Simon Sailer

Sodom und Andorra

  • 04.10.2012, 23:44

Was in Schulen gelesen wird und wo dabei das Problem liegt. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Was in Schulen gelesen wird und wo dabei das Problem liegt. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Seit 1989 gibt es im österreichischen Lehrplan für den Deutschunterricht keine Leselisten mehr. Allerdings sieht er weiterhin vor, für die verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte repräsentative Werke zu behandeln. Gerade, wenn es um Antisemitismus und Nationalsozialismus geht, wird jedoch auch ohne Liste immer wieder zu den gleichen Werken gegriffen. Und so arbeitet sich jede  Klasse aufs Neue durch das Tagebuch der Anne Frank, Andorra und Auszüge aus der Blechtrommel. Hin und wieder werden vielleicht auch Thomas Bernhards Heldenplatz oder Passagen aus Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit berücksichtigt. Dabei werden diese Werke – das kann aus eigener Erfahrung und den Berichten anderer mit einiger Gewissheit gesagt werden – meist nicht problematisiert, sondern als die Wahrheit über die Zeit, den Antisemitismus und die Menschen im Allgemeinen präsentiert.

Probleme. Zu problematisieren gäbe es an manchen der genannten Schriften aber durchaus einiges. Max Frischs Andorra wurde etwa von dem Kabarettisten Georg Kreisler als „schwach auf der Brust und latent antisemitisch“ angesehen. Ein Urteil, das Kreisler nicht nur so nebenher gegen einen von ihm Ungeliebten losließ. Zusammen mit KünstlerInnen wie Topsy Küppers und Kurt Sowinetz vertonte er sogar eine Parodie, die den plakativen Titel Sodom und Andorra trägt. Frisch versucht in seinem Stück die Funktionsweise von Antisemitismus aufzuzeigen. Die recht durchsichtige These lautet, dass es das antisemitische Vorurteil sei, welches die Juden zu Juden mache. In dem Stück gilt der junge Andri in seinem Dorf im erfundenen Land Andorra als Jude und nimmt aufgrund der Behandlung durch die Bevölkerung schließlich jene Eigenschaften an, die nach Frisch das antisemitische Stereotyp charakterisieren. Der Tischler will die Meisterschaft seiner Arbeit nicht anerkennen und zwingt ihn in den Verkauf, der Pfarrer dagegen will eine besondere Gabe bemerkt haben und empfiehlt ihm, in die Wissenschaft zu gehen. Der derart gegängelte Andri wird schließlich nervös, unruhig, wittert überall Antisemitismus und zieht sich schließlich auf die Position zurück, sich nur  noch um Geld kümmern zu wollen.

Der wohl gut gemeinte Versuch, die Wirkmächtigkeit von Vorurteilen zu demonstrieren, endet, genauer betrachtet, in einer Affirmation der antisemitischen Karikatur, die Andri schließlich darstellt. Fast als wäre Frisch der Ansicht, die Juden – bei ihm ist der archetypische Jude schließlich ein Mann – sind schon so, nur liege dies nicht in ihrem Wesen, sondern die antisemitische Gesellschaft habe sie selbst hervorgebracht. Da wundert es dann wenig, dass in seinem Stück keine Jüdinnen oder Juden in positiven Rollen vorkommen. Andri stellt sich schließlich als Andorraner heraus, positive jüdische Figuren würden das Bild des Juden als manifestierte Projektion nur stören.

Würden solche Probleme im Unterricht behandelt werden, wäre an der Lektüre nichts auszusetzen. Aber in der Praxis werden diese Werke als Lehrstücke behandelt, fast als aus der Wirklichkeit genommene Beispiele. Was will uns der Autor sagen? Was lernen wir daraus?

Textwahl. Darüber hinaus ist bemerkenswert, welche Schriften nie oder nur sehr selten im Unterricht behandelt werden: so beispielsweise Bertolt Brechts Furcht und Elend des Dritten Reichs, ein Stück, das der Autor im Exil in den 1930er-Jahren verfasste. Oder Edgar Hilsenraths Der Nazi und der Friseur, das zunächst nur in der englischen Übersetzung erscheinen konnte, weil im  Deutschland der 1960er niemand bereit war, diesen Roman zu veröffentlichen, der als Anti-Blechtrommel bezeichnet werden könnte. Hilsenrath schildert den Nationalsozialismus aus der ungeschönten Sicht eines Täters in seiner Kontinuität bis in die Gegenwart. Anders als bei den nivellierenden Formulierungen Grass’ handelt es sich um eine wirkliche Groteske: eine, die real bleibt.

Hilsenraths Darstellung spitzt die Brutalität aufs Äußerste zu und steigert sie ins Unmögliche, ohne dabei den Charakter der Realität einzubüßen. In Deutschland konnte dieses Buch erst Ende der 1970er-Jahre erscheinen, obwohl es zuvor bereits in den USA große Erfolge erzielt hatte. Es ist kein Zufall, dass Die Blechtrommel als das Buch der Deutschen bezeichnet werden kann, während sich  ein Autor wie Edgar Hilsenrath erst allmählich etablieren konnte. In Schulen wird er wohl niemals vergleichbar oft gelesen werden wie Grass.

Kritik. Natürlich kann die Konsequenz daraus nicht darin bestehen, die Lektüre dieses oder jenes Werkes anzuempfehlen. Es ist durchaus eine Errungenschaft, dass Lehrern und Lehrerinnen große Freiheit in der Auswahl der behandelten Texte zugestanden und dadurch eine Vielfalt der behandelten Werke begünstigt wird. Das Problem liegt allerdings in der unkritischen Behandlung der schließlich ausgewählten Texte. Literatur, die sich kritisch mit Nationalsozialismus und Antisemitismus befasst, müsste daraufhin untersucht werden, ob sie ihrem Anspruch gerecht wird, welche Vorstellungen von Antisemitismus, von Geschichte und Gesellschaft ihr zugrunde liegen und ob sie womöglich selbst antisemitische Topoi enthält oder Entlastungsangebote macht. Auch diese Aufgabe obliegt schließlich den Lehrenden. Ihre Erfüllung könnte aber von einem gesellschaftlichen Klima gestützt werden, in dem nicht alles, was kritisch daherkommt, zum nicht zu hinterfragenden Nonplusultra erklärt wird – je plakativer desto besser.

An den Rand geschrieben

  • 30.09.2012, 17:17

Eine Hommage an Paul Valéry

Eine Hommage an Paul Valéry

Paul Valéry war ein Dichter. Und er war ein Philosoph. Beim Dichten wie beim Denken strebte er stets nach Klarheit und Deutlichkeit: „Von zwei Worten wähle man das weniger bedeutende.“ Seinem eigenen Rat versuchte der in Paris lebende Freund und Bewunderer des Schriftstellers Stephane Mallarmé stets zu folgen, in der Lyrik wie in der Philosophie. Tiefe war ihm nur ein Trick, ein sprachlicher Kniff. Seine Poesie entfaltet ihr Leben aus der Sprache selbst, unter Verzicht auf Brimborium, auf Überflüssiges. Die poésie pure sollte verzaubern ohne Magie: durch Genauigkeit und Formvollendung.

Als Theoretiker ist der französische Lyriker in Österreich so gut wie unbekannt. Sein Werk liegt zerstückelt vor. Zum größten Teil besteht es aus posthum herausgegebenen Notizen, die er sich – und wohl zunächst nur für sich – machte: cahiers, Hefte. Darüber hinaus erschienen einige Essays und Aphorismen schon zu seinen Lebzeiten. Er schrieb etwa über Leonardo da Vinci und Edgar Degas, den er hoch verehrte. Dem Maler kritzelte er, „wie ein zerstreuter Leser seinen Bleistift an den Rändern eines Buches spazierenführt“, einen kleinen Text an den Rand einiger seiner Studien. So fällt an Valéry zuerst seine Unaufdringlichkeit ins Auge. Es handelt sich dabei um eine unaufdringliche Unaufdringlichkeit, eine, die nicht beständig ausrufen muss: Seht her! Wie bin ich doch edel und zurückhaltend. Bei ihm entspringt sie der
Sache. Nicht das Wesentliche, das Wichtigtuerische ist für ihn entscheidend – der Vorbehalt dagegen schwingt noch in seinen konservativen Tiraden gegen das Neue mit. Das Unprätentiöse und Subtile gilt ihm soviel mehr. Der angestrengt errungene Gedanke, der, nur einen Augenblick lang wahr, sogleich wieder erlischt, verfliegt, vergeht … 

Die Form des Feuilletons ist dem Meister der vergänglichen Beständigkeit deshalb wie auf den Leib gegossen. Als journalistische Gattung ist es flüchtig, dahingesagt, einmal gelesen – gedacht und vergessen. Zugleich verlangt es, was Valéry stets von Denken und Sprache gefordert hat: Einfachheit und Subtilität in einer festen Form zu vereinen. „Man kann nicht subtil genug sein, und man kann nicht einfach genug sein. / Subtil genug, weil die Dinge es verlangen; einfach genug, weil unser Dasein und unsre Handlungen es gebieten.“

Ich mach meinen Master bei Humboldt

  • 28.09.2012, 10:47

Beliebt bei Unibrennt und Rektorat, Grünen und ÖVP, in der Werbung und bei Protesten – Wilhelm von Humboldt bringt Gegensatzpaare auf einen Nenner. Unsere Autoren allerdings sind sich nur in ihrer Skepsis an diesem Hype einig. Ihre Meinungen gehen auseinander.

Beliebt bei Unibrennt und Rektorat, Grünen und ÖVP, in der Werbung und bei Protesten – Wilhelm von Humboldt bringt Gegensatzpaare auf einen Nenner. Unsere Autoren allerdings sind sich nur in ihrer Skepsis an diesem Hype einig. Ihre  Meinungen gehen auseinander.

Pro: Was noch nicht ist

Humboldt ist also wieder en vogue. Besonders in den Stoßzeiten sogenannter Bildungsproteste begegnet man der Beschwörung Humboldts als akademischer Säulenheiliger auf Flugblättern wie in Seminaren, auf Plakaten wie im Feuilleton. Für eine Auseinandersetzung mit seiner Theorie ist in der Hitze des Gefechts freilich selten Zeit. Und wenn sie doch passiert, steht neben vollmundigen Ratschlägen und bildungspolitischen Weisheiten meist entweder die Meinung „Humboldt ist schlicht veraltet“ oder die Forderung „Zurück zu Humboldt!“. Als letzte Weisheit untermauert die eine wie die andere das eigene Argument und damit scheint dann auch schon alles gesagt.

Dass der Bezug auf Humboldt immer recht instrumentell daherkommt,  überrascht nicht. Humboldt ernst zu nehmen, würde bedeuten, sich mit jenem idealistischen Gelehrtendeutsch zu befassen, dem man als kritischeR StudentIn am liebsten die Diskursberechtigung entzöge. Anstatt einer solchen Auseinandersetzung werden zentrale Konzepte in Humboldts Werk wie Freiheit, Kraft und Ich, allerdings meist situationselastisch an die Bedürfnisse des zeitgenössischen Publikums angepasst und letztlich auf den Slogan von der Unabhängigkeit der Universität reduziert. Humanistische Bildung heißt für Humboldt jedoch mehr als das obligatorische „Bildung für alle“: Ihr Zweck ist der Zustand der „ungebundensten Freiheit“, der denkbar größten Autonomie und Individualität des Menschen. Die Verhältnisse, die von den Einzelnen Selbstzurichtung und Einpassung ins gesellschaftliche Ganze einfordern, tangieren Humboldts idealistische Freiheit nicht: Seine Ideen zielen auf die Erziehung der Menschen zu freien BürgerInnen ab. Durch Bildung, so der Impetus von Humboldts Humanismus, sollen die Menschen in ein freies Verhältnis zur Welt treten, zu einer kapitalistischen Welt wohlgemerkt, deren Zusammenhalt durch verborgenen Zwang und Wertverwertung garantiert wird.

Was aber, wenn die Verwirklichung dieses Humboltschen Ziels zwangsläufig scheitert, wenn die Welt, zu der sich das Individuum in Freiheit stellen soll, ihm ies verweigert? Die zuweilen schmerzhafte Erfahrung, dass der Begriff und die Sache, die Möglichkeiten und die Realität, unsere Bedürfnisse und ihre Erfüllung unversöhnlich auseinanderklaffen, birgt das Potenzial, den Mangel infrage zu stellen. Nicht das Bedürfnis nach Freiheit trägt die Schuld am Widerspruch, sondern deren gesellschaftlich verursachte Abwesenheit. Humboldts großes Projekt zielt auf die Freiheit der Menschen, total und kompromisslos. An diesem Anspruch an Bildung gilt es trotzig festzuhalten, solange seine Einlösung nur im deutschen Ideenhimmel, nicht aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit gelungen ist.

Simon Gansinger

Contra: Hohle Parole

„Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“ steht über der Haupttreppe zu lesen, die in die oberen Stöcke des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien führt. Dieser Satz geht auf Gedankengut zurück, das schon Wilhelm von Humboldt vor über 200 Jahren umzusetzen versuchte. Die damals durchgeführte Staatsreform reagierte auf den Gebietsverlust, den der preußische Staat durch die Niederlage gegen Napoleon erleiden musste. Die Forderung nach Einheit von Forschung und Lehre zielte auf eine Beteiligung der ausschließlich männlichen Studenten an der Forschung.* Es ging dabei um die Bildung des gesamten Menschen im Sinne eines humanistischen Ideals.

Heute hingegen ist diese Vorstellung zu einer Art Lehrverpflichtung für ForscherInnen geraten, das Recht auf Ausschlachtung der Arbeit der von ihnen abhängigen Studierenden mitinbegriffen. Aber der Fehler liegt nicht in erster Linie darin, dass die einst so hehren Ideale Humboldts heute heruntergekommen wären oder im Grunde mit jenen der heutigen Zeit, die unter Berufung auf ihn kursieren, gar nicht vergleichbar sind. Eine Reihe von Problemen sind bereits dem Humanismus selbst und dem entsprechenden Bildungsideal inhärent. Der Humanismus geht davon aus, dass der Mensch sich entfalten und zu seinem wahren Wesen gedeihen soll und dazu einer gewissen Förderung bedarf.

Der Mensch wird also erst zweitrangig als soziales Wesen verstanden, das sich in seiner je spezifischen Gesellschaft zu dem entwickelt, was es ist. Im humanistischen Ideal schwingt zunächst ein relativ starres Bild davon mit, wie ein Mensch zu sein hat. Die Erziehung macht sich nun daran, dieses Bild aus den Individuen heraus zu meißeln. Das Ergebnis, schon zu Humboldts Zeiten, war ein von pädagogischer Strenge geprägter Elitarismus, der gedanklich einen großen Teil der Menschen überhaupt vom Menschsein ausschloss: eben jene, die diesem Bild nicht entsprechen wollten oder nicht entsprechen konnten. Der Zugang zu Gymnasien war damals schließlich begrenzt – und ist es aufgrund sozialer Selektion noch immer. Jetzt ließe sich freilich einwenden, das wäre gar keine Kritik am Humboldtschen Bildungsideal, sondern an den gesellschaftlichen Bedingungen, die seine Realisierung verunmöglichen. Und der Einwand gilt sogar. Nur zeigt sich an ihm, dass der Humanismus, nimmt man ihn ernst, sofort auf die Gesellschaft als Ganzes verweist. Und deshalb erscheint das humanistische Ideal auch schief, falsch und rückwärts orientiert, wird der Hinweis auf das Privileg vergessen. Ein solcher Humanismus ist ein mit großen Parolen geführter Abwehrkampf. Er versucht, die Oberfläche zu bewahren, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass der Untergrund längst weggeschwemmt wurde – und deshalb tönt er so hohl.

* Frauen durften in Preußen erst ab 1896 maturieren und ihnen war somit der Zugang zur Universität bis dahin verwehrt.

Autor Simon Sailer

Sich Glück ausmalen

  • 27.09.2012, 02:07

„… so ist dies dritte Beispiel quasi Sinnbild des glücklichen Individuums oder der glücklichen Individuen, die sich dem Struktural-Gesetzmäßigen auf breitflächiger Dimension streng einzuordnen vermögen, ohne ihrem individuellen Charakter Abbruch zu tun.“
Diesem literarischen Entwurf eines versöhnten Allgemeinen stellt Paul Klee eine kleine Skizze zur Seite: Auf einen mit dünnen Strichen gezogenen Raster legen sich Linien und Formen. Sie schmiegen sich an die Waagrechten und Vertikalen der graphischen Struktur an, aber bewahren dabei ihre Eigenständigkeit. „Beiträge zur bildnerischen Formlehre“ betitelt Klee die 1921/22 am Bauhaus gehaltene Vorlesung, in der er dieses Bild eines Nicht-Seienden im Zusammenhang einer allgemeinen Lehre der Formen erwähnt.
Der gesellschaftsbildende Gegensatz zwischen den Einzelnen und dem Ganzen, zu dem sie zusammengeschlossen sind, begegnet dem Zeichner und Maler als Problem der Form. Im Bild gibt es rhythmisierte Struktur, die lose oder fest, schnell oder langsam komponiert sein kann. Es finden sich gleichermaßen Individuen: Punkte, Linien und Flächen. Dies hat es mit der Musik gemeinsam, die für den Geiger Klee einen wichtigen Bezugspunkt ausmacht. In der konventionellen Musik entspricht das Verhältnis von Einzelformen und Struktur dem der Solostimmen zum Orchester, die zusammen ein polyphones Ganzes bilden. Derart entsteht auch im Bild aus der bestimmten Anordnung der Formelemente ein Ensemble von Klängen, eine Vielstimmigkeit. Es eignet sich darum, wie die Musik, zur Darstellung eines Gleichnises des menschlichen Zusammenlebens.
Nun ist aber in Wirklichkeit weit und breit keine Gesellschaft in Sicht, in die sich einordnen ließe, ohne auf Individualität zu verzichten. Deshalb bleibt Klees Skizze des glücklichen Individuums eher Wunschtraum, Utopie, als tatsächliche Gegenwart. Und selbst dort, wo dieses Glück vielleicht wirklich zu finden ist, lässt es sich nicht unmittelbar künstlerisch erfassen. Klee gelingt es nur Wesentliches an den Gegenständen darzustellen, indem er nicht einfach ihre Oberfläche abpinselt. Seine Kunst ist in gewissem Sinn eine gegenständliche, also intensiv auf einen Gegenstand bezogen. Sie stellt allerdings nicht dessen Sichtbares dar, sondern macht sein inneres Wesen sichtbar. Das Bild ist dann nicht Abbild der Welt, sondern ihre Allegorie. Es bringt Verborgenes an den Dingen zum Vorschein und ist darin gegenständlich und abstrakt zugleich.
Wer sich davon selbst überzeugen will, könnte das Museum für Moderne Kunst (Mumok) im Museumsquartier aufsuchen, das einige Bilder von Klee in seiner Sammlung führt und auch immer, in wechselnder Anordnung, ausstellt. Auch die Albertina in Wien verfügt über einige Stücke, die sie zuletzt im Rahmen der großen Ausstellung zum Blauen Reiter präsentiert hat.

Der Autor studiert Philosophie in Wien.

No Milk today

  • 21.09.2012, 12:17

Die Arbeit hoch? Über den Wandel der Lohnarbeit und den Kampf gegen sie. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Die Arbeit hoch? Über den Wandel der Lohnarbeit und den Kampf gegen sie. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Am 1. Mai wird traditionell der „Kampftag der Arbeiterbewegung“ abgehalten oder der „Tag der Arbeit“ gefeiert. Von den beiden Bezeichnungen scheint sich die letztere durchgesetzt zu haben. Das liegt nicht nur an dem kämpferischen Ton der Alternative, welche in wenig kämpferischen Zeiten schwer über die Lippen kommt, es handelt sich dabei auch um eine inhaltliche Verschiebung. In gewisser Weise sind die beiden Ausdrücke sogar entgegengesetzt: In ihnen spiegelt sich die Ambivalenz der Geschichte dieses gerade in Österreich bedeutsamen Tages.

KÄMPFEN. Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte die organisierte Arbeiter*innenbewegung Arbeitsrechte zu erkämpfen, wie etwa die Verringerung der Arbeitszeit, das Recht auf geregelte Feiertage und bessere Arbeitsbedingungen. Das stärkste Mittel dieses Kampfes war der Streik, das kollektive Niederlegen der Arbeit. Im Vordergrund stand also zunächst die Weigerung, sich weiter schinden zu lassen, also die Ablehnung der menschenfeindlichen Auswirkungen von Lohnarbeit. Motiviert waren die Kämpfe von dem Wunsch nach erträglichen Lebensbedingungen. Selbstverständlich spielten aber auch Utopien umfassender gesellschaftlicher Veränderung, in Österreich vor allem in der Sozialdemokratie, eine entscheidende Rolle. Im Austrofaschismus wurden die sozialdemokratischen Maiaufmärsche verboten, während der 1. Mai aber weiterhin als Feiertag bestehen blieb. Die Nationalsozialist*innen erklärten den Tag zum „Tag der deutschen Arbeit“ beziehungsweise zum „Tag der Nationalen Arbeit“. Die Arbeitnehmer*innen fassten sie mit den Arbeitgeber*innen in einer Organisation zusammen: der „Deutschen Arbeitsfront“. Gewerkschaften wurden aufgelöst und das Streikrecht wurde abgeschafft. Die Sozialdemokratie versuchte in Österreich kurz nach der Befreiung wieder an die Tradition aus den 1920er-Jahren anzuknüpfen; in den unterschiedlichen Bezeichnungen für den 1. Mai drückt sich aber weiterhin die geschichtliche Mehrdeutigkeit des Tages aus.

ABFINDEN. Die Ambivalenz ergibt sich aber nicht nur aus der widersprüchlichen Geschichte des Tages, vielmehr ist diese Ausdruck der zwiespältigen Lage der Arbeiter*innen selbst. Zunächst kämpften sie für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, also um die Befreiung von der Gewalt der Arbeit, um schließlich die Arbeit selbst zu feiern und „Die Arbeit hoch!“ zu rufen. Diese Entwicklung kann als Abfinden mit dem Elend, das die Arbeit bedeutet, interpretiert werden. Nach dem Scheitern der Versuche, die Notwendigkeit menschenunwürdiger Arbeit durch gesellschaftliche Veränderung zu beseitigen, gibt man sich damit zufrieden, die eigene Situation schön zu feiern. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine Entscheidung, die von der arbeitenden Bevölkerung immer wieder aufs Neue getroffen wird. Vielmehr ist der Gegensatz, welcher zwischen Arbeit und Wirtschaft besteht, seit dem Nationalsozialismus seltsam zugedeckt. Die Institution, die die Schlichtung des unauflösbaren Konfliktes verkörpert, ist die österreichische Sozialpartner*innenschaft. Sie lässt es so aussehen, als säßen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen in einem Boot, als hätten die Lohnarbeiter*innen zwar im Kleinen, nicht aber insgesamt andere Interessen.

BESCHÄFTIGEN. Diese Befriedung erstreckt sich aber weit über die Domäne der Arbeit und Ökonomie hinaus. Das Reglement, welches die Lohnarbeit den Menschen vorgibt, macht sich auch in deren Freizeit bemerkbar. Diese näherte sich in den 1950er- und 60er-Jahren immer mehr der Struktur der Lohnarbeit an. Dass es ein eigenes Wort für eine emsig betriebene Freizeitbeschäftigung gibt („Hobby“), zeugt von dieser Annäherung. Es handelt sich dabei um eine arbeitsförmige Beschäftigung, die sich, nur weil sie unbezahlt und freiwillig ausgeführt wird, dazu eignet, wieder fit für die Arbeit zu werden. Heute erstreckt sich die Lohnarbeit mehr und mehr tatsächlich und unmittelbar in die von ihr auf den ersten Blick verschonte freie Zeit. Die Handy-Nutzer*innen müssen immer erreichbar sein, sie müssen sich im Internet angemessen repräsentieren und müssen, um im Beruf nicht auf der Strecke zu bleiben, wo sie auch hinkommen, fleißig „networken“. Das führt aber dazu, dass die sozialen Beziehungen verkümmern und instrumenteller werden. Und weil das menschliche Gefühlsleben von sozialen Beziehungen abhängt, muss jemand sich um die verstümmelten Seelen bemühen. Ein Teil dieser emotionalen Arbeit kann als Psychotherapie oder Sozialarbeit professionalisiert werden, aber nicht alle psychische Instandhaltung eignet sich zu solcher Auslagerung auf Unbeteiligte.

ARBEITEN. Diese übrige Arbeit (wie übrigens auch die klassische reproduktive Arbeit), die so wenig messbar, und doch für den Fortbestand des Kapitalismus so entscheidend ist, bildet eine Art Schatten und eine unbemerkte, stillschweigende Voraussetzung der bezahlten Arbeit, die mit Respekt und Anerkennung belohnt wird. Gerade die Ausführung dieser abgespaltenen Arbeit wird aber vielfach von Frauen erwartet. Aufgrund der Strukturen des Arbeitsmarktes und bestimmter Geschlechterbilder werden ihnen diejenigen Tätigkeiten aufgedrängt, die den größten Einsatz der ganzen Person verlangen und gleichzeitig – vielleicht eben deshalb – gesellschaftlich am geringsten geschätzt werden. Übrigens betrifft dieses Phänomen nicht nur Frauen, sondern es tendiert dazu, sich auf andere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen zu verschieben. Diese Flexibilität rührt aus dem angesprochenen Zusammenhang mit dem Kapitalismus: Irgendwer muss diese Arbeit erledigen, und es werden immer die schlechter gestellten einer Gesellschaft sein.

SOLIDARISIEREN. Einen Ausweg aus diesen Verhängnissen würde nur eine Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und der beschriebenen Arbeitsverhältnisse versprechen. Eine derartige Entwicklung ist allerdings nicht in Aussicht und es scheint also vorerst nichts übrigzubleiben, als sich für jene einzusetzen, die gerade am stärksten von diesen Tendenzen betroffen sind. Außerdem gilt es zu versuchen, sich von Verhältnissen nicht dumm machen zu lassen, die zwar vorläufig kaum zu ändern, aber doch zumindest besser zu begreifen sind.

Der Autor studiert Philosophie in Wien.

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