theorie von Wahrheit zu erklären. Die Analogie funktioniert auch hier. So wie der „Große Wagen“ eine bestimmte Anordnung von Sternen ist, so ist Gesellschaft eine bestimmte Konstellation von handelnden und denkenden Menschen. Eine Konstellation übrigens, die sich durchaus ändern ließe, würde der Wagen nicht allzu tief im Schlamm stecken.

Vielleicht besteht aber Hoffnung. Schließlich ist das Verhältnis zur Elterngeneration zunächst rebellisch und unangepasst. Deutet der Umstand, dass sich Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“, der sich um einen jugendlichen Ausreißer dreht, beständig auf den Bestsellerlisten hält, auf die Lebendigkeit dieses Potentials hin? Oder mündet die Rebellion der Jungen am Ende doch in der Anpassung an die Werte der Eltern?

 

Simon Sailer studiert im Master Art and Science an der Universität für angewandte Kunst Wien

Wie der Kern in die Familie kam

  • 21.02.2013, 14:35

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Kernfamilie. Als Kernfamilie wurde im deutschen Sprachgebrauch meist eine Haushaltsgemeinschaft bezeichnet, die aus Mutter, Vater und deren leiblichen Kindern besteht. Der Ausdruck bezeichnete also ein heterosexuelles Pärchen und deren gemeinsame, nicht adoptierte Kinder. In dieser Verwendung spiegelt er ein konservatives, heterosexistisches und völkisches Familienbild wider.

Allerdings unterliegt der Begriff derzeit einer Bedeutungswandlung. Die österreichische Regierung etwa bestimmt auf help.gv.at die Kernfamilie in Zusammenhang mit Aufenthaltsrecht als „Ehegatten, eingetragene Partner und ledige minderjährige Kinder (einschließlich Adoptiv- und Stiefkinder)“. 

Nuclear Family. Im Englischen entspricht der Begriff der „Nuclear Family“ dem deutschen Ausdruck „Kernfamilie“ – allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass die üblichen Bestimmungen auch explizit auf gleichgeschlechtliche Paare und Adoptivkinder hinweisen. Im Unterschied zu der im deutschen noch üblichen völkischen und heterosexistischen Verwendung ist im Englischen die liberale Begriffsauffassung dominanter. Sie geht einfach von einem Erwachsenenpaar und deren sozialen Kindern aus. Die paarförmige Lebensweise bleibt dabei als der liberale Kern der „Nuclear Family“ aufrecht. 

Geschichte der bürgerlichen Familie. Der Begriff der Familie unterlag im Lauf der Zeit zahlreichen Wandlungen. Sowohl wer zum Kern der Familie gerechnet wird, hat sich verändert, wie auch die innere Familienstruktur, also die Aufgabenteilung und der Status der einzelnen Tätigkeiten. So bezeichnete das lateinische Wort famulus, das der Familie ihren Namen gab, das häusliche Eigentum des Mannes: nach damaligem Recht seine Ehefrau, Kinder, SklavInnen und Nutztiere. In der vorindustriellen Familie waren alle im Haus lebenden Männer und Frauen am geschlechtsspezifisch arbeitsteilig organisierten Haushalt beteiligt. Die moderne bürgerliche Familie mit ihrer deutlichen Trennung von Haus- und Erwerbsarbeit bildete sich erst im 19. Jahrhundert prägnanter aus und traf schon relativ früh auf Kritik seitens sich herausbildender feministischer Gruppierungen.

Patchworkfamilie. Dass die Kernfamilie nicht mehr die einzige Form des aktuellen Familienbildes darstellt, hat sich mittlerweile herumgesprochen. In den 1990ern erfuhren alternative Familienformen eine sprachliche Aufwertung, die mit einer wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz einherging. Familien, die aus Kindern aus unterschiedlichen Beziehungen, Alleinerziehenden oder wechselnden sozialen Eltern und Bezugspersonen bestehen, werden jetzt mit dem Ausdruck Patchworkfamilie bezeichnet.

Schon sprachlich verweist der Begriff auf Zerstückelung und Zusammensetzung. Die zunehmende Individualisierung in den Industriestaaten führt zu einer erhöhten Beweglichkeit und Flexibilität und damit einhergehend auch zu einer freieren Allianzenbildung im familiären Bereich. Die Menschen beginnen sich, entgegen der Redewendung, ihre Familie auszusuchen.

Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Ob Homo- oder Heteropärchen, Patchwork- oder Kernfamilie, jedenfalls wird in den gängigen Debatten immer von fixierten und klar definierten Geschlechtern ausgegangen. Es gäbe eben Frauen und Männer, die sich in homo- oder heterosexuellen Beziehungen zusammenschließen und Kinder ausbrüten. Diese Auffassung spiegelt sich auch gesetzlich wider und stellt Menschen, die sich weder als männlich noch weiblich definieren wollen, beziehungsweise ihr Geschlecht ändern oder geändert haben vor einige Schwierigkeiten. Weil das Familien- und Adoptionsrecht von zwei feststellbaren und feststehenden Geschlechtern ausgeht, werden die Möglichkeiten von Inter- und Transpersonen erheblich eingeschränkt. Das Recht sieht vor, dass sie sich einer aufwendigen Prozedur unterwerfen und sich schließlich auf ein Geschlecht mit „passendem“ Namen festlegen. 

Die kleinste Zelle der Gesellschaft. Friedrich Engels bezeichnet die Ehe als kleinste Zelle der zivilisierten Gesellschaft – eine Formulierung, die häufig in unkritischer Weise aufgegriffen und wiedergegeben wird, obwohl Engels die Unterdrückung von Frauen durch Männer im selben Absatz als die erste Klassenunterdrückung bezeichnet. An der Ehe lasse sich die Natur der voll entfaltenden Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft ablesen – eine Position übrigens, mit der sich Simone de Beauvoir kritisch auseinandersetzt. Sie gesteht Engels zwar zu, eine vergleichsweise fortschrittliche Position zu vertreten, zeigt sich aber vor allem davon enttäuscht, dass er eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung voraussetzt, anstatt sie zu erklären. De Beauvoir vermutet gerade in der Frage der Kindergeburt und -versorgung den ersten Vorteil, der es Männern erlaube, Herrschaft über Frauen zu erlangen und diese zu verfestigen. Sie geht von einem körperlichen Unterschied aus, der einst eine Entwicklung in Gang gesetzt habe, in einer modernen Gesellschaft aber keine Rolle mehr spielen müsse.

Die Keimzelle des Bürgertums

  • 20.02.2013, 16:22

Familienpolitik: Alles soll beim Alten bleiben. Feminismus kämpft dagegen an.

Familienpolitik: Alles soll beim Alten bleiben. Feminismus kämpft dagegen an.

Als 1789 Überschwemmungen, Dürre und Unwetter den Brotpreis in die Höhe schnalzen ließen, kam es in ganz Frankreich am Land zu Bauernaufständen, in den Städten zu Plünderungen und Unruhen. Die französische Revolution steckte in ihren Kinderschuhen – und auch die Frauen witterten ihre Chance, als Revolutionärinnen der Recht- und Erwerbslosigkeit sowie der doppelten Unterdrückung durch Obrigkeit und Ehemann zu entkommen. Viele kämpften an vorderster Front gegen das Ancien Regime, gründeten Frauenklubs und hielten Frauenversammlungen ab.

Doch dann kam die große Ernüchterung: Die Menschenrechte wurden verfasst – schrieben jedoch als „droits de l’homme“ eben nur die „Rechte des Mannes“ fest. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – aber nur für Männer. Frauenklubs wurden wieder aufgelöst,  Frauenversammlungen verboten und bereits im Code civil festgeschriebene Erleichterungen wurden gestrichen. Zwar verfasste 1791 Marie Olympe de Gouges Die Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin und sandte sie an die Nationalversammlung. Für 200 Jahre verschwand die Schrift dort aber in der Versenkung – erst in den 1970ern wurde sie wieder hervorgekramt. De Gouges selbst musste dennoch mit dem Leben zahlen: Wegen angeblicher royalistischer Verschwörung wurde sie am 3. November 1793 hingerichtet.

Privates ist politisch. De Gouges’ Schrift war eine Art feministische Initialzündung für die „erste Welle“ der Frauenbewegung, die sich für gleiche bürgerliche Rechte für Frauen  einsetzte. Denn wogegen sie kämpfte, war jener Platz, der in der bürgerlichen Kleinfamilie weiterhin für Frauen vorgesehen war: fernab von politischer Auseinandersetzung im öffentlichen Leben, zurückgedrängt in die als „unpolitisch“ deklarierte Privatheit der Familie, über welche öffentliche Debatten unerwünscht waren. Dass das Private aber politisch ist, fiel nicht erst den Feministinnen der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1970ern auf – schon in ebenjenen Geburtsstunden der bürgerlichen kapitalistischen Kleinfamilie verfasste die radikale Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft 1792 die Schrift A vindication of the rights of women. Die Ehe beschrieb sie darin als legale Prostitution – zentrale Voraussetzung für die Emanzipation von Frauen sah sie im gleichen Zugang zu Bildung.

Ehe und Familie sind in der bürgerlichen Gesellschaft die private Blaupause zur öffentlichen Sphäre der Politik und Lohnarbeit – sie stellen die materielle Basis für das darauf aufbauende moderne Geschlechterverhältnis dar. Wer daher „Familienpolitik“ betreibt, muss sich bewusst sein, gleichzeitig immer auch Geschlechterpolitik einzuzementieren. Heute wird zwar gerne beschworen, dass die Zeiten des Heimchens am Herd und des  Familienernährers längst vorbei seien. Aber aktuelle Studien zeigen: In den letzten Jahrzehnten lassen sich kaum Veränderungen bei der klassischen Zuständigkeit der Frauen beobachten. Frauen tragen nach wie vor die Hauptlast bei unbezahlten Fürsorge- und Reproduktionstätigkeiten – im Jahr 2002 arbeiteten sie in Österreich durchschnittlich 45 Stunden in der Woche, Männer hingegen „nur“ 35 Stunden.

96 Milliarden Stunden Hausarbeit. Beinahe zwei Drittel der von Frauen getätigten Arbeit wird für Hausarbeit und Kinderbetreuung – also „Familienarbeit“ – aufgewendet, wie Barbara Haas, Autorin der 2009 veröffentlichten Studie „Geschlechtergerechte Arbeitsteilung – theoretisch ja, praktisch nein!“, ausführt. Bei höherem Bildungsgrad gleicht sich die Zeitverteilung zwar an, „aber selbst unter AkademikerInnen besteht eine starke Differenz bei der Zeitverwendung“, so Haas.

Was es bedeutet, wenn Frauen nach wie vor den mit Abstand größten Teil der familiären Arbeit erledigen? Wie die Arbeits- und Sozialwissenschafterin Gabriele Winker aufzeigt, umfassten diese Reproduktionsarbeiten – also familiäre Arbeiten wie Kinderaufzucht, Liebe, Hausarbeit, Hege, Pflege – auch im Jahr 2001in Deutschland insgesamt 96 Milliarden Stunden Arbeit, während die Erwerbsarbeit „nur“ 56 Milliarden Stunden Arbeit betrug. Die Zahlen beruhen dabei auf Erhebungen des Statistischen Bundesamts Deutschlands von 2003.

Spätestens an dieser Stelle wird klar: Familienpolitik und feministische Politik verhalten sich zueinander komplementär. So ist es nicht verwunderlich, dass Familien- und  feministische Politik auch die österreichische Innenpolitik in eine schwarz-blaue und eine rot-grüne Hälfte dividiert. Umkämpft wird die gleiche Medaille, von zwei unterschiedlichen  Seiten. Das zeigt sich auch daran, dass bis Mitte der 1970er- Jahre das noch aus Monarchiezeiten stammende Ehe- und Familienrecht in Österreich galt: Das Konzept der „Versorgungsehe“ eines erwerbstätigen männlichen Familienerhalters und einer unentgeltlich den Familienhaushalt führenden „Hausfrau“ war hier gesetzlich festgeschrieben. Erst unter sozialdemokratischer Mehrheit konnte dieser Zement in den 1970ern aufgebrochen werden. Verpflichtende Wohnsitzfolge, alleiniges Entscheidungsrecht durch den Mann in Erziehungsfragen, einseitige Pflicht zur Haushaltsführung sowie die Pflicht der Ehefrau zur Mitarbeit im Betrieb des Mannes konnten  abgeschafft werden.

Schwarz-Blaue Hochzeit. Auch wenig verwunderlich: Der nächste Bruch in puncto Familienpolitik erfolgte dann unter der schwarzblauen „Wendekoalition“. Schwarz-Blau führte das gemeinsame Sorgerecht ein und wirkte auch auf symbolischer Ebene mit einem staatlich finanzierten „Hochzeitsbuch“ mit allerhand Tipps für die Schönheit der Braut und die Konversation beim gemeinsamen ehelichen Frühstück. Gleichzeitig wurde in der FPÖ-geführten Männerabteilung gegen die „Gleichmacherei der Geschlechterrollen“ polemisiert.

Familienpolitik ist Geschlechterpolitik. Sie verweist Männer und Frauen auf ihre Plätze, definiert, wie eine Kernfamilie auszusehen hat und delegitimiert damit andere Formen des Zusammenlebens. Insofern wird sie noch lange politischer Zankapfel bleiben.

Liebe wird durch teilen mehr

  • 20.02.2013, 16:11

Alternative Familienmodelle abseits des Mutter-Vater-Kind-Paradigmas: Von der Leihoma, dem neuen großen Bruder und einer Beziehung, an der mehr als nur zwei teilnehmen.

Alternative Familienmodelle abseits des Mutter-Vater-Kind-Paradigmas: Von der Leihoma, dem neuen großen Bruder und einer Beziehung, an der mehr als nur zwei teilnehmen.

Fabian erzählt mit strahlenden Augen von seinem kleinen Bruder Tim. „Wir bauen Lego und spielen Rennbahn. Das mache ich extrem gern. Das ist auch ein bisschen wie ein Alibi: Dass man das machen darf und nicht komisch angeschaut wird als Erwachsener“, lacht Fabian. Dabei hat Fabian Tim erst vor ein paar Monaten kennengelernt. Und streng genommen ist Tim auch nicht wirklich sein Bruder.

Fabian und Tim haben sich über das Mentoring-Programm Big Brothers Big Sisters gefunden, das seit 110 Jahren besteht. In den USA ist es die bekannteste Sozialmarke. Weltweit wurden bisher etwa zwei Millionen Kinder von großen Geschwistern betreut. Im Juni 2012 wurde das erste Büro von BBBS in Wien eröffnet. Bereits im ersten halben Jahr haben sich 50 Familien und 140 MentorInnen gemeldet. Aktuell gibt es in Wien schon 21 Mentor-Mentee-Tandems. Ziel ist, Kinder in schwierigen Lebenssituationen zu fördern. Viele der betreuten sind Kindervon Alleinerziehenden.

Auch Ilona, Tims Mutter, kümmert sich alleine um ihren Sohn. Tim sei ganz ohne Vaterkontakt. „Es ist toll zu wissen, dass er jetzt mal ein Jahr lang jemand fix in seinem Leben hat, den er als Vorbild sieht. Ich kann mir natürlich auch die Bedienungsanleitung für einen Solarbaukasten nehmen, aber das kommt bei einem Kind ganz anders an, wenn das jemand macht, der technikbegeistert ist. Das ist ein ganz anderes Begreifen und Lernen.“

Und umgekehrt hat sich Fabian einen kleinen Bruder gewünscht, der neugierig ist, mit dem er ins Museum gehen und dem er viel erklären kann. Das trifft sich gut, denn Tim liebt das Technische Museum. „Es macht extrem Spaß. Und es ist ein wunderbares Gefühl, wenn ich sehe, dass Tim sich darüber freut.“ Durch ein bewährtes Matching-Verfahren wird für jedes Kind eine passende MentorIngefunden. „Gemeinsame Interessen sind gute Türöffner für die persönliche Beziehung“, erklärt Judith Smetacek, die Geschäftsführerin von Big Brothers Big Sisters Österreich.

Suche nach dem Puzzleteil. Intensiven Gesprächen mit den MentorInnen über Motivation, Interesse und Erwartungen folgen Telefonate mit drei vom Mentor genannten Referenzpersonen aus Familie, Freundeskreis und Arbeitsumfeld – um Selbstbild und Fremdbild zu vergleichen. „Oft ist man so fasziniert von dem Programm, vergisst aber, dass das in der aktuellen Lebenssituation vielleicht gar nicht umsetzbar ist. Daher ist dieser Gegencheck wichtig, um zu sehen, ob die Lebenssituation so stabil ist, dass eine langfristige, vertrauensvolle Beziehung zu einem Kind ohne Beziehungsabbruch jetzt gerade möglich ist“, erklärt Smetacek. Die Rollen zwischen Kernfamilie sowie großen Brüdern und Schwestern sind klar abgegrenzt. „Die Rolle des Mentors ist nicht die Erziehung des
Kindes. Er ist dazu da, um das Kind zu stärken, das Kind wertzuschätzen, ein Ansprechpartner zusätzlich zur Familie zu sein“, sagt Smetacek. Natürlich merkt man aber auch den Einfluss des großen Bruders. Seit Tim weiß, dass Fabian Vegetarier ist, möchte auch er meist ohne Wurst zu Abend essen.

Der Zeitraum für eine Mentoring-Beziehung ist auf acht bis zehn Stunden im Monat über mindestens ein Jahr festgelegt. Nach diesem Jahr kann das Mentoring-Verhältnis verlängert werden. Im Schnitt dauert eine Mentoring-Beziehung zwischen zwei und drei Jahren. „Eine neue Welt wird ein Stück weit erschlossen“, erklärt Smetacek. „Manchmal kommen verschiedene Nationen zusammen. Verschiedene Generationen sind es immer. Und verschiedene Biographien. Man lernt voneinander und miteinander.“ Internationale Studien zeigen, dass Kinder, die im BBBS-Mentoring großgeworden sind, sozial kompetenter sind als die Vergleichsgruppe. Sie können besser mit Konflikten umgehen und treten für ihre Wünsche und Bedürfnisse ein. Andere Vereine, wie etwa das Hilfswerk oder die Caritas, vermitteln Leihomas und Leihopas, wenn Großeltern in der Familie fehlen. Sie verbringen durchschnittlich zwei bis vier Stunden pro Monat mit ihrem neuen Enkelkind.

Ziel ist auch hier, dass Kinder in ihrer Leihoma oder ihrem Leihopa eine zusätzliche Bezugsperson finden. Mehrere Generationen sollen zusammengeführt werden. Karl, 58, Pensionist, ist Leihopa in Ausbildung. „Ich möchte eine erfüllende Tätigkeit, in die ich meine Lebenserfahrung einsfließen lassen kann“, sagt er. „Ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben. Gerade in der Arbeit mit Kindern bekommt man ein großes Echo und viel Freude zurück.“

Alternativen. Die Zusammensetzung der Familie ändert sich. Wo früher noch das traditionelle Vater- Mutter-Kind-Modell das verbreitetste war, haben andere Familienformen in den letzten Jahrzehnten aufgeholt.  Heutzutage sind fast zehn Prozent aller Familien Patchworkfamilien. Die Anzahl der Alleinerziehenden hat in den vergangenen 50 Jahren um mehr als ein Drittel zugenommen.  Die Familienmodelle sind vielfältig. Und manche zeigen, dass es auch ganz anders gehen kann. Jacky und Paul sitzen in der Devi´s  Pearl Bar in Zürich und erzählen von ihrer Beziehung. Oder besser gesagt: von ihren Beziehungen.

Jacky ist verheiratet, hat mit Paul eine zweite Beziehung und noch eine Fernbeziehung in Bern. Paul hat eine Beziehung mit Jacky und eine Fernbeziehung in Wien. Er lebt mit seiner langjährigen Freundin zusammen, sie wird aber bald ausziehen – aus praktischen Gründen, damit beide mehr Privatsphäre haben, wenn sie sich mit anderen PartnerInnen treffen wollen. „Monogamie ist in unserer Gesellschaft verankert wie Schwerkraft in der Physik. Das wird einfach als von Gott gegeben angenommen. Ich glaube nicht, dass das so sein muss“, sagt Paul.

Jacky und Paul leben polyamourös. In vielen Verständnissen von Polyamorie geht es in erster Linie nicht um Sex, sondern darum, emotionale Bindungen zu mehr als einem Partner oder mehr als einer Partnerin zu leben.

Polyamourösität. Das polyamouröse Lebensmodell gibt Paulnicht zuletzt auch stabilere,  länger andauernde Beziehungen: „Wenn man auch mal was anderes sieht, hat man einen Kontrast und Abwechslung, und dann kann man eine Beziehung viel länger führen.“ Jacky erzählt von ihrem langen Entwicklungsprozess. Denn: man ist nicht einfach plötzlich polyamourös. Es findet ein grundlegender Paradigmenwechsel statt. „Du bekommst vorgelebt, dass Monogamie toll ist, und wenn dein Partner sich verliebt oder fremdgeht, ist die Beziehung sofort in Gefahr und du musst dich trennen. Genau da ist die Problematik. Du wirst sehr beeinflusst von außen, von der Familie, den Medien, von Freunden. Du musst dir aber überlegen: Was möchte ich?“

Als Jackys Mann Jürg vorbeikommt und sich zu ihnen setzt, nimmt Jacky einmal Pauls und dann Jürgs Hand. Sie lehnt sich unbewusst mal in die eine, mal in die andere Richtung, hakt sich mal bei Jürg ein, und gibt Paul einen Kuss, als sie kurz auf die Toilette verschwindet. Es scheint alles ausgeglichen zwischen den dreien. Keine Vernachlässigung eines Partners zugunsten des anderen, keine Eifersucht, keine Spannungen. Und genauso selbstverständlich und liebevoll handhaben Jacky und Jürg auch den Umgang ihrer jeweiligen Partner und Partnerinnen mit der gemeinsamen Tochter. „Vor einem Kind kannst du nichts verstecken. Die spüren das und es wäre nicht fair, ihm irgendetwas vorzumachen. Unsere Tochter kennt alle unsere Partner, und sie weiß auch, wenn ich einen Abend bei Paulbin. Je mehr Liebe sie bekommt, desto besser.“ Wenn Paul bei Jacky übernachtet und Jürg bei seiner Freundin ist, wird auch das vor ihrer gemeinsamen Tochter nicht verheimlicht.

War Paul am Abend da, fragt sie am nächsten Morgen auch nach ihm, um „Guten Morgen“ sagen zu können. „Ich glaube, dass ich mittlerweile eine Bezugsperson geworden bin, die wichtig ist für sie“, sagt Paul.

Ehrlichkeit als Schlüssel. So normal das polyamouröse Familienleben momentan für ihre  Tochter ist, machen sich Jacky und Jürg natürlich auch Gedanken darüber, wie ihre Tochter mit dem Thema in Zukunft umgehen wird, wenn sie die Andersartigkeit dieses Familienmodells von der Gesellschaft reflektiert bekommt. „Heutzutage ist die Gesellschaft schon offener als früher“, sagt Jürg. „Wenn sie Fragen hat, wird sie kommen. Sie wird von uns jede Frage ehrlich beantwortet bekommen. Ich werde vor ihr nichts verstecken“, sagtJacky. Sehr wichtig ist ihr, dass ihre Tochter Selbstverteidigung lernt. „Das gibt Selbstvertrauen“, fügt Paul hinzu. Zu Jackys und Pauls Beziehung gehört auch, dass sie Erziehungsfragen besprechen. „Ich führe eine Beziehung zu meinem Mann. Ich führe eine mit Paul. Und alles, was mich beschäftigt, teile ich mit allen“, sagt Jacky. Paul möchte aber für Jackys Tochter keinesfalls eine zusätzliche Person sein, um etwa ein „Nein“ ihrer Mutter zu umgehen. Für die direkte Erziehung ihrer Tochter sind ganz klar nur Jacky und Jürg zuständig. Bezugsperson ist er aber trotzdem, das ist ihm wichtig: „Liebe wird durch teilen mehr“, ist Paul überzeugt.

Festung Familie

  • 20.02.2013, 15:54

Die Familie erlebt bei den Jungen ein Revival. Anstelle des romantischen Ideals tritt eine Mischung aus Pragmatismus und Unsicherheit. Die Familie dient immer mehr als Festung, zum Schutz vor der Gesellschaft. Ein Kommentar von Simone Grössing.

Die Familie erlebt bei den Jungen ein Revival. Anstelle des romantischen Ideals tritt eine Mischung aus Pragmatismus und Unsicherheit. Die Familie dient immer mehr als Festung, zum Schutz vor der Gesellschaft. Ein Kommentar von Simone Grössing.

Seit geraumer Zeit fallen sie auf: Vom Laptop grinsen sie auf uns herab und winken uns zu – es sind strahlende Gesichter beim Familienessen, bei der gemeinsamen Weihnachtsfeier oder beim Familienurlaub.

Es sind Fotos, die von jungen Social-Media-UserInnen in Umlauf gebracht werden. Es handelt sich um Bilder von intakten, harmonischen Familien, deren Mitglieder sehr gerne Zeit miteinander verbringen zu scheinen. Was zu anderen Zeiten für viele junge Menschen als peinlich und weniger wichtig galt, scheint wieder verstärkt ein Statussymbol und Teil der eigenen Identität zu sein: die Familie.

Auch Statistiken belegen das Comeback familiärer Werte unter den Jungen. So auch die umfangreiche, vom Institut für Jugendkulturforschung Wien durchgeführte Jugendwerte-Studie aus dem Jahr 2011. Für 81 Prozent der befragten 16- bis 24Jährigen ist die Familie „sehr wichtig“, für 77 Prozent FreundInnen und Bekannte. Damit hat der Lebensbereich „Freunde und Familie“ in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Gesellschaft vs. Familie. Dass zwischenmenschliche Beziehungen wieder eine wichtigere Rolle im Leben junger Menschen spielen, sehen viele als positive Entwicklung.  Aber wird die Jugend wirklich wieder sozialer? Angesichts der Vielen, die sich im Online-Chat mehr zu sagen haben als im realen Leben, oder weit verbreiteter politischer Verdrossenheit, erscheint diese Interpretation realitätsfern. Der Zweifel ist gerechtfertigt, zeigt die Jugendwerte-Studie: Zu den Ursachen für das Comeback der Familie zählen eher Faktoren wie ein erhöhtes Bedürfnis nach Sicherheit und zunehmender Individualismus als ein wachsendes soziales Bewusstsein. Ironischerweise scheint der Rückzug in die Familie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur gesellschaftlichen Individualisierung zu leisten, während sie gleichzeitig eine der Ursachen für diese Entwicklung ist. Indizien dafür finden sich in Statistiken, die belegen, dass bei den Jungen eine starke Individualisierung stattgefunden hat, die mit dem Verlust von Vertrauen in Zusammenhalt und Politik einhergeht. „Von der Gesellschaft erwartet man sich kaum noch etwas“ und „die  Orientierung im sozialen Nahbereich“ sei die Konsequenz – so die Jugendwerte-Studie.

Pragmatisch und individualistisch. Von der Familie erhoffen sich viele Sicherheit und Rückhalt. Man wendet sich aber nicht nur mit emotionalen Bedürfnissen an sie, sondern die Familie soll auch in finanziellen Angelegenheiten unter die Arme greifen. Während in skandinavischen Ländern wie etwa Dänemark der Staat für die Finanzierung von Studierenden aufkommt, muss man sich in Österreich auf die Familie verlassen. Hier kann man etwa, wenn keine Unterstützung von den eigenen Eltern kommt, diese auf Unterhalt klagen, oder muss sich selbst über Wasser halten. Wo der Sozialstaat nicht mehr greift, muss man sich verstärkt auf die Familie verlassen und ist so an sie gebunden. Diese Abhängigkeitsverhältnisse gehen oft über die Studienzeit hinaus. Viele werden lebenslang von ihren Eltern finanziell unterstützt, bekommen Häuser und Autos vererbt – anders könnten sie von ihren Jobs kaum leben. Geredet wird darüber aber nur selten. Trotz der zunehmenden Relevanz der Familie hat sich über die Jahre hinweg der Zugang zu ihr verändert.

Das zeigt sich auch am steigenden Heiratsalter, späteren Schwangerschaften oder dem Rückgang von Geburten. Auch der Umgang mit Konventionen ist anders als vor etwa zehn Jahren. Beispielsweise wird das traditionelle Familienbild heute von vielen als ein „romantisch verklärtes Ideal“ betrachtet, das laut den Jungen als „erstrebenswert, aber nur mehr schwer zu realisieren“ gilt. Es scheint, als wüssten sie, dass sie hart und lange arbeiten werden müssen, und sie haben gesehen, dass dabei kaum Zeit für die Kinder bleibt  und Ehen immer wieder unter diesen Umständen auseinanderbrechen. Sie sind  realistisch und pragmatisch. Am Boden bleiben und sich keine großen Illusionen machen – so lautet die Devise.

Politisches Potenzial? Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und des damit  einhergehenden Abbaus des Sozialstaates ist es wahrscheinlich, dass sich der Trend zurück zur Familie verstärken wird. Die Gefahr besteht nun, dass sich eine ganze Generation in die Familie flüchtet, um sich dort von der Gesellschaft zu erholen, anstatt sie aktiv mitzugestalten und sich für andere Lebensentwürfe stark zu machen. Vielen Linken ist die bürgerliche Familie deswegen schon lange ein Dorn im Auge – sie gilt für sie als Basis des kapitalistischen Systems.

Dennoch scheint die Verteufelung der Retrowelle von Familien- und Kinderwunsch eine schlechte Antwort auf diese Entwicklung zu sein. Denn diese sind nicht das Problem,  sondern vielmehr Ausdruck einer Zeit, die von Unsicherheiten bestimmt wird. Junge zweifeln an ihrer Zukunft, und fragen sich, was aus ihnen werden soll. Die Angst schreit dabei oft lauter in ihren Köpfen als so manches in ihnen schlummernde Bedürfnis. Natürlich würde es vor allem für junge Frauen einen enormen Rückschritt bedeuten, wenn die Fixierung auf die Familie als Herz der Gesellschaft noch stärker zunehmen würde. Aber  diese Ausdrücke zu verurteilen, wäre der falsche Weg. Vielmehr gilt es gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die uns furchtloser leben lassen, uns den Rücken stärken und das „da draußen“ weniger nach Schlachtfeld aussehen lassen. Wir müssen die verstärkten Wünsche nach Sicherheit und Geborgenheit also nicht bekämpfen, wie manche glauben, sondern in eine andere Richtung lenken. In ihnen steckt eine wichtige  Voraussetzung für Gemeinschaft und Zusammenleben und somit auch ein großes politisches Potenzial. Anstatt diese Bedürfnisse aber (nur) auf die Familie zu projizieren, sollten wir sie auch in Richtung Gesellschaft lenken, so könnten sie zu einer Politisierung und Stärkung eines gesellschaftlichen Bewusstseins führen. Denn warum diese Politisierung bis heute nicht eintritt, bleibt eine wichtige Frage, die wir uns unbedingt  stellen sollten.

Hinter geschlossenen Türen

  • 16.02.2013, 10:24

Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.

Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.

Ein Mann, eine Frau und zwei oder drei Kinder halten sich an den Händen und springen draußen durchs Grüne. Die Sonne strahlt. Sie strahlen. Das ist das Bild, das man nach einer kurzen Internet-Recherche zu Familie erhält. Dass es bei vielen Familien hinter geschlossenen Türen anders aussieht, macht zum Beispiel die Gewaltprävalenzstudie „Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld“ von 2011 deutlich. Die Familie wird dort als jener soziale Nahraum genannt, in dem am häufigsten körperliche Übergriffe erlebt wurden. Von insgesamt 2.334 Personen im Alter zwischen sechzehn und sechzig Jahren gaben etwa drei Viertel an, als Kind mehr als einmal mit körperlicher Gewalt durch Familienmitglieder konfrontiert gewesen zu sein – Gewaltformen wie psychische und ökonomische Gewalt noch nicht mit einberechnet.

Gewalt in der Familie kann von allen Familienmitgliedern ausgehen. Jedoch belegen Studien, dass Frauen in Familie oder Partnerschaft am häufigsten von ihr betroffen sind. Jede fünfte Frau in Österreich ist mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt  in einer Beziehung betroffen. Fünfzig bis siebzig Prozent der Kinder misshandelter Frauen werden ebenfalls misshandelt. „Es geht bei Gewalt immer um Machtungleichgewichte. In Familien sind diese sehr deutlich ausgeprägt, weil sie wenig durch öffentliche  Blicke kontrolliert sind“, erklärt Marion Geisler vom Kinder- und Jugendlichenbereich im ersten Wiener Frauenhaus.

Das Gegenmittel. Auch Frauen werden auffallend oft gegenüber Kindern gewalttätig. Misst man körperliche Gewalt, liegt die  Gewalterfahrung durch Mütter noch vor der Gewalterfahrung durch den Vater. „Ein Grund könnten die klassischen  Geschlechterrollen sein, in denen Frauen noch immer die meiste Erziehungs- und Hausarbeit leisten und zusätzlich einer beruflichen Arbeit nachgehen“, sagt Olaf Kapella vom Österreichischen Institut für Familienforschung, der maßgeblich an der eingangs zitierten Gewaltprävalenzstudie beteiligt war. Dies führe zu enormem Stress und einer Situation der Hilflosigkeit, die dann in Gewalt gegen die Kinder münden kann. „Hilflosigkeit und Überforderung sind allgemein wichtige Gründe, wenn es um Gewalt in Familien geht“, fügt Hannelore Pöschl, Diplomsozialarbeiterin und Leiterin des Amts für Jugend und Familie Wien im 13. und 14. Wiener Gemeindebezirk, hinzu. „Besonders von Menschen, die nicht gelernt haben, mit Konfliktsituationen umzugehen, wird die eigene Hand zum Beenden eines Zustands genutzt, den man nicht mehr erträgt.“

Männer wiederum, die dominante Rollenbilder verkörpern, neigen zur Abwertung von Weiblichkeit und werden so gegenüber Partnerinnen häufiger gewalttätig. Grund dafür können die patriarchale Prägung einer Gesellschaft sowie die damit verbundene geschlechterspezifische Sozialisation sein. „Gleichstellung und Gewalt bedingen sich gegenseitig: Das Gegenmittel gegen Gewalt ist Gleichstellung von Frauen“, sagt Rosa Logar von der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. „Je traditioneller eine Familie  aufgebaut ist, desto höher ist die Gefahr, dass Gewalt vom Vater oder vom Partner ausgeht“, bestätigt Geisler. Außerdem kann das traditionelle Familienideal dazu beitragen, dass Frauen beim gewalttätigen Partner bleiben. Mütter in solchen Frauenrollen fühlen sich oft verantwortlich für eine „heile“ Familie und differenzieren nach dem Muster, „er“ sei zwar ein gewalttätiger Ehemann, aber ein liebevoller Vater. „Doch das funktioniert nicht. Beobachtete Gewalt hat die gleichen Folgen wie selbst erlebte Gewalt. Das weiß man auch von der Folter, aber genau dieser Mechanismus wird bei Kindern bagatellisiert.“ Das Ende der Beziehung wird zudem oft nicht als Ausweg gesehen, weil eine Trennung das Gewaltrisiko steigert.

Die Erfahrung im Frauenhaus zeigt auch, dass sich Kinder stark nach dem klassischen Familienmodell sehnen. Manchmal erwähnen sie seltene Momente mit dem Vater, zum Beispiel am Spielplatz, als Wunsch, es möge doch in Zukunft immer so sein. „Die Kinder wünschen sich einen liebevollen Vater, der sich um sie kümmert, so wie sie es in der Werbung oder in Filmen sehen können.“ Gewaltvolle Kindheiten sind auch für die eigene Familiengründung prägend. Bei Mädchen und Buben aus Gewaltbeziehungen steigt  im Erwachsenenalter die Wahrscheinlichkeit, wieder als Opfer oder TäterIn eine Gewaltbeziehung einzugehen. Etwa 30 Prozent fallen in diese sogenannte Gewaltspirale. 

„Ursachen für Gewalt gibt es allerdings viele. Meine Erfahrung zeigt, dass Eltern grundsätzlich das Beste für ihr Kind wollen. Ich  kenne ganz wenige, denen es wirklich egal ist oder die sadistisch veranlagt sind“, so Pöschl. Oft hätten sie durch die eigene Erziehung selbst kein gutes Beispiel bekommen und ihnen gingen die Ideen aus. Fest steht allerdings, dass Gewalt in der Familie  keiner sozialen Schicht zugeschrieben werden kann – mit Gewalterfahrungen wird lediglich anders umgegangen. So ist das Schamgefühl in höheren sozialen Schichten größer, und weniger Gewalttaten werden angezeigt.

Angebote gegen Gewalt in der Familie sind in Österreich vielfältig: Von Präventionsarbeit in Form von Workshops von Vereinen wie Poika, White Ribbon und den Frauenhäusern über Hilfeleistungen vom Jugendamt und Helplines als Beratungsstelle, sowie durch die Krisenarbeit der Frauenhäuser und der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie gibt es in Österreich ein sehr breites Angebot. Insgesamt wurden im Jahr 2008 in den Interventionsstellen gegen familiäre Gewalt 14.016 Opfer betreut. Nahezu alle Opferschutzeinrichtungen sind jedoch unterfinanziert.

Stark eingeschränkt wird die Arbeit auch von der Väterrechtsbewegung. Besonders Frauenhäuser bekommen die damit  einhergehende Stress- und Angstsituation der Mütter durch lange Prüfungen der Obsorge zu spüren. „Häufig wird bei den  Untersuchungen die Gewalt ausgeklammert“, berichtet Geisler. „Wenn immer auf dieses Vaterrecht beharrt wird, frag ich mich, wo ist das Kindeswohl?“ Häufig laste auch enormer Druck auf SozialarbeiterInnen, BeraterInnen und MitarbeiterInnen bei Gericht und beim Jugendamt, die von Väterrechtlern immer wieder geklagt werden.

Als gesellschaftliches Problem mit rechtlichen Folgen wird familiäre Gewalt erst seit Kurzem angesehen. Das liegt an dem hohen  Stellenwert, den die Familie gesellschaftspolitisch hat: „Die Wertvorstellung, die Familie sei das Heiligtum, ist genau das, was dazu  geführt hat, dass jahrelang gar nicht eingeschritten wurde“, erklärt Assistenzprofessorin Katharina Beclin vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Logar ergänzt: „Doch die feministische Bewegung in den 60er und 70er Jahren hat das Thema  wieder öffentlich gemacht.“ So wurde 1989 Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Das Gewaltschutzgesetz trat 1997 in Kraft. Es ermöglicht der Polizei ein Wegweisungsrecht gegenüber dem Täter und schreibt Maßnahmen zum Gewaltschutz, kostenlose  Beratung und Unterstützung der Opfer durch die genannten Einrichtungen fest. So wird bei Wegweisungen die Interventionsstelle kontaktiert – und falls Kinder involviert sind, auch das Jugendamt.

Ein großes Problem allerdings ist, dass Frauen oft keine Anzeige erstatten. „Viele Frauen wissen nicht, dass es ein strukturelles Problem der Gesellschaft ist“, sagt Beclin. Auch Abhängigkeiten finanzieller Art oder durch Verlust des Aufenthaltsstatus sind häufig Gründe, lieber zu schweigen. „Auf individueller Ebene kann man das leider oft gut nachvollziehen.“ Wird aber doch angezeigt, sind Straftaten über längere Zeit hinweg meist nicht mehr nachweisbar. RichterInnen tun sich oft schwer, den Frauen zu glauben.  „Deswegen ist es ratsam, die Verletzungen nicht nur behandeln, sondern auch fotografisch und schriftlich dokumentieren zu  lassen“, meint Beclin.

Oft kommt es allerdings gar nicht zum Strafverfahren, etwa wenn in der Polizeiakte Aussage gegen Aussage steht. In diesem Fall  wird das Verfahren schon vorher eingestellt – von der Staatsanwaltschaft, die nicht einmal Kontakt mit den ZeugInnen hat. „Das  halte ich für problematisch. Denn dann dauern die Gewaltakte meist Jahre an.“ Auch wenn es unter diesen Umständen zur  Verurteilung kommt, sei die herkömmliche Haftstrafe für das Problem eher kontraproduktiv. Nach Absitzen der Haft können Täter  durch Gewalterfahrungen von Mithäftlingen oder Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt frustrierter und abermals gewalttätig werden. „Es  wäre wichtig, dass sie parallel ein Anti-Gewalt-Training machen. Auch eine milde Strafe kann mit dieser Auflage verhängt werden“,  sagt Beclin. So sollte es neben der umfassenden Opferbetreuung auch Täterbetreuung geben. Denn die gesamtgesellschaftlichen Kosten sind enorm: „Krankenstände, Arbeitsunfähigkeiten, Todesfälle, Polizeieinsätze, Gerichtsverfahren, Gefängnisaufenthalte,  psychische Folgen, post-traumatische Belastungsstörungen, die natürlich auch wieder Folgen haben für die Familien“, zählt Geisler  auf. Sie fügt hinzu: „Geld für Prävention statt für Strafen auszugeben, wäre wohl besser, als immer im Nachhinein die Folgen zu bezahlen.“

Entschuldigt wird familiäre Gewalt Pöschl zufolge oft mit der lapidaren Aussage: „Mir hat die Watschen auch nicht geschadet und aus mir ist auch was geworden.“ Doch darauf hat sie eine klare Antwort: „Ja, aber wissen Sie, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie sie nicht bekommen hätten?“

Ob-Sorge

  • 28.12.2012, 12:56

Warum die Obsorge mehr ist als ein Sonntagnachmittagsbesuch. Ein Kommentar von Elfriede Hammerl.

Warum die Obsorge mehr ist als ein Sonntagnachmittagsbesuch. Ein Kommentar von Elfriede Hammerl.

Zuerst: Obsorge ist nicht Fürsorge. Um mit seinem Kind zu spielen, zu lernen und zum Zahnarzt zu gehen, um ihm vorzulesen, mit ihm zu lachen und sich seine Sorgen anzuhören, muss man nicht unbedingt obsorgeberechtigt sein. Obsorge heißt auch nicht, seine  Kinder sehen zu dürfen. Der Kontakt zwischen Kindern und dem Elternteil, bei dem sie nicht leben, wird nämlich unabhängig von der Obsorge geregelt. Obsorge im juristischen Sinn bedeutet, ein Kind nicht nur pflegen und erziehen zu sollen, sondern auch, es gesetzlich zu vertreten und sein Vermögen zu verwalten. Wenn ein Elternteil um die gemeinsame Obsorge kämpft, dann kämpft er also nicht zuletzt darum, mitbestimmen zu dürfen. In welche Schule das Kind geht, zum Beispiel. Wieviel Taschengeld es kriegt. Ob es Sprachferien in Spanien machen darf. Was es nach der Schule studieren soll.

Das ist per se nichts Verwerfliches. Man kann durchaus aus lauterem Interesse am Kind bei solchen Entscheidungen mitreden wollen. Allerdings kann das Mitredendürfen auch als reine Machtausübung verstanden und praktiziert werden. Die gemeinsame Obsorge schafft also noch keine harmonischen Verhältnisse. Wenn zwei bestimmen dürfen, dann können sie entweder kooperieren oder einander ständig in die Suppe spucken. Um Letzteres zu vermeiden, war sie bis jetzt nur in beiderseitigem Einverständnis möglich. Nun sieht die Familienrechtsreform vor, dass sie nach Scheidungen auch gegen den Willen eines Elternteils gerichtlich angeordnet werden kann. Und anders als bisher sollen uneheliche Väter ebenfalls das Recht haben, sie unabhängig von der Zustimmung der Mutter zu beantragen. Das Gericht entscheidet dann, ob dem Antrag stattgegeben wird. Bei vielen Frauen – persönlich betroffenen, aber auch solchen, die beruflich viel mit Konfliktfamilien und Scheidungsfolgen zu tun haben – stößt das auf Unbehagen. Sie argumentieren: Eltern, die miteinander auskommen, wurden schon bisher nicht am gemeinsamen Obsorgen gehindert. Ob jedoch in Streitfällen die gerichtlich verordnete Kooperation funktioniere, sei zu bezweifeln.

Feministische Erungenschaften. Um ihre Bedenken besser zu verstehen, empfiehlt sich ein Blick in die Vergangenheit, und zwar in eine, die noch gar nicht so lange zurückliegt. Bis ins Jahr 1978, als die letzte große Familienrechtsreform in Österreich abgeschlossen war, hatten allein die Väter in den Familien das Sagen. Die elterliche Aufgabenteilung sah so aus: der Mutter die Pflichten, dem Vater die Rechte. Mütter betreuten, Väter erzogen. Mütter mühten sich, Väter schafften an. Nur mit väterlicher Unterschrift bekamen Kinder einen Pass, einen Schulplatz, einen Lehrvertrag. Geschiedene Mütter durften die Kinder zwar versorgen, gesetzlich vertreten durften sie sie nicht. Uneheliche Kinder unterstanden einem Amtsvormund.

Das war eine für Mütter und auch für Kinder demütigende Situation. Die Väter trafen die Entscheidungen, von den Bedürfnissen der Kinder – deren Alltag ihnen fremd war – wussten sie oft nichts. Deswegen: große Erleichterung, als Mütter von Gesetzes wegen endlich gleichberechtigt wurden. Und große Erleichterung, weil geschiedene Mütter die alleinige Obsorge zugesprochen bekamen und nun nicht mehr für jeden Schmarrn die gütige Erlaubnis des ehedem so genannten Familienoberhaupts einholen mussten.

Die neue Gesetzeslage wird, so befürchten KritikerInnen, den Möchtegern-Patriarchen wieder Aufwind geben. Gerade bei strittigen Scheidungen kann davon ausgegangen werden, dass noch emotionale Rechnungen offen sind. Was, wenn die zwangsweise verordnete gemeinsame Obsorge dazu benützt wird, der Ex immer wieder einmal eins auszuwischen, ihre Entscheidungen zu torpedieren, ihr den Alltag mit den Kindern zu erschweren? Mutter meldet Kinder in einer bestimmten Schule an, Vater meldet sie ab.Mutter bucht Urlaubsreise mit den Kindern, Vater legt Veto ein. Mutter erlaubt, Vater verbietet. Mutter verbietet, Vater erlaubt. Und so weiter. Derlei Szenarien sind durchaus realistisch, schon jetzt werden ja Beziehungsaltlasten nicht selten auf dem Rücken  der Kinder hin- und hergewälzt. Okay, sagen wir es geschlechtsneutral: Die Person, bei der das Kind überwiegend lebt, läuft Gefahr, dass die Person, bei der das Kind nicht lebt, sich ständig einmischt, sei es aus Rechthaberei, als Rache für alte Kränkungen oder aus Ärger über Unterhaltsverpflichtungen. Auch Tauschangebote sind vorstellbar: Verzichtest du auf Unterhalt, lasse ich dir die  Obsorge. Die Person, bei der das Kind überwiegend lebt, ist meistens die Mutter. Deshalb sind es Frauen, die eine Verschlechterung ihrer Situation befürchten, während Männer ins Treffen führen, ohne Obsorgeberechtigung wären umgekehrt sie dem guten Willen der Mütter ausgeliefert, Bittsteller, die nichts zu melden hätten im Leben ihrer Kinder.

Veränderung. Das hat grundsätzlich etwas für sich. Neue Rollenbilder verlangen neue Einstellungen, wenn Väter sich engagieren sollen, dann müssen sie auch entsprechend mitreden dürfen. In der Praxis ist es freilich oft schwer, die ehrlich engagierten von denen zu unterscheiden, die Engagement mit Herrschsucht verwechseln und sich als Opfer sehen, weil sie nicht Täter sein dürfen. Häufig geht es auch ums Geld: Ist einer, der klagt, dass er zahlen muss, obwohl er nicht genug zu reden hat, wirklich an seinem Kind interessiert oder bloß daran, Einfluss zu kriegen für seinen Zaster? Die Aufrichtigen von den Scheinheiligen, die Liebevollen von den Selbstsüchtigen, die Verantwortungsvollen von den Machtgeilen zu unterscheiden, das wird in Zukunft die Aufgabe der Gerichte sein. Sie können die gemeinsame Obsorge anordnen oder auch nicht. Sie können entsprechenden Anträgen stattgeben oder  sie ablehnen. Für jeden Fall eine maßgeschneiderte Lösung verhießen uns die Ministerinnen Heinisch-Hosek und Karl bei der Präsentation ihres Reformpakets.

Klingt gut. Fragt sich nur, wie die Schneiderwerkstatt Justiz das schaffen wird. Schon jetzt leiden unsere Gerichte unter einem gravierenden Personalmangel. Und woher das juristische Personal die Kompetenz für seine Entscheidungen nehmen soll, ist auch nicht so ganz geklärt, zumal es keine Verpflichtung zu einer einschlägigen Aus- und Weiterbildung gibt. Ja, man wird PsychologInnen und PädagogInnen beiziehen, aber die Bewertung ihrer Expertisen liegt beim Richter oder der Richterin. Gerade die Familiengerichte sind indes nicht selten erste Durchgangsstation für junge Leute auf dem Weg zu vermeintlich höheren Weihen. Auf welchen Erfahrungen wird sich ihr Urteilsvermögen gründen?

Elfriede Hammerl ist österreichische Journalistin und Schriftstellerin. Ihre letzten beiden Bücher sind „Kleingeldaffäre“ (Deuticke) und das Kinderbuch „Meine Schwester ist blöd“. Die Feministin war Mitinitiatorin des Frauenvolksbegehrens 1997 und kandidierte bei der Nationalratswahl 1999 für das Liberale Forum. Außerdem ist sie mit ihrer Kolumne der einzige verbliebene Grund, das Magazin profil noch aufzuschlagen.

Als Familie gut aufgestellt?

  • 13.07.2012, 18:18

Die Familienaufstellung als eine Methode der Systematischen Psychotherapie findet zunehmend AnhängerInnen. Doch diese Kurzzeittherapie stößt auch auf Kritik, welche vor der Vorgangsweise warnt. Ein Erfahrungsbericht.

Die Familienaufstellung als eine Methode der Systematischen Psychotherapie findet zunehmend AnhängerInnen. Doch diese Kurzzeittherapie stößt auch auf Kritik, welche vor der Vorgangsweise warnt. Ein Erfahrungsbericht.

Sanfte Töne erfüllen den lichtdurchfluteten Raum, in dem sich an diesem Samstagmorgen ein Dutzend Menschen eingefunden hat. In der Mitte stehen, scheinbar willkürlich aufgestellt, fünf Personen. Um diese herum sitzen in einem Stuhlkreis weitere Menschen und schauen gebannt auf das, was sich in diesem Moment abspielt.
Wir befinden uns inmitten eines Seminars zur Familienaufstellung. Vor einiger Zeit hatte mir eine begeisterte Freundin von dieser Therapiemethode erzählt und gefragt, ob ich sie zum ersten Seminartermin begleiten könne, da sie sich diesen Schritt alleine nicht trauen würde. Ich war wenig begeistert von dieser Idee, doch wollte ich meine Freundin nicht im Stich lassen.

Das Konzept. Im Rahmen der Familienaufstellung sollen fremde Personen die eigenen Familienmitglieder repräsentieren und dadurch Unstimmigkeiten und Probleme innerhalb des eigenen familiären Systems sichtbar machen. Vor allem Bert Hellinger gilt als einer der umstrittenen Vertreter dieser Therapieform. Sobald ich anfing, mich über dieses Thema näher zu informieren, stieß ich auf kritische Gegenstimmen, die vor der Methode warnten. Sie sei „gefährlicher Hokuspokus“, praktiziert von fachlich mangelhaft ausgebildeten Personen, die sich selbst dem Esoterik-Bereich verschrieben haben. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?
Da stand ich nun, inmitten des Stuhlkreises, elf Augenpaare auf mich gerichtet. Ich fühlte mich unwohl. Direkt vor mir stand eine Frau und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Zuvor hatte sie dem Gruppenleiter ihr Anliegen geschildert: Sie hatte keine Lust mehr mit ihrem Mann zu schlafen und machte sich deswegen unglaubliche Vorwürfe. Ihre Ehe war im Begriff zu zerbrechen. Einen Grund für ihre Unlust kannte sie nicht genau. Im kurzen Vorgespräch mit dem „Therapeuten“ kam heraus, dass sie als dreijähriges Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht worden war. Vor dem Hintergrund dieser Information sollte sie nun aus den anwesenden Personen diejenigen raussuchen, die ihrer Meinung nach als so genannte StellvertreterInnen eingesetzt werden konnten und wesentliche Personen oder Emotionen verkörperten. Scheinbar zielgerichtet steuerte sie auf einen jungen Mann zu, der die Sexualität repräsentieren sollte. Eine andere Person verkörperte die Liebe und eine dritte ihren Ehemann. Ich wurde ausgesucht, um das dreijährige Kind darzustellen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verfluchte ich meine Gutmütigkeit und hätte mir gewünscht, nie auf die Bitte meiner Freundin hin eingewilligt zu haben. Ein dreijähriges, missbrauchtes Kind zu verkörpern war alles andere als eine Wohltat und ebenso, in die Probleme anderer in einem so hohen Maße involviert zu werden. Die Aufstellerin schien dieses Unwohlsein jedoch nicht mit mir zu teilen. Auf einmal fiel sie mir um den Hals und fing bitter an zu weinen. Aus einer Ecke des Raumes hörte ich den Übungsleiter fast lautlos hauchen, dass sie nun „Frieden mit mir geschlossen habe“ und wir dies gemeinsam noch mit der Liebe, der Sexualität und letztendlich ihrem Ehemann machen sollten.

Was war passiert? Ich konnte es mir nicht erklären. Offensichtlich war in der Gefühlswelt der Person einiges vor sich gegangen. Sie hatte sich mit sich selbst, als Dreijährige, konfrontieren und den Tatsachen im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge sehen müssen. Doch wie ging es nach diesem Tag mit ihr weiter? Ihre gewohnten, alltäglichen Muster blieben ja die gleichen. Ihr Umfeld hatte sich nicht einfach dadurch geändert, dass sie sich eine Stunde lang in einer Art Crashkurs mit ihrer Geschichte auseinander gesetzt hatte. Ganz abgesehen von der ohnehin schon fehlenden Vorbetreuung, wurde sie daraufhin auch noch ohne Nachbetreuung in ihren Alltag entlassen, ohne die Chance zu haben, noch ausstehende Fragen oder später auftauchende Emotionen zu klären. Darüber hinaus hatte sie sich an diesem einen Seminartag noch die Probleme von vier anderen Personen anhören müssen, bei denen sie wiederum als Stellvertreterin eingesetzt wurde.
Am ehesten könnte diese Therapiemethode vielleicht noch im Rahmen einer laufenden Psychotherapie eingesetzt werden, bei der die oder der studierte TherapeutIn auch zugleich SeminarleiterIn der Familienaufstellung ist. Er oder sie hat die Vorgeschichte seines Patienten oder seiner Patientin vor Beginn des Seminars bereits näher kennen gelernt. Im Anschluss ist es ihm dann auch möglich, die gemachten Erfahrungen aufzuarbeiten. Die AufstellerInnen werden dadurch mit den eigenen seelischen Erschütterungen oder Unsicherheiten nicht einfach alleine gelassen, sondern hat die Möglichkeit, diese in einem kompetenten Rahmen weiter zu verfolgen.
Häufig übernehmen jedoch selbsternannte „TherapeutInnen“ die Leitung dieser Seminare. Sie müssen für eine teure Ausbildung lediglich die Bereitschaft mitbringen „sich mit sich selbst auseinander zu setzen und offen für neue Lösungsmöglichkeiten sein“. Ein jahrelanges, fundiertes Studium können sie dabei aber nicht vorweisen, weswegen diese Therapiemethode in der klinischen Psychologie auch nicht anerkannt ist. Für Rat suchende Laien stellen sie somit eine immense Gefahr dar, missbräuchlich Einfluss zu nehmen.
Ich selbst begab mich mit einem leichten Tagesrucksack, gepackt mit alltäglichen Problemchen, in dieses Experiment hinein und kam mit einem schweren Backpack, voll gestopft mit fremden Problemen, wieder heraus.