Gabriel Binder

Uncut – ein Bruch mit dem Schweigen

  • 10.04.2015, 16:50

Am 20.03.2015 hatte Paul Poets neuester Film "My Talk with Florence" Premiere bei der Diagonale in Graz. Zu sehen ist ein zweistündiges, ungeschnittenes "Interview" mit Florence Bournier-Bauer, die von Misshandlungen in ihrer Jugend und ihrem Leben in Otto Mühls Kommune berichtet, wo auch ihre Kinder missbraucht wurden.

Am 20.03.2015 hatte Paul Poets neuester Film "My Talk with Florence" Premiere bei der Diagonale in Graz. Zu sehen ist ein zweistündiges, ungeschnittenes "Interview" mit Florence Bournier-Bauer, die von Misshandlungen in ihrer Jugend und ihrem Leben in Otto Mühls Kommune berichtet, wo auch ihre Kinder missbraucht wurden.

progress: Wie bist du zu der Idee gekommen, ein Gespräch über Missbrauch in einen Film zu verpacken?

Paul Poet: Der Film war als solcher nicht geplant. Er war im Rahmen des Theaterstücks „Satan Mozart Moratorium“, das ich 2008 fürs Donaufestival in Krems gemacht habe, entstanden. Im Vorfeld habe ich durch Zufall Florence kennengelernt. Sie hat 20 Jahre dafür gekämpft, dass ihre Geschichte gehört wird. Sie war maßgeblich mitverantwortlich, dass Otto Mühl wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde. Sie war 10 Jahre in der Kommune Friedrichshof und hat nachher versucht, ihre Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen. Es wollte ihr aber keiner zuhören.

Ich wollte im Theaterstück den latenten Missbrauch in der Gesellschaft als Karikatur aufarbeiten. Für die Geschichte von Florence hatten wir ein Talkshow-Setting, in dem ich selber so ein klassisches Jauch-Arschloch gespielt habe. Ich hatte damals den Film als Back-up für das Theaterstück gedreht. Wir hatten drei Aufführungen geplant, aber ich wusste nicht, ob Florence wirklich immer auftaucht und wollte zur Sicherheit etwas filmen, um es notfalls projizieren zu können. Das Stück mit ihr hat aber  großartig geklappt, sie war jedes Mal voll da, wollte gehört werden und hat immer etwas anderes erzählt. Da der Film selbst aber so gut geworden ist, bringe ich ihn nun doch extra raus, um ihrem Leben wirklich Gehör zu verschaffen.

Hast du im Zuge des Gesprächs Bedenken gehabt, dass es bei ihr zu einer Re-Traumatisierung kommen könnte?

Wir haben im Vorhinein viele Gespräche geführt. Ich bin kein professioneller Psychologe. Zu dem Zeitpunkt hatte ich selbst eine lange Therapie abgeschlossen, weil ich lange schwer depressiv war. Das rührte zum Teil auch aus einer eigenen Missbrauchsgeschichte in der Vergangenheit und insofern waren wir Leute, die sich auf Augenhöhe trafen. Eine Garantie gibt es in solchen Bereichen aber nie.

Aus dem Film geht klar hervor, dass es nicht das erste Gespräch ist, das wir führe. Es ist klar, dass wir uns abgesprochen haben, es ist klar, dass Florence sich selbst inszeniert, zum Beispiel mit der missbrauchten Kinderpuppe, die ich selber als Regisseur furchtbar gefunden habe. Mich interessiert aber der Mensch als ambivalentes Wesen, so wie es für mich als Linken nur die Herangehensweise geben kann, Menschen in ihrer Komplexität zu begreifen statt Propaganda zu zimmern. Florence bezeichnet sich auch selbst als Täterin. Nicht weil sie missbraucht hätte, sondern weil sie ihre Kinder im Stich gelassen und nicht geschützt hat.

Was hat Florence zum Film gesagt?

Sie hat den FIlm zuerst gehasst, dann wieder geliebt, dann wollte sie eine ganz reguläre, klassische Doku haben. Und dann fand sie es wieder ganz großartig, dass er so künstlerisch ist.

Erging es dem Publikum auch so?

Der Großteil ist im Saal sitzen geblieben, manche haben mokiert, dass der Film von der Umgangsweise her schon sehr hart sei, aber er vermeidet eben jede Form von  gegenwärtigem Dokukino, das ich so hasse: diese vorgekauten Messages, diese schwer manipulativen emotionalen Trigger.

Florence wollte über ihre Geschichte sprechen. Welche Aspekte standen für sie dabei im Vordergrund?

Es ist natürlich schon ein egoistischer Aspekt für sie, das aufzuarbeiten, aber natürlich will sie Opfer inspirieren, darüber zu sprechen. Ich bin ja selber nicht primär, aber sekundär betroffen von Missbrauch. Als Kind musste ich mitansehen, wie ein guter Freund von mir vergewaltigt wurde. Ich weiß daher sehr gut, wie viel Verletzung die Schweigespirale auslöst. Es ging mir darum, mit dem Film genau diese zu brechen, um Leute zu inspirieren, nichts hinzunehmen.

Hast du Befürchtungen, dass Florence dich bittet, den Film zurückzuziehen?

Ich weiß nicht, wie groß es wird, es ist ein kleines Arthouse-Ding. Er wird vielleicht als Film ein langes Leben haben, der international auch gut präsent ist, aber er wird kein Blockbuster (lacht), das ist abzusehen. Und so haben Florence und ich einfach eine Abmachung, dass alle Einnahmen 50/50 zwischen uns geteilt werden, weil ich den Film nicht alleine als mein eigenes künstlerisches Produkt sehe, sondern sehr wohl als ihr Leben. Florence hat nur eine kleine Witwenpension, also hoffe ich, dass sie zumindest ein bisschen was reinkriegt, damit ihr Leben gesichert ist.

“My Talk with Florence”
Regie: Paul Poet
129 Minuten
ab Oktober 2015 im Kino

 

Gabriel Binder studiert Geschichte an der Universität Wien.

Bestie Tier – Bestie Mensch?

  • 19.07.2014, 14:30

Über die Notwendigkeit eines tierrechtlichen Diskurses. Ein Beitrag von Gabriel Binder.

Über die Notwendigkeit eines tierrechtlichen Diskurses. Ein Beitrag von Gabriel Binder.

Der Wiener Neustädter Tierschutzprozess hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Tierrechten in Österreich vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Forderung nach elementaren und umfassenden Rechten für die Tierwelt durch ihre menschlichen Advokaten stößt auf scharfen Gegenwind seitens der Staatsmacht und der Wirtschaft.

Im Juni dieses Jahres wurde mit Felix Hnat, dem Obmann der Veganen Gesellschaft Österreich (VGÖ), der letzte Angeklagte im berühmt gewordenen Tierschutzprozess nach sechs Jahren Ungewissheit freigesprochen. Bereits im März 2010 bis Mai 2011 standen 13 Angeklagte aus unterschiedlichen Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen in Wiener Neustadt vor Gericht und mussten sich gegen verschiedene Vorwürfe wie der Bildung einer kriminellen Organisation (§ 278a), Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Tierquälerei (nach einer Befreiungsaktion von Schweinen) verteidigen. Am 02. Mai 2011 wurden alle 13 Angeklagten in allen Punkten freigesprochen. Vorerst. Denn im Juni 2012 legte die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt Berufung ein. Gegen fünf  Angeklagte wurden im Frühjahr 2014 Rumpfprozesse gestartet, die jedoch allesamt ebenfalls mit glatten Freisprüchen endeten. Keine Nötigung, keine Sachbeschädigung, keine Tierquälerei, kein Widerstand gegen die Staatsgewalt konnte nachgewiesen werden.

Am Ende war der Wiener Neustädter Tierschutzprozess für die österreichische Justiz eine Blamage, Demaskierung und Toterklärung. Tierrechtler_innen wurden in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der österreichischen Ermittler_innen genommen. Doch weshalb setzen sich Menschen so vehement für die Rechte von Tieren ein, sodass selbst die Repressionsbehörde auf den Plan gerufen wird? Handelt es sich bei diesen Menschen um weltfremde Spinner_innen, die jeglichen Bezug zur Realität verloren haben? Wie erklärt sich der gegenwärtige Aufschwung des Veganismus, also einer Lebensphilosophie, die so gut als möglich die Nutzung von Tierprodukten aus dem (eigenen) Alltag verbannen will?

Lebensmittelskandale, Tierfabriken, ökologische Gründe und/oder der Wunsch nach einer gesünderen Kost (Stichwort: Unverträglichkeiten) haben viele Menschen in Österreich dazu bewogen, sich vegetarisch oder vegan zu ernähren. Verzichtet man beim Vegetarismus nur auf den Konsum von Fleisch, geht der Veganismus noch einen Schritt weiter: So gut als möglich wird auf den Konsum von Tierprodukten (Fleisch, Milch, Eier, Honig, Leder) verzichtet und durch pflanzliche Alternativen ersetzt. Alleine in Wien leben laut der Veganen Gesellschaft Österreich etwa 200.000 Vegetarier_innen, ca. zehn Prozent davon vegan - Tendenz steigend. Und auch der Handel stellt sich darauf ein. So erweitert sich das pflanzliche Angebot im Bereich der Gastronomie rasend; Supermarktketten bieten vermehrt vegane Produkte an und unlängst hat in Wien bereits der zweite rein vegane Supermarkt eröffnet.

Die Gründe für eine rein pflanzliche Kost können vielseitig sein. Besonders interessant sind aber – in Verbindung mit dem Veganismus – die Diskussionen und Forderungen nach elementaren Rechten für Tiere. Es stellt sich die Frage, was Tierrechtler_innen erreichen wollen. Soll etwa durch die Hintertür schlussendlich das Wahlrecht für die Kuh eingeführt werden? In Anbetracht der parteipolitischen Vorlieben in diesem Land vermutlich keine schlechte Idee. Wer weiß, vielleicht würden uns die Kühe einen Linksruck bescheren. Es geht jedoch um andere Dinge.

Der Blick über den Tellerrand

Der Einsatz von Menschen für Tierrechte basiert auf einem antirassistischen Grundverständnis, das Unterdrückungs- und Diskriminierungsmuster nicht nur unter Menschen beseitigen will, sondern einen Schritt weiter geht und den Antirassismus auf andere Spezies ausweitet; auch Antispeziesismus genannt. Dieser stellt die vom Menschen gezogene Mensch-Tier-Grenze in Frage, wobei selbst die Definition „Mensch-Tier“ unzureichend ist und deshalb in der Tierrechtsbewegung von „menschlichen Tieren“ und „nichtmenschlichen Tieren“ gesprochen wird. Diese Definition ist für den Diskurs in der Tierrechtsbewegung auch nicht unwesentlich; ist doch der Mensch ein Tier und gehört der Gruppe der höheren Säugetiere an. Wie auch das Geschlecht (Mann/Frau) ein gesellschaftliches Konstrukt ist, so ist auch die Trennung zwischen „Mensch“ und „Tier“ ein gesellschaftliches, ein vom Menschen geschaffenes Korsett, um Handlungen, die gegen das Wohl von nichtmenschlichen Tieren gerichtet sind, zu legitimieren.

Moralischer Selbstbetrug – der Karnismus

In westlichen Gesellschaften schreckt man davor zurück, einen Hund oder eine Katze, die als Haustiere ihr Leben mit Menschen teilen, zu verspeisen, gleichzeitig hat man aber wenig Probleme damit, ein Schwein oder ein Kalb zu essen, das geschlachtet wurde, um das eigene Bedürfnis nach Fleisch zu befriedigen. Im Unterschied zum „Nutztier“ wird dem Haustier Individualität zugeschrieben. Es wird Teil des kleinen (häuslichen) Kosmos‘, es wird zum Familienmitglied. Wir geben den Haustieren Namen, verbringen Zeit mit ihnen, füttern sie und gehen mit ihnen zum Arzt, wenn wir Anzeichen von Krankheiten bzw. Schmerzen erkennen. Wir pflegen sie und können in sehr lange Trauer verfallen, wenn sich das geliebte Tier von uns verabschiedet und stirbt. Aber das tote Stück Tier am Teller, das anonyme Schwein oder Kalb, das am Küchentisch nie mehr war als eben das Stück tote Fleisch, fällt durch alle von uns den Haustieren zugeschriebenen Kategorien. Melanie Joy, eine US-amerikanische Psychologin, erklärt diesen Widerspruch mit dem Wort Karnismus. Vereinfacht gesagt teilt der Mensch Tiere in „essbar“ und „nicht essbar“ ein – je nachdem, aus welchem gesellschaftlichen Kontext er kommt. Aber welche rationalen Argumente gibt es, welche Tiere wir essen dürfen und welche nicht? Und weshalb ernähren wir uns nicht von Menschenfleisch, das als Eiweißquelle genauso tauglich ist wie das Fleisch von nichtmenschlichen Tieren? Krank macht der Veganismus jedenfalls nicht. Es ist bereits wissenschaftlich bewiesen, dass eine gut durchdachte vegane Ernährung in allen Lebenslagen geeignet ist.

Die Grenzziehung als reine Willkür?

Wenn es nach den nichtmenschlichen Tieren gehen würde, so würden sie wohl lieber leben als sterben. Wenn sie einer externen Schmerzquelle ausgesetzt sind, versuchen sie, sich von dieser zu entfernen und erinnern uns in ihrem Verhalten (sich winden, schmerzerfüllte Schreie) an uns Menschen selbst. Die Behauptung, dass wir nicht wissen können, ob Tiere in der Lage sind, Schmerzen zu empfinden, ist irrelevant. Unsere Erfahrungen lassen uns wissen, welche Reaktionen auf Schmerzen folgen und wir müssen annehmen, dass es sich bei anderen Individuen ähnlich verhält.

Aber was sind nun die Ausschlusskriterien, die unseren brutalen Umgang mit nichtmenschlichen Tieren rechtfertigen? Was macht nichtmenschliche Tiere so besonders, dass sie in Stallungen gesteckt, eingesperrt, ausgepumpt, gequält, totgeschossen und totgeschlagen werden? Ist es ihre „fehlende“ Intelligenz? Es wird angenommen, dass Schweine intelligenter sind als menschliche Kleinkinder im Alter von bis zu drei Jahren. Sollte man daraus schließen, dass man Menschenkinder bis zum Alter bis zu drei Jahren ebenfalls verspeisen könnte? Zugegeben: Kein Gedanke, bei dem sich Wohlgefallen einstellen mag. Ist es die Anzahl der Füße oder Pfoten? Ist es die Körperbehaarung, die bei nichtmenschlichen Tieren vermehrt auftritt? Wie ist dann mit Menschen zu verfahren, die über einen übermäßigen Haarwuchs klagen? Sind es die Unterschiede in der Art und Weise der Kommunikation? Das „Fehlen“ einer Sprache im Reich der nichtmenschlichen Tiere? Tiere verfügen über eine Sprache und sie verständigen sich mittels unterschiedlichster Geräusche. Delfine können ihre Artgenoss_innen beim Namen nennen, indem sie unterschiedliche Pfeiftöne wiedergeben. Wer selbst einmal eine Katze oder einen Hund „besessen“ hat, der/die weiß, auf wie viele unterschiedliche Arten Tiere sogar mit Menschen kommunizieren können. Das Vorhandensein oder Fehlen von Sprache kann kein Kriterium sein, das uns sagt, was wir essen dürfen und was nicht. Menschen müssen sich ihren Wortschatz nach der Geburt erst aneignen oder können sogar stumm geboren werden.

Ein Hauptargument scheint wohl der des „guten Geschmacks“ von Fleisch zu sein (immer vorausgesetzt im Diskurs: Es geht um Länder auf der Erde, auf denen man bereits ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen auf tierische Proteine verzichten und durch pflanzliche ersetzen kann). Das Geschmacksempfinden des Menschen ist aber ein subjektives und Fleisch gewinnt oft erst durch die Zugabe der richtigen Gewürze an Geschmack. Allen Argumenten ist gemein, dass sie das Interesse der Tiere nicht berücksichtigen und der Mensch sich einem Wertesystem bedient, das er selbst geschaffen hat. Die Entscheidung, ob man Fleisch isst oder nicht, wird als individuelle Entscheidung angesehen, auf die der Mensch ein Naturrecht zu haben scheint.

Das eigene Spiegelbild – das Bewusstsein als Knackpunkt?

Im 17. Jahrhundert sprach René Descartes im Zusammenhang mit Tieren von Maschinen, die über kein eigenes Bewusstsein verfügen. Diese „Lehrmeinung“ scheint immer mehr an Gewicht zu verlieren. Vielmehr wird z.B. Affen und Delfinen ein Bewusstsein zugeschrieben. Makaken können sich selbst im Spiegel erkennen und besitzen somit ein „Selbstbewusstsein“. Indien hat im Jahr 2013 Konsequenzen aus den wissenschaftlichen Ergebnissen gezogen und Delfine als nichtmenschliche Personen anerkannt. Sie haben somit ein Recht auf Freiheit und Unversehrtheit.

Aber unter all den Gesichtspunkten wiegt die Forderung von Tierrechtler_innen, nichtmenschlichen Tieren in den von Menschen geführten moralischen Diskurs mit einzubeziehen, revolutionär und oft verstörend. Die Frage, welche nichtmenschlichen Tiere von der Zusprechung von Rechten profitieren sollen, kann man am ehesten mit der Möglichkeit, Schmerzen empfinden zu können, argumentieren. Aber auch das Vorhandensein von einem Bewusstsein kann ein Gradmesser, sollte aber nicht Alleinstellungsmerkmal sein. Es kommt auf die komplexen Eigenschaften an, die menschliche und nichtmenschliche Tiere von Pflanzen trennen. In „Zoopolis“, einem erst kürzlich im Suhrkamp-Verlag erschienen Buch von Sue Donaldson und Will Kymlicka, gehen die Autor_innen auch noch einen Schritt weiter und fordern Bürger_innenrechte für domestizierte Tiere. Es mag auf den ersten Blick nach einem Affront klingen, einem Angriff auf das Menschsein. In Wirklichkeit ist es aber nur ein Versuch, auf argumentative Weise den Diskurs um Tierrechte voranzubringen. Warum es Menschen gibt, die den Diskurs anregen wollen? Weil sie es können.

 

Gabriel Binder (geb. 1987) studiert Geschichte an der Universität Wien, ist freier Schriftsteller und mitunter bei Screaming Birds engagiert.

 

Recht auf Spezies?

  • 19.07.2014, 14:26

progress online hat im Zuge einer Lesung in Wien mit dem Tierrechtler, Künstler und Autor Chris Moser (37) ein Gespräch geführt, das spannende Einblicke in Staatsrepression, Tierrechte und Antifaschismus gewähren lässt.

progress online hat im Zuge einer Lesung in Wien mit dem Tierrechtler, Künstler und Autor Chris Moser (37) ein Gespräch geführt, das spannende Einblicke in Staatsrepression, Tierrechte und Antifaschismus gewähren lässt.

Angesichts der minimierten Neuauflage des in die Annalen der Geschichte eingegangenen „Tierschutzprozess“ – der mit fünf Freisprüchen endete – ist dies eine enorm wichtige Hinwendung zu einem politisch relevanten Thema. Chris Moser war im Zuge des Tierschutzprozesses selbst drei Monate in Gefangenschaft gewesen.

progress: Du warst im Jahr 2008 drei Monate in U-Haft. Für dich muss das ein einschneidendes Ereignis in deinem Leben gewesen sein. Hat sich danach auch in deinem Denken und Handeln etwas grundlegend geändert?

Chris Moser: Ja, denn wir wurden ungerechtfertigt in U-Haft gesteckt. Das Gericht hat mir E-Mails mit lustigen Ironie-tags vorgehalten. Sehr wohl ironische, zynische Nachrichten. In einem E-Mail steht: „Machen wir doch einen Aktivist_innenworkshop, wer hat einen Platz?“ Ich habe geschrieben: "Gehen wir doch über die Baumgrenze, das ist cool, da ist niemand." Daraufhin kam die Antwort: "Nein, das ist so unbequem. Die Tierrechtsarbeit ist ohnehin schon schwer genug. Warum kann man es sich nicht gemütlich machen? Wieso muss man sich zurückziehen wie eine paramilitärische Gruppe, die Schießübungen macht?“ Ich habe dann geschrieben: „Das ist ja super, genau was wir wollen.“ Im Mail kann man diese Ironie nicht mehr hinauslesen und das fällt dir dann auf den Kopf. Sogar so arg, dass mein Anwalt gesagt hat: „Entschuldige, das kannst nicht schreiben.“

Obwohl du „emoticons“ verwendet hast – Gesichter aus Satzzeichen, die einer Nachricht den entscheidenden Ton geben können.

Ja und so ähnlich habe ich auch telefoniert. Wenn mich mein Gegenüber beim Telefonieren kennt, dann weiß es zum Teil über meine überspitzten Formulierungen Bescheid. Meine ganze Ironie, meinen ganzen Zynismus, meinen Humor. Und da hockt ein_e dritte_r Telefonteilnehmer_in und ist Polizist_in und denkt sich: „Das ist ja unvorstellbar radikal.“ Ich hatte speziell in den ersten Wochen, in den ersten Monaten Schlafstörungen. Das ist jetzt viel besser, aber es wäre gelogen, wenn ich nicht sagen würde, dass es verschiedene Gerüche gibt, verschiedene Waschmittel, verschiedene Marken, von denen ich Flashbacks bekomme. Das kann in der Früh sein, beim Autostoppen. Ich gehe frohgemut arbeiten, sitze in einem Autostoppauto, der/die Fahrer_in hat entweder ein komisches Rasierwasser oder komisches Shampoo...

Dich erinnern die Gerüche ans Gefängnis.

Ja, das kann mein Wärter mit dem Rasierwasser gewesen sein, das kann ein ähnliches Waschmittel gewesen sein. Mir ist Musik sehr wichtig. Normalerweise höre ich nicht Ö3. Im Gefängnis, das habe ich in meinem ersten Buch geschrieben, ist MTV gelaufen. MTV hatte eine Zeiteinblendung (wir hatten keine Uhr). Ich bin innerhalb von wenigen Tagen in dieser Hitparade drinnen gewesen. Einmal war Amy Winehouse ganz bekannt und super. Ich habe sie vorher nicht gekannt. Aber die Assoziation ist da: wenn ich jetzt so ein Lied höre, dann ist das unvorstellbar. Das habe ich in Wr. Neustadt im Gefängnis gehört. Höre ich es heute wieder, dann macht es zack-bumm! Und plötzlich rieche ich wieder wie es in der Kehle gekocht hat.

Würdest du sagen, dass der Staat mit der Inhaftierung, dem Prozess, mit der Aushorchung der Privatsphäre, mit der Bespitzelung, und all dem ein Verbrechen begangen hat – ist der Staat kriminell?

Schwierige Frage, weil der Staat viele meiner E-Mails als kriminell bezeichnet hat. Mit dem Wort kriminell würde ich vorsichtig sein, man müsste das Wort definieren. Im Grunde hat der Staat ein riesiges Unrecht begangen. Das ist aber in einem Staatskonstrukt nichts Seltenes. Es gehört zu einem Staatskonstrukt dazu, Unrecht zu begehen, weil es auf Unrecht basiert. Das ist einmal meine Meinung. Was er sich bei uns geleistet hat, war ein riesengroßer Schnitzer. Das passiert sehr selten. Sonst ist es ja unter dem Deckmantel der Pseudodemokratie versteckt. Bei uns war das aber nicht mehr möglich. Jeder Hinz und Kunz hat plötzlich gecheckt, dass irgendetwas falsch läuft. In Interviews unmittelbar nach der Enthaftung habe ich gesagt, dass ich diese Haft bzw. Gefangenschaft mit nichts relativieren kann. Versuche ich es aber nüchtern und politisch zu sehen, dann muss ich sagen: Ich wäre niemals so deutlich geworden. Diese Demaskierung wäre mir niemals gelungen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der meinte, dass an dem Prozess was dran sei. Solche Menschen gibt es aber wahrscheinlich auch.

Ich möchte mit dir auch über Veganismus und Tierrechte sprechen. Wann hast du dich für die vegane Lebensweise entschieden und wie ging es dir dabei? Wo sind die für viele Menschen hohen Hürden für einen Umstieg zum Veganismus?

Unsere Familie und ich haben uns 1999 für das vegane Leben entschieden und sind in der Tierrechtsszene aktiv geworden. Wir haben unser politisches Engagement auch auf nichtmenschliche Tiere ausgeweitet. 1,5 Jahre vorher habe ich die ganzen Fakten über Nutztiere bereits gekannt. Der Umstieg auf eine vegane Lebensweise ist aber ein schwieriger Prozess - da nehme ich mich selbst gar nicht aus. Wenn man das Leben radikal ändern muss, dann geht es darum, die Konsequenzen zu ziehen. Wenn man hergeht und sagt, ich nehme die nichtmenschlichen Tiere auf in mein Gerechtigkeitsempfinden, ich will den Tieren Autonomie gewähren, dann muss die Person erkennen, dass sie es mit ihrem Konsum verbinden muss. Der Mensch kommt dann aber an einen Punkt, wo er erkennen muss: „Wenn ich das jetzt radikal anders mache, dann gestehe ich ein, dass ich etwas die letzten 25 Jahre falsch gemacht habe.“ Wenn begründet wird, dass der Fleischkonsum kulturell bedingt immer schon war, dann heißt das nichts anders als: „Das habe Ich immer schon so gemacht.“ Man muss sich eingestehen, dass man sein ganzes Leben etwas falsch gemacht hat. Aber man sieht nur sich, die eigene Spezies. Genau das ist das Problem. Das ist Willkür.

Gibt es einen relevanten Unterschied zwischen Fleischkonsum und dem Töten von Stieren in den spanischen Stierkampfarenen?

Ich sehe keinen Unterschied, möchte sogar sagen, dass, wenn ich mich entscheiden müsste, ob es weiterhin nur Schweinezucht oder Stierkampf geben würde, ich mich für den Stierkampf entscheiden würde. Der Stierkampf ist quantitativ weniger relevant als der Schweinefleischkonsum in Österreich. Der/die Österreicher_in kann Fleischkaßsemmel essen und sich über den Stierkampf aufregen. Es gibt auch Österreicher_innen, die sich fleischkassemmelessend massiv über Pelz aufregen, weil sie keinen Pelz tragen. Man kann leicht kritisieren, wenn man sich selbst nicht reflektieren muss. Das ist Prämisse Nummer eins - ich bin unfehlbar. Da muss man aber versuchen, sich selbst an der Nase zu nehmen. Das versuche ich selbst, ich werde älter, es ist nicht einfach, aber man muss es sich im Leben eingestehen, wenn man einen Fehler gemacht hat.

Nehmen wir an, alle Menschen auf der Welt würden vegan leben. Wie ist das mit dem Welthunger? Abgeschafft? Zumindest hört man das Argument von vegan lebenden Menschen sehr oft.

Was man sagen und berechnen kann, ist: Es würde mehr Anbauflächen geben. Es gibt aber ein Verteilungsproblem. Der Welthunger wäre jetzt auch nicht da, wenn es das Verteilungsproblem nicht geben würde. Ich muss ganz ehrlich sagen – und ich hoffe, dass es in meinen Büchern so rüberkommt - ich finde, Veganismus ist elementar Teil eines emanzipatorischen Denkens, aber nicht der Weisheit letzter Schluss. Ähnlich wie Selbstbestimmung oder Antirassismus. Es ist elementar, kann aber nicht bereits dort enden.

Der Veganismus also als Grundlage, auf der menschliches Handeln aufgebaut sein soll?

Genau. Und Voraussetzung für eine emanzipatorische Herangehensweise. Man kann nicht sagen: „Ich bin emanzipatorisch“ und fresse gleichzeitig Tiere. Immer vorausgesetzt, dass es nicht anders möglich ist.

Wie soll dabei jetzt die „perfekte“ Welt aussehen? Wie stellst du sie dir vor?

Grundsätzlich einmal schön.

Schönes Wetter?

Nein, Wetter kann nicht „schön“ oder „schlecht“ sein. Ich möchte Selbstbestimmung statt Hierarchie. Ich möchte ein Miteinander statt gegeneinander. Ich möchte Anarchie statt abgegebener Verantwortung. Es ist sehr schwer, weil jeder andere Vorstellungen von Worten hat. Um es aber zu vereinfachen: ich stelle mir eine perfekte Welt vegan-anarchistisch vor.

Anarchie? Ist das nicht Chaos pur?

(lacht) Anarchie heißt Ordnung ohne Herrschaft.

Wie soll das funktionieren? Braucht der Mensch nicht ein ihn kontrollierendes Element, das hinter ihm steht und Anweisungen gibt?

Die Menschen werden weggezüchtet von einer Menschlichkeit, die ein Frei-Sein ermöglicht und von klein auf indoktriniert. Hierarchie wird als etwas total Normales verkauft. Ungerechtigkeit wird als etwas Normales verkauft. Unterdrückung wird als etwas Normales verkauft. Dass solche Menschen, als Sklaven geboren und zu Sklaven gemacht, von heute auf morgen selbstbestimmt und frei leben können, das ist leider nicht so einfach. Deswegen geht der Weg zu einer freien anarchistisch-veganen Gesellschaft nur über Bewusstseinsbildung. Und das ist das, was ich jeden Tag mache. Wenn es nur die klitzekleine Möglichkeit gibt, das umzusetzen, dann ist es das wert, sehr viel aufzugeben.

Glaubst du, dass du jemals in so einer Welt leben wirst?

Schwer zu sagen. Ich und andere schaffen es teilweise, sich aus Strukturen auszuklinken. Wenn ich das nicht schaffen würde, wäre ich bereits am Sand.

Ist das aber nicht nur eine Insel im Kapitalismus?

Keine Frage. Das ist aber genau diese Insel, wo du dir als Widerstandskämpfer_in die investierte Energie auch wieder schnappen kannst, es ist gut, einen Rückzugsraum zu haben. Ein Refugium, wo du weißt, dass die Uhren anders ticken. Kraft tanken ist sehr wichtig. Im Kapitalismus geht das nicht, der Kapitalismus frisst nur, auch Kraft. Im Endeffekt stillt der Kapitalismus nicht die Bedürfnisse, die er weckt. Rückzugsorte können aber auch als Oasen im Kapitalismus gesehen werden. Ein Weg kann auch sein, diese Oasen auszudehnen. Ich bin aber der Letzte, der behauptet, die Antworten gefunden zu haben.

Grenzüberschreitendes. Foto: Chris Moser

Ich möchte kurz auf deine Kunst eingehen, die du ja im Zuge der Verhandlungen im Tierrechtsprozess der Richterin erklären musstest. Wie fühlt man sich in so einer, beschwichtigend formuliert, verstörenden Situation?

Es sollte nicht notwendig sein, Kunst zu erklären. Ich erkläre meine Kunst aber gerne, ich tausche mich gerne aus. Was aber tatsächlich alarmierend war, ist, dass ich das im Gerichtssaal machen musste. Als politisch Interessierter sollten alle Glocken klingeln, wenn man der Frau Einzelrichterin Kunstwerke erklären muss. Spätestens da muss es aus sein. Es sind aber viele Sachen im Prozess geschehen, es war ein Riesenprozess. Vor dem Prozess habe ich auch bereits keine hohe Meinung vom Staatskonstrukt gehabt. Ich habe weniger Achtung, eine weniger hohe Meinung nach diesem Prozess. Ich bin aber zu politisch und zu aufmerksam, als dass ich ernsthaft enttäuscht sein kann. Du hast es bei einigen Angeklagten aber gemerkt: „Scheiße, das ist Demokratie." Ich habe mir dabei gedacht: "Genauso ist es, ich habe es gewusst!"

Ich wäre so gerne im Alter von 35 Jahren aufgewacht und hätte mir gedacht: „Jetzt hast du dein ganzes Leben lang gegen ein faschistoides Phantom gekämpft und jetzt siehst du, es ist gar nicht da. In meinem Fall war das anders: Ich habe ein ganzes Leben lang gegen ein faschistoides Phantom gekämpft und plötzlich erkennst du: Es ist noch viel schlimmer! Und das war für mich ein riesen Aha-Effekt! Ich habe aber gemerkt, dass es auch für viele im Prozess ein Aha-Effekt war. Uns allen wurde bewusst, dass wir lediglich die Spitze von diesem Eisberg sind. Bei uns ist der Prozess relativ glimpflich ausgegangen, es war sehr viel Öffentlichkeit involviert und wir sind alle nicht aufs Maul gefallen. Aber was passiert mit denen, die keine Öffentlichkeit und vielleicht nur eine andere Sprache beherrschen? Das passiert laufend! Das ist aber etwas, auf das sich unser Staat gründet. Proudhon sagte: „Wer immer die Hand auf mich legt, um über mich zu herrschen, ist ein Usurpator und ein Tyrann. Ich erkläre ihn zu meinem Feinde.“ Das war schon mein Ding, als ich 15 war und das hat sich bestätigt.

Kannst du nach den jahrelangen Erfahrungen mit Repression noch irgendetwas Gutes über den Staat Österreich sagen?

Ich freue mich natürlich über den Freispruch, obwohl dieser ja selbstverständlich sein sollte. Ich lehne den „Staat Österreich“ ab, wie ich alle Nationen und Staaten ablehne, nicht anerkenne. Ich geh aber davon aus, dass es in Staatskonstrukten anderswo auf der Welt zum Teil bestimmt weit übler hätte kommen können. Das ist keine Versöhnung, sondern klar faktisch. Nur weil es vielleicht anderswo auch schrecklich oder noch schrecklicher ist, relativiert das nicht die Scheiße vor der eigenen Haustüre. Eine Versöhnung gibt es nicht, genauso wie es kein Vergessen geben wird. Niemals, in keinem Punkt!

Lieber Chris, vielen Dank für das spannende Gespräch und alles Gute für deine Zukunft.

Sehr gerne. Und lieben dank für die Wünsche; es war mir eine Freude, mich derart gut zu unterhalten!

Aufnahmen nach der Verhaftung 2008. Foto via: Chris Moser

 

Bücher von Chris Moser:

- Die Kunst, Widerstand zu leisten: Ein Tatsachenbericht. kyrene, März 2012

- m.E. - meines Erachtens - Essay. kyrene, September 2013

- Galerie des Entsetzens: Die ungeschminkte Wahrheit über Mensch-Tier-Verhältnisse. SeitenHieb, März 2014. (Chris Moser mit Tobias Hainer)

 

Gabriel Binder (geb. 1987) studiert Geschichte an der Universität Wien, ist freier Schriftsteller und mitunter bei Screaming Birds engagiert.

Aus den Augen, aus dem Sinn

  • 05.02.2014, 13:21

Die Zeiten für wohnungslose Menschen werden härter. In Ungarn wie auch in Österreich werden Versuche unternommen, Obdachlose durch Vertreibung und Bestrafung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu entfernen. Was bedeutet diese Politik der Ausgrenzung für die Betroffenen in Wien und Budapest nun tatsächlich?

Die Zeiten für wohnungslose Menschen werden härter. In Ungarn wie auch in Österreich werden Versuche unternommen, Obdachlose durch Vertreibung und Bestrafung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu entfernen. Was bedeutet diese Politik der Ausgrenzung für die Betroffenen in Wien und Budapest nun tatsächlich?

Mitte November 2013 stürmten Obdachlosenaktivist_innen von A város mindenkié („Die Stadt gehört allen“) eine Sitzung des Budapester Stadtrates. Gut zwei Dutzend Menschen bildeten im Plenarsaal eine Menschenkette mit der Absicht, einen Beschluss zu verhindern, der darauf abzielt, den Umgang mit Obdachlosen in Ungarn zu verschärfen. Bereits wenige Wochen zuvor hatte die rechtskonservative Fidesz-Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán ein Gesetz beschlossen, das es obdachlosen Menschen untersagt, auf Flächen, die als Weltkulturerbe ausgewiesen sind, zu nächtigen (dazu gehört der Bereich im Burgviertel und beim Donauufer). Im Sitzungssaal sollte eine Verordnung durchgeboxt werden, die es auch den verschiedenen Bezirken erlauben soll, Obdachlosensperrzonen gesetzlich festzulegen und „obdachloses Verhalten“ aus ihren Territorien zu verbannen. Wird man in einem als „Sperrzone“ ausgewiesenen Bereich von der Polizei aufgegriffen, können nebst hohen Geldstrafen auch gemeinnützige Arbeit und Arrest drohen. Verhindern konnten die Aktivist_innen den Gesetzesbeschluss aber nicht, sie wurden von der Polizei aus dem Saal getragen, das Gesetz wurde beschlossen. Am meisten Sperrzonen wurden vom Bürgermeister des XIII Bezirks, Tóth József, beantragt – einem Sozialdemokraten.

Leerstehende Wohnungen, gekürzte Subventionen, Kältetote

In ganz Ungarn gibt es etwa 30.000 obdachlose Menschen, in der Hauptstadt Budapest sind es laut Schätzungen 10.000 - und das obwohl landesweit 400.000 Wohnungen leer stehen; alleine in Budapest sind es an die 85.000. Die tatsächliche Anzahl an Obdachlosen ist aber mit Vorsicht zu genießen, denn die wirkliche Zahl dürfte höher liegen.  In der Statistik scheinen nur jene Menschen auf, die sich an öffentlichen Plätzen aufhalten und in Unterkünften leben. Die Regierungspartei Fidesz beweist nun mit dem neuen Gesetz (dem eine Verfassungsänderung vorausgegangen war, die es erst ermöglicht hat, Obdachlosigkeit per Gesetz zu kriminalisieren), dass sie keinen wirkungsmächtigen Plan hat, dem Problem der Obdachlosigkeit konkret entgegenzutreten. Weder gibt es für wohnungslose Menschen genügend (Not-)Unterkünfte, noch erschwingliche Wohnungen. Zwar wurde auch unter den Sozialdemokrat_innen vor 2010 das Problem nicht gelöst, doch seit der Fidesz an der Macht ist, wurde es tatsächlich schlimmer: die staatlichen Förderungen für Tagesplätze, Nacht- und Notunterkünfte wurden seit 2010 um 15 % gekürzt, auch das Wohngeld wurde reduziert.

Das Versagen der Politik fordert auch Todesopfer: bis zum 4. Jänner diesen Jahres sind bereits 53 Menschen erfroren, die meisten von ihnen in ihren eigenen, unbeheizten Wohnungen. Kata Amon, Aktivistin bei A város mindenkié, glaubt aber nicht, dass die Situation für Obdachlose in Ungarn hoffnungslos ist: „Die Mehrheit der Ungar_innen ist mit der Kriminalisierung von Obdachlosen nicht einverstanden und sieht darin auch keine Lösung. Die Regierung wird die Ablehnung der Menschen zu den neuen Gesetzen nicht für immer ignorieren können.“ Die Kriminalisierung von Obdachlosen ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal Ungarns. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte etwa die Verweisung und Bestrafung wohnungsloser Menschen aus dem Wiener Stadtpark im Oktober letzten Jahres.

Herr Friedrich im Wiener Stadtpark. Foto: Dieter Diskovic

Die Vertreibung aus dem Stadtpark

„Am Dienstag, so um 22:00, sind acht Polizeiautos gekommen: ,Räumen! Sofort! Sonst kommt die 48er und nimmt alles mit.‘ Ich zeig ihnen meine Krücken und sage: ,Ich kann ja nicht.‘ ,Du hast eh zwei Freunde da, die sollen dir helfen. Das was ihr nehmen könnt, nehmt – alles andere kommt weg.‘ Die Aktion hat ungefähr eine Stunde gedauert, dann ist die MA 48 gekommen. Alles was man nicht nehmen konnte, Gewand, Schuhe, Schlafsäcke, alles ist weggekommen. Einen von uns hat die Polizei mitgenommen. Während er weg war, haben sie seine Sachen auch weggeworfen.“ Der 56-jährige Herr Friedrich lebt bereits seit drei Jahren im Stadtpark, einige seiner Freunde kommen sogar schon seit Jahrzehnten hierher. Die Vertreibung aus dem Stadtpark im letzten Oktober hat die obdachlosen Menschen vollkommen unvorbereitet getroffen. Von wem die angeblichen Anrainer_innenbeschwerden ausgegangen sind, ist Herrn Friedrich rätselhaft: „Wir haben keinem was gemacht, wir haben uns oft mit den Leuten unterhalten, da ist sogar ein Rechtsanwalt dabei. Wir haben uns immer gut gestellt mit den Anrainern und bei uns war es immer sauber.“ Die Polizei selbst beruft sich auf eine Campierverordnung aus dem Jahre 1985, die unter anderem das Auflegen und Benützen von Schlafsäcken im öffentlichen Raum mit einer Verwaltungsstrafe zwischen 140 und 700 Euro ahndet und ursprünglich gegen Rucksacktourist_innen gerichtet war. Jahrzehntelang galt die Campierverordnung als totes Recht, ihre Wiederauferstehung hatte sie im Dezember 2012, als sie der Auflösung des Refugee-Camps vor der Votivkirche als gesetzliche Rechtfertigung diente.

Die Polizeiaktion im Stadtpark sorgte kurzfristig für ein enormes mediales Interesse. Politisch motivierte Gruppen wie F13 und die youngCaritas organisierten Flashmobs, bei denen sich die Teilnehmer_innen solidarisch in Schlafsäcken an symbolträchtigen Orten wie dem Stadtpark oder dem Stephansplatz niederlegten. Peter Nitsche, Initiator der Facebook-Gruppe Die Obdachlosen aus dem Stadtpark sind auch meine Nachbarn und zahlreicher Flashmobs, erklärt das Konzept: „Die Idee dazu war, das Bewusstsein an konsumorientierten Plätzen, wie hier auf der Mariahilfer Straße, zu schärfen und zu sagen: ,Leute, jeden von uns kann es treffen.‘ Man darf auch nicht vergessen, dass es ein Mensch, der jahrelang auf der Straße gelebt hat, vielleicht gar nicht mehr schafft, von einer Stunde auf die andere in einen begrenzten Raum zu gehen, in einen Raum, der von vier Wänden umgeben ist.“ Tatsächlich gibt die Stadt Wien verhältnismäßig viel Geld für Notschlafstellen und ähnliche Programme aus, Tatsache ist aber auch, dass viele Menschen diese Angebote nicht annehmen können oder wollen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die von Obdachlosigkeit Betroffenen sind eine sehr heterogene Gruppe, viele haben ein erfolgreiches Leben hinter sich und empfinden ein ausgeprägtes Schamgefühl, das sie keine Hilfe annehmen lässt.

Weiters leidet ein großer Teil an psychischen Erkrankungen (wie der bereits genannten Klaustrophobie) oder an Suchtkrankheiten, die sich nicht mit der Abstinenzpflicht in den meisten Einrichtungen vereinbaren lassen. Andere wiederum haben Angst vor Diebstählen oder haben durch ihre Erfahrungen das Vertrauen in die Menschen verloren und wollen so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben. Für die mobilen Sozialarbeiter_innen ist es häufig eine langwierige Angelegenheit, das Vertrauen der Klient_innen zu erreichen. Susanne Peter, Sozialarbeiterin in der Gruft und regelmäßig im Stadtpark unterwegs: „Ich habe mich drei Jahre lang mit einer Klientin nur durch eine Klotüre unterhalten, bis sie das Vertrauen hatte, mir in die Augen zu schauen.“ Durch die Räumung des Stadtparkes hat sich die Situation verschlechtert. Die obdachlosen Menschen sind verunsichert und verstecken sich, für die Sozialarbeiter_innen wird es komplizierter, den Kontakt aufrechtzuerhalten.

Flashmob im Stadtpark. Foto: Dieter Diskovic

Housing First im neunerhaus

Für die Stadt Wien, die stolz auf ihre Sozialleistungen ist, ist es offensichtlich besonders schwierig, öffentlich sichtbare Armut und alternative Wohnformen zu akzeptieren. Die Vertreibung von Randgruppen aus der öffentlichen Wahrnehmung löst allerdings keine Probleme – umso wichtiger ist es, sich alternative Möglichkeiten anzusehen. Ein relativ neuer, aus den U.S.A. stammender Ansatz, nennt sich Housing First. Housing First beruht auf der Idee, dass obdachlose Personen zuallererst eine eigene Wohnung bekommen, während alle weiteren Angelegenheiten erst danach angegangen werden. Dadurch müssen sich obdachlose Menschen nicht erst langwierig über Notschlafstellen und Trainingswohnungen für eine eigene Unterkunft qualifizieren. Die weitere Betreuung basiert auf freiwilliger Basis. Was sich wie ein ausgesprochen teures Projekt anhört, senkt die Folgekosten der Obdachlosigkeit nachweislich enorm. In Österreich steckt dieser Ansatz noch in den Kinderschuhen und wird beispielsweise vom neunerhaus angeboten.

Reiche rein, Arme raus

Besonders schlecht ist die Situation für obdachlose Bürger_innen aus den neuen EU-Ländern. Menschen aus Osteuropa ziehen aufgrund fehlender Perspektiven, eines mangelhaften Sozialsystems oder, wie eingangs erwähnt, des De-facto-Verbotes von Obdachlosigkeit in Ungarn nach Wien. Es gibt auch Pendler_innen, die – häufig von Ausbeutung durch die Arbeitgeber_innen betroffen – unter der Woche ohne Unterkunft in Wien arbeiten und das Wochenende im Herkunftsland verbringen. Diese Menschen fallen gesetzlich in die Kategorie „nicht Anspruchsberechtigte“, wodurch es keine geförderten Notschlafstellen für sie gibt – vor allem die spendenbasierte und stets überfüllte Zweite Gruft kümmert sich zurzeit um dieses Klientel.

Hier stellt sich die Frage nach der Verantwortung der EU. Während man ein Freihandelsabkommen nach dem anderen beschließt und die Immigration hochqualifizierter Arbeitskräfte gerne gesehen wird, versucht man parallel dazu, die Wanderung von armen und weniger gebildeten Menschen zu verhindern. Die negativen Folgen für die Herkunftsländer durch Braindrain bei gleichzeitiger Ablehnung von Armutsmigration werden dabei bewusst ignoriert. Ein möglicher erster Schritt, Armut statt die von Armut betroffenen Menschen zu bekämpfen, wäre die Einführung EU-weiter sozialer Mindeststandards sowie die Aufhebung aller Gesetze, die Obdachlosigkeit kriminalisieren. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Chance, das menschliche Existenzrecht von der Erwerbsarbeit und dem Funktionieren im System zu entkoppeln.

 

Ein Interview mit dem Soziologen Christoph Reinprecht über die politischen Hintergründe der Vertreibung von obdachlosen Menschen aus dem Stadtpark, die zunehmende Kommerzialisierung und Kontrolle des öffentlichen Raumes sowie über mögliche Lösungen, Armut und Obdachlosigkeit wirksam zu bekämpfen, findet ihr hier:

http://www.progress-online.at/artikel/wem-geh%C3%B6rt-die-stadt

 

Gabriel Binder (geb. 1987) lebt in Wien und ist Angestellter und freier Schriftsteller.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie und als Sozialarbeiter tätig.

Beide engagieren sich bei „Screaming Birds“, einer 2012 gegründeten Gruppe, die sich gesellschaftskritisch und in verschiedenen Formen politischen Themen widmet.

 

Alle böse außer uns. Ungarns nationalistischer Umbruch

  • 02.12.2013, 20:43

Marschierende Paramilitärs, ein repressives Mediengesetz, „Zwangsarbeit“ für Arbeitslose, der Versuch, Obdachlosigkeit per Dekret abzuschaffen und zig andere bedenkliche Gesetzes- und Verfassungsänderungen sind Teil einer besorgniserregenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Ungarn.

Marschierende Paramilitärs, ein repressives Mediengesetz, „Zwangsarbeit“ für Arbeitslose, der Versuch, Obdachlosigkeit per Dekret abzuschaffen und zig andere bedenkliche Gesetzes- und Verfassungsänderungen sind Teil einer besorgniserregenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Ungarn. Nach den Wahlen 2010 inszeniert sich die ungarische Politik immer häufiger mit Folklore und geschichtlich belasteter Symbolik. Wie ein Vogel und das Trauma von einem zerbrochenen Reich den ungarischen Nationalismus stärken.

Miklós Horthy, ehemaliger ungarischer Reichsverweser und Verbündeter Adolf Hitlers, kommt in Ungarn in den letzten Jahren wieder in Mode. Anfang November dieses Jahres wurde ihm ein weiteres Andenken gesetzt: Am Szabadság Platz, vor der reformierten Kirche, inszenierte die faschistische Jobbik-Partei mit Unterstützung des rechtsextremen Pastors Lóránt Hegedüs vor etwa hundert Sympathisant_innen eine Zeremonie und enthüllte eine Statue jenes Mannes, unter dem 1920 mit einem Numerus Clausus für jüdische Student_innen das erste antisemitische Gesetz im Nachkriegseuropa eingeführt wurde. Die Einweihung der Statue ist indes nur ein weiterer Mosaikstein im Vorhaben der nationalkonservativen Fidesz-Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán, das Land nach ihren Vorstellungen zu positionieren und auszurichten: ein Ungarn ausschließlich für die Ungar_innen, gedacht als grenzüberschreitende Nation mit Rückbesinnung auf christlich-konservative Werte und Stärkung des „Magyarentums“.

 

Die Wahlen 2010 als Spiegelbild der eigenen Geschichte

Im Frühjahr 2010 erreichte der rechtskonservative Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) 53% der Wähler_innenstimmen und regiert dank des Mehrheitswahlrechts mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit. Mit knapp 17 % Stimmenanteil errang die neofaschistische Jobbik („Die Besseren“/Die „Rechteren“) 12 % der Mandate und zog sieben Jahre nach ihrer Gründung erstmals ins Abgeordnetenhaus ein. Die zuvor regierenden Sozialdemokrat_innen (MSZP) wurden mit nur 19 % der Wähler_innenstimmen regelrecht von ihren Regierungsposten gejagt. Hauptgrund für dieses schlechte Abschneiden war die  berühmt gewordene „Lügenrede“ des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, bei der dieser zugab, ein Budgetloch bewusst verschwiegen zu haben, um bei den Wahlen 2006 als Sieger vom Platz gehen zu können. Als vierte Partei sicherten sich noch die Grünen mit knapp 7,5 % der Stimmen ihren Verbleib in Ungarns höchster politischer Spielklasse.

Büste von Miklós Horthy (Foto: Mindenki joga)

Die Jobbik unter Parteichef Gabor Voná kündigte bereits kurz nach den Wahlen an, im Land „aufräumen zu wollen“ - wozu ihnen auch der Einsatz einer paramilitärischen und optisch an die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler (unter ihnen wurde eine halbe Million ungarische Juden und Jüdinnen deportiert) angelehnten „Ungarischen Garde“ recht ist. Die Garde dient dazu, durch Aufmärsche und Gewalttaten Angst unter politischen Gegner_innen und gesellschaftlichen Minderheiten zu verbreiten. Ideologisches Bindeglied ist der Opfermythos rund um den Trianon-Vertrag von 1920, der zum Spielball der Politik geworden ist. Durch diesen Vertrag verlor Ungarn 2/3 seiner Staatsgebiete, der Grenzverlauf wurde von den Siegermächten ohne Einbeziehung Ungarns und der in Ungarn lebenden Menschen gezogen. Die Rückgabe der verloren Gebiete ist eine ständige Forderung der ungarischen Rechten.

Auch die Regierungspartei Fidesz ist den großungarischen Ansprüchen nicht abgeneigt und unterstreicht ihre Haltung durch eine Staatsbürger_innenschaftsreform, die auch „ungarischstämmigen“ Menschen außerhalb der Staatsgrenzen einen ungarischen Pass garantieren soll. Die Latte, um die ungarische Staatsbürgerschaft zu ergattern, ist nicht sonderlich hoch gelegt. So genügt es vorzuweisen, dass man vor 1920 oder zwischen 1938 und 1945 zumindest einen verwandten Vorfahren mit ungarischem Pass hatte. Die oftmals angesprochenen „fließenden Ungarischkenntnisse“ entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Farce: so genügt es häufig, nur ein paar wenige Floskeln Ungarisch zu beherrschen, um an den begehrten Pass des EU-Mitgliedslandes zu gelangen.

Die Stärkung nach außen geht mit der Schaffung eines inneren Feindes einher, so hetzen Fidesz wie Jobbik seit Jahren gegen Roma, Juden und Jüdinnen, Linke sowie Liberale und seit den letzten Monaten vermehrt auch gegen Obdachlose - es muss sauber sein im Land, jegliche Zeichen eines Makels gilt es unsichtbar zu machen und aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Mit einer Verfassungsänderung schuf das ungarische Parlament 2013 die gesetzliche Grundlage dafür, dass Kommunen „obdachloses Verhalten“ per se als kriminell erklären und sanktionieren dürfen. Doch der Wandel hin zu einem speziell völkisch geprägten Nationalismus geschah nicht über Nacht.

Rechtsradikale Paramilitärs (Foto: Dieter Diskovic)

Turan Turan – rechte Ideologie und Neopaganismus

Das in weiten Teilen der ungarischen Bevölkerung verwurzelte rechte Gedankengut ist Produkt einer jahrzehntelangen Entwicklung, mitnichten kann man von einem plötzlichen „Rechtsruck“ sprechen. Selbst in der Ära des so genannten „Gulaschkommunismus“ ab 1956 versuchte sich die Regierung mit positivem Bezug auf den ungarischen Nationalismus Legitimität in der Bevölkerung zu verschaffen. Das völkische Denken ist heute in großem Ausmaß bei der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz und bei der neofaschistischen Oppositionspartei Jobbik vorhanden, jedoch selbst bei Teilen der tendenziell liberalen bis links stehenden Parteien wie der sozialdemokratischen MSZP und den Grünen anzutreffen. Das völkische Denken zeichnet sich durch einen ausschließenden Nationalismus, den Glauben an eine ethnisch-homogene Abstammungsgemeinschaft und eine Abgrenzung gegen vermeintliche innere und äußere Feinde aus.

Neben den allgegenwärtigen Bezügen auf die ungarische Nation und das Christentum hat sich in den letzten Jahren in Teilen der Bevölkerung eine Rassentheorie aus dem 19. Jahrhundert etabliert: der Turanismus. Diese Ideologie geht von einer gemeinsamen Abstammung von Ungarn, Türken, Esten, Finnen, Mongolen, Mandschuren und Jakuten aus, in manchen Auslegungen soll sich die „turanide Rasse“ gar bis Japan erstrecken. Der Turanismus, der unter anderem auch von den rechtsextremen türkischen Grauen Wölfen vertreten wird, steht in Ungarn für eine Abwendung von Westeuropa hin zu den asiatischen Ursprüngen der ungarischen Zivilisation. Auf zahlreichen völkischen Festivals feiern hunderttausende Besucher_innen ein Magyarentum, das mit der historischen Realität nur wenig zu tun hat. Unterstützt von den Abstammungslehren zweifelhafter rechter „Historiker_innen“ inszeniert man sich als wildes, edles und vor allem verfolgtes Reitervolk aus dem Osten.

Das Symbol des Turanismus ist der Turul, ein mythischer Vogel zwischen Adler und Falke, der die Magyaren von Asien nach Europa gebracht haben soll. Welche identitätsstiftende Bedeutung dieses Fabelwesen für die ungarische Rechte mittlerweile hat, zeigt der Kampf um eine 2005 errichtete Turul-Statue im 12. Budapester Gemeindebezirk. Die Figur des Turul wurde in der Zeit des Zweiten Weltkrieges von den faschistischen Pfeilkreuzlern intensiv verwendet und ist deshalb massiv vorbelastet. Dennoch ließ es sich der Bezirksvorsteher der heutigen Regierungspartei Fidesz im Jahr 2005 nicht nehmen, eine mit faschistischen Symboliken gespickte und von der damaligen links-liberalen Stadtverwaltung Budapests nicht genehmigte Turul-Statue aufzustellen. In den folgenden Jahren versuchte die Budapester Stadtregierung immer wieder, diese illegal errichtete Skulptur abreißen zu lassen, was durch Aufmärsche der paramilitärischen und rechtsextremen Ungarischen Garde wiederholt abgewehrt werden konnte. 2008 wurde die Statue sogar von Vertretern christlicher Kirchen gesegnet. 2010 war es eine der ersten Maßnahmen der neu gewählten Fidesz-Regierung, diesen mittlerweile „heiligen“ Turul durch ein eigenes Gesetz legalisieren zu lassen.

Turul (Bild: Dieter Diskovic)

Aber selbst damit nahm das Trauerspiel um das bronzene Fabeltier noch kein Ende. 2009 wollte die britische Künstlerin Liane Lang auf die antisemitische und rassistische Symbolik der Statue aufmerksam machen und fotografierte den Turul mit einer Plastikhand im Schnabel. Die Reaktion folgte nur einen Tag später: das Budapester Holocaust-Mahnmal „Schuhe am Donauufer“, das an die Ermordung ungarischer Jüdinnen und Juden durch Pfeilkreuzler erinnern soll, wurde von Unbekannten geschändet. Die bis heute nicht gefassten Täter_innen hatten blutige Schweinshaxen in die Schuhe gesteckt.

Ungarn – das „Palästina Europas“?

Die ungarische extreme Rechte ist aufgrund ihrer Gebietsforderungen an alle Nachbarländer international isoliert, die Suche nach östlichen Bündnispartnern hat also durchaus auch strategische Gründe. Die Jobbik etwa sieht den Iran als „Brudervolk“, der dort weit verbreitete Antizionismus deckt sich auch mit der eigenen Ideologie. Im ungarischen rechtsextremen Milieu sieht man sich als beständiges Opfer äußerer Einflüsse, in politischen Ansprachen stellt man sich gar als das „Palästina Europas“ dar.. Der Fidesz, zwar auch Teil der ungarischen Rechten, doch minder ausgegrenzt, stellt mit Viktor Orbán seit 2002 sogar den Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei und wird auch von Österreichs höchstem kirchlichen Würdenträger geschätzt. So ließ es sich Kardinal Christoph Schönborn 2012 nicht nehmen, die ungarische Regierung ob ihrer Standhaftigkeit zu den christlichen Werten zu loben (im Gegenzug wurde ihm im ungarischen Parlament das „Großkreuz für Verdienste um den Staat Ungarn“ verliehen).

Zusätzlich zu völkischem Gedankengut und Turanismus gibt es ein weiteres Element, das nur auf den ersten Blick dem stets betonten Christentum widerspricht: eine mythische Erhöhung der ungarischen Nation, die nicht selten einen neopaganistischen Charakter aufweist. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung ist der „Tempel Karpatenheimat“ in Veröce, in dem statt Gott das Magyarentum, die Stephanskrone und der Turul angebetet werden. Selbst in das Parlament hat es der Schamanismus bereits geschafft: im März 2012 wurde ein schamanisches Tanzritual zum Schutz der „Heiligen ungarischen Krone“ abgehalten. Im gleichen Jahr war bereits die neue Verfassung in Kraft getreten, der ein „nationales Glaubensbekenntnis“ vorangestellt wurde.

Bei den kommenden Wahlen im Frühjahr 2014 dürfte sich in Ungarn aber nur wenig ändern. Jüngste Umfragen sehen den Fidesz bei 45 – 50 %, wobei auch ein Wiedererlangen der parlamentarischen 2/3 Mehrheit nicht undenkbar ist. Möglich macht das auch eine Wahlrechtsreform des Fidesz, in der verschiedene Wahlbezirke zugunsten der Regierungspartei zusammengelegt wurden. Von der (liberalen) Opposition ist nicht viel zu sehen, anstatt eigene Programme zu forcieren und dadurch das Profil zu schärfen, begnügt man sich mit Anti-Orbán-Rhetorik. Das hat verheerende Auswirkungen: die sozialdemokratische MSZP stagniert bei etwa 22 %, gefolgt von der rechtsextremen Jobbik (14 %) an der dritten und dem liberalen Wahlbündnis „Gemeinsam 2014“ (8 %) an der vierten Stelle. Die restlichen Parteien, darunter die Grünen und die Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, können als „ferner liefen“ eingestuft werden.

Einen Wandel zu einem wirklich demokratischen Ungarn können aber nur die Ungar_innen selbst erreichen. Trotz vieler kleiner oppositioneller Initiativen, häufig außerhalb des Parteienspektrums, dürfte es bis dahin noch ein weiter Weg sein.

 

Als weiterführende Lektüre empfehlen wir:

KOOB, Andreas et al. 2013. Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn. Unrast Verlag.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie, Sozialarbeiter und Musiker bei der Band Collapsing New People.

Gabriel Binder (geb. 1987), lebt in Wien und ist Angestellter und freier Schriftsteller.

Beide engagieren sich bei „Screaming Birds“, einer 2012 gegründeten Gruppe, die sich gesellschaftskritisch und in verschiedenen Formen politischen Themen widmet.

 

Die Enthauptung der Wissenschaft

  • 18.12.2013, 16:55

Die Eingliederung des Wissenschafts- und Forschungsministerium ins Wirtschaftsministerium lässt die Wogen in Österreich hochgehen: Kritiker_innen befürchten die Unterwerfung der Wissenschaft unter wirtschaftliche Interessen. Gabriel Binder hat über die am 17.12.2013 von der Österreichischen HochschülerInnenschaft (ÖH) organisierte Demonstration eine Reportage geschrieben.

Das hätte sich die „neue“ rot-schwarze Bundesregierung wohl einfacher vorgestellt. Die Eingliederung des Wissenschafts- und Forschungsministerium ins Wirtschaftsministerium lässt die Wogen in Österreich hochgehen: Kritiker_innen befürchten die Unterwerfung der Wissenschaft unter wirtschaftliche Interessen. Die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH) hat daher am 17.12.2013 zu einer Kundgebung unter dem Titel „Demonstration gegen die neue-alte Regierung“ aufgerufen.

Es ist Nachmittag, Viertel nach vier. Nicht nur der Himmel beginnt sich langsam zu verdunkeln, auch die Fahnen vor der Universität Wien scheinen an Farbe verloren zu haben. Denn inmitten der Universitätsfahnen säuselt im leichten Wind eine schwarze Flagge. Eine solche soll „als Zeichen des Protests gegen den Verlust des eigenständigen Wissenschaftsministeriums“ vor allen Universitäten dieses Landes angebracht werden, so beschloss es die Universitätenkonferenz in Graz einstimmig.

Foto: Dieter Diskovic

Nur wenige Meter neben den Fahnen vor dem Universitätsgebäude steht Viktoria Spielfrau, Generalsekretärin der ÖH, die für die Presse neben einem Banner („Space Invaders against Bildungsökonomisierung“) Spalier steht. Ich komme mit ihr ins Gespräch und stelle fest, dass diese Frau weiß, wovon sie spricht, wenn sie auf die Gefahr hinweist, die eine Eingliederung des Wissenschaftsressort in das Wirtschaftsministerium mit sich bringt. Über die Gefahr, einen Trend zu bestärken, der in die Richtung geht, dass besonders die Sozial- und Geisteswissenschaften, die keinen „ökonomischen Mehrwert“ erzeugen, gestrichen werden. Sie erwarte eine gut besuchte Demonstration, denn sogar aus anderen Bundesländern hat sich Unterstützung angekündigt.

Foto: Dieter Diskovic

Die Menschen strömen aus allen Richtungen vor die Universität und den Eingang zum Audimax, doch es bleibt noch ein wenig Zeit, sich mit einem Demonstrationsteilnehmer zu unterhalten, dem die mögliche Ökonomisierung der Wissenschaft ein Dorn im Auge ist. Jakob ist 23 Jahre alt und studiert Politikwissenschaften und Internationale Entwicklung. Er betrachtet die Lage nüchtern und erklärt die Problematik aus seiner Sicht: „Natürlich werden Studienabsolvent_innen irgendwann in der Wirtschaft arbeiten, oder für die Forschung, oder für die Politik. Aber auf der Forschungsebene hat Wirtschaft mit der Wissenschaft gar nichts zu tun. Mal abgesehen davon, dass es problematisch wird, wenn man alles der Wirtschaft unterordnet.“ Ich hake nach und will von ihm wissen, ob er denn nun auch gegen die „neue-alte Regierung“ demonstriere, wurde doch die Kundgebung von der ÖH unter dieses Motto gestellt. „Ich weiß noch nicht genau was im Regierungsprogramm steht. Ich hab von Expert_innen viel Negatives gehört, aber ich will mich davon selbst überzeugen. Heute ist das Wissenschaftsministerium vorrangig.“ Eine klare Ansage. Es scheint wohl mehr im Argen zu liegen, dem es auf die Spur zu gehen gilt.

Foto: Dieter Diskovic

Ich bedanke mich bei ihm und bemerke, dass sich die Teilnehmer_innenzahl in kurzer Zeit verdoppelt hat. Man muss sich nun schon durch die Menschenmenge zwängen und geduldig sein, will  man vorankommen. Ein wenig schwerer hat man es, wenn man sein eigenes Fahrrad mit auf die Demonstration genommen hat. „Man soll auf Demonstrationen kein Fahrrad mitnehmen“, stellt eine junge Dame resignierend seufzend und im Menschenpulk steckend fest. Ein anderer Herr wirkt schon ein wenig ungeduldiger und kämpft sich beißend durch „diese Demonstranten“ und bekrittelt verärgert das „Herumstehen“ der Demonstrant_innen. Wären die beiden zehn Minuten später gekommen, hätte sich ihnen wohl weniger Widerstand in den Weg gestellt.
Foto: Dieter Diskovic

Wissen schafft keine Ministerien ab

In der Zwischenzeit, aufgewärmt durch Iggy Pops „The Passenger“ aus dem Lautsprecherwagen, hat sich  die Demonstration langsam in Bewegung gesetzt und biegt in die Schottengasse ein. Das Ziel: das Wissenschaft- und Forschungsministerium am Minoritenplatz. Wie am Tag zuvor sollen Totenkerzen angezündet und vor den Toren des ehemals eigenständigen Ministeriums abgelegt werden (siehe: Wer hat uns verraten?). Viele Plakate mit Slogans werden mit auf den Weg geschickt, auch ein großes Banner mit der Aufschrift „Wissen schafft keine Ministerien ab“ soll sein Ziel erreichen.

Foto: Dieter Diskovic

Wie eine Walze rollt die Demonstration lautstark durch die Häuserschluchten der Schottengasse und Herrengasse in Richtung Michaelerplatz. Die Wände werfen den Lärm gebündelt in die kalte Nacht und garantieren, dass bestimmt jede_r Bewohner_in in den zu der Kundgebung angrenzenden Wohnungen dem Anliegen der Protestierenden Aufmerksamkeit schenken muss. Und sollte man trotzdem auf taube Ohren stoßen, schafft ein Megafon Abhilfe: „Wir sind hier und wir sind laut, weil ihr uns die Bildung klaut.“ Vor dem Café Central wird die Demonstration mit Staunen aufgenommen, ab und an wird ein Handyfoto geschossen, überall hört man Pfeifen und Parolen, trifft aber manchmal in verschriftlichter Form auch auf diskussionswürdige Vorschläge. So wird angeraten, doch Albus Dumbledore, den charismatischen und gebildeten Zauberer aus Harry Potter, zum neuen Wissenschaftsminister zu krönen. Ob im Gegenzug Reinhold Mitterlehner das Zaubern lernen muss, bleibt jedoch offen.

Foto: Dieter Diskovic

Wo sind die Securities?
Doch es bedarf keiner Magie, um auf „besondere“ Momente einer Kundgebung zu stoßen. Ein offenes Auge und der bereits wartende Demonstrationszug von der Technischen Universität Wien (TU) genügen vollkommen, um beiden Kundgebungszügen ein Pfeifkonzert zu entlocken. Wenige Minuten später ist der Michaelerplatz gesteckt voll und aus dem Café Griensteidl, das anno dazumal literarischen Größen wie Karl Kraus und Arthur Schnitzler ein gern besuchter Ort war, ist ein Entkommen beinahe unmöglich geworden. Bis auf die Stiegen haben sich die Demonstrant_innen zurückgezogen, immer noch hält der Zustrom an Menschen an und zwingt viele, auf unliebsames Gelände auszuweichen. Ich versuche mich auf die andere Seite des Michaelerplatzes zu schlagen, um mir einen besseren Überblick verschaffen zu können, werde aber neugierig, als ich bemerke, wie ein älterer, englischsprechender Herr sich bei einer Kundgebungsteilnehmerin nach dem Grund der Demonstration schlaumacht. Bereitwillig gibt die Frau dem höflichen Herrn Auskunft, bis dieser nachfragt, wo denn die Securities seien. „Es gibt keinen Grund für Securities, weil es auch keine Gewalt gibt“, antwortet sie ihm. Und tatsächlich zeichnet sich die Demonstration als friedlich aus, die Polizei hatte noch keinen Grund gefunden einzugreifen.

Foto: Dieter Diskovic

Frittenbudes Totenkerzen

Wir warten lange und kurz vor dem Aufbruch zum Minoritenplatz hört man Jubel und ein Trillerpfeifkonzert aufbranden. Ich kann nur vermuten, dass nun auch der Demonstrationszug der Universität für Bodenkultur (BOKU) aus dem 18. Bezirk angekommen ist. Wissen kann ich es in diesem Moment nicht, zu viele Menschen verhindern nun, einen guten Überblick über die Massen behalten zu können. Laut späteren Schätzungen sollen sich bis zu 7.000 Menschen an den Protesten in Wien beteiligt haben – österreichweit (Salzburg, Graz, Innsbruck, Klagenfurt) in Summe sogar bis zu 10.000.

Foto: Dieter Diskovic

Nach etwa 20 Minuten zieht die Demonstration weiter: der Weg vom Michaelerplatz zur Abschlusskundgebung in Richtung Minoritenplatz wird gemächlich angegangen, die Schauflergasse erweist sich als geduldig und lässt nur einen begrenzten Zustrom an Menschen gewähren. Ein paar wenige Reihen vor mir ragt auf einen Pappkarton gemalt ein weiß-blaues Zeichen eines bekannten Automobilherstellers aus München auf, ergänzt mit dem Kürzel des Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung. Das neue Ministerium unter den Fittichen eines Sponsors, in der neu gebauten Wirtschaftsuniversität beim Prater kein Zukunftsgeplänkel mehr: dort tragen bereits Hörsäle die Namen von finanzkräftigen Marken.

Foto: Dieter Diskovic

Die Abschlussreden am Minoritenplatz vor dem (ehemaligen?) Ministerium für Wissenschaft und Forschung ist nicht für alle Menschen zu hören, denn zu groß und weit gestreut ist die Demonstration bereits. Der natürliche Lärmpegel wird mit Rufen, Pfeifen und Trommeln angereichert. Es gelingt mir trotzdem, ein paar Worte von Janine Wulz, der ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der ÖH, aufzuschnappen, die sich vor einem Transportkraftwagen positioniert hat. Wulz sieht in den Politiker_innen einen Mitgrund am Demokratieabbau in Österreich. Alle weiteren Worte frisst das lautstark knatternde Aggregat neben ihr.

Foto: Dieter Diskovic

Ich schiebe mich langsam aus dem Nahbereich der Demonstration und mache eine Runde um die Minoritenkirche, vorbei am Bundesministerium für Inneres und zurück vor das Wissenschaftsministerium. Ein paar wenige Totenkerzen leuchten in ihren roten Behältnissen zu den Klängen von Frittenbude, während viele Menschen den Platz bereits wieder verlassen. Vereinzelt ragen noch schwarze Fahnen aus der Demonstration in die Höhe. Die Regierung wird weiterhin gezwungen sein, den Sozialstaat zu beschneiden und sich somit am Abbau des Sozialstaates und der Ökonomisierung der Gesellschaft beteiligen. Vielleicht wird die schwarze Fahne in Zukunft zum Protestsymbol einer neuen Bewegung, die sich endgültig aus der Umklammerung jener wird lösen wollen, die längst kein Gehör mehr für die Ängste und Sorgen der Menschen haben.

Foto: Dieter Diskovic

Gabriel Binder (geb. 1987) lebt in Wien und ist Angestellter und freier Schriftsteller und mitunter bei der Aktionsgruppe Screaming Birds tätig.