Aus den Augen, aus dem Sinn

  • 05.02.2014, 13:21

Die Zeiten für wohnungslose Menschen werden härter. In Ungarn wie auch in Österreich werden Versuche unternommen, Obdachlose durch Vertreibung und Bestrafung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu entfernen. Was bedeutet diese Politik der Ausgrenzung für die Betroffenen in Wien und Budapest nun tatsächlich?

Die Zeiten für wohnungslose Menschen werden härter. In Ungarn wie auch in Österreich werden Versuche unternommen, Obdachlose durch Vertreibung und Bestrafung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu entfernen. Was bedeutet diese Politik der Ausgrenzung für die Betroffenen in Wien und Budapest nun tatsächlich?

Mitte November 2013 stürmten Obdachlosenaktivist_innen von A város mindenkié („Die Stadt gehört allen“) eine Sitzung des Budapester Stadtrates. Gut zwei Dutzend Menschen bildeten im Plenarsaal eine Menschenkette mit der Absicht, einen Beschluss zu verhindern, der darauf abzielt, den Umgang mit Obdachlosen in Ungarn zu verschärfen. Bereits wenige Wochen zuvor hatte die rechtskonservative Fidesz-Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán ein Gesetz beschlossen, das es obdachlosen Menschen untersagt, auf Flächen, die als Weltkulturerbe ausgewiesen sind, zu nächtigen (dazu gehört der Bereich im Burgviertel und beim Donauufer). Im Sitzungssaal sollte eine Verordnung durchgeboxt werden, die es auch den verschiedenen Bezirken erlauben soll, Obdachlosensperrzonen gesetzlich festzulegen und „obdachloses Verhalten“ aus ihren Territorien zu verbannen. Wird man in einem als „Sperrzone“ ausgewiesenen Bereich von der Polizei aufgegriffen, können nebst hohen Geldstrafen auch gemeinnützige Arbeit und Arrest drohen. Verhindern konnten die Aktivist_innen den Gesetzesbeschluss aber nicht, sie wurden von der Polizei aus dem Saal getragen, das Gesetz wurde beschlossen. Am meisten Sperrzonen wurden vom Bürgermeister des XIII Bezirks, Tóth József, beantragt – einem Sozialdemokraten.

Leerstehende Wohnungen, gekürzte Subventionen, Kältetote

In ganz Ungarn gibt es etwa 30.000 obdachlose Menschen, in der Hauptstadt Budapest sind es laut Schätzungen 10.000 - und das obwohl landesweit 400.000 Wohnungen leer stehen; alleine in Budapest sind es an die 85.000. Die tatsächliche Anzahl an Obdachlosen ist aber mit Vorsicht zu genießen, denn die wirkliche Zahl dürfte höher liegen.  In der Statistik scheinen nur jene Menschen auf, die sich an öffentlichen Plätzen aufhalten und in Unterkünften leben. Die Regierungspartei Fidesz beweist nun mit dem neuen Gesetz (dem eine Verfassungsänderung vorausgegangen war, die es erst ermöglicht hat, Obdachlosigkeit per Gesetz zu kriminalisieren), dass sie keinen wirkungsmächtigen Plan hat, dem Problem der Obdachlosigkeit konkret entgegenzutreten. Weder gibt es für wohnungslose Menschen genügend (Not-)Unterkünfte, noch erschwingliche Wohnungen. Zwar wurde auch unter den Sozialdemokrat_innen vor 2010 das Problem nicht gelöst, doch seit der Fidesz an der Macht ist, wurde es tatsächlich schlimmer: die staatlichen Förderungen für Tagesplätze, Nacht- und Notunterkünfte wurden seit 2010 um 15 % gekürzt, auch das Wohngeld wurde reduziert.

Das Versagen der Politik fordert auch Todesopfer: bis zum 4. Jänner diesen Jahres sind bereits 53 Menschen erfroren, die meisten von ihnen in ihren eigenen, unbeheizten Wohnungen. Kata Amon, Aktivistin bei A város mindenkié, glaubt aber nicht, dass die Situation für Obdachlose in Ungarn hoffnungslos ist: „Die Mehrheit der Ungar_innen ist mit der Kriminalisierung von Obdachlosen nicht einverstanden und sieht darin auch keine Lösung. Die Regierung wird die Ablehnung der Menschen zu den neuen Gesetzen nicht für immer ignorieren können.“ Die Kriminalisierung von Obdachlosen ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal Ungarns. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte etwa die Verweisung und Bestrafung wohnungsloser Menschen aus dem Wiener Stadtpark im Oktober letzten Jahres.

Herr Friedrich im Wiener Stadtpark. Foto: Dieter Diskovic

Die Vertreibung aus dem Stadtpark

„Am Dienstag, so um 22:00, sind acht Polizeiautos gekommen: ,Räumen! Sofort! Sonst kommt die 48er und nimmt alles mit.‘ Ich zeig ihnen meine Krücken und sage: ,Ich kann ja nicht.‘ ,Du hast eh zwei Freunde da, die sollen dir helfen. Das was ihr nehmen könnt, nehmt – alles andere kommt weg.‘ Die Aktion hat ungefähr eine Stunde gedauert, dann ist die MA 48 gekommen. Alles was man nicht nehmen konnte, Gewand, Schuhe, Schlafsäcke, alles ist weggekommen. Einen von uns hat die Polizei mitgenommen. Während er weg war, haben sie seine Sachen auch weggeworfen.“ Der 56-jährige Herr Friedrich lebt bereits seit drei Jahren im Stadtpark, einige seiner Freunde kommen sogar schon seit Jahrzehnten hierher. Die Vertreibung aus dem Stadtpark im letzten Oktober hat die obdachlosen Menschen vollkommen unvorbereitet getroffen. Von wem die angeblichen Anrainer_innenbeschwerden ausgegangen sind, ist Herrn Friedrich rätselhaft: „Wir haben keinem was gemacht, wir haben uns oft mit den Leuten unterhalten, da ist sogar ein Rechtsanwalt dabei. Wir haben uns immer gut gestellt mit den Anrainern und bei uns war es immer sauber.“ Die Polizei selbst beruft sich auf eine Campierverordnung aus dem Jahre 1985, die unter anderem das Auflegen und Benützen von Schlafsäcken im öffentlichen Raum mit einer Verwaltungsstrafe zwischen 140 und 700 Euro ahndet und ursprünglich gegen Rucksacktourist_innen gerichtet war. Jahrzehntelang galt die Campierverordnung als totes Recht, ihre Wiederauferstehung hatte sie im Dezember 2012, als sie der Auflösung des Refugee-Camps vor der Votivkirche als gesetzliche Rechtfertigung diente.

Die Polizeiaktion im Stadtpark sorgte kurzfristig für ein enormes mediales Interesse. Politisch motivierte Gruppen wie F13 und die youngCaritas organisierten Flashmobs, bei denen sich die Teilnehmer_innen solidarisch in Schlafsäcken an symbolträchtigen Orten wie dem Stadtpark oder dem Stephansplatz niederlegten. Peter Nitsche, Initiator der Facebook-Gruppe Die Obdachlosen aus dem Stadtpark sind auch meine Nachbarn und zahlreicher Flashmobs, erklärt das Konzept: „Die Idee dazu war, das Bewusstsein an konsumorientierten Plätzen, wie hier auf der Mariahilfer Straße, zu schärfen und zu sagen: ,Leute, jeden von uns kann es treffen.‘ Man darf auch nicht vergessen, dass es ein Mensch, der jahrelang auf der Straße gelebt hat, vielleicht gar nicht mehr schafft, von einer Stunde auf die andere in einen begrenzten Raum zu gehen, in einen Raum, der von vier Wänden umgeben ist.“ Tatsächlich gibt die Stadt Wien verhältnismäßig viel Geld für Notschlafstellen und ähnliche Programme aus, Tatsache ist aber auch, dass viele Menschen diese Angebote nicht annehmen können oder wollen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die von Obdachlosigkeit Betroffenen sind eine sehr heterogene Gruppe, viele haben ein erfolgreiches Leben hinter sich und empfinden ein ausgeprägtes Schamgefühl, das sie keine Hilfe annehmen lässt.

Weiters leidet ein großer Teil an psychischen Erkrankungen (wie der bereits genannten Klaustrophobie) oder an Suchtkrankheiten, die sich nicht mit der Abstinenzpflicht in den meisten Einrichtungen vereinbaren lassen. Andere wiederum haben Angst vor Diebstählen oder haben durch ihre Erfahrungen das Vertrauen in die Menschen verloren und wollen so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben. Für die mobilen Sozialarbeiter_innen ist es häufig eine langwierige Angelegenheit, das Vertrauen der Klient_innen zu erreichen. Susanne Peter, Sozialarbeiterin in der Gruft und regelmäßig im Stadtpark unterwegs: „Ich habe mich drei Jahre lang mit einer Klientin nur durch eine Klotüre unterhalten, bis sie das Vertrauen hatte, mir in die Augen zu schauen.“ Durch die Räumung des Stadtparkes hat sich die Situation verschlechtert. Die obdachlosen Menschen sind verunsichert und verstecken sich, für die Sozialarbeiter_innen wird es komplizierter, den Kontakt aufrechtzuerhalten.

Flashmob im Stadtpark. Foto: Dieter Diskovic

Housing First im neunerhaus

Für die Stadt Wien, die stolz auf ihre Sozialleistungen ist, ist es offensichtlich besonders schwierig, öffentlich sichtbare Armut und alternative Wohnformen zu akzeptieren. Die Vertreibung von Randgruppen aus der öffentlichen Wahrnehmung löst allerdings keine Probleme – umso wichtiger ist es, sich alternative Möglichkeiten anzusehen. Ein relativ neuer, aus den U.S.A. stammender Ansatz, nennt sich Housing First. Housing First beruht auf der Idee, dass obdachlose Personen zuallererst eine eigene Wohnung bekommen, während alle weiteren Angelegenheiten erst danach angegangen werden. Dadurch müssen sich obdachlose Menschen nicht erst langwierig über Notschlafstellen und Trainingswohnungen für eine eigene Unterkunft qualifizieren. Die weitere Betreuung basiert auf freiwilliger Basis. Was sich wie ein ausgesprochen teures Projekt anhört, senkt die Folgekosten der Obdachlosigkeit nachweislich enorm. In Österreich steckt dieser Ansatz noch in den Kinderschuhen und wird beispielsweise vom neunerhaus angeboten.

Reiche rein, Arme raus

Besonders schlecht ist die Situation für obdachlose Bürger_innen aus den neuen EU-Ländern. Menschen aus Osteuropa ziehen aufgrund fehlender Perspektiven, eines mangelhaften Sozialsystems oder, wie eingangs erwähnt, des De-facto-Verbotes von Obdachlosigkeit in Ungarn nach Wien. Es gibt auch Pendler_innen, die – häufig von Ausbeutung durch die Arbeitgeber_innen betroffen – unter der Woche ohne Unterkunft in Wien arbeiten und das Wochenende im Herkunftsland verbringen. Diese Menschen fallen gesetzlich in die Kategorie „nicht Anspruchsberechtigte“, wodurch es keine geförderten Notschlafstellen für sie gibt – vor allem die spendenbasierte und stets überfüllte Zweite Gruft kümmert sich zurzeit um dieses Klientel.

Hier stellt sich die Frage nach der Verantwortung der EU. Während man ein Freihandelsabkommen nach dem anderen beschließt und die Immigration hochqualifizierter Arbeitskräfte gerne gesehen wird, versucht man parallel dazu, die Wanderung von armen und weniger gebildeten Menschen zu verhindern. Die negativen Folgen für die Herkunftsländer durch Braindrain bei gleichzeitiger Ablehnung von Armutsmigration werden dabei bewusst ignoriert. Ein möglicher erster Schritt, Armut statt die von Armut betroffenen Menschen zu bekämpfen, wäre die Einführung EU-weiter sozialer Mindeststandards sowie die Aufhebung aller Gesetze, die Obdachlosigkeit kriminalisieren. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Chance, das menschliche Existenzrecht von der Erwerbsarbeit und dem Funktionieren im System zu entkoppeln.

 

Ein Interview mit dem Soziologen Christoph Reinprecht über die politischen Hintergründe der Vertreibung von obdachlosen Menschen aus dem Stadtpark, die zunehmende Kommerzialisierung und Kontrolle des öffentlichen Raumes sowie über mögliche Lösungen, Armut und Obdachlosigkeit wirksam zu bekämpfen, findet ihr hier:

http://www.progress-online.at/artikel/wem-geh%C3%B6rt-die-stadt

 

Gabriel Binder (geb. 1987) lebt in Wien und ist Angestellter und freier Schriftsteller.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie und als Sozialarbeiter tätig.

Beide engagieren sich bei „Screaming Birds“, einer 2012 gegründeten Gruppe, die sich gesellschaftskritisch und in verschiedenen Formen politischen Themen widmet.

 

AutorInnen: Gabriel Binder, Dieter Diskovic