März 2015

Kein Asyl ohne Erektion

  • 25.03.2015, 18:42

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

LGBTI-Personen begegnen im Zuge ihres Asylverfahrens Klischees, Stereotypen und verschiedenste Grenzüberschreitungen.  Der Mord an der Türkin Hande Öncü, die vor Gewalt gegen Trans*Frauen und Sexarbeiter*innen nach Österreich geflüchtet ist, ist ein Beispiel dafür, dass die Gewalt an LGBTI-Flüchtlingen in Österreich leider weitergeht.

MISGENDERN IST GEWALT. Ein anderer bekannter Fall spielte sich 2011 ab: Die Trans*Frau Yasar Ö. wurde in der Türkei aufgrund ihrer Transsexualität mehrmals verprügelt, ihre Familie setzte einen Mörder auf sie an. Ihr Asylantrag in Österreich wurde trotzdem abgelehnt. Der Grund: Sie wurde von den Asylbehörden nicht als Trans*Frau, sondern als homosexueller Mann, dem keine Verfolgung in der Türkei drohe, behandelt.

„Klare Themenverfehlung“, fasst Judith Ruderstaller das Urteil zusammen. Sie war damals beim Verein Asyl in Not tätig und betreute Yasars Fall. Nachdem NGOs wie Asyl in Not oder transX die Sachlage klarstellten, konnte das Urteil doch noch aufgehoben werden. Yasar wurde aus der Schubhaft entlassen und ein neues Verfahren wurde eingeleitet. Für Judith Ruderstaller war der Fall ein Wendepunkt, was den Umgang der österreichischen Asylbehörden mit LGBTI-Flüchtlingen betrifft: „Durch diesen Fall ist sehr viel Sensibilisierung reingekommen.“ Generell habe sich in den letzten fünf Jahren vieles verbessert: „2010 habe ich die Judikatur in Österreich im Bezug auf LGBTI-FLüchtlinge analysiert. Ich habe viele Asylbescheide gelesen und das waren grauenhafte Interviews, voller Stereotypen, die auch in intime Details der Sexualität hineinreichten“, erinnert sich Ruderstaller, die heute bei der Organisation Helping Hands Rechtsberatung zum Thema Fremdenrecht anbietet. Von Schulungen für Betreuer_innen, Dolmetscher_innen oder Richter_innen war damals noch keine Rede. Die Probleme, mit denen LGBTI-Flüchtlinge sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in Österreich konfrontiert waren, konnten daher nur selten miteinbezogen werden.

BLUTFLUSSFRAGEN. Eine 2013 erlassene EU-Richtlinie sieht nun vor, dass Menschen, denen eine Haftstrafe aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung droht, Anspruch auf Asyl haben. In Österreich wurde die EU-Richtlinie noch nicht im staatlichen Gesetz verankert. Hier werden LGBTI-Flüchtlinge zur Kategorie der „sozialen Gruppe“ gezählt. Asylgrund besteht also dann, wenn eine „Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ gegeben ist. Zu einer sozialen Gruppe zählen all jene Menschen, denen von der Gesellschaft in ihrem Heimatland ein gemeinsames Merkmal zugewiesen wird. Damit der Asylantrag positiv ausfällt, muss die Verfolgung jedoch eine gewisse „Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten. Was das konkret bedeutet, ist Interpretationssache.

Die Personen müssen den Behörden glaubwürdig machen, dass sie homo-, bi-, trans- oder intersexuell sind. Im Bezug auf die Glaubwürdigkeit treten laut Ewa Dziedzic, Gründerin des Vereins MiGay, jedoch Probleme auf: „Wenn Menschen auf Grund einer Bedrohung flüchten, fällt ihnen in Europa nicht als erstes ein, über ihre Diskriminierungskategorie zu sprechen. Sie können auch zum Teil gar nicht wissen, wie hier mit diesem Thema umgegangen wird.“ Und doch: Über den Fluchtgrund mit geschultem und sensiblem Personal zu sprechen, ist ein weniger gewaltvolles und diskriminierendes Instrument als sogenannte „sexualpsychologische Gutachten.“ Zu diesen gehören die Forderung nach visuellen Beweisen intimer Handlungen oder wie bis vor kurzem in Tschechien noch üblich, phallometrische Messungen ebenso dazu wie indiskrete Fragen über das sexuelle Leben der Flüchtlinge. Gefragt wird zum Beispiel nach Sexstellungen bei gleichgeschlechtlichem Sex, der sexuellen Aktivität und der Anzahl der Partner_innen. Dass all diese „Gutachten“ nicht nur wissenschaftlich fragwürdig sind, sondern vor allem die Menschenwürde verletzen, stellte Anfang Dezember 2014 auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest.

SENSIBILITÄT. Trotz der Gewalterfahrungen, die Flüchtlinge aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemacht haben, muss wohl über diese Zugehörigkeit gesprochen werden. Denn es gibt kaum andere Instrumente, Fluchtgründe und ihre „Rechtfertigung“ zu ermitteln, als die eines sensiblen Nachfragens. Vereinzelt findet in Österreich noch ein anderes Instrument bereits Anwendung, so Ewa Dziedzic: „Was wir in Österreich auf NGO-Ebene machen, ist den Beweis dadurch zu erbringen, dass wir  den Behörden klarmachen, dass die betroffene Person in der LGBTI-Community aktiv ist. Insofern haben wir hier ein verstärkendes Instrument aus der Zivilgesellschaft.“

Auch wenn die Dolmetscher_innen, Berater_innen und Richter_innen schon etwas sensibler mit dem Thema umgehen als früher, gibt es immer wieder homo- und transphobe Situationen. So erzählt Ruderstaller von einem Gespräch zu einem Asylantrag: „Einmal hat sich ein Klient von einem Dolmetscher verletzt gefühlt. Auch die Vertrauensperson, die dabei war, empfand die Atmosphäre in dem Gespräch als homophob.“ Aufholbedarf sieht Ruderstaller auch bei der Judikatur. LGBTI-Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern zwar nicht mit harten Strafen rechnen müssen, denen es aber unmöglich gemacht wird, ihr Privat- bzw. Familienleben öffentlich auszuüben, haben auch heute noch eher schlechte Chancen auf einen positiven Asylbescheid: „Da sollten die Asylbehörden sensibler werden“, wünscht sich Ruderstaller: „Man sollte das Privatleben überhaupt nicht verbergen müssen, weil man sonst in der Persönlichkeit stark eingeschränkt wird. Das sollten die Asylbehörden gerade bei Ländern, in denen etwa Homosexualität ein Tabu ist, auch einsehen und Asyl gewähren.“

 

Valentine Auer ist freiberufliche Journalistin und studiert Theater-, Film- und Medientheorie an der Universität Wien.

Achtung, Triggerwarnung!

  • 25.03.2015, 18:40

Ein Foto, eine Filmszene, eine Phrase – sogenannte „Trigger“ können an traumatisierende Erlebnisse erinnern. Die psychischen Auslösereize beeinträchtigen den Alltag von Betroffenen ungemein.

Ein Foto, eine Filmszene, eine Phrase – sogenannte „Trigger“ können an traumatisierende Erlebnisse erinnern. Die psychischen Auslösereize beeinträchtigen den Alltag von Betroffenen ungemein.

„Für mich kann es nur eine Handbewegung sein, manchmal auch nur eine bestimmte Betonung eines Wortes“, erklärt Katharina Wilder, die in Wirklichkeit anders heißt. Mit 18 geriet sie in eine gewaltvolle Beziehung. Noch heute erlebt sie Flashbacks zu übergriffigen Situationen mit ihrem ehemaligen Partner. Grund dafür sind meist Auslösereize, sogenannte „Trigger“. Völlig unerwartet werden durch äußere Eindrücke Erinnerungen wach, die sie in Panik versetzen. „Ich fühle mich wieder in die Situation hineinversetzt, fange an zu schwitzen und bekomme einfach nur tierische Angst.“

HERZRASEN. Was ein Trigger sein kann und wie er sich äußert, ist individuell verschieden. Dadurch, dass es manchmal auch nur Daten oder Namen sein können, kann es zu Unverständnis von Seiten Außenstehender kommen. „Viele können nicht nachvollziehen, was da in mir passiert. Ich muss meine Freund_innen aktiv auf meinen Zustand aufmerksam machen. Es mag wie eine Kleinigkeit wirken, aber für mich kann ein Trigger echt den ganzen Tag zerstören.“ Trigger stehen häufig im Zusammenhang mit erlebter seelischer und/oder körperlicher Gewalt. Oft sind sie Teil einer posttraumatischen Belastungsstörung, weswegen sich Symptome überschneiden können. Laut der Internationalen Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen (ICD) lösen Trigger in der Regel Schweißausbrüche, Schwindel und Herzrasen aus. Brigitte Lueger-Schuster vom Institut für Angewandte Psychologie der Universität Wien erklärt: „In der Regel sind solche Erinnerungen an Gewalterfahrungen sehr belastend. In der Psychologie nennt man Flashbacks, das Wiedererleben von Situationen sowie dadurch entstehende Albträume Intrusion.” Nicht umsonst bedeutet das Wort Intrusion auch Eindringen oder Eingreifen. Ein großes Problem bei Triggern ist nämlich die Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit. Auch wenn Trigger Betroffenen bereits bekannt sind, so ist es nicht immer möglich, diese im Alltag zu vermeiden.

KONTROLLVERLUST. Gerade die Bilderflut im Internet spielt hierbei eine große Rolle. Gewaltvolle Darstellungen werden auf Netzwerken wie Facebook, Tumblr und Twitter verbreitet. Ob diese nun tatsächlich einer realen Situation entstammen, wie Kriegsberichterstattung oder Chronik-Schlagzeilen, oder fiktiv sind, wie eine Filmszene oder ein Musikvideo, ist für die getriggerte Person oft irrelevant. Daher kann eventuell der Konsum jeglicher Medien – auch von Literatur, Serien oder Filmen – eingeschränkt sein. Während manche Serien wie etwa Game of Thrones für ihre exzessive (sexualisierte) Gewalt bekannt sind, bergen auch vermeintlich „harmlose“ Formate wie Sitcoms Andeutungen oder Referenzen auf Gewaltsituationen. Vorwarnungen gibt es hierbei nicht.

Im Internet gibt es hingegen seit einigen Jahren den Trend zu Warnungen. Ihren Ursprung haben sie in Beiträgen in Selbsthilfeforen, wo Opfer (sexueller) Gewalt einander damit auf potenzielle Stressreaktionen hinweisen. Potenziell verstörende Inhalte werden durch ein „TW“ oder „CW“ (für trigger oder content warning, also Inhaltswarnung) eingeleitet. Wie es dann weitergeht, entscheiden die Nutzer_innen: Sie wägen nun selbst ab, ob sie trotzdem draufklicken und weiterlesen wollen.

MEDIENVERANTWORTUNG. „Es gibt so viele offensichtliche Trigger, etwa wenn es um glorifizierte Gewalt geht. Es würde definitiv mein Surfen im Internet erleichtern, wenn gerade gewaltvolle Bilder mit einer Warnung versehen wären. Viele Nachrichtenstationen machen das ja auch, das hilft sehr“, sagt Katharina. In visuellen Medien wie Film und Fernsehen ist es bereits üblich, vor Gewalt zu warnen. Gerade im US-amerikanischen TV wird vor jeder Sendung ein Hinweis auf mögliche problematische Inhalte eingeblendet – das könnte allerdings mehr mit einer konservativen Medienpolitik als mit Rücksicht auf Betroffene zu tun haben. Auch in einigen europäischen Ländern, wie etwa Estland, werden solche Informationen vorab gesendet. Gerade im Rahmen der Altersfreigaben wäre es bei visuellen Medien ein Leichtes, Warnungen auszusprechen. In Österreich sind Jugendfreigaben im Fernsehen gezeichnet, oft mit einem Ausrufezeichen oder einem ähnlichen Symbol neben dem Senderlogo. Das gilt aber nicht für Nachrichtensendungen.

„Alleine, dass sie für einige Menschen so notwendig sind, legitimiert meiner Meinung nach absolut ihre Existenz“, sagt Bloggerin Malaika Bunzenthal (malifuror.blog-space.eu). Sie selbst fühlt sich dadurch nicht in ihrer journalistischen Arbeit eingeschränkt. Doch viele Autor_innen und Filmemacher_innen arbeiten gerade mit Überraschungen und Schockmomenten, nutzen das Entsetzen der Zuschauer_innen und bauen darauf ihr kreatives Konstrukt auf. „Auch im Journalismus wird oft mit emotionaler Berichterstattung und Effekthascherei gearbeitet”, kritisiert Lueger-Schuster. „Das Totschlagargument der Medien ist immer, dass sie eben die Emotionen brauchen, um Leute aufzurütteln und überhaupt zum Lesen zu bringen.”

Die Verwendung von Trigger- und Inhaltswarnungen wird aber auch jenseits der Sensationsgeilheit kritisch diskutiert: Eingebracht wird etwa, dass eine inflationäre Verwendung die Sinnhaftigkeit von Warnungen mindern könnte. Weiters ist es nicht möglich, allen Dinge, die potenzielle Leser*innen triggern könnten, zu kennen. Schlussendlich meinen einige, die Konzentration auf individuelle Trigger würde gesellschaftliche Macht- und Unterdrückungsstrukturen individualisieren und damit die Systematiken dahiner verschleiern.

 

Gabriela Kielhorn studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Orientalistik an der Universität Wien.

Me, my selfie and I

  • 25.03.2015, 18:37

Viraler Netztrend und Kunstgenre: Selfies sind präsenter denn je. Und politischer als erwartet.

Viraler Netztrend und Kunstgenre: Selfies sind präsenter denn je. Und politischer als erwartet.

Das Selbstbildnis ist kein Phänomen des Internetzeitalters. Schon in der Antike dokumentierten Künstler_innen ihre eigene Existenz durch Zeichnungen, Skulpturen oder Fotografien. Sei es die feministische und kommunistische Malerin Frida Kahlo oder die bis nach ihrem Tod unentdeckte Straßenfotografin Vivian Maier: Weltweit reißen sich Museen um ihre anspruchsvollen und spannenden Werke. Von weißen Typen wie Vincent van Gogh möchte ich gar nicht erst anfangen. Subjekt und Objekt zugleich, ein Spiegel des Selbst. Das sind die künstlerischen Funktionen von Selbstportraits – oder wie sie heute genannt werden: Selfies.

POLITISCHES SELBSTPORTRAIT. Die Produktion von Selbstportraits ist eine politische Intervention, die häufig unverstanden bleibt. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Gewalt gestützt wird: Das Patriarchat, Hetero- und Cisnormativität, rassistische und klassistische Strukturen und eine eurozentrische Erzählweise von Geschichte und Geschehen prägen sie. Was wiedergegeben wird, ist stark gefiltert, privilegierte Stimmen werden verstärkt. Die Lebensrealitäten marginalisierter Personen werden so schon seit Jahrtausenden unsichtbar gemacht, ihre Überbleibsel vernichtet. Klingt scheiße, ist aber so. Aber so muss es nicht weitergehen. Dank technischem Fortschritt sind Milliarden von Menschen mit Kameras und Internetzugang dafür ausgestattet, sich in die Geschichtsschreibung einzumischen. Selfies stellen eine Gefahr für dieses auf Lügen basierende System dar, denn sie dokumentieren die Lebensrealitäten von Personen, die sonst nur durch Fremdzuschreibungen repräsentiert werden. Sie sind der Beweis dafür, dass diese Personen existierten und existieren.

Selfies erzeugen in vielfacher Hinsicht Macht. Zum einen durch die selbstbestimmte Repräsentation, zum anderen auch auf fototheoretischer Ebene. Wenn Roland Barthes die Fotografie mit dem Tod vergleicht – nicht zuletzt auch aufgrund der Sprachmetaphorik des Schießens eines Bildes, aber auch aufgrund des Einfrierens eines Moments –, dann sind Selbstportraits mit Suizid vergleichbar. Das Gefühl, über das Wie, Wann und Wo Kontrolle zu erlangen, bringt die sich selbst abbildende Person in eine Machtposition. Sowohl beim Suizid als auch beim Selfie wird den Akteur_innen Egoismus vorgeworfen. Pluspunkt des Selfies: wenig Destruktivität, optional viele schöne Filter.

AUFMERKSAMKEITSSCHREI MY ASS. Auf der Popkultur-Plattform jezebel.com entfachte Erin Gloria Ryan Ende 2013 die Debatte, ob Selfies nicht eher Produkte aufmerksamkeitshungriger Jugendlicher als Empowermentstrategien seien. Solche Aussagen sind Ausdruck privilegierter Positionen – das merkte auch der_die Blogger_in Loan Tran an: „What a lot of these articles don’t talk about is the way desirability are defined. Many of these articles leave out what selfies do and have done for people of color, queer and trans people, fat folks, disabled folks and all of us living at the intersections of those identities.“ Das vermeintliche Gieren nach Aufmerksamkeit verwechsle Ryan mit dem Bedürfnis nach Bestätigung innerhalb einer Community, in der eben nicht oberflächlich-lookistische Bemerkungen, sondern ermächtigendes Anerkennen und Sehen vorherrschen. Davon abgesehen ist es völlig legitim, in Eitelkeit und Selbstgefälligkeit zu versinken. Die Abwertung dieser Eigenschaften ist häufig sexistisch, denn in der Regel sind es Frauen*, deren Äußeres zwar immer überragend sein soll, aber bloß mit Bescheidenheit zur Schau zu stellen ist. Ganz nach dem Motto: „I’m sexy and I kind of know it but I’m just going to pretend that I don’t, otherwise everyone is going to mistake me for a shallow bitch.“ Das Tabu ist hier die Darstellung selbstbewusster Frauen* und entlarvt, dass diese Geisteshaltung scheitert, sobald Frauen*, queere Personen, People of Color, Schwarze Personen, disableisierte und dicke_fette Personen sich selbst lieben.

Klassisch sind auch klassistische Diskreditierungen von Selfies. Auf Twitter begegnete mir neulich ein Foto von einem T-Shirt mit der Aufschrift „Less selfies, more books“. Hä? Die Journalistin Ella Morton kommentierte ganz korrekt: „I think you mean ‚fewer selfies‘ there, champ. If you’re going to be a snob, do it properly.“

Woher die Dichotomie von Selfies vs. Büchern kommt, kann ich mir nicht erklären. Lesen Menschen, die gerne Selfies machen, etwa keine Bücher? Wer „book selfies“ googelt, wird unter den ersten Treffern auf eine ganz gewiefte Kandidatin stoßen: Kim Kardashian. Die schlägt nämlich beide Fliegen mit einer Klappe und veröffentlicht dieses Jahr ihr Buch „Selfish“, gefüllt mit nichts anderem als Selfies. Auf 352 Seiten. Und jetzt, Hater?

MACHT UND ERMÄCHTIGUNG. Nicht alle Menschen haben das Privileg, visuell auf eine positive und empowernde Art repräsentiert zu werden. Gerade marginalisierte Gruppen werden, wenn überhaupt, sehr stereotyp dargestellt. Vorbilder aus den Medien sind so vielfältig wie 356 Tage im Jahr Toastbrot: ziemlich weiß.

Die Devise heißt also: Do it yourselfie. Fotografiere dich selbst, verbreite dein Material über alle Kanäle, zeige der Welt, dass du existierst. Zeige deiner Community, dass du existierst. Zeige den beschissenen Reklamen, die dich immer wieder unsichtbar machen, dass du existierst. Auf diese Art können Menschen selbst bestimmen, auf welche Art sie repräsentiert sein möchten und entfliehen den diktierenden Blicken Privilegierter, zum Beispiel dem „Male Gaze“. Selfies können brechen, was Schönheitsnormen propagieren: Einerseits können sie zeigen, dass Menschen nicht normschön sein müssen, um schön zu sein. Andererseits illustrieren sie auch, dass Schönheit an sich nicht erstrebenswert ist. Nicht alles muss schön sein, um existieren zu dürfen oder um Akzeptanz und Respekt zu ernten. Wenn die Selbstliebe so groß ist, dass alle Hater beleidigt sind und sich bedroht fühlen, wurde alles richtig gemacht.

 

Hengameh Yaghoobifarah studierte Medienkulturwissenschaft an der Uni Freiburg und arbeitet als Online-Redakteurin beim Missy Magazine.

The internet is for hate

  • 25.03.2015, 17:59

Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.

Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.

Eine junge Frau wird bedroht und muss mehrmals umziehen. Jeden Tag, wenn sie ihre sozialen Netzwerke öffnet, findet sie immer neue, üble Beschimpfungen. Jede ihrer Äußerungen wird verfolgt, längst hat sie mehrmals die Telefonnummer gewechselt. Was für Die feministische Medienwissenschaftlerin Anita Sarkeesian oder die Spiele-Designerin Zoe Quinn nicht erst seit dem misyogynen Videospiel-Shitstorm „Gamergate“ (vgl. progress 4/2014) groteske Normalität darstellt, kann ohne Weiteres für uns alle Alltag werden.

STREUFEUER. Hassrede ist das öffentliche Hetzen gegen Einzelne oder Bevölkerungsgruppen, denen bestimmte Eigenschaften (zum Beispiel „lesbisch“) oder Zugehörigkeiten (zum Beispiel „jüdisch“) zugeschrieben werden. Im österreichischen Strafrecht erfüllt eine solche Tat den Strafbestand der Verhetzung (§ 283 StGB), wenn die Hassrede „für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar” ist. Eine solche liegt laut Rechtssprechung ab 150 Personen vor. Nirgends lässt sich eine solche Öffentlichkeit und Gleichgesinnte schneller finden als online. Das Gesetz wird durchaus auch gegen Online-Hetze angewendet, so wurde letztes Jahr beispielsweise eine niederösterreichische Pensionistin wegen verhetzender Facebook-Postings über Muslime und Roma zu verurteilt.

Umfang und Ausmaß von Hassrede im Internet lassen sich kaum abschätzen. Auf der „Hate Map“ wurden ein Jahr lang Beleidigungen und ihre Geo-Tags in den USA dokumentiert. In der verwendeten Stichprobe finden sich 150.000 Hasstweets. Dabei wurden nur zehn Begriffe näher untersucht. Sarkeesian allein dokumentierte auf ihrem Blog feministfrequency.com 150 Hasstweets, die sie in einer Woche erhielt.

ORGANISIERTE RATLOSIGKEIT. Im Umgang mit Täter_innen wie Betroffenen sind Gesellschaft und Konzerne ratlos. Die meisten sozialen Netzwerke verbitten sich Hassreden, scheitern aber daran, die eigenen Vorgaben durchzusetzen und auffällige Nutzer_innen auszuschließen. Bei schwammigen Nutzungsregeln darf viel interpretiert und lange gehasst werden. So verwässert zum Beispiel Facebook seine Nutzungsbedingungen, indem Drohungen als Humor ausgelegt werden dürfen: „Allerdings sind eindeutige humoristische oder satirische Versuche, die anderenfalls als mögliche Drohungen oder Angriffe verstanden werden können, zugelassen.“ Auch Youtube bzw. Google hat eher ein merkwürdiges Verständnis von Hassrede: „Der Grat zwischen dem, was als Hassrede bezeichnet werden kann und was nicht, ist schmal. Beachte, dass nicht jede Gemeinheit oder Beleidigung eine Hassrede ist“, heißt es in den FAQs. Die größeren Medien und Tageszeitungen beschäftigen sich dagegen professionell mit Communitymanagement und suchen nach Wegen mit Trollen, Hass und Drohungen umzugehen. So wird mit Accountpflicht, strengeren Moderationen, geleiteten Diskussionen oder Votingfunktionen für Kommentare experimentiert. Vor drastischen Schritten wie Ausschlüssen oder klarer Kante scheuen aber auch sie zurück.

Der laxe Umgang und die so ständig wachsende Masse an Hass im Netz lässt nach Meinung aussehen, was tatsächlich menschenverachtende Anstiftung ist. Wenn davon gesprochen wird, dass beispielsweise eine Satire, die Tabus kennt oder eine scharfe Gesetzgebung bei Hassrede die Meinungs- und Redefreiheit einschränken, wird ausgeblendet, dass Diskriminierung, Hass und Gewalt die Betroffenen längst massiv einschränken. Die deutsche Psychologin Dorothee Scholz arbeitet mit Jugendlichen zu Gewalt und sagt dazu: „Über Sprache wird ein Klima geschaffen, in dem die psychischen Hemmschwellen zur Gewaltausübung gegen bestimmte Personengruppen gesenkt sind. Gewalt gegen jene, die diesen Gruppen angehören, ist in Folge gesellschaftlich akzeptierter und ruft auch weniger Mitgefühl in der breiten Masse hervor.“

HASSPOESIE UND TROLLMÜLLHALDEN. Immer wieder verschwinden Websites, Blogs und Twitteraccounts, und Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Stimme zu erheben – weil sie das Gefühl haben, dem Hass nur noch entgegengschweigen zu können. Julia Schramm ist eine, die sowohl mit persönlichen Shitstorms als auch mit generalisierter Hassrede Erfahrungen machen musste. Seit 2012 sammelt sie diese auf ihrem Blog hassnachrichten.tumblr.com. Als Fachreferentin für Hate Speech informiert sie außerdem bei no-nazi.net über ihre Facetten. „Hate Speech ausgesetzt zu sein ist eine traumatisierende Erfahrung und sollte so behandelt werden. Konkret heißt das: Verstehen, dass eine Verletzung stattgefunden hat und Mitgefühl und Fürsorge sich selbst gegenüber aufbringen. Es heißt aber auch, die strukturelle Ungerechtigkeit, die Hate Speech ist, als solche zu akzeptieren und sich nicht daran aufzureiben. Dann lässt sich auch besser kämpfen. Ich bin froh, dass ich mich dazu entschieden habe, denn Hate Speech ist Gewalt und muss bekämpft werden.“

Da von den Betreiber_innen von Online-Communities kaum oder nur unzureichende Schritte gegen Angriffe oder notorische Menschenfeind_innen zu erwarten sind, wird von User_innen selbst zu Solidarität mit Betroffenen aufgerufen. Doch Hashtag-Ablasshandel allein, der Unterstützung mit Lippenbekenntnissen verwechselt, verbessert die Situation kaum länger als einen Moment. Es profitieren diejenigen, die ohnehin ein dichtes soziales Netz, Zugang zu Hilfe, eine große Reichweite oder eine bedeutsame Stimme haben.

Eine andere Strategie im Umgang mit dem Hass sind seine Dokumentation und das Schaffen einer Gegenöffentlichkeit: Viele zeigen die Angriffe in Blogs oder auf Tumblr, richten eigene Sektionen für Kommentare von Hassposter_innen, sogenannten Trollen, ein oder nehmen sich Zeit für satirische Antworten. Die Plattform hatr.org sammelt Trollkommentare von verschiedenen feministischen Blogs und will damit Werbeeinnahmen generieren. Andere bieten dem Hass sogar die ganz große Bühne: Bei „Hate Poetry“, einer antirassistischen Leseshow, tragen migrierte Journalist_innen zwischen Lachen und Weinen Kommentare und E-Mails vor.

All diese Maßnahmen können helfen, mit persönlichen Angriffen fertig zu werden, dem Hass den Nährboden entziehen können sie jedoch nicht. Denn Hassrede ist kein Netzphänomen, sondern dort bloß ein besonders gut dokumentiertes. Der vermeintliche Deckmantel der Anonymität, der nur das Schlechteste im Menschen hervorbringt, ist vielmehr ein Vorhang, der sich öffnet und aufzeigt, was ohnehin da ist: Eine Gesellschaft, die auf ihre diskriminierenden Strukturen lieber nicht verzichten möchte – das wird man wohl noch sagen dürfen…
 

 

Anne Pohl macht beruflich was mit Kommunikation und gründet nebenbei Onlineprojekte wie feminismus101.de oder herzteile.org.

Lesetipps und Links

In ihrer Broschüre „Geh sterben! – Umgang mit Hatespeech und Kommentaren im Internet“ informiert die Amadeu Antonio-Stiftung mit Betroffenenberichten, Tipps für Communitybetreibende, Erkennungsmerkmale und Infos über Strukturen hinter Hassreden.

International Legal Research Group on Online Hate Speech

Hatespeech-Toolbox der IG Kultur

150 Hasstweets

Hate Map

Satirische Antworten

Hate Poetry

Hört auf, so lange ihr noch könnt!

  • 25.03.2015, 17:46

Leistungsdruck, Versagensängste und prekäre Anstellungsverhältnisse: Zahlt es sich überhaupt noch aus, zu studieren? progress hat mit Studis gesprochen, die die Entscheidung für die Uni anzweifeln – aus guten Gründen.

Leistungsdruck, Versagensängste und prekäre Anstellungsverhältnisse: Zahlt es sich überhaupt noch aus, zu studieren? progress hat mit Studis gesprochen, die die Entscheidung für die Uni anzweifeln – aus guten Gründen.

Jung, erfolgreich und immer lächelnd. So werden Studierende auf den Webseiten von Universitäten, Fachhochschulen und Absolvent_innenvereinen gemeinhin dargestellt. Doch hinter den Kulissen spielen sich ganz andere Geschichten ab. Verbitterte Mienen und frustrierte Gesichter passen jedoch nicht in die Happy-Pepi-Welt der universitären PR-Abteilungen. „Hätte ich nicht studiert, hätte ich nicht drei Jahre meines Lebens weggeworfen“, resümiert Nina ihre akademische Laufbahn. Damit ist sie nicht alleine. Obwohl ihre Generation wohl die am besten ausgebildete, die internationalste und vielsprachigste ist, die jemals nach Hörsaal und Praktikum an die Pforten der Arbeitswelt geklopft hat, gibt es jene, die es bereuen, ein Studium begonnen oder auch absolviert zu haben. Unsere Gesprächspartner_innen, die von enttäuschten Erwartungen und Zukunftsängsten berichten, wollten anonym bleiben – für die Selbstdarstellung am Arbeitsmarkt sind ihre Geschichten wohl nicht förderlich. Wir haben im Folgenden daher alle Namen geändert.

WEGGEWORFENE ZEIT. Für Nina waren die drei Jahre, die sie studiert hat, schlichtweg weggeworfene Zeit. Ihre pädagogische Ausbildung musste sie kurz vor dem Abschluss aufgrund von Differenzen mit ihrem neuen Praxis-Betreuer abbrechen. „Er war der Meinung, es sei grob fahrlässig, mir einen Abschluss zu geben. Ich hätte die Praxis zwar wiederholen können, doch er versicherte mir, dass er mich nie durchlassen würde. Das Studieren ist für mich endgültig gestorben.“

Evas Lehramtsstudium war noch während der Studieneingangsphase zu Ende. Bereits am ersten Tag hatte sie ihre Entscheidung bereut. In kaum einer Vorlesung bekam sie einen Sitzplatz und wenn sie mal eine Vorlesung verpasste, hieß es von den Kolleg_innen nur: Pech gehabt! „Niemand wollte mir helfen, da jede_r froh war, wenn einmal die Hälfte fliegt und endlich jede_r einen Sitzplatz hat.“ Die Entscheidung, mit dem Studium aufzuhören, wurde ihr dann ohnehin abgenommen: Ein zweimaliges Durchfallen in der Pädagogik-Vorlesung mündete in einer lebenslänglichen Sperre für alle Lehramtsstudien. Auf Umwegen wurde Eva schlussendlich auf einem Kolleg für Sozialpädagogik glücklich.

Lucia bereut es, mit ihrem Studium an der Universität für Bodenkultur überhaupt begonnen zu haben. Der intellektuelle Anspruch gehe gegen Null: „Prüfungen bestehen in meinem Studium zu fünfzig Prozent aus stupidem Auswendiglernen des Skriptums, zu vierzig Prozent aus stupidem Reinsaugen eines Fragenkataloges und nur für die restlichen zehn Prozent muss mensch sich vielleicht wirklich ein paar eigene Gedanken machen. Das ist für mich allerdings keine Art, ein Studium zu absolvieren.“

Multiple-Choice-Tests, Knock-Out-Prüfungen, schlechte Betreuungsverhältnisse und eine unreflektierte Auseinandersetzung mit dem Stoff sind gängige Praxis. Viele Studienanfänger_innen bringen allerdings eine gänzlich andere Erwartungshaltung mit. Auch Eltern, ältere Geschwister, Bekannte und Lehrer_innen haben in vielen Fällen wenig Ahnung von der heutigen Studienarchitektur und den, mit Verlaub, oftmals beschissenen Studienbedingungen.

GEH AUF DIE UNI, HAM’S G’SAGT. Anna meint zurückblickend, sie hätte sehr glücklich werden können, wenn sie mit 16 eine Ausbildung zur Floristin gemacht hätte. Bezüglich ihrer abgebrochenen Ausbildung an einer Kunstuniversität berichtet sie von Zuständen, die einem Bootcamp ähneln, von Professor_innen, die Studis demütigen und Auseinandersetzungen, die oft in Tränen endeten. „Für mich und meine Familie war es jedoch undenkbar, etwas anderes als Matura zu machen und anschließend zu studieren.“

Annas Erzählung erinnert stark an eine Studie von Gabriele Theling aus den 80ern, die sich unter dem Titel „Vielleicht wär’ ich als Verkäuferin glücklicher geworden“ den schwierigen Bedingungen für Studentinnen aus Arbeiter_innenfamilien widmete. Die soziale Selektivität des österreichischen Bildungssystems ist bis heute von ungebrochener Aktualität, denn Bildung wird nach wie vor vererbt. Laut der aktuellen Statistik-Austria-Publikation „Bildung in Zahlen“ erreichen mehr als die Hälfte der 25- bis 44-Jährigen aus Haushalten, in denen ein Elternteil über einen akademischen Abschluss verfügt, ebenso einen solchen Abschluss. Unter Personen aus bildungsfernen Haushalten hingegen (mit Eltern, deren höchster Abschluss die Pflichtschule ist) erreichen nur etwa 6 Prozent einen akademischen Abschluss. Während es bei den einen um die Finanzierung des nächsten Urlaubes geht, geht es bei anderen um die Finanzierung des vollen Kühlschrankes.

Steht auf der einen Seite die Unmöglichkeit oder Unvorstellbarkeit zu studieren und in eine fremde Welt einzutauchen, so sprechen andere Geschichten die Kehrseite der Medaille an. Aus der Chance zu studieren wird die Erwartung zu studieren, beziehungsweise wird das Studium zur vermeintlich einzigen Option für eine erfolgreiche Lebensgestaltung. Die jetzige BOKU-Studentin Lucia erinnert sich an die Worte ihres Gymnasiallehrers zurück: Fachhochschulen seien für Menschen, die nicht selbst denken wollten, die es einfach haben wollten. Natürlich könne man diesen einfachen Weg gehen, wenn man sich einem „echten“ Studium nicht gewachsen fühle. 

Vor allem abseits der Ballungszentren mit vielen Wahlmöglichkeiten erscheinen die Bildungswege für viele Kinder aus Familien mit dem entsprechenden sozialen und finanziellen Hintergrund vorgefertigt. „Volksschule, Gymnasium und Matura. Was nun? Nach einem Abschluss am Gymnasium muss mensch ja studieren, um überhaupt Chancen am Arbeitsmarkt zu haben“, beschreibt Lucia ihre Entscheidung, an der Uni zu inskribieren.

Am vermeintlich vorbestimmten Weg kommt jedoch häufig eine gewisse Orientierungslosigkeit auf. Peter berichtet, nach einigen Jahren Berufstätigkeit eigentlich aus Langeweile sein Kunstgeschichte-Studium begonnen zu haben. Nach dem Bachelor entschied er sich, leider, wie er nun sagt, für den scheinbar einfachsten Weg und hing den Master dran. Auch weil ihm seine Eltern ständig im Ohr lagen und den Abschluss von ihm erwarteten – am besten mit Dissertation hinten nach.  

KRIEGST AN GUTEN JOB, HAM’S G’SAGT. Doch nicht nur schlechte Studienbedingungen oder die vermeintlich fehlende Alternative zum Studium bereiten Kopfzerbrechen. Amir machte sein Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft immer sehr gerne. Nebenbei schloss er auch noch in Politikwissenschaft ab. Von Anfang an wusste er genau, welche Inhalte er sich herausnehmen und was er damit machen will. Heute rät Amir jedoch dringend von geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern ab: „Wenn ich mir im Nachhinein ansehe, wie viel Aufwand ich für mein Studium betrieben habe und was ich jetzt davon habe – es rechnet sich einfach nicht.“ Während des Studiums lebte Amir unter schwierigen Bedingungen, kam gerade noch so über die Runden. Und nach dem Studium war er erst mal jahrelang auf Arbeitssuche. Mit jeder Absage nahm auch der seelische Druck zu. „Bin ich denn unbrauchbar? Was habe ich im Leben falsch gemacht? Je länger der ersehnte Erfolg ausbleibt, desto tiefer dreht sich die Spirale nach unten, desto belangloser wird das Leben.“ Sein Fazit: Im Nachhinein würde er sich in Jus, Medizin oder einem technischen Studium besser aufgehoben fühlen. Geistes- und Sozialwissenschaftler_innen würden in der Gesellschaft zu wenig honoriert und trotz ihrer Relevanz als „unbrauchbar“ abgestempelt.

Ein Problem, das auch Alina mit ihrem Medienwissenschafts- und Germanistikstudium nur zu gut kennt: „Es fällt mir zunehmend schwer, meinem Studium irgendeinen Wert zuzugestehen, wenn mir selbst von anderen Studierenden immer wieder gesagt wird, wie nutzlos es ist. Natürlich ist ein Studium nie umsonst und es hat mich bestimmt zu einem besseren Menschen gemacht, aber mit einer reflektierten Persönlichkeit kann man halt nicht die Miete zahlen.“ Daher rät sie ihren möglichen Nachfolger_innen: „Brecht euer Studium ab, bevor es zu spät ist! Wenn mensch noch nicht so lange wie ich drin ist, hat man noch die Möglichkeit, auszusteigen und doch noch eine Ausbildung anzufangen. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Ausbildung zur Köchin oder Gärtnerin mir sehr viel mehr Freude bereitet hätte.“

NO FUTURE UND WIE WEITER? Aus Angst und Verzweiflung hat Denise bereits Tränen vergossen. Freitagabends sitzt sie mit ihrem Laptop am Bauch an ihrer Masterarbeit für ihr Soziologiestudium. „Das Arbeitsleben betreffend habe ich Angst, dass mich niemand will, dass mich die Arbeit nicht glücklich machen wird, dass ich mir selbst nicht genug sein werde. Aber leider will es sich nicht in mein Hirn einbrennen, das sich mein Wert nicht durch meinen Arbeitswert bestimmt. Leider hab ich Angst davor, dass sich das nicht ändert, so arg dass ich nicht schlafen kann.“ 

Franz Oberlehner, Leiter der Psychologischen Beratungsstelle für Studierende in Wien, spricht bei solchen Fällen von der Studienabschlussproblematik: „Für manche kann es sehr schwierig sein abzuschließen, weil oft nicht klar ist, was einen danach erwartet. Dies kommt aber nicht nur bei geistes- und sozialwissenschaftlichen Studierenden vor. Selbst bei Medizin oder technischen Studien gibt es häufig Ängste vor dieser Schwelle. Das hat natürlich damit zu tun, dass der allgemeine Druck ständig größer wird“. Laut aktueller Studierenden-Sozialerhebung leidet fast ein Drittel der Studierenden unter Leistungsdruck und Versagensängsten, ein Fünftel unter Existenzängsten und depressiven Stimmungen. „Der Mythos vom studentischen Lotterleben war schon immer da und schon immer falsch. Aber die Studierenden internalisieren ihn mehr als früher. Sie kommen sich so vor, als würden sie nichts leisten“, so Oberlehner.

Auswege aus den unzähligen individuellen Krisen sind kaum zu formulieren. Sie alle sind Produkt einer Gratwanderung zwischen relativer Selbstbestimmung und dem Zurechtkommen in einer Gesellschaft, die sich zunehmend entlang ökonomischer Verwertbarkeit ausrichtet. Unter diesen Umständen eine Portion Selbstironie und Sarkasmus zu bewahren, fällt schwer. Die studierte Historikerin Stefanie Schmidt scheint jedoch genau darin ein Rezept gefunden zu haben, um mit der vermeintlich ausweglosen Situation klar zu kommen. In der taz schreibt sie in ihrer pointierten Abhandlung zum arbeitslosen Akademiker_innen-Dasein: „Nach 400 Bewerbungen jedenfalls weiß ich nicht mehr, wer oder was ich eigentlich bin oder sein will. Gestern Unternehmensberaterin, heute Sozialarbeiterin, morgen Feuerwehrmann? […] Das Resultat dieser Tortur ist, dass sich neben dem Ego noch zwei weitere entwickeln, von denen eines denkt, warum bist du damals nicht zur Fremdenlegion gegangen?“

 

Klemens Herzog studiert Journalismus und Neue Medien an der FH der Wirtschaftskammer Wien.

Gespenstische Gewalt

  • 23.03.2015, 21:35

Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.

Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.

progress: Die Berichterstattung rund um den Akademikerball (früher: WKR-Ball) ist meist stark auf die Gegenproteste fokussiert. Warum sind Burschenschaften und Rechtsextremismus nicht öfter Thema?

Michael Staudigl: Es gibt sehr wohl einen Diskurs, der das ganze Spektrum – von den Burschenschaften bis hin zu Rechtsextremismus – permanent reflektiert. Nachhaltige Präsenz in den Medien hat dieser aber nicht. Sichtbarkeit spielt aber eine Rolle. Die Frage dabei ist, ob es einen Zwang zur Sichtbarkeit gibt beziehungsweise inwiefern diese Zustände fast schon gewaltsam sichtbar gemacht werden müssen.

Ist es gerechtfertigt gegen strukturelle Gewalt, die auch Burschenschaften ausüben, gewaltsam zu protestieren?

Strukturelle Gewalt ist ein notorisch umstrittener Begriff, weil überhaupt nicht klar ist, was er bezeichnen soll. Es war für den sozialwissenschaftlichen Mainstream lange klar, dass unter Gewalt intendierte körperliche Verletzung zu verstehen ist. (Sprachwissenschaft und feministische Ansätze definieren meist jede Form von Zwang als Gewalt, Anm.) Vielleicht muss man zwischen „Gewalt“ und „gewaltsam“ unterscheiden. Der adjektivistische Gebrauch erscheint sinnvoller beziehungsweise treffsicherer. Man kann damit auch die ausschließenden Effekte von Strukturen und nicht nur direkte, angreifende Gewalt fassen. Er zeigt an, auf welche Art und Weise Gewalt in ein System eingebaut ist. Alles läuft darauf hinaus, dass man eine körperliche und eine diskursive Seite von Gewalt anerkennt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Burschenschaften strukturelle Gewalt verkörpern.

Von Anti-Akademikerball-Seite wurden die Proteste oft damit legitimiert, dass der Ball als Symbolbild für die Gewalt steht, die auf bestimmte Gruppen wie Migrant_innen oder Jüd_innen strukturell ausgeübt wird.

Es geht also darum, darauf hinzuweisen, dass es Gewaltverhältnisse gibt, die dafür verantwortlich sind, dass „andere“ ohne größere Probleme oder sozialen Widerstand zu Opfern werden können: von Übergriffen oder rassistischer Gewalt zum Beispiel. Burschenschaften und die Art und Weise, wie diese politisch mobilisieren und argumentieren, sind mitverantwortlich dafür, wie Menschen als „andere“ etikettiert werden. Man weiß, dass Menschen gegenüber bestimmten Personen indifferenter sind als gegenüber anderen, wenn diese beispielsweise in einem Park verprügelt werden. Vielleicht kann man hier von struktureller Gewalt sprechen, die gleichgültig macht und betäubt. Dann wären Burschenschaften ein exemplarischer Fall von Akteuren, die ein feindliches Klima mit ermöglichen.

Also Burschenschaften als Mitverantwortliche an Missständen und rassistischen Übergriffen?

Ja, genau. Es gibt zwei Dimensionen: Einerseits die Erzeugung eines Klimas, in dem gegenüber dem einen oder der anderen Indifferenz und Apathie herrschen. Andererseits führt die Legitimation von Gewalt auch darüber hinaus. Zu erklären, wie und wann sich der Übergang von einem Szenario, in dem Gleichgültigkeit vorherrscht, zu einem Szenario, wo wirklich Gewalt ausgeübt wird, vollzieht, ist schwierig. Es stellt sich die Frage: Wo, und vor allem wie wird Gewalt plötzlich eine Handlungsoption?

Gibt es jemals eine Rechtfertigung dafür, sich für Gewalt zu entscheiden?

Es gibt eine Form der Gewalt, die vollständig gerechtfertigt wird, auch im modernen Recht: die Notwehr. Es gibt aber auch, wenn wir Walter Benjamin folgen, die Unterscheidung zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt. Letztere ist seinen Worten zufolge „gespenstisch“, denn sie schafft sich die Ausnahmezustände, in denen sie gewaltsam reagieren darf, selbst – und zwar gesetzlich legitimiert.

Man sieht mittlerweile auch, dass Gewalt vielfach in das Funktionieren von Gesellschaften eingearbeitet ist, dass sie also nicht schlichtweg als das Andere von kulturellem Sinn und gesellschaftlicher Ordnung verstanden werden darf. Ein einseitiger Gewaltbegriff lässt sich also nicht mehr halten, oder vielleicht nur dann, wenn man juristisch von Sachverhalten auf Tatbestände schließen muss. Das heißt aber nicht, dass man damit ein umfassendes Bild hätte; das wissen auch die Juristen und Juristinnen.

Die große Frage ist: Wo findet sich der Ausnahmezustand, der die Notwehr begründen kann? Wie lässt er sich rechtfertigen? Er muss immer als eine Form der Bedrohung für die Ordnung verstanden werden. Und wenn man näher hinsieht, so finden sich immer Imaginationen von Unordnung, die der ideale Träger von Gewaltrechtfertigungen sind. Egal, ob man jetzt die „Reinheit des Volkskörpers“ verteidigt oder vom „Clash of Civilisations“ spricht. Klarerweise gelingt die Legitimierung nie vollständig, sie hat immer blinde Flecken. Ich kann sagen, Gewalt ist das letzte Mittel, das ich ergreifen kann. Ich kann auch sagen, ich ergreife Gewalt im Blick darauf, die Gewalt zu beenden.

Zum Beispiel beim Aufzeigen von Diskriminierung und Missständen?

Damit eröffnet man ein spannendes Fragefeld: Was sind unbedingte Ansprüche, ohne die sich ein Menschenleben nicht realisieren lässt – sozusagen die Minimalbedingungen eines lebbaren Lebens? Das ist eine Sache des Kampfes um Anerkennung. Inwiefern ich mit Gewalt darauf aufmerksam machen darf, dass ich – oder andere – zählen, ist eine heikle Angelegenheit. Da muss man gewisse praktische Sicherheiten einziehen.

Wäre es eine Form solcher praktischer Sicherheit, zwischen Gewalt an Menschen und Gewalt an Sachen zu unterscheiden?

Allerdings. Eine Demokratie ist genau der Ort, an dem auch die, die keine Stimme haben, vernehmbar gemacht werden können und müssen. Der originäre Ort für jene, die in den klassischen Foren nicht gehört werden, ist die Demonstration. Jemandem den Eintritt in den Diskurs zu verweigern ist die schlimmste Form von Gewalt. Da wird nicht unmittelbar und direkt verletzt, sondern man ist nicht einmal mehr der Verletzung wert. Darum geht es aber in der Politik: die, die nicht zählen, zählbar zu machen.

 

Vanessa Gaigg studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Menschenrechtsverletzungen zur Terrorprävention

  • 23.03.2015, 21:26

Vorratsdatenspeicherung, Überwachung und höhere Ausgaben für Polizei und Militär: So sieht die aktuelle Antwort der Politik auf Terror aus. Tiefgreifende Maßnahmen zur Gewaltprävention fehlen.

Im Jänner kündigte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner ein Maßnahmenpaket zum „Kampf gegen Terror“ an, das ca. 300 Millionen Euro kosten sollte. Und das nur wenige Tage nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt in Paris. Nicht nur in Österreich waren Terror und seine Prävention für einige Wochen das scheinbar einzig relevante Thema. Auch auf EU-Ebene wurden – und werden nach wie vor – Terrorpräventionsmaßnahmen diskutiert, deren Sinnhaftigkeit allerdings fragwürdig ist.

Sowohl in Frankreich als auch in Dänemark wird Vorratsdatenspeicherung betrieben, meint Thomas Lohninger, Geschäftsführer des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat). Trotzdem konnten die islamistischen Anschläge in Paris und Kopenhagen nicht verhindert werden. „Bei keinem der Anschläge der letzten Jahre in Europa hat es an Daten gemangelt.“ Dass jetzt in Österreich über eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung von Telefonverbindungen diskutiert wird, ist daher unnachvollziehbar. Die EU-Richtlinie, die die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten vorsah, wurde im April 2014 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) für verfassungswidrig erklärt. Diese Entscheidung war das Ergebnis einer Klage, die der AK Vorrat gemeinsam mit anderen Kläger_innen gegen die Richtlinie eingebracht hatte.

Wegen dieser EuGH-Entscheidung steht nun auch statt der Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten jene von Reisedaten stärker im Fokus der Sicherheitspolitik. Sie würde eine anlasslose Massenüberwachung von allen Reisebewegungen darstellen. Für Lohninger ist klar, dass diese ebenso verfassungswidrig wäre. Sie würde unter anderem gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention – das Recht auf Privat- und Familienleben – verstoßen. Es wären dann nicht mehr nur Kameras auf Bahnhöfen und Flughäfen, die unsere Reisen aufzeichnen. Die lückenlose Überwachung würde mit elektronischen Datenbanken, in denen alle Flugdaten gespeichert würden, erfolgen. Hier spielen auch migrationspolitische Interessen der EU eine Rolle. Das zeigt sich zudem in der Forderung nach verstärkten Grenzkontrollen, die zur Terrorprävention nur wenig Sinn ergeben: Bei den meisten Anschlägen in Europa in den letzten Jahren haben die Täter_innen die Grenzen des Schengenraums nie überschritten.

FEINDBILD MUSLIM_INNEN. Die Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze erklärt, dass die zur „Terrorprävention“ erfolgten und geplanten Grundrechtsverletzungen demokratisch hoch problematisch seien: „Rechtsstaatlich sind diese Maßnahmen schwer zu legitimieren, politisch wird aber mit der öffentlichen Sicherheit argumentiert. Die latenten Ängste der Bevölkerung können dazu genutzt werden, Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen.“ Der Trugschluss, dass Anschläge dadurch verhindert werden könnten, entsteht laut Schulze „durch das Schüren von Angst, die mit sehr stark inszenierten politischen Machtdemonstrationen einhergeht, die das Gefühl der Sicherheit suggerieren sollen.“

Als 2011 bei einem Anschlag in Norwegen 77 Menschen starben, wurden all diese nun geplanten Maßnahmen nicht diskutiert. Der Täter Anders Breivik legitimierte seinen Anschlag antimuslimisch und bezog sich in seinem „Manifest“ stark auf das Christentum. Die Tat wurde meistens als „Massaker“ oder „Massenmord“, nicht aber als „Terroranschlag“ bezeichnet. Eine Debatte über das Gefahrenpotential der christlichen Religion blieb ebenso aus wie jene über „Terrorprävention“.

Dieses Ungleichgewicht der Aufmerksamkeit von Politik und Medien und die Selektivität, mit der der Ausdruck „Terror“ verwendet wird, zeigte sich auch diesen Winter, als eine rassistisch motivierte Anschlagserie auf Moscheen in Schweden mit fünf Verletzten kaum wahrgenommen wurde. Niemand sprach hier von der Notwendigkeit der Verteidigung „westlicher Werte“, wie etwa der Religionsfreiheit oder dem Schutz vor Diskriminierung.

Wenn Täter_innen aus der christlichen Mehrheitsgesellschaft kommen, werden sie nicht als Terrorist_innen bezeichnet. Umgekehrt werden Muslim_innen – ohne im Geringsten mit gewalttätigen Anschlägen zu sympathisieren – voreilig als Terrorist_innen wahrgenommen. Die Angst und der Hass richten sich gegen Muslim_innen. Marianne Schulze beobachtet die Auswirkungen der sicherheitspolitischen Stimmungsmache: „Die Dämonisierung von ganzen Bevölkerungsgruppen verstärkt latente Ressentiments, die Übergriffe zur Folge haben.“

KEINE PROBLEMBEARBEITUNG. Bei rechtsextremen und islamistischen Anschlägen lassen sich einige Parallelen ausmachen. Eine davon ist der Antisemitismus, der in Europa laut einer Studie des Pew Research Centers wieder ansteigt und offener und mörderischer als in den letzten Jahrzehnten auftritt. Um diesen Phänomenen entgegenwirken zu können, braucht es Aufklärung, besonders bei Jugendlichen. Katja Schau und Frank Greuel vom Deutschen Jugendinstitut weisen darauf hin, dass bei der Präventionsarbeit mit Jugendlichen eine Orientierung an deren Lebensrealität notwendig sei. Ansonsten sei es nicht möglich, das Vertrauen von Jugendlichen zu gewinnen und erfolgreiche Vorbeugungsarbeit zu leisten. Das gilt gleichermaßen für die Prävention von Islamismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. „Die wichtigste Terrorprävention ist und bleibt die umfassende Verwirklichung des Menschenrechts auf Bildung für alle und damit verbunden die Sicherung der Umsetzung des Menschenrechts auf Arbeit“, ist Menschenrechtsexpertin Schulze überzeugt. Zum 300-Millionen-Sicherheitspaket der Innenministerin meint sie: „Würde man diese Summe in den Bildungsbereich stecken, wäre das wirklich nachhaltige Prävention.“

 

Katharina Gruber studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien.

 

„Es ist ein bisschen ein Theater“

  • 23.03.2015, 21:21

In der griechischen Hochschulpolitik haben schon viele spätere ParlamentarierInnen ihre Krallen geschärft. Die Studierendenvertretung hat dabei bemerkenswerte Mitsprachemöglichkeiten bei zentralen universitären Themen.

In der griechischen Hochschulpolitik haben schon viele spätere ParlamentarierInnen ihre Krallen geschärft. Die Studierendenvertretung hat dabei bemerkenswerte Mitsprachemöglichkeiten bei zentralen universitären Themen.

Beim Betreten einer griechischen Universität springt sofort die ausgeprägte Politisierung ins Auge: Man findet sich in einem bunten Gewirr aus politischen Plakaten, Transparenten und Graffitis wieder. Im Frühling ist dieses Szenario sogar noch ein wenig auffallender, denn zu dieser Zeit findet der Wahlkampf für die jährlichen Studierendenvertretungswahlen statt. Von fast allen im Parlament vertretenen Fraktionen gibt es Studierendenorganisationen, hinzu kommen unzählige Splitter- und Kleingruppen. An jedem Institut wählen die Studis ihre eigene Interessensvertretung, welche wiederum Teil einer gesamtgriechischen Studierendenunion ist, wobei die Mitgliedschaft in dieser im Gegensatz zu Österreich freiwillig ist.

AUSZÄHLUNG IM AUDIMAX. Im Kampf um die Stimmen kommen verschiedene Strategien zum Einsatz. Giorgos Kokkinis, früher in einer Syriza-nahen Liste an der Universität von Thessaloniki engagiert, erzählt: „Es gibt an jeder Uni permanente Beratungsstände der Fraktionen, dort erledigt man für die Erstsemestrigen den ganzen Papierkram. Nebenbei lädt man die Leute zum nächsten Plenum ein und versucht sie für die politische Sache zu gewinnen.“ Außerdem werden Lernhilfen, Konzerte und Partys organisiert oder man greift zu weniger subtilen Methoden wie Megafon und Wahlplakat.

Ist die Wahl geschlagen, findet die Stimmenauszählung öffentlich im größten Raum der Universität statt. „Dort herrscht eine ganz eigene Stimmung. Die AnhängerInnen der verschiedenen Parteien versuchen sich gegenseitig mit Parolen zu übertönen, manchmal kommt es zu Handgreiflichkeiten. Einmal haben AnarchistInnen den Raum gestürmt und die Wahlurnen gestohlen. Wenn du mich fragst: Das Ganze ist ein bisschen ein Theater“, sagt Kokkinis. Im Unterschied dazu erinnert der Wahlausgang dann meist doch an die österreichische Hochschulpolitik: Die meisten Stimmen erhält in der Regel die konservative Studierendenpartei DAP, was – so munkelt man – den Stimmen der eher unpolitischen Studierenden und dem intensiven Organisieren von Partys zu verdanken ist. Ihr gegenüber stehen mindestens fünf linke Organisationen, die zusammen die DAP überflügeln: von kommunistisch über trotzkistisch bis zu sozialdemokratisch.

(c) Dieter Diskovic

STARKES MITSPRACHERECHT. Die Studierendenvertretung besteht aus zwei Gremien: Auf der einen Seite die Generalversammlung, an der jedes Mitglied der Studierendenunion teilnehmen kann und die der Entscheidungsfindung dienen soll. Sie ist durch Plena und Abstimmungen gekennzeichnet und wird von der jährlichen Wahl kaum beeinflusst. Hier werden Diskussionen, aber auch Proteste und Sit-Ins organisiert. Besetzungen sieht Kokkinis nicht nur positiv: „Sie werden meiner Meinung nach zu häufig eingesetzt, auch bei nebensächlichen Themen. Dadurch werden sie von einigen nicht mehr ernst genommen.“

Die Entscheidungen der Generalversammlung sollen vom gewählten und formelleren Verwaltungsrat umgesetzt werden. Seit einer sozialdemokratischen Reform im Jahr 1981 hat der Rat eine beeindruckende Fülle an Befugnissen und kann beinahe auf gleichberechtigter Basis mit der Fakultät mitbestimmen. Die Mitglieder des Rates können RektorInnen und DekanInnen wählen und an allen administrativen Konferenzen ihrer Universität teilnehmen. Obwohl schon öfter versucht wurde, den Einfluss des Verwaltungsrates zu begrenzen, ist sein universitäres Mitspracherecht im internationalen Vergleich nach wie vor herausragend. Dieses hohe Ausmaß an Mitbestimmungsmöglichkeiten führt dazu, dass die Politik der Studierendenvertretungen für die Parlamentsparteien von höherem strategischen Interesse ist: Wer es schafft, Abstimmungsergebnisse zu beeinflussen, kann loyale KandidatInnen in hohe Positionen hieven.

Kokkinis ist sich dieser Problematik bewusst, trotzdem zieht er eine positive Bilanz: „Die griechische Studierendenpolitik ist aktiv, lebendig und kritisch. Man setzt sich mit wichtigen gesellschaftlichen Themen auseinander und hinterfragt den Status quo. Ohne die Studierenden hätte es keinen so breiten Widerstand gegen die EU-Memoranden gegeben. Die griechische Jugend ist vielleicht eine der politisch engagiertesten in Europa.“

Wer sich in der turbulenten Uni-Politik bewährt, schafft es später nicht selten in das griechische Parlament. Ein aktuelles Beispiel ist der frischgewählte Ministerpräsident Alexis Tsipras. Er hat sein politisches Geschick zuerst in der SchülerInnenpolitik und später am Athener Polytechnikum trainiert.

HISTORISCHE RELEVANZ. Wie kommt die griechische Hochschulpolitik zu diesem überdurchschnittlich großen Einfluss? Für eine mögliche Antwort müssen wir in die Zeit zwischen 1967 und 1974 zurückblicken, als Griechenland von einer Militärdiktatur beherrscht wurde. Nach dem wiederholten Verbot der jährlichen Hochschulwahlen gab es Widerstand an den Universitäten, auf den die Junta mit dem Polizeiknüppel reagierte. Die Studierendenproteste eskalierten und gipfelten schließlich in der Besetzung des Polytechnikums. Das Ziel des Aufstandes waren nun nicht mehr bloß freie Hochschulwahlen: Über einen PiratInnensender wurde zum Sturz des Militärregimes aufgerufen. In der Nacht auf den 17. November 1973 stürmte das Militär mit Panzern die Universität und schlug die Revolte blutig nieder. Bis heute gedenkt man der Opfer dieses Ereignisses mit einem jährlichen Marsch. Für die Junta sollte sich die Niederschlagung der Besetzung bald als Pyrrhussieg entpuppen: Die internationale Unterstützung begann zu schwinden, nur wenige Monate später war das Regime Geschichte. Auf diese Weise haben die verbotenen Hochschulwahlen und die darauf folgenden Studierendenproteste den Übergang von der Diktatur zur Demokratie vielleicht nicht verursacht, bestimmt aber beschleunigt.

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

 

Gegen den Strom studieren

  • 23.03.2015, 21:10

Mit einem Individuellen Studium können Studierende den strengen Bologna-Vorgaben entfliehen, ganz nach den eigenen Vorstellungen Fächer zusammenstellen und interdisziplinär studieren. So zumindest die Hoffnung. Doch lohnt sich der Aufwand?

Mit einem Individuellen Studium können Studierende den strengen Bologna-Vorgaben entfliehen, ganz nach den eigenen Vorstellungen Fächer zusammenstellen und interdisziplinär studieren. So zumindest die Hoffnung. Doch lohnt sich der Aufwand?

Migrations- und Integrationsforschung, Wirtschaftswissenschaftliche Andragogik, Angewandte Ökologie und Abfallwirtschaft: Diese Studien hat es allesamt an österreichischen Universitäten gegeben. Manche gibt es in ähnlicher Form auch heute noch. In vielen Fällen allerdings nur ein einziges Mal: als Individuelles Studium. Die Möglichkeit, individuell zu studieren – also sich sein eigenes Curriculum zusammenzustellen –, wird seit Jahrzehnten von Studierenden genutzt, die sehr genaue Vorstellungen davon haben, was sie wollen.

Judith W. kam auf die Idee, individuell zu studieren, als sie im Laufe ihrer Bachelorstudien die ersten Praktika absolvierte. Die vielfältigen Inhalte, die sie für ihre Praktika benötigt hätte, waren in keiner der an der Universität Salzburg angebotenen Studienrichtungen gesammelt zu finden. „Ich habe schon den Eindruck, dass sehr im eigenen Fachbereich gedacht wird und nicht wirklich viel über diese Grenzen hinaus“, sagt Judith. Daher entschied sie sich für ein Individuelles Masterstudium: Migrations- und Integrationsforschung. Ihr Studium hat sie an den Instituten für Soziologie, Geschichte, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft interdisziplinär absolviert.

STUDIUM IRREGULARE. Seit 1966 gibt es an den staatlichen Universitäten Österreichs die Möglichkeit, ein Individuelles Studium zu belegen. Das bedeutet: eigener Studienplan, eigene Studienbezeichnung, eigener Karriereweg. Und die Möglichkeit, Vorreiter*in für andere Studierende in einem neuen Berufsfeld zu werden. Nicht wenige reguläre Studien haben sich aus Individuellen Studien entwickelt: So kann man heute Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur an der Universität für Bodenkultur Wien, Internationale Entwicklung an der Universität Wien oder die Studienergänzung Migration Studies an der Universität Salzburg regulär studieren. Letztere wurde aus Judiths Studium der Migrationsforschung entwickelt.

Trotzdem ist der Anteil von Studierenden mit Individuellem Studium überschaubar. An der Universität Linz sind es etwa 0,5 Prozent. Diese Zahl ist über die Jahre nur leicht angestiegen. Was individuell studiert wird, ändert sich immer wieder: Während an der Universität Linz früher Wirtschaftsrecht das beliebteste Individuelle Studium war, ist es heute die Wirtschaftswissenschaftliche Andragogik – eine Spezialisierung der Erwachsenenbildung. „An den Individuellen Studien kann man ablesen, dass es in diesem Bereich eine Nachfrage gibt“, sagt Rebecca Haselbacher, Leiterin des Lehr- und Studienservices an der Universität Linz. Bei der Entscheidung, ein Individuelles Studium zu absolvieren, hält sie Beratung für das Wichtigste. „Ich würde jedem raten, es sich gut zu überlegen. Man muss viel Zeit und Energie in die Erstellung eines individuellen Curriculums stecken. Das, was normalerweise eine Studienkommission macht, macht dann eine Person alleine“, sagt sie und gibt zu bedenken: „Man muss auch später immer erklären, was man da studiert hat.“

Die Möglichkeit, individuell zu studieren, wird von den Universitäten kaum beworben. Auf vielen der Homepages der 21 staatlichen Universitäten fehlt der Hinweis auf Individuelle Studien sogar ganz. Was wiederum die Konkurrenz freut: Die Donau Universität Krems wirbt mit einem „Professional MBA Customized“ – „einem einzigartigen Studiengang, der perfekt auf individuelle Karriereziele abgestimmt werden kann“. Immerhin können vier der elf Module dieses „MBA Customized“ aus dem Angebot der Donau Uni frei gewählt werden. Und das lässt sie sich natürlich auch entsprechend bezahlen: 24.850 Euro kostet der komplett individuelle, maßgeschneiderte Masterabschluss. Für ein Studienkonzept, das alles andere als neu ist.

HISTORISCH GEWACHSENE STUDIEN. Während einige Individuelle Studien richtungsweisend für neue Studiengänge geworden sind, haben es andere Studien, wie etwa die Keltologie oder die Numismatik, trotz langjährigem Bestehen nicht in das reguläre Studienangebot geschafft. Das Institut für Numismatik an der Universität Wien wurde im Jahr 1965 gegründet und hält sich seitdem hartnäckig. Derzeit gibt es über 20 Masterstudierende und 14 Dissertierende – alle im Rahmen eines Individuellen Studiums. Ob aus einem Individuellen Studium ein reguläres wird, entscheidet das Rektorat der jeweiligen Universität. Am Institut für Numismatik bemüht man sich seit Jahrzehnten darum – ohne Erfolg.

Das Studium der Internationalen Entwicklung (IE) hatte da mehr Glück. Die Anfänge der IE gehen auf das Jahr 2000 und auf die Initiative einiger Lehrender und Studierender zurück. Die Pläne, das Studium der Internationalen Entwicklung regulär einzurichten, scheiterten zunächst. Deswegen wurde der Ausweg über das Individuelle Studium gewählt. „Zuerst waren es nur wenige Studierende, und dann ist das Studium explodiert“, erzählt Margarete Grandner, Studienprogrammleiterin der Internationalen Entwicklung. Mit der Bologna-Reform wurde die IE dann erstmals zum regulären Studium. In Zukunft wird allerdings nur noch das reguläre Masterstudium fortgeführt, für das heute insgesamt 510 Studierende zugelassen sind. Das Bachelorstudium läuft 2016 – trotz heftiger Proteste – aus. „Interdisziplinäre Bachelorstudien werden verweigert. Das ist sehr bedauerlich“, sagt Grandner.

Die Aufnahme eines individuellen Curriculums in das reguläre Studienangebot ist letztlich eine Geldfrage. Für Roland Psenner, Vizerektor für Lehre und Studierende an der Universität Innsbruck, führt der Weg in die interdisziplinäre Spezialisierung daher eher über zahlenmäßig wenige, dafür aber breiter aufgestellte Bachelorstudien. „In jedem Studium muss es Platz für die individuelle Schwerpunktsetzung geben. Das würde uns von dieser ursprünglich sehr verschulten Bachelorstruktur wieder wegbringen“, sagt er.

Das Individuelle Studium würde er aufgrund des großen Aufwands nicht unbedingt empfehlen und gibt zudem zu bedenken: „Man bekommt nur einen ‚nackten’ Titel.“ Zusätze, die auf eine bestimmte Fachrichtung schließen lassen – wie phil., iur., rer.soc.oec oder Sc. – fehlen dem individuellen Abschluss nämlich.

INDIVIDUELLER HÜRDENLAUF. Wer klare Vorstellungen vom künftigen Berufsfeld hat, wird kaum vor dem Aufwand eines Individuellen Studiums zurückschrecken. Die Universität Wien lässt allerdings über die Homepage des bisher zuständigen Studienpräses wissen, dass sie aufgrund des vielfältigen Studienangebots „geringen Bedarf an individuellen Studien“ sieht, und verweist auf die Möglichkeit der „Absolvierung von Erweiterungscurricula in den Bachelorstudien“ zur Individualisierung des Studiums. Darüber, wie eine entsprechende Individualisierung in Masterstudien, für die keine Erweiterungscurricula vorgesehen sind, zu erreichen ist, schweigt die Seite allerdings. Auf Nachfrage von progresserklärte das Büro des Studienpräses zwar, dass die Verantwortung für Individuelle Studien seit dem 1. März 2015 bei der Vizerektorin für Lehre liegt, war aber sonst zu keinen weiteren Auskünften bereit.

Die Schwierigkeit, einfache Auskünfte über Individuelle Studien zu erlangen, gibt einen Vorgeschmack auf die bürokratischen Mühen, die mit ihnen einhergehen. „Es war ziemlich aufwändig“, erzählt Judith. Das Curriculum muss nämlich mit konkreten Lehrveranstaltungen erstellt werden. „Zwei Jahre später hat es dann nicht mehr genau dieselben Fächer gegeben. Ich musste deswegen immer wieder Kurse anrechnen lassen.“

Ein eigenes Curriculum zu schreiben ist zudem kein einfaches Unterfangen. „Ich würde mit den Leuten sicherlich diskutieren, ob es nicht eine einfachere Möglichkeit gibt. Man verliert natürlich auch Zeit“, so Vizerektor Psenner. Andererseits gehören gerade individuell Studierende zu den engagiertesten. „Über Studierende, die sich so viele Gedanken machen, muss man eigentlich froh sein“, meint Psenner.

Individuell zu studieren war aber nicht immer so schwierig wie heute. Ilse K. entschied sich 1994 dafür, sich ihr eigenes Studium „Angewandte Ökologie und Abfallwirtschaft“ zusammenzustellen. Damals nannte man das noch Studium Irregulare. „Man hat den Studierenden früher mehr Freiheit gegeben. Bei dem Studium konnte man fächerübergreifend machen, was man wollte. Die Zusammenstellung war ganz mir überlassen“, sagt sie. Vor allem im Bereich des Umweltschutzes gab es zu dieser Zeit auch andere irregulär Studierende auf der BOKU. „Aber es waren eine Handvoll“, sagt Ilse. „Die Uni hat dann diese Möglichkeit eingeschränkt, weil man Angst hatte, dass die Studierenden mit den Studien in der Wirtschaft nichts anfangen können. Was ja zum Teil auch gestimmt hat.“

UND WER BRAUCHT SOWAS? Ob potentielle Arbeitgeber*innen ein Individuelles Studium als Vorteil oder als Nachteil werten, sei der Einschätzung eines*r jeden selbst überlassen. Die Antwort auf diese Frage wird so verschieden wie die Individuellen Studien selbst ausfallen. Mit ihrem irregulären Studium hat Ilse zehn Jahre erfolgreich in der Privatwirtschaft als Ziviltechnikerin für Altlastensanierung gearbeitet. „Nachher im Beruf hab’ ich schon festgestellt, dass ich gewisse Lücken habe, zum Beispiel in der Technik“, sagt sie. „Dafür hatte ich auf der anderen Seite aber auch Vorteile aufgrund meiner Chemiekenntnisse.“ Ilse bereut ihre Entscheidung nicht. „Ich habe studiert, was mich interessiert hat“, sagt sie.

Manchmal treffen Studierende mit ihrer individuellen Karriereplanung den Nerv der Zeit und gestalten mit ihrem Curriculum ein sich gerade entwickelndes Berufsfeld mit – manchmal auch nicht. „Gerade mein Thema ist eine Querschnittsmaterie. Ich habe wirklich die Grundlagen aus den verschiedenen Bereichen mitbekommen“, sagt Judith. Zweifel an ihrer Studienwahl kamen ihr nie. „Je länger ich studiert habe, desto überzeugter war ich davon“, sagt sie. „Auch wenn die Lehrveranstaltungen keine inhaltlichen Überschneidungen hatten, hat insgesamt alles zusammengepasst.“ Im Berufsleben hat sie mit ihrem Individuellen Studium oft einen klaren Vorteil: „Bei der Kommunikation zwischen den einzelnen Disziplinen tue ich mir sehr viel leichter als andere.“

 

Verena Ehrnberger ist Juristin und studiert Komparatistik an der Universität Wien.

 

Stadt der Mädchen

  • 23.03.2015, 21:01

Brasiliens Regierung will zwischen Rio de Janeiro und São Paulo eine Zugverbindung errichten, die direkt durch das größte Rotlichtviertel Rios führen soll. Dabei haben die Frauen* der Vila Mimosa ganz andere Pläne: Sie wollen einen Raum der Selbstermächtigung schaffen.

Brasiliens Regierung will zwischen Rio de Janeiro und São Paulo eine Zugverbindung errichten, die direkt durch das größte Rotlichtviertel Rios führen soll. Dabei haben die Frauen* der Vila Mimosa ganz andere Pläne: Sie wollen einen Raum der Selbstermächtigung schaffen.

Am Nachmittag ist die Straße noch feucht vom Regen der Nacht. Der beißende Geruch von Alkohol und Urin liegt in der Luft – diesen können selbst die Unmengen an Wasser nicht wegspülen. Auf den Gehsteigen sammeln sich Berge von Müll, Musik mit dröhnendem Bass beschallt die Umgebung. Während die letzten Lastwägen die Straße Richtung Ausfahrt verlassen, haben die Frauen* in den Bars gegenüber des Kühlhauses ihre Arbeit längst begonnen. Leicht bekleidet sitzen sie auf den Terrassen mit verschnörkelten Geländern und warten auf Kunden.

Die Vila Mimosa (dt.: „das süße Städchen“) ist das größte und älteste Sexarbeiter*innenviertel von Rio de Janeiro. 1.500 Frauen* arbeiten hier in Schichten und bieten ungefähr doppelt so vielen Männern täglich ihre Dienste an. Das Viertel hat Tradition, doch Politik und Gesellschaft würden seine Existenz am liebsten leugnen. In der Vergangenheit wurden die Sexarbeiter*innen immer wieder von ihren angestammten Plätzen vertrieben. Zuletzt 1996, als die Bordelle in der Nähe des Zentrums von Rio de Janeiro einem hochmodernen Telekommunikationszentrum weichen mussten.

Damals fanden die Frauen* in einem alten Industrieviertel zwischen zwei Eisenbahnstrecken einen neuen Ort für ihre Arbeit. Vier Straßen umfasst die Vila Mimosa heute und hat sich inzwischen zu einem Mikrokosmos aus Bordellen, Bars, Verkaufsständen und kleinen Wohnhäusern entwickelt. Doch jetzt bedroht ein großes Verkehrsprojekt das Weiterbestehen des Rotlichtviertels: Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff will eine neue Schnellzuglinie zwischen Rio de Janeiro und São Paulo direkt durch das Viertel bauen lassen.

In der Ceará-Straße, nur wenige Meter von den Bars entfernt, steht zwischen Motorradwerkstätten und Rockclubs ein unscheinbares Gebäude. Auf einer Anschlagtafel neben dem Eingang werden Sprach- und Informatikkurse angeboten. In einem der Räume schmückt ein Blatt Papier die dunkelblau gestrichene Wand. „Gib dein Bestes, damit auch du immer das Beste bekommst“, steht darauf geschrieben. Und: „Gestalte deinen Arbeitsplatz so wie die schönste Ecke deines Zuhauses.“ Es sind gut gemeinte Ratschläge, die auf dem Zettel notiert wurden. Dabei sieht der Raum nicht so aus, als hätte man sich an diese Weisheiten gehalten. Das kühle Licht wirkt wenig einladend, aus dem Nebenzimmer dringen hallende Stimmen, von den Wänden blättert die Farbe ab. „Sehr schön ist es hier nicht“, sagt Cleide Almeida mit einem Seufzer, während sie sich an einen der Tische setzt.

BILDUNG UND SELBSTERMÄCHTIGUNG. Obwohl sie seit beinahe zwanzig Jahren in diesem Gebäude arbeitet, hat Almeida kein eigenes Büro. Darum empfängt sie ihre Gäste in einem der provisorisch eingerichteten Unterrichtsräume. Die 50-Jährige ist Sozialarbeiterin bei AMOCAVIM, der Interessensvertretung der Sexarbeiter*innen der Vila Mimosa, eine energiegeladene Frau mit rot gefärbtem Haar und blau lackierten Fingernägeln. Während sie spricht, schlägt sie immer wieder mit der flachen Hand auf den Tisch. Schon früh lernte sie, sich durchzusetzen. Und sie kennt das Viertel wie ihre Westentasche.

Die Vila Mimosa steht für 24-Stunden-Betrieb und billigen Sex. Umgerechnet zehn Euro kostet eine halbe Stunde Programm. Viel weniger als an der zehn Kilometer weit entfernten Copacabana. Vor allem Frauen* aus armen Vororten kommen zum Arbeiten in die Vila Mimosa. Viele hätten sich von ihren PartnerInnen getrennt und müssten plötzlich das Geld für die Kinder alleine aufbringen, sagt Almeida. „Sie kommen mit der Idee, vorübergehend hier zu arbeiten. Ein Großteil aber bleibt in der Vila Mimosa hängen.“

Cleide Almeida ist in dem Rotlichtviertel groß geworden. Ihr Vater war Alkoholiker und schlug die Mutter immer wieder. Als Almeida sieben Jahre alt war, verließ die Mutter mit ihren zehn Kindern den gewalttätigen Mann und begann zuerst als Schneiderin, später als Köchin in der Vila Mimosa zu arbeiten. „Mit 18 habe ich den Verkaufsstand übernommen“, sagt Cleide Almeida. In der Sexarbeit tätig war sie nie. Doch sie kennt die Frauen* des Viertels, ihre Schicksale und Sorgen.

Cleide Almeida Foto: Hanna Silbermayr

Als die Sexarbeiter*innen 1996 umziehen mussten, ging sie mit und begann für AMOCAVIM zu arbeiten. Cleide Almeida koordiniert die Sozial- und Gesundheitsprojekte der Organisation. Viele der Frauen* wollen aus der Prostitution aussteigen, sagt sie. Dazu gäbe es nur einen Weg: Bildung. Genau darauf setzt AMOCAVIM und steht dabei vor allem für eines ein: Selbstermächtigung.

BEDÜRFNISSE DER SEXARBEITER*INNEN. Das erkannte auch Guilherme Ripardo, als er 2005 ein Thema für seine Abschlussarbeit suchte. Der Architekturstudent schlug sich die Wochenenden in den Rockbars der Ceará-Straße um die Ohren. „Dass sich gleich nebenan ein Prostituiertenviertel befindet, war mir lange nicht bewusst“, sagt er. Ursprünglich wollte Guilherme die Ceará-Straße neu gestalten. Je länger er sich aber mit deren Umgebung beschäftigte, umso klarer wurde ihm, dass in dem Viertel etwas anderes gebraucht wird.

„Ich habe mich damals mit vielen Prostituierten unterhalten“, sagt er. Der heute 36-Jährige wollte herausfinden, welche Bedürfnisse diese Frauen*, die von Politik und Gesellschaft verachtet werden, wirklich haben. „Ich wollte etwas erschaffen, das ihnen das Leben in der Vila Mimosa erleichtert und sie näher an die Gesellschaft rückt.“ Daraus entstand die Idee der „Cidade das Meninas“, der Stadt der Mädchen. Wenn Ripardo von den Frauen* spricht, dann von den „prostitutas“, also „den Prostituierten“. Wenn es um ihre Arbeit geht, dann sagt er meistens „trabalho sexual“, also Sexarbeit. Auch Almeida verwendet immer wieder den Begriff „prostituta“, obwohl es im Portugiesischen auch „trabalhadora sexual“ geben würde.

Guilherme Ripardo Foto: Hanna Silbermayr

Guilherme Ripardo klappt sein Notebook auf und zeigt auf eine Zeichnung von zwei Frauen*körpern, einer ausgestreckt, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt, der andere zusammengerollt, in Embryonalstellung. „Die meisten Prostituierten sind zugleich Mutter und Sexarbeiterin“, sagt er. Dieser doppelten Rolle soll auch die Stadt der Mädchen gerecht werden. Er will die Gebäude, in denen sich die Frauen* aufhalten und arbeiten, freundlicher und einladender machen. Unzählige Stunden verbrachte er mit Cleide Almeida. „Es ging vor allem um eines: Wie soll die Zukunft aussehen?“, sagt sie. Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit überzeugt sie.

Die Gebäude in Form zweier Frauen*körper, die Ripardo entworfen hat, sollen Platz für eine Vielzahl an Aktivitäten außerhalb der Sexarbeit bieten. „Hüfte und Beine der sich hingebenden Frau können für Präsentationen und Veranstaltungen verwendet werden“, erklärt er. Aus hellem und transparentem Material soll dieser Teil sein, nicht abgeschottet vom Rest der Welt. Die Frauen* der Vila Mimosa wollen ihn für eine Ausstellung über die Geschichte der Prostitution in Brasilien und ihres Viertels nutzen. Kopf und Arme könnten das Weiterbildungszentrum beherbergen.

(c) Guilherme Ripardo

Die andere Figur, die für die Rolle der Mutter steht, hat einen intimeren Charakter. Viele Sexarbeiter*innen nehmen ihre Kinder zur Arbeit mit und geben sie in einer Art Kinderkrippe ab. Diese soll im Schoß des zusammengerollten Frauen*körpers unterkommen. „Es muss einen organisierten, geschützten Raum für diese Kinder geben“, erklärt Ripardo. Der Bereich dieses Kopfes widmet sich dem Wohlergehen der Frauen* selbst: ihrer Gesundheit. Hier soll der Arzt, der schon heute ehrenamtlich Untersuchungen anbietet, seinen Platz haben.

STETIGE MARGINALISIERUNG. Bisher ist die Stadt der Mädchen jedoch nur ein Traum. „Es wäre schön, wenn sich jemand finden würde, der investieren will“, sagt Almeida. Eine Zeit lang hat sie gemeinsam mit Ripardo nach Geldgeber*innen gesucht. Doch die Suche gestaltete sich schwierig. Keine politische Institution hat bisher Interesse an dem Projekt gezeigt. Auch sonst engagieren sich nur wenige Politiker*innen aktiv für eine marginalisierte Personengruppe wie die der Sexarbeiter*innen. „Das würde für sie das Ende ihrer Karriere bedeuten“, räumt Almeida ein, die eigentlich über gute Kontakte verfügt. Trotzdem kann sie nicht nachvollziehen, weshalb Brasilien Milliarden für die Fußball-Weltmeisterschaft ausgegeben hat, obwohl Investitionen in Gesundheit und Bildung dringender wären.

Als der damalige Präsident Luiz Inácio Lula 2007 bekannt gab, dass sowohl die Fußball-Weltmeisterschaft 2014, als auch die Olympischen Spiele 2016 in Brasilien ausgetragen werden würden, verfiel das Land zunächst in einen Freudentaumel. Doch die Stimmung wandelte sich, je näher die Sportevents rückten. Immer mehr Menschen äußerten Kritik an den horrenden Ausgaben für Neu- und Umbauten und begannen gegen die Zwangsumsiedlungen ganzer Stadtteile zu demonstrieren.

Als die Frauen* der Vila Mimosa von den Plänen für einen Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo erfuhren, waren sie schockiert. „Viele haben mich gefragt, ob wir jetzt wieder umziehen müssten“, sagt Almeida. Das würde bedeuten, vieles von vorne zu beginnen, sich einen neuen Raum erkämpfen zu müssen. Und diesen erst einmal zu finden. „In Zentrumsnähe ist für die Vila Mimosa kein Platz, dort will man die Prostituierten nicht.“ Das Rotlichtviertel müsste Richtung Vororte übersiedeln. Ein Umzug würde die Sexarbeiterinnen ein ums andere Mal weiter marginalisieren, glaubt Almeida.

GUTE NACHRICHTEN? Der Baubeginn der Schnellzuglinie wurde nun mehrfach verschoben, zuerst auf das Jahr 2016, wenn in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele ausgetragen werden, dann auf 2020. Konkrete Informationen, wie es damit weitergeht, gibt es nicht.

Noch vor der Fußball-Weltmeisterschaft hat sich außerdem eine Londoner Firma, die Museums- und Ausstellungsprojekte entwickelt und umsetzt, gemeldet. Sie wollte mehr über die Stadt der Mädchen erfahren und lässt derzeit Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Für die Sozialarbeiterin Cleide Almeida und den Architekten Guilherme Ripardo ist das ein erster Erfolg. Und wenn die Stadt der Mädchen Wirklichkeit werden sollte, hätte Cleide Almeida endlich Zeit, sich voll auf das Weiterbildungsangebot der AMOCAVIM zu konzentrieren.

 

Hanna Silbermayr hat an der Universität Wien Romanistik und Politikwissenschaft studiert. Sie ist freie Journalistin und berichtet für deutschsprachige Medien über und aus Lateinamerika.

 

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