März 2015

8 Monate

  • 23.03.2015, 20:55

Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.

Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.

Der damals 20-jährige Student Alex Plima* wollte gerade bei einem Würstelstand nahe einer Wiener U-Bahn-Station Schottentor Bier kaufen, als er Zeuge einer gewaltvollen Verhaftung wurde. Mehrere WEGA-Beamt_innen schleiften einen Mann, der nicht bei vollem Bewusstsein war und am Kopf blutete, die Treppen hoch. Alex stellte sich vor sie und schrie, um Passant_innen auf die Situation aufmerksam zu machen. Mehrmals forderte er die Beamt_innen auf, den Verhafteten ins Krankenhaus zu bringen und ihn ärztlich versorgen zu lassen. Angriffig, beleidigend oder gewalttätig wurde er aber nicht. Die Reaktion der Beamt_innen war für ihn überraschend und unerwartet aggressiv. „Von hinten hat mir ein Polizist die Hoden gequetscht. Nachdem ich ihn fragte, was das soll, wurde ich von sechs WEGA-Polizist_innen festgenommen. Auf meine Frage nach dem Grund für die Festnahme erhielt ich keine Antwort.“ Trotz Verhaftung wurde er jedoch nicht in Untersuchungshaft genommen. Erst ein halbes Jahr später erhielt er einen Brief, in dem er darüber informiert wurde, dass er wegen drei Vergehen angeklagt wird: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung und schwere Körperverletzung. Grund dafür sei ein wildes Herumschlagen seinerseits gewesen. Alex beteuert, nie Gewalt angewendet zu haben.

Eine Beschwerde wegen des Verhaltens der Polizei legte Alex jedoch nicht ein: „Du hast nur wenig bis keine Chance, dass dir Recht gegeben wird. Ich bin mir so ohnmächtig vorgekommen, weil sich die Polizist_innen so skrupellos über das Rechtssystem hinweggesetzt haben. Außerdem hätte es Energie, Zeit und Geld gekostet eine Beschwerde einzureichen und ich hatte nichts davon, weil ich mitten in der Vorbereitung für meine Studienberechtigungsprüfung steckte.“ Bei einer sogenannten Maßnahmenbeschwerde tragen von Polizeigewalt Betroffene ein Kostenrisiko von zirka 800 bis 900 Euro. Dass Personen, die eine Beschwerde einlegen, das Verfahren verlieren, ist statistisch eher die Regel als die Ausnahme. Nur zirka 10 Prozent der Misshandlungsvorwürfe werden überhaupt verhandelt.

„Rechtsschutz ist eine Frage der Ökonomie“, fasst die Verfassungsjuristin Brigitte Hornyik diesen Zustand zusammen. Sie legte kürzlich Maßnahmenbeschwerde gegen das Vorgehen der Polizei während der ersten Pegida-Kundgebung in Wien ein. „Eingekesselt wurden alle, auch Personen mit Presseausweis. Diese Freiheitsberaubung – wir wurden einzeln kontrolliert, Identitätsfeststellung, Perlustrierung – geschah frei nach US-Cop-Serien: Beine auseinander, Hände an die Wand! Die gesamte Aktion war einfach nur willkürliche Polizeirepression. Es hatte ja niemand von uns irgendwas verbrochen.“ Das wollte Hornyik nicht unwidersprochen lassen. Sie überlegt, bei Abweisung bis zum Verfassungsgerichtshof zu gehen. Sie ist sich aber ihrer Privilegien bewusst: „Das Institut für Kriminalsoziologie hat in den 80er Jahren eine Studie gemacht, welche Menschen ihr Recht am meisten verfolgen und welche am wenigsten: Akademisch gebildete Menschen männlichen Geschlechts standen ganz oben auf der Skala, Hausfrauen und Alleinerzieherinnen ganz unten – Rechtsschutz hat also auch eine geschlechtsspezifische Komponente.“

KEINE BEDAUERLICHEN EINZELFÄLLE. In den Sicherheitsberichten des Bundesministeriums für Inneres werden unter dem Punkt „Misshandlungsvorwürfe gegen Organe der Sicherheitsbehörden und ähnliche Verdachtsfälle“ Beschwerden gegen Polizist_innen statistisch erfasst und offengelegt. In den letzten zehn Jahren gingen 8.958 solcher Vorwürfe ein. Davon wurden ganze 8.004 Verfahren eingestellt.

Die hohe Zahl an Beschwerden und die vergleichsweise kleine Verfahrensanzahl wird wie folgt verteidigt: „Bei dieser Auswertung muss berücksichtigt werden, dass […] in einer überwiegenden Anzahl der angezeigten Fälle geringfügige Verletzungen beispielsweise durch das Anlegen von Handfesseln oder den Einsatz von Pfeffersprays eintrat (sic!) – zum Teil ohne dass ein Misshandlungsvorwurf gegen das einschreitende Organ erhoben wurde.“ Aufschlussreich ist die Tatsache, dass Verletzungen durch die Verwendung von Handfesseln und Pfefferspray als geringfügigbezeichnet werden, obwohl Pfefferspray in Österreich offiziell als Waffe gilt, die nur zur Notwehr eingesetzt werden darf, und jemanden zu fesseln als Nötigung.

„Ich denke, dass in einigen Fällen an den Vorwürfen gegen Polizist_innen tatsächlich nichts dran ist, sondern sich von Amtshandlungen Betroffene subjektiv ungerecht behandelt fühlen und sich über die Beamt_innen beschweren, obwohl die ihren Job korrekt gemacht haben“, sagt Anwalt Clemens Lahner, der unter anderem im Landfiredensbruchsprozess gegen Josef S. und im Fluchthilfeprozess gegen mehrere Aktivisten der Refugee-Bewegung Verteidiger war. Nun: Das 1989 gegründete „European Committee for the Prevention of Torture“, kurz CPT, kritisiert seit seinem Bestehen die Bedingungen der österreichischen (Schub-)Haft und die Zustände in Wachzimmern sowie Gefängnissen. Sogar bei absoluten Grundlagen sieht das CPT in Österreich Nachholbedarf und forderte etwa 1994 die österreichischen Behörden auf, in der Praxis den Haftbericht allgemein zu verwenden und richtig auszufüllen. Die Stellungnahme der Regierung: „Das richtige und vollständig (sic!) Ausfüllen der Haftberichte ist und wird Gegenstand der berufsbegleitenden Fortbildung sowie interner Schulungen sein.“ Im aktuellsten Bericht von 2010 wünscht sich das CPT von der österreichischen Regierung, „Polizeibeamte in ganz Österreich in regelmäßigen Abständen daran zu erinnern, dass jede Form von Misshandlung (z.B. auch Beschimpfungen) von Häftlingen nicht akzeptabel ist und Gegenstand strenger Sanktionen sein wird“. Sind die Festgenommenen einmal unter Kontrolle gebracht, gäbe es keinen Grund, sie zu schlagen. Lahner führt aus: „Gerade in Situationen, wo Gedränge und Lärm herrschen und die Beamt_innen eine Menschenmenge subjektiv pauschal als feindlich wahrnehmen, liegen die Nerven oft blank. Es kommt zu unverhältnismäßigen Einsätzen und bei Festnahmen werden Menschen oft am Boden fixiert, obwohl das gar nicht nötig wäre.“

Weiters kritisierte das CPT die niedrigen Strafen für straffällig gewordene Polizist_innen und rief angesichts bisheriger Fälle dazu auf, die Straftat „Folter“ so bald wie möglich in das Strafgesetz aufzunehmen, was Ende 2012 dann auch geschah. Schon 1991 schrieb das CPT über Österreich: „There is a serious risk of detainees being ill-treated while in police custody.“ 1999 erstickte der Nigerianer Marcus Omofuma während seiner Abschiebung in einem Flugzeug; 2006 wurde der Gambier Bakary J. von drei Polizisten nach einer gescheiterten Abschiebung in eine leere Lagerhalle gebracht und schwer misshandelt. 2009 erschoss ein Kremser Polizeibeamter einen unbewaffneten 14-jährigen. In allen drei Fällen fassten die Hauptangeklagten nur acht Monate Haft aus, Entlassungen folgten erst viele Jahre später oder gar nicht. Seit 1999 wurden mindestens acht Fälle bekannt, bei denen Schwarze Männer bei Festnahmen oder in Polizeigewahrsam gestorben sind. People of Color, Migrant_innen, Demonstrant_innen, Sexarbeiter_innen, Obdachlose, drogenabhängige und sozial schwache Menschen sind laut sämtlichen NGOs überdurchschnittlich von Polizeigewalt betroffen.

BESCHWERDE? GEGENANZEIGE! Dina Malandi berät beim Verein Zara (für „Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit“) Betroffene und Zeug_innen von Rassismus und dokumentiert im jährlich erscheinenden Rassismusreport auch Fälle rassistischer Polizeigewalt. Besonders körperliche Übergriffe seien schwierig nachzuweisen. Sollte man es doch versuchen, muss man mit einer sofortigen Gegenanklage wegen schwerer Körperverletzung rechnen. „Es wird schnell einmal gesagt, dass schwere Körperverletzung vorliegt. Diese Schutzbehauptung wird getätigt, um einer Beschwerde entgegenzuwirken. Jede kleinste Verletzung auf Seiten der Polizist_innen – ein Kratzer oder ein blauer Fleck – sind von Rechts wegen schon schwere Körperverletzung. Hier findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt.“

Aber auch Zeug_innen und Beobachter_innen mit Zivilcourage erfahren, wie etwa Alex’ Fall zeigt, massive Repression. Mit Geld- und Verwaltungsstrafen oder auch Verhaftungen wird es Menschen schwer gemacht, bei Übergiffen einzuschreiten, auf Missstände aufmerksam zu machen oder auch nur eine Demonstration, einen Einsatz oder eine Festnahme zu beobachten.

Maria Nym* saß an einem Freitagabend in einem Lokal, als sie vor dem Fenster eine Festnahme bemerkte. Sie versuchte, die gewaltsame Festnahme zu beobachten und ließ sich auch nicht durch Beleidigungen, Drohungen und physische Übergriffe durch die Polizei einschüchtern oder vertreiben. Nun werden ihr vier Verwaltungdelikte vorgeworfen: „öffentliche Anstandsverletzung“, „ungebührliche Erregung störenden Lärms“, „aggressives Verhalten gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht“ und Nicht-auf-dem-Gehsteig-Gehen. Die Höhe der Strafe: 350 Euro. Diese könnte sie zwar zahlen, aber sie hätte dann kein Geld mehr für die Miete. Deswegen legte Maria nun Einspruch ein und hofft darauf, dass die Strafe heruntergesetzt oder ganz fallen gelassen wird.

Dass nur wenigen, die wie Maria gegen Polizeigewalt und Schikane vorgehen wollen, Recht gegeben wird, liegt oft daran, dass die eigene Aussage gegen jene mehrerer Polizist_innen steht. „Unter den Polizist_innen gibt es nicht unbedingt den Willen, gegen Kolleg_innen auszusagen. Da herrscht noch oft eine falsch verstandene Solidarität“, so Dina Malandi. Das kann sich verheerend für die Person auswirken, die die Maßnahmenbeschwerde eingereicht oder Anzeige erstattet hat. Sobald Verantwortliche durch Kolleg_innen gedeckt werden, kann der_die Betroffene auch wegen Verleumdung angeklagt werden – statistisch gesehen passiert dies in fast vier Prozent der Fälle. Laut Malandi sind dies wesentliche Gründe dafür, dass viele Betroffene erst gar nicht Beschwerde einreichen. Die Dunkelziffer dürfte dementsprechend hoch sein.

FUCK THE SYSTEM. Diese „Cop-Culture“ zu brechen, sieht auch Florian Klenk als eine der wichtigsten Aufgaben im Rahmen der Polizeigewaltprävention: „Es braucht eine Beförderungsstruktur, die BeamtInnen, die auf Misstände hinweisen, belohnt. Momentan ist es noch so, dass jemand, der oder die seine Kollegen und Kolleginnen kritisiert oder verpfeift, absolut unten durch ist.“ Gerade machte Klenk einen Fall bekannt, bei dem eine 47-jährige Frau zu Silvester bei einer Tankstelle der Wiener Innenstadt offenbar ungerechtfertigt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen und misshandelt worden ist. Steißbeinbruch, Schädelprellungen und Blutergüsse: für ihre Verletzungen oder für die Sicherstellung der Videobeweise nach der Anzeige der Frau interessierte sich die Staatsanwaltschaft vorerst nicht.

Der Falter-Chefredakteur und Jurist, der seit den 90ern investigativ über Missstände in österreichischen Gefängnissen und bei der Exekutive berichtet, meint, es habe sich aber seit damals auch einiges getan. Brigitte Hornyik dazu: „Der Polizei sind durch das Sicherheitspolizeigesetz nach wie vor sehr weitreichende Befugnisse eingeräumt. Vor 1991 war das noch schlimmer. ´Übergangsbestimmungen von 1929 waren oft die einzige Grundlage polizeilichen Handelns.“

Trotzdem kritisiert Klenk (genau wie das CPT und der Menschenrechtsbeirat der Volksanwaltschaft) die immer zunächst schleißig und intern angestellten Nachforschungen: „Es muss endlich eine unabhängige Stelle geben, die für Beschwerden gegen die Exekutive zuständig ist.“ Alle von progress kontaktierten Expert_innen sind sich übrigens einig, dass eine Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen (etwa eine sichtbar an der Uniform angebrachte Dienstnummer) sowie am Körper angebrachte Kameras bei der Gewaltprävention aber auch bei der Aufklärung extrem hilfreich wären. Doch dagegen wehrt sich die Polizeigewerkschaft vehement. „Die blau unterwanderte Polizeigewerkschaft stellt sich leider allzu oft auf die Seite der schwarzen Schafe und diskreditiert damit die Arbeit der korrekten Polizistinnen und Polizisten. Sie ist Teil eines Systems des Schweigens und Verharmlosens. Wie in der RichterInnenschaft sollte auch bei der Polizei Äquidistanz zu politischen Parteien herrschen“, meint Klenk.

Zudem sähen Richter_innen und Staatsanwält_innen die Polizei als Verbündete im Kampf gegen das Verbrechen und wähnten einander trotz Gewaltenteilung auf derselben Seite, sagt Klenk. „Sie poltern zwar manchmal im Gerichtssaal, verhängen dann aber sehr milde Strafen. Man soll sich nur vorstellen, was zwei Nigerianer ausfassen würden, wenn sie einen Polizisten so gefoltert hätten wie es Bakary geschah.“ Verschwindend niedrig ist die Zahl der Polizist_innen, die nach einer Anklage überhaupt schuldig gesprochen werden. In den letzten zehn Jahren, von 2004 bis 2013, waren das insgesamt 13 Beamt_innen.

Im Fall von Edwin Ndupu, der von 15 Justizwachebeamten verprügelt worden war und kurz darauf in der Justizanstalt Krems/Stein starb, gab es sogar Anerkennung:  Laut Falter 41/04 lud Justizministerin Miklautsch Anfang Oktober 11 der 15 an dem Einsatz beteiligten Justizbeamten zu sich ins Ministerium ein. Da die 11 Beamten bei dem Einsatz mit dem Blut des HIV-positiven Häftlings in Berührung gekommen waren, erhielten sie 2.000 Euro Schadensersatz.

Brigitte Hornyik meint, dass diese Zusammenarbeit zwischen Justiz und Exekutive kein Zufall sei: „Für mich ist das Ausdruck eines autoritären und hierarchischen Denkens: Die Staatsgewalt braucht eben Repression, um an der Macht zu bleiben. Letztlich sind das Ausläufer des Absolutismus und des Metternich’schen Überwachungsstaates.“

Zusammengefasst: Die Polizei handelt (nicht selten) gewaltsam. Es gibt keine unabhängigen Untersuchungsgremien bei Streitfällen. Sich zu wehren oder zu beschweren ist ein finanzielles, rechtliches und gesundheitliches Risiko. Die Justiz stärkt gewalttätigen und straffälligen Polizist_innen den Rücken, die Politik weigert sich zu handeln, obwohl internationale Gremien seit Jahrzehnten warnen und mahnen. Der längere Ast, auf dem die Staatsgewalt sitzt, ist ein Prügelknüppel. „Trotzdem würde ich vorschlagen, an diesem längeren Ast zu sägen und die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns in Frage zu stellen“, sagt Brigitte Hornyik. „Durchaus mit Hilfe der Gerichte, so lange wir noch nichts Besseres haben.“

*Name von der Redaktion geändert.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien. 
Olja Alvir studiert Physik und Germanistik an der Uni Wien.

 

Teilst du schon oder besitzt du noch?

  • 23.03.2015, 20:46

Alternative Konsumformen wie das Teilen und Mieten von Gütern liegen im Trend. Rettet die „Shareconomy“ die Welt oder spült sie doch wieder Millionen in die Kassen von MonopolistInnen?

Alternative Konsumformen wie das Teilen und Mieten von Gütern liegen im Trend. Rettet die „Shareconomy“ die Welt oder spült sie doch wieder Millionen in die Kassen von MonopolistInnen? 

Annika ist Mitte 20, Akademikerin und lebt im urbanen Raum. Reisen organisiert sie über Onlineplattformen und Networking betreibt sie auf Facebook und LinkedIn. Mobilität und Nachhaltigkeit sind ihr ein Anliegen, gegenüber Materialismus und Konsumwahn ist sie kritisch eingestellt. Annika gibt es nicht wirklich. Aber sie ist – wenn es nach KonsumforscherInnen geht – die Idealkonsumentin der „Shareconomy“. Kurt Matzler, Professor an der Universität Innsbruck, beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Shareconomy und bestätigt: „Der typische Konsument der Shareconomy ist nicht der sparsame, langweilige und wirtschaftlich unattraktive Kunde. Er ist jung, gebildet, postmodern und liebt einen abwechslungsreichen Lebensstil.“ Annikas Lebensstil steht stellvertretend für all jene, die kein Auto besitzen, aber dennoch manchmal damit übers Wochenende aufs Land fahren wollen; für jene, die sich kein teures Hotelzimmer leisten, sondern in einer privaten Unterkunft ein Land kennenlernen möchten; und für jene, die Werkzeuge lieber leihen statt sie teuer zu kaufen.

GRENZENLOSES TEILEN. „Ungefähr 80 Prozent aller Gegenstände, die wir besitzen, werden im Schnitt nur einmal im Monat verwendet“, so Matzler. Mit dem Gedanken, dass diese doch verliehen werden können, liebäugeln immer mehr Menschen. Eine Studie Matzlers zeigt, dass in Österreich in erster Linie Bücher, Filme und Sportartikel ver- und geliehen werden. „Auf der Hitliste sind weiters Utensilien für Partys und Feste, Werkzeuge und Gartengeräte“, ergänzt Matzler.

Die Wirtschaft des Teilens ist kein neues Phänomen, sondern hat sich lediglich durch die Digitalisierung verändert: Früher hat man sich von NachbarInnen den Rasenmäher oder die Milch geliehen. Die steigende Anonymität in Großstädten trägt ihren Teil dazu bei, dass diese Praxis heute zunehmend über den digitalen Weg abgewickelt wird. Der Begriff „Share Economy“ geht auf den Ökonomen Martin Weitzmann zurück; im deutschsprachigen Raum wird auch häufig von der „Wirtschaft des Teilens“ oder dem „KoKonsum“ – dem kollaborativen Konsum – gesprochen. Weitzmanns ursprünglicher Gedanke war es, dass sich der Wohlstand einer Gesellschaft erhöht, wenn alle MarktteilnehmerInnen mehr teilen. Dadurch soll eine neue Ära eingeläutet und das Zeitalter des Kapitalismus beendet werden. Ob Wohnungen, Transportmittel, Werkzeuge, Mode, Musik und Videos oder Lebensmittel – für alles gibt es eine eigene Onlineplattform, also eine App oder Website. Überall tauchen gerade Shareconomy-Startups auf. „Im Moment erleben wir einen großen Boom. Zahllose neue Plattformen entstehen, viele verschwinden nach kurzer Zeit aber wieder. Wahrscheinlich werden wir bald eine Phase der Ernüchterung sehen, in der es zu einer Konsolidierung kommt. Danach setzt sich dann der Trend auf solideren Beinen stehend fort“, ist Matzler überzeugt.

Auf dem Wohnungsmarkt ist Airbnb die mit Abstand populärste Onlineplattform. Das Unternehmen konnte bereits 17 Millionen Gäste in 190 Ländern und über 600.000 Unterkünfte vermitteln. Egal ob man eine Couch für eine Nacht oder ein Apartment für mehrere Wochen sucht – die Bandbreite des Angebots ist enorm. Oft sind zwar dem finanziellen Spielraum Grenzen gesetzt, der Fantasie dafür aber nicht. Wer bereit ist, etwas tiefer in die Tasche zu greifen, kann auch auf einem Boot, in einer Villa oder einem Schloss residieren.

Was Airbnb für den Wohnungsmarkt ist, ist Uber am Transportmittelmarkt. Uber ist eine Onlineplattform, die Fahrgäste an private FahrerInnen mit Wagen über eine App vermittelt. Während der Fahrdienst im Jahr 2010 gerade einmal in drei Städten aktiv war, hat er sich mittlerweile in rund 170 Städten in 43 Ländern etabliert; seit dem Vorjahr gibt es ihn auch in Wien. Wer sich nicht chauffieren lassen möchte, hat eine weitere Möglichkeit: Carsharing. Das erfreut sich vor allem bei jungen GroßstädterInnen, die kein eigenes Auto besitzen, zunehmender Beliebtheit. Nach der Registrierung bei einem Angebot – etwa Car2Go oder Zipcar – haben KundInnen die Möglichkeit, via App oder auf einer Website ein Auto in ihrer Nähe zu suchen, es mittels KundInnenkarte zu öffnen, damit von A nach B zu fahren und es dann an einem beliebigen Parkplatz wieder abzustellen.

Es gibt kaum noch Güter, die weiter als ein paar Mausklicks entfernt sind. Wer bei IKEA erfolgreich eingekauft hat, kann über Apps wie (das mittlerweile stillgelegte) Why Own It oder usetwice.at herausfinden, wer in der Nähe beispielsweise über eine Bohrmaschine verfügt. Ähnlich funktioniert das System im Bereich der Mode. Auf der Onlineplattform kleiderkreisel.at kann Kleidung gekauft, verkauft und getauscht werden. Wer auf der Suche nach einem exklusiven Stück ist, kann sich auf pretalouer.de DesignerInnenkleidung leihen statt kaufen. Und wollte man früher einen ganz bestimmten Song hören oder Film sehen, musste man eine CD oder eine DVD besitzen. Heute kann auf Musikdienste wie Spotify, Napster oder Simfy oder Streamingdienste wie Netflix, Amazon Prime Instant Video oder Snap by Sky zurückgegriffen werden.

Illustration: Ulrike Krawagna

MEHR TEILEN, MEHR KONSUM. Bei diesen alternativen Konsumformen spielen praktische Aspekte wie Preis, Verfügbarkeit und Qualität eine große Rolle. Laut einer repräsentativen Umfrage der Leuphana Universität Lüneburg, ist Nachhaltigkeit für KonsumentInnen ein wichtiger Faktor. Die Verbindung von gemeinschaftlichem Konsum mit dem Umweltgedanken sind ein naheliegender, da durch Mitbenutzung der Besitz und somit auch die zusätzliche Produktion eines Gutes nicht mehr notwendig ist. Das Problem dabei ist: Insgesamt weniger konsumiert wird nur, wenn privater Konsum durch gemeinschaftliche Nutzung ersetzt wird. Was aber, wenn durch die Angebote der Shareconomy neue Konsumwünsche geschaffen werden? Dass dies der Fall ist, vermutet auch Brigitte Kratzwald, Sozialwissenschaftlerin und Vertreterin der Commons-Bewegung, die das Ziel verfolgt, vorhandene Ressourcen gemeinschaftlich zu nutzen: „Das Konsumdenken der Menschen entwickelt sich in der Shareconomy nur in eine andere Richtung. Sie erkennen, dass sie durch diese alternative Konsumform noch mehr haben können als bisher. Durch Carsharing können sie dann jede Woche mit einem anderen Auto fahren und auf der Kleiderbörse können sie sich jede Woche etwas Neues zum Anziehen ausleihen.“ Carsharing-Angebote werden in großen Städten auch oft anstelle von öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxis benutzt. Als Alternative zum privaten Auto oder Taxi nützt Carsharing der Umwelt – wird jedoch die Bahn dadurch ersetzt, ist der Effekt auf die Umwelt negativ. Trotz dieser Vorbehalte scheinen hier die positiven Effekte auf die Umwelt jedoch zu überwiegen, wie eine Studie des Wuppertal Instituts bilanziert: Durch die oft sehr kleinen Mietwagen ist der Schadstoffausstoß niedriger als bei den meisten privaten Autos.

Dass Besitz und Eigentum zunehmend an Bedeutung verlieren werden, vermutete der Ökonom Jeremy Rifkin bereits um die Jahrtausendwende. Damals prognostizierte er, dass das Internet die Bedürfnisse einer Gesellschaft verändern werde. Der Wohlstand der Menschen werde nicht mehr ausschließlich über die Summe der Besitztümer gemessen. Er prophezeite, dass „die Ära des Eigentums zu Ende geht und das Zeitalter des Zugangs beginnt“. Besonders für junge Menschen ist es heute tatsächlich nicht mehr in dem Maße erstrebenswert, ein eigenes Auto oder Haus zu besitzen, wie das noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Sowohl die Babyboomer-Generation als auch die sogenannte Generation X sind Generationen, die auf Statussymbole – wie etwa Auto, Boot und Haus mit Garten – Wert legen. Für die Generation Y haben materielle Privilegien keinen so hohen Stellenwert mehr – stattdessen zählen Freiheit, Flexibilität und Freizeit zu ihren wichtigsten Werten, wie einige Studien, etwa von Deloitte oder TNS, zeigen. Das liegt vor allem daran, dass sich die Lebensrealitäten geändert haben. Heute leben Menschen nicht mehr von Geburt an am selben Ort und verbleiben bis zur Pension im selben Job. Wer häufig den Wohnort oder den Job wechselt, kann Besitz und Eigentum auch als Belastung empfinden. Auf die Annehmlichkeiten, die Besitz mit sich bringt, möchten viele Menschen dennoch nicht verzichten. Daher lautet ihr Credo: möglichst wenig Besitztümer anhäufen, die wir nicht ständig brauchen, und möglichst einfachen Zugriff auf Dinge, wenn wir sie brauchen.

Illustration: Ulrike Krawagna

RECHTLICHE GRAUZONEN. „Mein ist auch dein“ – so lautet die Kernbotschaft der Shareconomy. Das Prinzip wirkt auf den ersten Blick altruistisch, nachhaltig und sozial. BefürworterInnen sprechen von einem gemeinschaftsorientierten und ressourcenschonenden Lebensstil. Das scheint auch Matzlers Studie zu bestätigen: Er fand heraus, dass der Gemeinschaftsgedanke (75 Prozent), der Umweltgedanke (61 Prozent) und das Sparen (65 Prozent) zu den persönlichen Hauptmotiven für das Mieten, Leihen und Teilen zählen. KritikerInnen haben eine andere Sichtweise auf die Shareconomy: Die wenigsten AnhängerInnen seien daran interessiert, die Welt zu retten, und ein Ende der Konsumgesellschaft sei keineswegs in Sicht. „Ich sehe an der Shareconomy die Gefahr, dass noch mehr Dinge zur Ware und immer mehr Lebensbereiche über Geld geregelt werden. Früher habe ich ein freies Zimmer kostenlos aus Gastfreundschaft angeboten. Und heute vermiete ich es lieber auf Airbnb, um damit Geld zu verdienen“, so Brigitte Kratzwald. Vor allem aufgrund der Digitalisierung entwickeln sich zunehmend kommerzielle Formen des Teilens, die dem klassischen Kapitalismus Tür und Tor öffnen und in fast jeden Lebensbereich vordringen. Bei genauerem Hinsehen ist aus der Shareconomy ein Milliardengeschäft geworden: Mit einem geschätzten Wert von 10 Milliarden US-Dollar spielt Airbnb in der gleichen Liga wie große Hotel-Ketten.

Für die KonsumentInnen geht die billige und schnelle Verfügbarkeit von Konsumgütern außerdem oft mit dem Verlust von Sicherheiten einher. Traditionelle DienstleisterInnen haben Auflagen einzuhalten: Hotels müssen Notausgänge, Feuerlöscher und Stornomöglichkeiten haben, Taxiunternehmen müssen Technik- und Gesundheitsüberprüfungen über sich ergehen lassen. Diese Bedingungen fallen bei den Sharing-Angeboten größtenteils weg. Die Konsequenz sind weniger Kosten für die AnbieterInnen und geringere Sicherheitsstandards für die KonsumentInnen. Deshalb verfolgen KonsumentInnenschützerInnen wie Nina Tröger von der Arbeiterkammer Wien das Thema genau: „Prinzipiell gilt bei Angeboten von Privatpersonen zu Privatpersonen das Konsumentenschutzgesetz nicht – außer wenn ein Unternehmen zwischengeschalten ist, mit dem ein Vertrag eingegangen wird“, so Tröger. Auch wenn je nach Angebot unterschieden werden muss, gibt es bei Mitbenutzungen oft dieselben Probleme. „Wenn beispielsweise ein Schaden an dem geteilten Gut festgestellt wird – sei es Auto oder Zimmer –, kann es zu Streitigkeiten über Haftung und Schadenshöhe kommen.“ Diese Probleme dürften den meisten KonsumentInnen aber bewusst sein – in der Arbeiterkammer treffen diesbezüglich nur wenige Beschwerden ein.

Auch für AnbieterInnen gibt es zwei Seiten der Medaille. Wenn man sich einen Nebenverdienst erwirtschaften will, ist Uber mit flexiblen Arbeitszeiten und maximaler Selbstbestimmung eine gute Sache – denn FahrerInnen sind nicht angestellt, sondern selbständig. Bietet man seine Arbeitskraft auf einer dieser Plattformen an, bleibt man aber bei Leistungen wie Mindestlohn, Sozialversicherung oder Krankengeld auf der Strecke.

Illustration: Ulrike Krawagna

Während die Ambivalenz für die direkt involvierten Personen offensichtlich ist, ist dieses Geschäftsmodell für die Unternehmen zweifelsohne profitabel. Sie streichen alleine für die Vermittlung Provisionen und Gebühren ein, während die Risiken zum Großteil bei den AnbieterInnen und KonsumentInnen liegen. Auffällig ist, dass sich in den meisten erfolgreichen Sparten große AnbieterInnen einen großen Teil des Marktsegments sichern. Die werden dann zum Selbstläufer: Je mehr Menschen eine App oder Website nutzen, desto besser funktioniert das Angebot.

Diese boomenden Onlineplattformen sorgen aber auf Seiten der Konkurrenz und des Staates nicht gerade für Begeisterungsstürme. Vergangenes Jahr protestierten europäische TaxifahrerInnen gegen Uber, da sie ihren Berufsstand durch die unregulierten Angebote angegriffen sahen. Aber auch staatliche Institutionen reagierten zunächst mit einiger Härte. Das Finanzamt kann viel schwerer überwachen, ob Taxifahrten oder Wohnungen gewerbsmäßig vermittelt werden, da die neuen AnbieterInnen Privatpersonen sind. Einnahmen aus diesen Tätigkeiten müssten zwar versteuert werden, de facto stößt man hier aber an rechtliche Grauzonen und Grenzen der Kontrollierbarkeit. Steuereinbußen werden genauso befürchtet wie Schäden an etablierten Wirtschaftszweigen.

WHAT WOULD MARX DO? Die Zeitung Chronicle hat erhoben, dass in San Francisco zwei Drittel der Angebote auf Airbnb ganze Apartments oder Häuser sind. Das lässt erahnen, wie weit sich dieser Dienst mittlerweile von den Anfängen des Couchsurfens entfernt hat. Während bei Couchsurfing Gästezimmer kostenlos zur Verfügung gestellt wurden und die Interaktion und Vernetzung mit den GästInnen im Vordergrund stand, ist bei der Zimmervermietung der kommerzielle Trend mittlerweile ausschlaggebend – es geht ums Geldmachen durch optimale Nutzung von Wohnbereichen durch kurzfristige Vermietungen.

Der Anteil an langfristig vermieteten Wohnungen und Häusern ist mit drei Prozent zwar relativ gering, jedoch zeigt er ein Problem auf: Während in vielen Städten Mietpreisregulierungen gang und gäbe sind, um leistbares Wohnen sicherzustellen, können diese Regulierungsmaßnahmen durch langfristige Vermietungen über Internetportale wie Airbnb umgangen werden. Ob durch die zusätzliche Verknappung von Wohnraum durch kurzfristige Vermietungen die Mietpreise tatsächlich steigen, ist nicht geklärt – wissenschaftliche Studien dazu sind rar.

Jedenfalls steht die Shareconomy wohl nicht an der vordersten Front einer wirtschaftlichen Revolution. Obwohl viele Seiten von der aufkeimenden Wirtschaft des Teilens profitieren, ist sie tief eingebettet in eine kapitalistische Gesellschaft. Kommerzielle Platzhirsche schlagen Profit durch die Schaffung von neuen, unregulierten Märkten. Neue Bedürfnisse und Formen ihrer Befriedigung werden geschaffen und bringen eine Heerschar prekarisierter Arbeitskräfte mit sich.

 

Sandra Schieder studiert Journalismus und PR an der FH JOANNEUM Graz. 
Philipp Poyntner studiert Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien.

 

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