Arbeitsmarkt

Italien, ein Land ohne Linke.

  • 30.06.2017, 12:41
Italien war immer schon ein politisches Labor, heute greift der Neoliberalismus erneut Verfassung und ArbeiterInnenrechte an.

Italien war immer schon ein politisches Labor, heute greift der Neoliberalismus erneut Verfassung und ArbeiterInnenrechte an.

Die italienische Regierung besteht gerade aus einer Koalition zwischen Partito Democratico (PD) und Mitterechtspartei Alternativa Popolare. In den letzten Jahren wurde das Arbeitsrecht eingeschränkt und eine unternehmensfreundliche Wirtschaftspolitik betrieben. Italiens Politik hat sechs turbulente Jahre hinter sich. 2011 wurde Berlusconi gezwungen zurückzutreten, die Expertenregierung Monti wurde vom Staatsoberhaupt eingesetzt, die Wahlen 2013 brachten keine eindeutige Mehrheit und seitdem gab es drei verschiedene Ministerratspräsidenten des PD und unzählige Reformen: Arbeitsrecht (Jobs Act), Schulsystem (La Buona Scuola) und öffentlicher Dienst (Madia-Reform).

Arbeitsrecht und Prekarisierung. Die Monti-Regierung hatte die Arbeitsrechte eingeschränkt und durch den Jobs Act wurden alte Forderungen Berlusconis umgesetzt. Die Macht in der Schule wurde zentralisiert aufgelegt und die Reformen des öffentlichen Dienstes hatten das Ziel, Entlassungen von ineffizienten und fahrlässig handelnden Angestellten zu vereinfachen.

Diese Flexibilisierung hat die Situation der arbeitenden Schichten weiterhin verschlechtert, während Unternehmen von Steuerentlastungen und vom Regierungskampf gegen Gewerkschaften profitieren. Renzi galt 2013 als große Hoffnung des progressiven Lagers, um dann die Parteipolitikin der politischen Mitte bzw. Mitterechts zu verankern. Auslandsinvestoren hätten Arbeitsplätze schaffen müssen, aber bislang ist es nur bedingt gelungen, weil Probleme wie Korruption, Bürokratie und Infrastrukturen weiterhin bestehen.

Neoliberale Agenda. Die Verfassungsreform vom 4. Dezember 2016 galt als ein Wendepunkt der Innenpolitik. Die Reform der Verfassung wird seit Jahrzehnten erwartet, aber konnte nie umgesetzt werden. Wie so oft war das Thema der perfekte Bikameralismus – wenn beide Kammern gleichermaßen an der Gesetzgebung beteiligt sind –,der angeblich zu einem langsamen und ineffizienten Gesetzgebungsprozess geführt hat. Seit Anfang des Jahrhunderts wird aber massiv mittels Gesetzesdekreten regiert – rechtssetzende Akte, die sofort in Kraft treten, aber innerhalb von 60 Tagen in ein Gesetz umgewandelt werden müssen, um weiterhin aufrecht erhalten zu bleiben. Diese Akte werden von der Regierung und nicht vom Parlament erlassen und wären nur für Sonderfälle oder Krisensituationen gedacht.

Die italienische Verfassung, die als großer Kompromiss zwischen allen antifaschistischen Kräften 1948 in Kraft getreten ist, steht längst unter großem Druck, weil sie nicht mehr als zeitgemäß empfunden und als zu stark sozialistisch wahrgenommen wird. Bei der Volksbefragung 2006 scheiterte Berlusconis Versuch, ein semi-präsidentielles System zu etablieren. Sein Wirtschaftsminister Tremonti versuchte Jahre später aus Art. 41 die sozialen Aspekte herauszustreichen. Dieser besagt:„Die Privatinitiative in der Wirtschaft ist frei. Sie darf sich aber nicht im Gegensatz zum Nutzen der Gesellschaft oder in einer Weise, die die Sicherheit, Freiheit und menschliche Würde beeinträchtigt, betätigen. Das Gesetz legt die Wirtschaftsprogramme und geeignete Kontrollen fest, damit die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit nach dem Allgemeinwohl ausgerichtet und abgestimmt werden kann.“

M(atteo) wie Machtrausch Der Finanzberater JP Morgan hatte sich schon 2013 offen für einen Umbau der Staatsform und eine Reform der Verfassung geäußert, 2016 wurde eine Verfassungsreform geplant. Ähnlich wie bei der Verfassungsreform 2006 sollte der Ministerratspräsident gestärkt, das perfekte Zweikammernsystem abgeschafft und der Senat in eine Kammer der Regionen umgewandelt werden. Die stimmenstärkste Partei hätte die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament bekommen – ohne ein starkes Oppositionsrecht vorzusehen. Die fehlenden checks and balances hätten dazu führen können, dass die Regierung Staatoberhaupt und Verfassungsrichter (ein Drittel davon werden vom Staatsoberhaupt selbst ernannt) hätte stellen können. Herabwürdigung von Kritikern und populistische Aussagen zu den Folgen der negativen Abstimmung ersetzten die Debatte. Am 4. Dezember 2016 bekam das „Ja“ nur knapp 40 Prozentder Stimmen. Viele WählerInnen haben auch eher gegen Renzi als gegen die Reform gestimmt.

Wenige Monate nach seinem Rücktritt wurde Renzi erneut von der Parteibasis mit 70 Prozent Vorzugsstimmen gewählt und arbeitet nun an seiner Rückkehr. Die Partei wird jetzt bloß als instrumentum regni benutzt, obwohl sie 2007 als großer politischer Kompromiss zwischen den katholisch-progressiven und den postkommunistischen Kräften ins Leben gerufen wurde. Renzi verändert die Partei sehr tief: viele Kernpunkte von Berlusconis Programm wurden umgesetzt und ihre historische Wählerschaft betrogen. Der ex-linke Flügel hat inzwischen die Bewegung Movimento Progressisti e Democratici gegründet, die laut Wahlumfragen nicht über 3 Prozent geschätzt wird.

Matteo Renzi ist ein talentierter Performer. Er bezog sich kommunikationstechnisch auf Obama, Blair und Macron, übernahm aber auch wesentliche Aspekte Berlusconis Regierungsstils. Dadurch verschob sich der gesellschaftliche Diskurs nach rechts und davon profitierten(Rechts)Populisten wie Salvini und Grillo, die angeblich eine Kooperation bei der nächsten Wahl anstreben. Somit entpuppte sich das „weder rechts noch links“ des M5S als ein bloßes Mittel, um Stimmen aus den linken Lager zu ködern und gleichzeitig einen rechtspolitischen Kurs zu betreiben.

Matteo Da Col hat Politikwissenschaft und Translation an der Universität Wien studiert und arbeitet als Übersetzer.

 

Körbe im Kopf

  • 29.04.2016, 17:36
Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

progress: Du bist aus der Schweiz. Warum interessierst du dich für Europa?
Jan Gassmann:
Genau aus dem Grund. In erster Linie sind wir Schweizer, dann mal Weltbürger und irgendwann vielleicht noch Europäer. Dadurch, dass die EU in einer Schieflage ist, ist die Schweiz in der angenehmen Position, sich raushalten zu können. Trotzdem sollte es eine Mitverantwortung der Schweiz geben. 1992 stimmten die Schweizer knapp gegen eine EU-Mitgliedschaft, seitdem ist dies ein Tabuthema. Die Schweizer gehören aber zum Kern Europas und ich persönlich sehe mich auch als Europäer. Ich las viel über die Krise in der EU, war aber selber nicht davon betroffen. Eine Zeit lang gab es überall Beiträge über die Jugend in der EU, dann plötzlich war das Thema uninteressant und die Artikel blieben aus. Dabei war die Krise, dort wo wir als Filmteam waren, für die Jugend total aktuell. Das war auch die Motivation, „Europe, She Loves“ zu machen.

Im Film gibt es eine starke Diskrepanz zwischen den Nachrichten, die im Radio oder Fernseher liefen und den Reaktionen der vier Paare, die du darstellst. Habt ihr beim Drehen die Nachrichten absichtlich laufen lassen?
Oft hat sich das zufällig ergeben, dass eine Nachrichtensendung lief. Es gibt diese ewige Berieselung und du nimmst die Nachrichten auch wahr, aber du kannst sie nicht richtig verarbeiten. Das was von den Medien kommt, hat einen starken Stellenwert. Gleichzeitig hat man einen kleinen Papierkorb im Kopf, wo alle diese Informationen hineingehen. Denn es sind keine Gesichter mehr dahinter, sondern nur Zahlen. Ich konnte filmen, worüber die Medien berichten. Die Gesichter hinter den Nachrichten zeigen – das war mein Thema.

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Eine Meldung ist die Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssos durch einen Neonazi der „Goldenen Morgenröte“-in Athen. Woraufhin Penny und Nicolas auf eine Solidaritätsdemo für Fyssos gehen. Wie ist die politische Stimmung in den anderen Ländern, die im Film vorkommen?
In Tallinn gibt es die Spannung zwischen der russischen und der estnischen Community. Die haben sehr wenig miteinander zu tun. Die russische Minderheit will sich wieder Russland annähern, während die Esten einen Zaun an der Grenze zu Russland gebaut haben. In Dublin war vielmehr das Thema präsent, dass die alten Parteien überholt waren und es nur noch Protestparteien gab. Nach dem „Celtic Tiger“ war die Arbeiterpartei total am Boden, die Konservativen beschädigt. Dort waren einfach alle total genervt von Politik. In Sevilla waren die Bürgerbewegungen interessant. Als wir dort waren, war die Frage wichtig, ob die Bürgerbewegungen es ins Parlament schaffen würden. Es gab aber auch andere Themen. Der Bildungsminister José Ignacio Wert hatte alle Erasmus-Zuschüsse gekürzt; auch für die Studierenden, die bereits im Ausland waren. Sie mussten deswegen nach Spanien zurückkehren. Dagegen gab es auch eine Demonstration.

Abschottung ist also ein länderübergreifendes Thema?
Wir sind die erste Generation, die keine Limitierungen hatte. Die Vermischung und dass die Leute sich frei bewegen können, tut uns doch gut. Dass man jetzt wieder zurück muss in seine nationale kleine Nussschale und sich absperrt, das finde ich schrecklich.

Bietet ein Studium den jungen Menschen eine Zukunftsperspektive?
Es ist die Frage, was du daraus machst. Die Unterschiede zeigen sich an Karo und Juan aus Sevilla. Karo hat nach dem Film doch noch einen Masterplatz in Barcelona bekommen. Sie weiß, dass sie das Studium zu Ende bringen muss. Da tut sich ein Zwiespalt auf, weil die Jungen wissen, dass sie einen Abschluss brauchen, um im Ausland einen Job finden zu können. Sie sind aber auch mit ihren Städten und ihrem Land verbunden. Diese EMigration, weil es nicht anders geht, die funktioniert für die meisten innerlich dann doch nicht wirklich. Ich würde dennoch allen empfehlen zu versuchen etwas zu studieren. Andererseits, ist da Juan, der nie studiert hat. Er machte eine Graphikerausbildung, war Gabelstaplerfahrer, Rettungsschwimmer und ist jetzt Security. Seine Eltern sind ebenfalls Securities. Juan ist talentiert, kommt aber aus einer Klasse, bei der es gar nicht zur Diskussion stand, dass er ein Studium beginnen könnte. Seine Position ist noch viel unklarer als die von Karo, weil er überall einsetzbar ist, aber keine Chance hat, sich beruflich zu definieren.

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Die Protagonist_innen arbeiten alle in prekären Jobs als Kellnerin, Tänzerin, Security oder Pizzalieferant. Siobhan und Terry aus Dublin sind arbeitslos. War Arbeit ein Thema?
Am Anfang ging ich thematisch an den Film heran. Ich dachte, die Arbeitssituation ist eigentlich das Wichtigste. Erst während dem Dreh und als ich die Paare besser kannte, habe ich gemerkt, dass die Arbeit zwar ein Teil des Films sein wird, aber ich werde nicht zehn Mal zeigen, wie jemand Pizza ausliefert.

Die Repetition, die auch harte Arbeit charakterisiert, kommt dafür in Bezug auf Sex vor.

Ist es natürlich auch. (Lacht) Normalerweise ist im Spielfilm der Sex immer ein Klimax oder der Anfang von etwas Neuem. Ich versuchte Sex in meinem Film zu demystifizieren und in einen Alltag einzuflechten. Sex als etwas, was man macht, weil er nichts kostet und man halt zusammen ist.

In „Europe, She Loves“ kommen nur heterosexuelle Paare vor. Wie hast du sie ausgewählt?
Wir casteten fast hundert Paare. Dass es die vier wurden, die im Film porträtiert sind, war eine Bauchentscheidung. Wichtig war mir auch die Kombination aus verschiedenen Paaren, deswegen wollte ich auch die estnische Familie mit Veronika und Harri. Die Idee war, die Veränderungen, die man zwischen 20 und 30 durchmacht, darzustellen. In einer Paarbeziehung sucht man gemeinsam einen Kompromiss, eine Zukunft oder eine Entscheidung. Darin spiegelt sich gut, was auch im EU-Parlament in Brüssel passiert. Die kleinen Dinge, die zu einem Zusammenleben beitragen, zeigen sich schön in der Paarbeziehung. Dass es nur heterosexuelle Paare waren, hat sich so ergeben. Außerdem hätte ich es schade gefunden, wenn man im Nachhinein immer die drei Hetero-Paare mit dem homosexuellen verglichen hätte. Da hätte ich dann gern ein schwules oder lesbisches Pärchen gewollt, das nicht noch zusätzlich ein Klischee erfüllt.

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Im Abspann spielt das Lied „Europe Is Lost“ von Kate Tempest. Ist Europa verloren?
Für mich ist der Song und das, was er sagt, im Kern sehr positiv. Alles aus dem Film ist darin kondensiert. „Europe Is Lost“ fragt auch danach, wann wir wir endlich wieder aufwachen werden. Ich glaube an Europa- Es ist schade, dass man dem Experiment EU nicht wirklich eine längere Zeit zugesteht, fünfzehn Jahre EU sind nicht lange. Ich bin aber auch nicht super Pro-EU. Es ist eine komplexe Materie, aber man muss dem Konzept eine Chance geben, dass es sich erarbeiten und sich daraus etwas ergeben kann.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

„Das Unbekannte mit offenen Armen willkommen heißen“

  • 24.03.2015, 08:41

„Möchten Sie mit einem Asylbewerber Verstecken spielen?“ Dieser Tage kommt es vor, dass man auf dem Weg von der U-Bahn zum mobilen Stadtlabor der Technischen Universität angesprochen wird, um im Resselpark an einem besonderen Versteckspiel teilzunehmen. Hintergrund ist eine Performance im Rahmen des imagetanz 2015.

„Möchten Sie mit einem Asylbewerber Verstecken spielen?“ Dieser Tage kommt es vor, dass man auf dem Weg von der U-Bahn zum mobilen Stadtlabor der Technischen Universität angesprochen wird, um im Resselpark an einem besonderen Versteckspiel teilzunehmen. Hintergrund ist eine Performance im Rahmen des imagetanz 2015.

Unter dem Titel „Organized Disintegration“ gestaltet Núria Güell ein Versteckspiel im Resselpark. Die Künstlerin aus Barcelona widmet sich dabei Asylsuchenden in Österreich und ihrer Position am Arbeitsmarkt. Es geht um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit dieser Personen, eben: hide & seek, wie das Versteckenspiel im Englischen heißt.

ARBEITSMARKT. Die rechtliche Lage von arbeitssuchenden Asylsuchenden ist verstrickt und kompliziert. Peter Marhold von helping hands hat versucht, einen Leitfaden für genau diese Problematik anzufertigen und musste einsehen, dass selbst erfahrene Jurist*innen ihm dabei nicht helfen konnten. Zu ungenau seien die diesbezüglichen Gesetze. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass am Arbeitsmarkt kein Platz für Asylsuchende ist.

Anstellungsverhältnisse sind illegal. Es gibt mit einer speziellen Erlaubnis die Möglichkeit nach drei Monaten Aufenthalt im Land Saisonarbeit im Tourismusbereich oder in der Landwirtschaft zu verrichten. Der einzige sonstige Ausweg ist die Selbstständigkeit, wodurch prekäre Verhältnisse vorprogrammiert sind. Nur über Werkverträge dürfen Asylsuchende längerfristig Geld verdienen.

Foto: Eva Ludwig-Glück Brut Wien

UNGLEICHE MACHTVERTEILUNG. Núria Güell musste sich für ihr Projekt auch hauptsächlich mit rechtlichen Gegebenheiten auseinandersetzen. Das Festival für Choreografie, Performance und unheimliche Körper zeigt mit diesem Spiel die eindeutige Machtverteilung. Asylwerber*innen verstecken sich, Passant*innen und Festivalbesucher*innen können dann nach ihnen suchen.

Asylsuchende sind es gewohnt, sich innerhalb der Gesellschaft unsichtbar machen zu müssen. Die Praxis am Arbeitsmarkt ist nur eins von vielen Beispielen, die diese Fähigkeit erfordern. Das Resultat daraus ist Abschottung, Kriminalisierung und Langeweile. Amine, der auch schon beim Refugee Protest Camp mitgewirkt hat, beschreibt die fehlende Tagesstruktur und das lange Warten als extrem zermürbend. Er ist überzeugt, dass die Gesetzgebung Asylsuchende dazu bringt, den Prozess des Asylantrags frühzeitig abzubrechen und aufzugeben.

ÖFFNUNG DES ARBEITSMARKTES. Alexander Pollak, Sprecher von SOS Mitmensch, sieht in dieser Causa dringenden Handlungsbedarf. Der Arbeitsmarkt müsse unbedingt geöffnet werden, zumindest aber nach drei Monaten Aufenthalt. Das fordert er auch für Ausbildungen. Das emotional aufgeladene Thema wird immer wieder von Politiker*innen instrumentalisiert. Nicht zuletzt, da sehr viele Österreicher*innen ebenfalls einen Job suchen. Die Meinung, dass eine Öffnung des Arbeitsmarktes einen zahlenmäßigen Anstieg der Asylsuchenden in Österreich bedeuten würde, hält sich hartnäckig. Gleichzeitig wären Abschiebungen schwieriger.

Foto: Eva Ludwig-Glück Brut Wien

Den Asylwerber*innen geht es nicht nur um das Geld, das sie potentiell verdienen würden. Sie haben ein Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit. Berichte aus Traiskirchen bezeugen immer wieder, dass Langeweile und Ziellosigkeit psychisch erdrückend sind. Umso mehr freuen sich die Asylsuchenden, die an „Organized Disintegration“ teilnehmen, über die Möglichkeit Kontakt zu Mitmenschen zu finden und über ihr Anliegen zu informieren.

ZWISCHENWELT. Das mobile Stadtlabor vor der TU ist wie gemacht dafür, Ausgangs- und Treffpunkt des Spiels zu sein. Das Gebilde aus Seecontainern ist eine öffentliche Intervention zwischen U-Bahn-Station und Universitätsgebäude. Es ist temporär und mobil. Die einzelnen Stücke hatten in ihrem früheren Dasein ganz andere Aufgaben: Sie transportierten die verschiedensten Konsumgüter von A nach B, bevor sie schließlich im Resselpark landeten. Man könnte sagen, sie sind gestrandet. Genauso fühlen sich auch viele Asylsuchende in Wien. Sie befinden sich in einer Zwischenwelt, leben oft gezwungenermaßen parallel zur Mehrheitsgesellschaft. Sie müssen sich die Zeit bis zum Asylbescheid vertreiben und versuchen neben der Jobsuche ihre Chancen zu erhöhen, indem sie zum Beispiel Deutsch lernen oder sich andere Fähigkeiten aneignen.

RASSISMUS. Das Hauptproblem neben der unübersichtlichen rechtlichen Situation in Österreich ist der hier institutionalisierte Rassismus. Außerdem werden die wenigen Jobs, die tatsächlich an Asylsuchende herangetragen werden, an diejenigen vergeben, die sie für den niedrigsten Lohn machen. Bei Werkverträgen gibt es keinen Mindestlohn – es zählt nicht die Zeit, die für die Tätigkeit aufgebracht werden muss, sondern lediglich das „Werk“.

Ob Núria Güell einen Weg gefunden hat, diese Gesetze zu unterwandern? Ihre klare Antwort lautet: nein. Genau deswegen hat sie das Projekt „Organized Disintegration“ umgesetzt. Die unfairen Gesetze kann man nicht durch einen einfachen Trick umgehen. Man solle politisch aktiv werden und mit Asylwerber*innen arbeiten. Jede*r kann sie auf Werkvertragsbasis beschäftigen, solange die Gesetze der „Neuen Selbstständigkeit“ eingehalten werden, doch das reicht nicht. Es fehlt ein Bewusstsein dafür, dass Arbeit ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Selbstwertgefühls ist. Güells Aufgabe ist erfüllt, wenn sie einige wenige Leute auf die Lebensrealitäten von Asylsuchenden aufmerksam macht.

 

Katja Krüger ist Unternehmerin und studiert Gender Studies an der Universität Wien.

Von fehlendem Halt zu Hass

  • 27.10.2014, 14:49

Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz kämpfen mit einer unsicheren Zukunft. Vom Alltag frustriert, sind sie besonders empfänglich für Vorurteile.

Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz kämpfen mit einer unsicheren Zukunft. Vom Alltag frustriert, sind sie besonders empfänglich für Vorurteile.

Jugendliche provozieren mitunter gerne. Wenn es sich dabei um menschenfeindliche Äußerungen und Taten handelt, etwa im Kontext von rechtem oder islamistischem Gedankengut, stellt sich die Frage, wo die Wurzeln dafür liegen, und wie damit umgegangen werden kann. Das Phänomen lässt sich keineswegs nur auf Jugendliche beschränken. Trotzdem lohnt es sich, einen genauen Blick auf die Herausforderungen zu werfen, denen sich jene Menschen stellen müssen, die politische Bildungsarbeit und Sozialarbeit mit Jugendlichen leisten.

Nicht erfüllte Bedürfnisse. In den Räumlichkeiten des Vereins Backbone, der mobile Jugendarbeit im 20. Wiener Bezirk leistet, wird regelmäßig gemeinsam gekocht. In gemütlicher Atmosphäre reden die Jugendlichen mit den SozialarbeiterInnen darüber, was ihnen gerade durch den Kopf geht und was sie bewegt. Viele der jungen Menschen hier kommen aus ökonomisch und sozial benachteiligten Verhältnissen, manche befinden sich weder in Ausbildung noch in einem Arbeitsverhältnis. Bei Backbone wird ihnen nicht nur Unterstützung bei der Suche nach einer Lehrstelle oder beim Bewerbungsgespräch geboten, sie können auch in ihrer Freizeit die Räumlichkeiten nutzen. Die Jugendlichen können bei der Gestaltung des Freizeitangebots von Backbone mitreden, Regeln gibt es kaum. Dieser offene Zugang ermöglicht es den SozialarbeiterInnen, die Jugendlichen in all ihren Facetten kennen zu lernen.

Nicht selten übertragen die Jugendlichen den Frust, der sich aus ihrem Alltag ergibt, auf andere und greifen dabei auf Vorurteile, die sie entweder aus dem Elternhaus, den Medien oder von FreundInnen kennen, zurück. „Wir sind mit menschenfeindlichen Parolen, Ressentiments gegen verschiedene Minderheiten, Nationalismen in unterschiedlichster Ausformung und mit religiös-extremistischem Gedankengut konfrontiert“, erzählt Fabian Reicher, einer der Sozialarbeite rInnen bei Backbone. Die Gründe für solche Äußerungen und die Neigung mancher Jugendlicher zu diesen Weltbildern sind aus seiner Sicht vielfältig. Man dürfe nicht vergessen, dass die Jugend auch ohne zusätzlich erschwerte Umstände eine Phase des Experimentierens mit schnell wechselnden Einstellungen und Vorlieben ist. Die Zeit zwischen 12 und 15 Jahren sei oft wechselhaft, wie er am Beispiel eines Mädchens, das er schon länger kennt, illustriert: Bis vor einigen Monaten hatte sie oft ein T-Shirt der Band Frei.Wild, die dem Rechtsrock zuzuordnen ist, getragen und deren Musik gehört. Dann wiederum sah er sie vergangenes Frühjahr auf einer Demonstration gegen die rechte Gruppierung Die Identitären.

Foto: Mafalda Rakoš

Im Klassenraum. Der Rechtsextremismus und Islamismus-Experte Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, pflichtet dieser Einschätzung bei: „Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, kann das zur Projektion etwa auf Juden, Muslime oder andere Gruppen führen. Je mehr man über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse weiß, desto geringer wird auch der Drang zur Projektion. Wenn Jugendliche in einem Milieu aufwachsen, das von physischer oder psychischer Gewalt geprägt ist oder in dem es kaum Anerken nung und Wertschätzung gibt, dann werden sie auch ein vergiftetes Selbstbild entwickeln.“ Peham ist seit 20 Jahren an österreichischen Schulen unterwegs, um Workshops zu Vorurteilen und Ressentiments zu halten. Diese Workshops sind Teil der politischen Bildung und sollen mitunter ein Beitrag zur Prävention sein. Für Peham liegt ein Problem darin, dass rechte Äußerungen oder Vorurteile oft nicht erkannt werden, etwa weil sie sehr indirekt oder undeutlich artikuliert werden. Aus seiner Erfahrung macht sich das vor allem unter jenen bemerkbar, die sich weiter oben in einer Bildungslauf bahn befinden und mit Rassismus oder Antisemitismus kokettieren. Dass LehrerInnen hier zu Sanktionen tendieren, liegt für Peham daran, dass ihnen schlicht die Zeit fehlt, um Vorurteile ausgiebig zu diskutieren. Die politische Bildungsarbeit kann hierfür Raum schaffen.

In seinen Workshops wird Peham mit unterschiedlichsten Vorurteilen konfrontiert. Aus seiner Erfahrung ist eines der häufigsten, dass alle AusländerInnen in der sozialen Hängematte liegen würden. Da solche Meinungen eben auch mit Emotionen verbunden sind, reicht es oft nicht, das nur faktisch zu widerlegen. Deshalb konfrontiert er die SchülerInnen auch mal mit unerwarteten Aussagen, wie: „Ich habe eigentlich selbst ein starkes Bedürfnis danach, versorgt zu werden.“ Das funktioniert zwar nicht immer, bringt manche aber dazu, sich dem Thema aus einer anderen Richtung zu nähern und so über die eigenen sozialen Verhältnisse anders nachzudenken. Dass in ein paar Stunden sämtliche Ressentiments, die mitunter bestehen, aufgelöst werden könnten, darüber macht sich Peham keine Illusionen. Er ist schon mit kleinen Erfolgen zufrieden. Besorgt zeigt er sich aber über eine Entwicklung, die er seit gut ei nem Jahr beobachtet: „Ein offensichtlicher Antisemitismus ist wieder bemerkbar, bis hin zu Mord und Vernichtungsphantasien.“

Begegnungen in Israel. Auch im Verein Backbone sehen sich die SozialarbeiterInnen immer wieder mit antisemitistischen Äußerungen jeglicher Art konfrontiert. Neben der alltäglichen Arbeit im Verein gibt es auch immer wieder Projekte, die es den Jugendlichen ermöglichen sollen, einen anderen Zugang zu sich und ihren eigenen Weltbildern zu bekommen. Im Herbst 2013 organisierte der Verein deshalb eine Reise nach Israel. Zwei Jugendliche sind mitgeflogen, deren Familien sich im Umfeld der Grauen Wölfe bewegen. Das ist eine rechtsradikale Gruppierung aus der Türkei, die auch antisemitische Positionen vertritt. Um sich auf die Reise nach Israel vorzubereiten, haben sich die beiden Jugendlichen einen Bart wachsen lassen, um sich abzugrenzen.

In Israel angekommen, haben sich die Erwartungen der beiden allerdings nicht bestätigt. „Zunächst waren sie überrascht über die Minarette, die sie dort gesehen haben. Auf der Straße sind sie außerdem laufend von Menschen gefragt worden, ob sie nicht mit ihnen gemeinsam beten wollen“, erzählt Reicher, der die Reise nicht nur mitorganisierte, sondern die Jugendlichen auch in Israel begleitete. So begannen die Jugendlichen bald festgefahrene Bilder neu zu überdenken. Es entwickelten sich auch Freundschaf ten. Dass sich durch die Reise bei den Jugendlichen etwas veränderte, steht für Reicher fest. Sie würden nun differenzierter mit vorgefertigten Ideen umgehen, die sie zuvor einfach übernommen hatten.

Foto: Mafalda Rakoš

Jugendlichen unterschiedliche Blickwinkel aufzuzeigen, ist für den Sozialarbeiter eine weitreichende Aufgabe: „Von Jugendlichen wird erwartet, dass sie sich von menschenfeindlichem Gedankengut abgrenzen. In Wirklichkeit fehlt es den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, aber an den Voraussetzungen dafür, nämlich an Bildung. Sie können sehr schwer differenzieren.“ Deshalb ist es für ihn auch nicht verwunderlich, dass die Jugendlichen die häufig ebenso undifferenzierten Medienberichte sofort auf sich beziehen. Manchmal kommen Jugendliche wütend zu Backbone und ärgern sich über die Berichterstattung in einer der U-Bahn-Zeitungen, die sie zuvor gelesen haben, erzählt Reicher. Ein Jugendlicher sagte etwa zu ihm: „Wenn alle meinen, ich sei ein Terrorist, werde ich irgendwann wie ein Terrorist.“

Selbstwirksamkeit. Um diesem Ohnmachtsgefühl etwas entgegenzusetzen, haben Reicher und seine KollegInnen vergangen Sommer gemeinsam mit den Jugendlichen ein neues Projekt organisiert. Als im Frühjahr und Sommer 2014 die Konflikte im Nahen Osten wieder ein Thema wurden, bemerkten die SozialarbeiterInnen bei Backbone, wie sehr sich die Jugendlichen damit beschäftigten und dass daraus ein Gefühl der Lähmung erwuchs. Daraufhin entstand die Idee, ein Spendenprojekt zu organisieren und den Jugendlichen damit eine Möglichkeit zu geben, aktiv zu handeln. Gemeinsam mit den SozialarbeiterInnen produzierten die Jugendlichen Marmelade und Chili-Öl und verkauften diese. Ein Teil des Erlöses ging an das Internationale Rote Kreuz. Der andere Teil ging an das Projekt „Oase des Friedens“, ein Dorf nahe Tel Aviv, das gemeinsam von Muslimas und Muslimen sowie Juden und Jüdinnen aufgebaut wurde und sich als Teil der Friedensbewegung begreift. Für Fabian Reicher war diese Aktion ein voller Erfolg: „Die Jugendlichen konnten so Wertschätzung, Anerkennung und Selbstwirksamkeit erfahren. Das hat es wiederum ermöglicht, emotionalisierte Themen zu versachlichen.“

 

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung und Lehramt Geschichte und Englisch an der Uni Wien.

Petzt doch!

  • 23.10.2014, 01:52

Fast 200.000 StudentInnen absolvieren jährlich Praktika, meistens unter prekären Bedingungen. Jetzt gibt es eine Möglichkeit, diesem System entgegenzuwirken. Ein Interview mit Veronika Kronberger von der Plattform Generation Praktikum.

Fast 200.000 StudentInnen absolvieren jährlich Praktika, meistens unter prekären Bedingungen. Jetzt gibt es eine Möglichkeit, diesem System entgegenzuwirken. Ein Interview mit Veronika Kronberger von der Plattform Generation Praktikum. 

progress: Man spricht heute oft von der „Generation Praktikum“. Gibt es überhaupt noch eine Möglichkeit, ohne Praktikum im Lebenslauf nach der Ausbildung einen Job zu bekommen?

Veronika Kronberger: Nein, die gibt es nicht. Es wird von den ArbeitgeberInnen inzwischen erwartet, dass man Berufserfahrung mitbringt. Daran ist einerseits die Bildungsexplosion in den 70er Jahren Schuld und andererseits auch die Wirtschaftskrise. Konkret bedeutet das, dass ein Überangebot an qualifizierten ArbeitnehmerInnen einem Markt mit zu wenig freien Arbeitsplätzen gegenübersteht. Die Anforderungen der ArbeitgeberInnen werden dadurch immer höher: Neben einem Studienabschluss müssen BewerberInnen heute auch noch jede Menge Berufs- und Auslandserfahrung und vorzugsweise Kenntnis mehrerer Sprachen vorweisen können. Dass sich die Jobsuche heute als so schwierig gestaltet, wird später natürlich auch zu einem volkswirtschaftlichen Problem: Denn in der Regel dauert es drei Jahre bis JungakademikerInnen in ein unbefristetes Dienstverhältnis einsteigen, bei 25 Prozent sogar fünf Jahre. Bei unserem derzeitigen Pensionssystem sind die Folgen davon dann allerdings weitreichend: Wenn zu wenig Pensionsjahre gesammelt werden, werden immer mehr Menschen unserer Generation zukünftig von Altersarmut betroffen sein.

Warum werden Praktika oft als prekär bezeichnet?

Das Problem ist in den meisten Fällen, dass viele Praktika, die als solche ausgeschrieben werden, in der Realität keine echten Praktika sind, sondern schlichtweg versteckte herkömmliche Dienstverhältnisse. Unternehmen schreiben ihre freien Stellen als Praktika aus, um Personalkosten zu sparen. 60 Prozent aller ab solvierten Pflichtpraktika sind in Österreich unbezahlt. De facto werden so arbeitsrechtliche Bestimmungen umgangen und das ist illegal. Bei den freiwilligen Praktika ist die Situation ähnlich: Davon gelten zwei Drittel als unbezahlt. Unternehmen vernichten damit die eigentlichen Arbeitsplätze. Ein großes Problem ist auch, dass jene, die sich diese unbezahlten Praktika nicht leisten können, nach dem Studium Schwierigkeiten beim Jobeinstieg haben. Das führt zu sozialer Selektion. Das betrifft keineswegs nur StudentInnen, beinahe alle Bildungsschichten sind mit dieser Praktikums-Problematik konfrontiert.

Wie erkenne ich als PraktikantIn, ob mein Praktikum auch tatsächlich ein solches ist?

Das wesentliche Kennzeichen von Praktika ist der Ausbildungscharakter. Ein Praktikum sollte eigentlich zur Hälfte aus Arbeit und zur Hälfte aus Ausbildung bestehen. Es dürfen außerdem keine fixen Dienstzeiten gelten und es darf kein eigener Arbeitsbereich vorgesehen sein. Denn PraktikantInnen sollen in erster Linie in den Arbeitsmarkt hineinschnuppern.

Gibt es auch Möglichkeiten, diesem System entgegenzuwirken?

Das schwerwiegendste Problem war bisher, dass junge Menschen keine Möglichkeiten hatten, diesem rechtswidrigen System ein Ende zu bereiten, ohne dabei Gefahr zu laufen, dass ihnen der Eintritt in eine bestimmte Berufsbranche verweigert wird. Die gute Nachricht ist, dass das ab sofort möglich ist: Denn wir von der Plattform Generation Praktikum haben zusammen mit dem Sozialministerium und der GPA-djp die sogenannte watchlist-praktikum.at ins Leben gerufen. Diese „Watchlist“ macht es möglich, Unternehmen, die ihre PraktikantInnen unter illegalen Bedingungen beschäftigen, zur Rechenschaft zu ziehen. Das Ganze funktioniert so: Wenn Bedenken bezüglich der eigenen Praktikumsanstellung vorliegen, gibt es online die Möglichkeit, anonym ein Formular auszufüllen, das an die Gebietskrankenkasse weitergeleitet wird. Diese prüft dann unter dem Deckmantel einer Stichprobenkontrolle, ob es sich tatsächlich um eine Praktikumsanstellung handelt. Bewahrheitet sich der Verdacht, werden vermeintliche PraktikantInnen rückwirkend sozialversichert und bekommen das vorenthaltene Gehalt rückerstattet. Dadurch sollen die Rechte von jungen Menschen in der Arbeitswelt gestärkt und faire Arbeit zu fairem Lohn garantiert werden.

Welche Bilanz zieht ihr für das Projekt „Watchlist“?

Es hat sich gezeigt, dass die Idee fruchtet. Seit Juli 2014 gibt es die Seite und es wurden bereits 100 Unternehmen gemeldet, bei denen die Praktikumssituation als bedenklich einzustufen war. Wir sind selbst überrascht – oder besser gesagt – schockiert, denn die Lage ist tatsächlich schlimmer als erwartet. Das Beste ist natürlich, sich immer im Vorhinein abzusichern. Das heißt konkret: Bevor ein Dienstverhältnis eingegangen wird, den Praktikumsvertrag genau zu prüfen. Die ÖH und die Arbeiterkammer bieten solche Prüfungen kostenlos an.

Wie wird noch versucht, aktiv Hilfe zu leisten?

Sehr wichtig war uns bei der Gründung 2006, diese Thematik publik zu machen und eine stärkere mediale Verbreitung zu erreichen. Damals wurden schließlich auch erste Studien durchgeführt, vorher hatte es gar keine empirischen Untersuchungen in Österreich gegeben. In letzter Zeit sind wir aber auch politisch aktiv geworden: Wir lobbyieren und organisieren Veranstaltungen zum Thema. Natürlich ist unsere Organisation auch durch Service geprägt. Wesentlich ist für uns, die Probleme der „Generation Praktikum“ sichtbar und vor allem greifbarer zu machen.

Das Interview führte Anne Schinko.

 

Vertragscheck

Die ÖH bietet gemeinsam mit der GPA-djp Jugend den Vertragscheck an. Hilfe gibt es zu Fragen rund um Arbeitsverträge, Arbeitsrecht, ArbeitnehmerInnenschutz, Versicherung, Dienstverhältnisse und KonsumentInnenschutz. Terminvereinbarung: vertragscheck@oeh.ac.at

Gütesiegel Praktikum

Um zukünftigen PraktikantInnen ein faires Praktikum zu ermöglichen, hat die ÖH gemeinsam mit anderen Interessensvertretungen das „Gütesiegel Praktikum“ ins Leben gerufen. Unternehmen, die PraktikantInnen unter guten Bedingungen anstellen, werden mit dem Gütesiegel ausgezeichnet. www.oeh.ac.at/guetesiegel

„Der Arbeitsmarkt allein kann kein Kriterium sein‘‘

  • 03.05.2013, 14:19

Woher kommt der Trend zur fachlichen Spezialisierung? Warum braucht es bei der Einrichtung neuer Studiengänge eine kritische Diskussion? Worauf sollte man bei der Studienwahl nach dem Bachelor achten? Wissenschaftsphilosoph und -historiker Friedrich Stadler beantwortete unsere Fragen im Interview.

Woher kommt der Trend zur fachlichen Spezialisierung? Warum braucht es bei der Einrichtung neuer Studiengänge eine kritische Diskussion? Worauf sollte man bei der Studienwahl nach dem Bachelor achten? Wissenschaftsphilosoph und -historiker Friedrich Stadler beantwortete unsere Fragen im Interview.

progress: Es gibt immer mehr spezialisierte Master und neue Studiengänge. Woher kommt diese Entwicklung? Wie ist sie historisch zu verstehen?

Friedrich Stadler: Generell ist die Moderne gekennzeichnet durch Spezialisierung, Differenzierung und Rationalisierung. Das spiegelt sich auch in der universitären Ausbildung. Zusätzlich sehen wir seit Ende des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Spezialisierung und eine Arbeitsteilung in den Ausbildungsstätten, die von der Gesellschaft und auch vom Arbeitsmarkt eingefordert wird. Wir haben es mit dem ewigen Spannungsfeld von Bildung und Ausbildung zu tun. Dieses Spannungsfeld wird an den Hochschulen unterschiedlich gehandhabt. Das Humboldtsche Ideal, das nie wirklich realisiert wurde, ist der Hintergrund dieser Diskussion. Dazu gibt es eine Dauerdebatte zum Verhältnis von reiner und angewandter Wissenschaft und der Trennung dieser Sphären, die ja im Grunde eine künstliche ist.

progress: Wie unterscheidet sich die reine von der angewandten Wissenschaft?

Stadler: Die reine Wissenschaft ist Grundlagenforschung ohne Zwecke und Ziele. Die angewandte Forschung ist Ausbildung in Hinblick auf Berufsprofile. Wie das Verhältnis zwischen ihnen auszusehen hat, wurde – und wird auch heute noch – immer wieder neu verhandelt.

progress: Wie sinnhaft ist das Entstehen von Subdisziplinen und spezifischen Mastern wie etwa „Medizinrecht“ oder „Peace and Conflict Studies“?

Stadler: Mit einer Bewertung muss man da vorsichtig sein. In den 30ern und 40ern waren auch Psychologie und Soziologie Spezialisierungen. Heute sind sie selbstverständliche Fächer. Die kulturelle Evolution zeigt erst nach einiger Zeit die Sinnhaftigkeit solcher Spezialisierungsprozesse. Der Arbeitsmarkt allein kann dafür aber kein Kriterium sein. Auf der anderen Seite ist es sicherlich problematisch, wenn sogenannte „Orchideenfächer“ blühen und gedeihen, nur weil sie den Vorlieben des akademischen Personals entsprechen. Ich denke, mit einer ernst gemeinten Interdisziplinarität könnte man theoretisch sowie praktisch viele Subdisziplinen einbinden, anstatt für jedes kleine Fach sofort einen eigenen Studiengang zu fordern.

progress: Das klingt nach einer widersprüchlichen Entwicklung: Einerseits gibt es immer mehr Fragmentierung zwischen den Disziplinen, andererseits wird interdisziplinäre Arbeit ja immer wichtiger.

Stadler: Es wird allgemein anerkannt, dass eine übergreifende Perspektive Sinn macht, weil sie einfach den Horizont erweitert. Wobei es dann oft schwer ist, Studienabschlüsse fachlich zuzuordnen. Wir haben 2010 an der Universität Wien einen fächerübergreifenden Master namens „History and Philosophy of Science“ gestartet. Studierende aus allen Disziplinen können zu uns kommen, wenn sie ihr Fach von einer wissenschaftshistorischen Perspektive aus untersuchen wollen. Es gibt auch ein laufendes Doktoratsprogramm. Das Studium macht so gesehen Sinn, weil es nach dem Master weiterführt. Wenn es einen eigenen fachlichen „Track“ gibt und eine „Scientific Community“, dann spricht nichts gegen interdisziplinäre oder spezialisierte Fächer. Man sollte sich all diese Gesichtspunkte vor der Etablierung von Studienrichtungen anschauen.

progress: Wer sollte über neue Studiengänge entscheiden?

Stadler: Das liegt im Aufgabenbereich der Universitäten, des Senats und ist sicherlich auch abhängig vom Bedarf der Studierenden. Wir können im Lauf der Wissenschaftsgeschichte sehen, dass Fächer größer und kleiner werden, auftauchen und verschwinden. Das hat mit einer Eigendynamik zu tun, aber auch mit einer gesellschaftlichen Wertigkeit.

progress: Wie entsteht eine „Scientific Community”?

Stadler: Dazu braucht es Personen, Publikationen, aber auch eine akademische und außerakademische Öffentlichkeit. In den Geistes- und Kulturwissenschaften stellt sich auch die Frage nach den Grundlagen der Wissenschaften und den Methoden, weil Spezialisierungen ja immer die Frage provozieren, was das Spezielle an ihnen ist und was sie von anderen Disziplinen trennt oder mit ihnen verbindet. Das ist nicht nur eine Frage der Organisation und Administration eines Studiums, sondern auch eine theoretische und kognitive Fragestellung, die beantwortet werden muss. Wenn man sich damit auseinandersetzt, sehe ich kein Problem an einer Spezialisierung. Wenn aber keine kritische Diskussion in der Gesellschaft stattfindet, dann ist das problematisch.

progress: Immer mehr private Bildungseinrichtungen bieten teure Master und Postgraduate-Programme an. Besteht hier die Gefahr der Geschäftemacherei?

Stadler: Die Öffnung des freien Marktes ergibt natürlich das Problem, dass zwischen verschiedenen Ausbildungsstätten konkurriert wird. Die Privatuniversitäten sind eine Antwort auf gewisse Defizite im Hochschulbereich, aber auch Symptome für eine neue Organisation der Wissenschaften. An sich ist das keine schlechte Entwicklung, weil dadurch eine gewisse Pluralität einzieht. Dazu braucht es aber auch gleiche Bedingungen für alle Studierenden. Es sollten keine Privilegien aufgebaut werden. Der Studienzugang sollte mit gleichen Chancen verbunden sein. Es ist klar, dass private Institutionen schneller reagieren können und Marktlücken füllen, weil sie zum Beispiel kleiner sind oder sie ein Sponsoring hinter sich stehen haben. Die Qualitätskontrolle ist hier sicher entscheidend.

progress: Wann würden Sie Studierenden zu einem spezialisierten Master raten?

Stadler: Ich würde raten, diese neuen Master bei der Studienwahl durchaus kritisch zu analysieren. Auch im internationalen Vergleich. Wenn es in einem Bereich etwa nur einen Master an nur einer Hochschule gibt, wäre ich schon skeptisch. Wenn aber die Begeisterung für ein Fach da ist, dann ist das eigentlich das einzige Kriterium für die Studienwahl. Mir hat man früher als Student auch gesagt, dass Philosophie überlaufen ist und dass es damit keine Jobmöglichkeiten gibt. Aber es war das, was mich eben interessierte und mich so im Studium vorantrieb. Das wäre bei anderen Fächern nicht der Fall gewesen. Ich denke, dass die individuelle Begeisterung hier das Entscheidende ist.

Friedrich Stadler ist Universitätsprofessor für Wissenschaftsgeschichte, -theorie und -philosophie an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter und Gründer des Instituts Wiener Kreis.