März 2012

An den Rand geschrieben

  • 30.09.2012, 17:17

Eine Hommage an Paul Valéry

Eine Hommage an Paul Valéry

Paul Valéry war ein Dichter. Und er war ein Philosoph. Beim Dichten wie beim Denken strebte er stets nach Klarheit und Deutlichkeit: „Von zwei Worten wähle man das weniger bedeutende.“ Seinem eigenen Rat versuchte der in Paris lebende Freund und Bewunderer des Schriftstellers Stephane Mallarmé stets zu folgen, in der Lyrik wie in der Philosophie. Tiefe war ihm nur ein Trick, ein sprachlicher Kniff. Seine Poesie entfaltet ihr Leben aus der Sprache selbst, unter Verzicht auf Brimborium, auf Überflüssiges. Die poésie pure sollte verzaubern ohne Magie: durch Genauigkeit und Formvollendung.

Als Theoretiker ist der französische Lyriker in Österreich so gut wie unbekannt. Sein Werk liegt zerstückelt vor. Zum größten Teil besteht es aus posthum herausgegebenen Notizen, die er sich – und wohl zunächst nur für sich – machte: cahiers, Hefte. Darüber hinaus erschienen einige Essays und Aphorismen schon zu seinen Lebzeiten. Er schrieb etwa über Leonardo da Vinci und Edgar Degas, den er hoch verehrte. Dem Maler kritzelte er, „wie ein zerstreuter Leser seinen Bleistift an den Rändern eines Buches spazierenführt“, einen kleinen Text an den Rand einiger seiner Studien. So fällt an Valéry zuerst seine Unaufdringlichkeit ins Auge. Es handelt sich dabei um eine unaufdringliche Unaufdringlichkeit, eine, die nicht beständig ausrufen muss: Seht her! Wie bin ich doch edel und zurückhaltend. Bei ihm entspringt sie der
Sache. Nicht das Wesentliche, das Wichtigtuerische ist für ihn entscheidend – der Vorbehalt dagegen schwingt noch in seinen konservativen Tiraden gegen das Neue mit. Das Unprätentiöse und Subtile gilt ihm soviel mehr. Der angestrengt errungene Gedanke, der, nur einen Augenblick lang wahr, sogleich wieder erlischt, verfliegt, vergeht … 

Die Form des Feuilletons ist dem Meister der vergänglichen Beständigkeit deshalb wie auf den Leib gegossen. Als journalistische Gattung ist es flüchtig, dahingesagt, einmal gelesen – gedacht und vergessen. Zugleich verlangt es, was Valéry stets von Denken und Sprache gefordert hat: Einfachheit und Subtilität in einer festen Form zu vereinen. „Man kann nicht subtil genug sein, und man kann nicht einfach genug sein. / Subtil genug, weil die Dinge es verlangen; einfach genug, weil unser Dasein und unsre Handlungen es gebieten.“

Potential zum Skandal

  • 20.09.2012, 18:09

In radikalen Mitmachperformances konfrontiert das Wiener Performancekollektiv God’s Entertainment das Publikum mit Rassismus, Gewaltverherrlichung oder Integrationszwang. Ein Porträt.

Sie machen kein Theater. Nicht mit SchauspielerInnen und so. Was God’s Entertainment macht? Laut Eigendefinition irgendetwas zwischen Happening, Aktion und Performance. Wer sie sind? „Wir sind ein Kollektiv. Wir sind eine der wenigen Gruppen ohne Hierarchie. Jeder macht alles“, sagt Maja, die die Gruppe God’s Entertainment (GE) mitgegründet hat. Ihre eigenen Namen heben die Mitglieder der Gruppe nur ungern hervor - in Programmheften dürfen sie deswegen gar nicht erst abgedruckt werden. 2005 trat God’s Entertainment erstmals mit der Performance „Mossad“ im Rahmen des Wiener Mozart-Jahres auf. Zu den Dreien, die den fixen Kern des Kollektivs GE bilden, kommen noch einige lose Mitglieder hinzu.

GE ist die aktuell wahrscheinlich provokanteste, politischste und pointierteste Performancegruppe in Österreich. progress traf sie zum Frühstück in ihrem Gassenlokal-Büro im 9. Bezirk in Wien. Der Raum ist vollgestellt mit Requisiten alter Produktionen und ständig klingeln die Handys - God’s Entertainment ist im Stress: Ein Förderantrag muss dringend abgegeben werden. Die Themen für ihre Aktionen finden sie in der Realität: „Wenn etwas total bescheuert ist und blöd, versucht man es in die Performance reinzubringen“, sagt Boris. Das Spektrum reicht von Sex, Radovan Karadžić und Busreisen bis zu Bollywood, Integration und Gewalt.

ECHTE PRÜGEL. Manchmal enden ihre Aktionen auch mit blauen Augen oder gebrochenen Rippen. So bei der Brutalo-Aktion „Fight Club - realtekken“, mit der sie erstmals Aufmerksamkeit erregten. Mit Joypads steuert das Publikum nicht Figuren im Videospiel, sondern lässt die PerformerInnen aufeinander einprügeln. Im Gegensatz zum herkömmlichen Theater wird bei Performances nicht „so getan, als ob“. Die Schläge sind echt, Verletzungen einkalkuliert. Beim Setting der Performance orientiert sich die Gruppe an den illegalen Boxkämpfen im populären Hollywoodfilm „Fight Club“: Der Raum ist dunkel, laute Musik dröhnt, Wetten werden angenommen. Berauscht von der Gewalt, lassen die ZuschauerInnen die PerformerInnen enthemmt aufeinander einprügeln. GE macht Mitmachperformances: Sich zurücklehnen und einfach nur zusehen, ist de facto nicht möglich. PerformerInnen und Publikum prallen ungeschützt aufeinander. „Indem man ins Theater geht, ist man schon involviert. Es ist nur die Frage, ob man auch beteiligt wird“, ergänzt Maja.

SETTINGS ERZEUGEN. GE beantwortet diese Frage immer mit „Ja“. Bei ihrer letzten Produktion „Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust (Nach Büchners „Woyzeck“)“ im Wiener brut erzeugen sie zu Beginn ein Setting, in dem sich die ZuschauerInnen im Klassenzimmer wiederfinden. Die Lehrerin ruft einzelne SchülerInnen im Publikum auf und fragt ihr Wissen zu Georg Büchners Drama „Woyzeck“ ab. GE arbeitet mit bekannten Situationen aus Alltag und Medien. Diese werden zugespitzt und für ihre Themen nutzbar gemacht. So konfrontiert die Gruppe die ZuschauerInnen mit ihren eigenen Positionen und zwingt sie, sich damit auseinanderzusetzen. God’s Entertainment macht politische Kunst. Aber nicht nur, indem sie politisch relevante Themen - wie Integration, Rassismus, Gewalt und Strafvollzug - aufgreifen, sondern indem sie ihr Publikum zu Menschen machen, die über diese Themen nachdenken. Ziel ist, etwas bei den ZuseherInnen auszulösen. Wieso sich das Publikum ihren Produktionen aussetzt, weiß die Gruppe auch nicht so ganz genau. Vielleicht, weil man sich bei GE selbst spüren könne und die Leute das mögen, meint Simon. Erfolgreich sind ihre Performances dann, wenn sie „funktionieren“ - das heißt, wenn sie beim Publikum eine Reaktion auslösen, wenn die Menschen nicht einfach unberührt davon bleiben, wenn in der Fußgängerzone ein Weißer für Spenden in den eigenen Hut den Schwarzen neben sich verprügelt - wie in ihrer Performance „Stadt ist anders“. „Theater ist nicht ein reiner Unterhaltungstempel, wo man sich reinsetzt, um mal kurz zu entspannen“, sagt Simon. Obwohl sich die ZuschauerInnen oft nicht wohlfühlen, verlässt nur ganz selten jemand die Performances. Wohl auch, weil es bei GE nie langweilig sei, schmunzelt Simon.

BEZIRKSVORSTEHERIN HAT ANGST. Obwohl die Produktion „Österreicher integriert euch“ bei den Wiener Festwochen erst im Mai ansteht, funktioniert die Performance für die Gruppe schon jetzt. GE dreht den Spieß in der Integrationsdebatte um und will ÖsterreicherInnen in die problematischsten Migrationsgruppen integrieren. Den ersten Teil bildet eine Research-Phase, in der über Infostände in allen Wiener Bezirken ermittelt wird, welche MigrantInnengruppen von den ÖsterreicherInnen als die problematischsten empfunden werden. Danach können sich „waschechte“ ÖsterreicherInnen in drei Integrationslagern am Urban-Loritz-Platz, in Meidling und neben dem Museumsquartier in diese Hauptproblemgruppen integrieren lassen. „Leider“, sagt B. bezüglich der Veranstaltungsorte: „Eigentlich wollten wir lieber in rechtere Bezirke. Aber im zehnten, elften, 13. und 21. Bezirk haben wir keine Genehmigung bekommen.“ Schon bevor es überhaupt losgeht, haben die BezirksvorsteherInnen Angst vor den Reaktionen. Je nach AusländerInnenfeindlichkeitsstufe müssen sich die ÖsterreicherInnen in den Integrationslagern unterschiedlichen Maßnahmepaketen unterziehen. Helfen werden ihnen dabei sogenannte IntegratorInnen aus den verschiedenen Hauptproblemgruppen. Spätestens nach drei Tagen soll die perfekte Integration geglückt sein. Nicht nur der Name „Österreicher integriert euch“ erinnert an Christoph Schlingensiefs Containershow und Abschiebeperformance „Ausländer raus“ neben der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 2000. Genauso wie die damalige Festwochenproduktion haben GE heuer Potential zum Skandal. Und da sie kein Theater machen, meint es God’s Entertainment auch ernst mit „Österreicher integriert euch“: „Wir wünschen uns, Strache im Lager zu haben. Zusammen mit Sebastian Kurz.“

gods-entertainment.org

Der Autor Dominik Wurnig hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien studiert.

Am toten Winkel der Welt

  • 13.07.2012, 18:18

Seit Dekaden pochen die aus Marokko vertriebenen BewohnerInnen der Westsahara auf staatliche Souveränität. Mangels diplomatischer Lösung während einer UN-Waffenruhe setzen seit 2005 vor allem StudentInnen auf zivilen Ungehorsam und einen durch den Arabischen Frühling verstärkten Aufstand in den besetzten Gebieten.

Seit Dekaden pochen die aus Marokko vertriebenen BewohnerInnen der Westsahara auf staatliche Souveränität. Mangels diplomatischer Lösung während einer UN-Waffenruhe setzen seit 2005 vor allem StudentInnen auf zivilen Ungehorsam und einen durch den Arabischen Frühling verstärkten Aufstand in den besetzten Gebieten.

Er wird des Teufels Vorgarten genannt. Der Süden der algerischen Sahara, nahe der verminten Grenze zu Marokko, verdeutlicht, dass die Wüste in ihrer Trostlosigkeit variiert. Hierher, wo nicht eine Akazie auf ihre Existenz beharrt und keine Dattelpalmen Oasen umsäumen, sind die Saharauis, die BewohnerInnen der Westsahara, vor fast 40 Jahren vor der marokkanischen Armee geflüchtet. Ein vergessener Konflikt, der bis heute auf eine Lösung wartet.
Trotz seiner reich vorhandenen Phosphatvorkommen wurde Spanien 1975 seiner Kolonie Fluss des Goldes (span. Rio de Oro) überdrüssig und verließ den Westen der Sahara.
Die Saharauis führten bereits seit 1973 mit der von Mohamed Abdelaziz mitbegründeten Frente POLISARIO einen Guerillakrieg gegen Spanien und Frankreich. Während mauretanische Truppen, die ebenfalls Gebietsansprüche in der Westsahara stellten, 1979 zermürbt wurden, scheiterte der Widerstand der Saharauis gegen Marokko.
Als die Vereinten Nationen (UN) 1990/1991 schließlich einen Waffenstillstand erwirkten, war ein Referendum über die Selbstbestimmung der Saharauis vorgesehen – unter Einbeziehung derer, die unter marokkanischer Besatzung leben, getrennt durch einen 2.700 Kilometer langen „Wall der Schande“. Abgestimmt wurde jedoch bis heute nicht, während Marokkos Königshaus über Niedrigsteuern seine Art der Kolonialisierungspolitik betreibt. Lokale Arbeitskraft wird gebraucht – für Bergbau, Fischerei, Infrastruktur, im Tourismus und für Solarkraftwerke, die in Zukunft auch Europas Netze laben sollen.

Verhaftungen, Folter, Mord. Im Zuge des Konfliktes hat sich eine Form der Apartheid etabliert, warnt die saharauische Menschenrechtsorganisation Afapredesa. „Saharauis werden in Marokko als minderwertige Menschen behandelt“, so deren Präsident Abdeslar Omar im algerischen Rabouni, eines von mehreren Flüchtlingslagern im Umkreis von Tindouf. Dort leben zwischen 80.000 und 160.000 Saharauis und auch die Exilregierung der Demokratischen Arabischen Republik Westsahara (RASD) hat hier ihren Sitz. Es herrsche ein „kontinuierlicher Terror“ gegen die in Marokko lebenden Saharauis“, klagt Politologe Omar: vom „Verschwindenlassen“ und wahllosen Verhaftungen über Folter bis zum Mord – „schwerste Menschenrechtsverletzungen, doch deren Überwachung ist nicht Teil des UN-Mandats“.
Zwar haben sich die Konfliktparteien darauf geeinigt, Saharauis Kurzreisen aus den Lagern zu gewähren, aber viele Familien sind seit Dekaden getrennt. Tausende Anträge habe Marokko abgelehnt, und „viele, die reisen durften, wurden schikaniert, attackiert, verhaftet und misshandelt“. Mohamed Hassanna (26) erwirkte ein Wiedersehen mit seinen Angehörigen per Hungerstreik. „Zig meiner Anträge waren abgewiesen worden, da ich mich für eine unabhängige Westsahara ausgesprochen habe“, sagt Hassanna. Über einen Monat harrte er aus, an den Zaun der kleinen UN-Dependance gekettet. „Mit Erfolg“, sagt er den Tränen nahe. Fünf Tage durfte er seine Familie sehen.
Seit über sechs Jahren begehrt auch eine junge Generation von Saharauis in den von Marokko besetzten Städten auf. Aber auch gegen die studentisch organisierte Protestwelle wird massiv vorgegangen. „Ein Studienkollege von mir ist bei einem Protest verhaftet und in Gewahrsam ermordet worden“, sagt Ahmed Salem (24), Wirtschaftsstudent aus dem marokkanischen Agadir. Kein Einzelfall, und doch will Ahmed weiter demonstrieren. Er fordert einen saharauischen Staat und Gerechtigkeit für die Hunderten von Opfern. Deren Namen füllen eine meterlange Wand beim Büro der NGO Afapredesa.
„Wir Saharauis fürchten uns nicht mehr“, sagt sich Mohamed Abdelaziz, Generalsekretär der Frente POLISARIO und seit 1976 Präsident der RASD: „Wir haben vierzig Jahre der Erniedrigung durchlebt und werden nicht ewig an diesem Grad festhängen.“ Auf das studentische Aufbegehren, das er „parallel zu anderen friedlichen Bewegungen des Arabischen Frühlings“ sieht, ist er stolz. Der Widerstand werde „weitergehen und wachsen“. Marokko stehe nunmehr einer „Doppelbelastung“ gegenüber – dank der Protestbewegung des 20. Februar, deren Forderungen von der regierenden islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung völlig ignoriert wurden. „Das saharauische Volk zu unterdrücken und dem eigenen Volk grundlegende Rechte abzusprechen, ist nicht lange durchzustehen.“
Aber die Situation der saharauischen Flüchtlinge bleibt vorerst prekär: Ohne die UNHCR-Flüchtlingshilfe, staatliche Nahrungsspenden und die Unterstützung durch private Vereine, die „Solidaritätskarawanen“ organisieren, wären Bildung und Gesundheitsversorgung undenkbar. Mangelernährung ist weit verbreitet.

Von Klagenfurt ins Krisengebiet. Aus diesem Grund hat sich rund um den Soziologen Hubert Höllmüller an der Fachhochschule Kärnten eine Initiative formiert, die mit dem Bildungsministerium der RASD kooperiert. Ende Oktober 2011 wurde in Klagenfurt ein VW-Bus samt Anhänger mit PCs, der Ausstattung eines ersten Turnsaales und Lehrmaterialien bepackt, um via Marseille und Oran in die Sahara zu den Lagern bei Tindouf zu fahren. Begleitet wurden die FH-MitarbeiterInnen und Studierenden stets vom algerischen Militär, das sich zu Recht um AusländerInnen sorgt. Am Tag der Abreise des Teams [an dem sich auch der Autor beteiligte, Anm. d. Red.] wurden just in Rabouni drei NGO-MitarbeiterInnen von der Al Kaida des islamischen Maghreb entführt. Noch sind sie nicht freigekommen.
Die Zahl der freiwilligen HelferInnen sinkt seither. Und angesichts der Wirtschaftskrise nehmen auch Hilfstransporte aus Spanien und Italien ab. Das erschwert die Umsetzung der ehrgeizigen Pläne der RASD-Bildungsministerin Mariam Salek Hmada. Sie will mit internationalen PartnerInnen eine erste Universität in Tifariti umsetzen. „Bildung ist der Schlüssel zum Leben, wenn auch oftmals fern der Lager“, sagt Hmada. An Lehrbüchern mangelt es, die maroden Unterrichtsräume sind überfüllt, Atemwegserkrankungen weit verbreitet, und doch schafft das Gros den Schulabschluss nach algerischem Standard. Knapp 20.000 Saharauis studieren in Algerien, aber auch in Kuba und Venezuela. Hmada weiß, dass „viele junge Saharauis daran denken, zu den Waffen zu greifen“. Sie rät zur Bedachtsamkeit: „Ich habe nicht an zivilen Ungehorsam geglaubt. Aber das ist der Weg.“
 

Geschichtenerzählen bleibt Paradedisziplin

  • 13.07.2012, 18:18

„Zwischen den Runden“ heißt das vierte Album von Kettcar. Den fünf Hamburgern ist es gelungen, in bewährter textlicher Qualität neue Ufer zu erschließen.

„Zwischen den Runden“ heißt das vierte Album von Kettcar. Den fünf Hamburgern ist es gelungen, in bewährter textlicher Qualität neue Ufer zu erschließen.

Nach einigermaßen viel Power auf der letzten Platte, wollten wir einfach Geschichten erzählen“, erzählt Erik Langer, Gitarrist der Band, dem PROGRESS. Geschichtenerzählen war und bleibt die Paradedisziplin Kettcars und erneut kreisen die Texte um Themen wie Liebe, Freundschaft, Selbstzweifel und das Älterwerden. Auf diesem Album stammen die Geschichten aus den Federn von zwei Schreibern: Neben Texter und Frontmann Marcus Wiebusch nahm sich Reimer Bustorff ebenfalls der Textproduktion an.

Gefühle ganz groß. Gerade die Verarbeitung von alltäglichen Themen bricht im Zuge eines Kettcar-Konzerts als ein Schwall der einfachen Freuden und Leiden auf ein Publikum herein, das ebenso schwer mit dem Älterwerden zu Rande kommt wie die Band selbst. Danach fühlt man sich zumindest etwas mit der grausamen Welt versöhnt. Angesprochen auf ihre Verantwortung gegenüber den HörerInnen gesteht Erik, dass die Band natürlich daran interessiert sei, auf die Bedürfnisse ihrer Fans einzugehen. Eine moralische Verpflichtung kann er jedoch nicht festmachen: „Natürlich können wir nicht zu jedem nach Hause gehen und ihn streicheln.“ Dass man sich im Zuge eines Konzerts gerne in den Armen liegen würde, ist nun mal so.

Politische Ambivalenzen. „Zwischen den Runden“ ist auf Grand Hotel van Cleef, Kettcars eigenem Label, erschienen. Unabhängigkeit oder als schick stilisiertes, künstlerisches Prekariat – das eigene Label ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite stehe der bewusste Versuch, gegen den Druck des Marktes zu steuern und Alternativen zum Mainstream zu fördern, so Erik. Auf der anderen Seite gehe es eben nicht ohne Kompromisse, trotz des Versuchs, die hohen Ideale bis zu einem gewissen Grad zu verteidigen. Eine ähnliche Ambivalenz zeigt sich auch im Selbstverständnis von Kettcar, die für viele ihrer Fans als politische Band gelten: „Auch wenn wir das nicht so gerne vor uns hertragen, wird das Politische intensiv innerhalb der Band verhandelt.“ Bei Texten, die sehr stark am Alltag orientiert sind, bleibt der Wunsch, vielleicht einen Anstoß liefern zu können: „Der Reichtum unserer hübschen Welt basiert einfach darauf, dass andere Menschen leiden und sterben müssen. Dass man vielleicht manchmal so ein bisschen aufwacht aus seinem Alltagstrott und sich umguckt, das wär schon sehr schön. Das schaffen wir auch nicht immer, aber ab und zu.“

Anspieltipp: „Im Club“.

 

Wenn die FPÖ sich um die Umwelt sorgt

  • 13.07.2012, 18:18

Oberösterreichs grüner Umweltlandesrat kommt immer mehr unter Druck. In Folge eines Streits gegen Rechte im Anti-Atom Bündnis wurden einer unabhängigen, antifaschistischen Gruppe 73.000 Euro Fördergelder gestrichen.

Oberösterreichs grüner Umweltlandesrat kommt immer mehr unter Druck. In Folge eines Streits gegen Rechte im Anti-Atom Bündnis wurden einer unabhängigen, antifaschistischen Gruppe 73.000 Euro Fördergelder gestrichen.

Antifaschistische AtomkraftgegnerInnen erhalten in Oberösterreich kein Geld mehr vom Staat. Das ist das Resultat eines Streits zwischen der BürgerInneninitiative Antiatom-Szene und Umweltlandesrat Rudi Anschober (Grüne). Die Initiative weigert sich, mit einer Gruppe zu kooperieren, die mit dem rassistischen Weltbund zum Schutz des Lebens (WSL) verbunden ist und Kontakte zur FPÖ pflegt. Ein Mediationsverfahren, das die Landesregierung verlangt hatte, endete vor einigen Wochen ergebnislos. Antiatom-Szene verliert Fördermittel von rund 73.000 Euro im Jahr.

Der Kampf gegen Atomkraftwerke in Tschechien ist in Oberösterreich Regierungssache: Die Landesregierung, der neben ÖVP und Grünen auch SPÖ und FPÖ angehören, fördert im Rahmen der Antiatom-Offensive diverse BürgerInneninitiativen. Der Streit entzündete sich vor Jahren als der Verein Atomstopp den WSL-Präsidenten Friedrich Witzany für ein Personenkomitee des Volksbegehrens nominierte, das den österreichischen Austritt aus Euratom, der europäischen Institution zur Förderung der Atomindustrie, durchsetzen soll. Die Gruppe Resistance for Peace stieg aus der Kampagne aus, einige Mitglieder wurden daraufhin auf der nazistischen Homepage Alpen-Donau-Info bedroht. Die Antiatom-Szene solidarisierte sich mit Resistance for Peace und forderte, sich von rechten Gruppen abzugrenzen.

Umweltschutz auf rassistischer Basis.

Der WSL steht in einer Tradition, die Umweltschutz aus Sorge um das Erbgut einer „weißen Rasse“ treibt. Der Förster Günther Schwab gründete den Verband 1958 in Salzburg und prägte den WSL ideologisch. Schwab war im Oktober 1930 in Wien der NSDAP und der SA beigetreten, wo er es bis zum Sturmführer brachte. 1939 publizierte er den völkischen Kitschroman Mensch ohne Volk im Eher-Verlag, dem Zentralverlag der NSDAP, in dem auch Hitlers Mein Kampf und der Völkische Beobachter erschienen. Ende der 1960er Jahre sah Schwab eine angebliche „Bevölkerungsexplosion“ als „Hauptsorge der Menschheit“ und forderte, in „primitiven Ländern“ eine Geburtenbeschränkung zu erzwingen.

In Deutschland mischt die WSL-Sektion unter Führung des Nationalsozialisten Werner Georg Haverbeck mit Erfolg in der Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung mit und wird dafür von österreichischen GesinnungsfreundInnen bewundert. Haverbeck war an der Gründung der Grünen führend beteiligt, verließ die Partei aber, weil sie ihm zu links erschien.

Nach Recherchen von Elvira Pöschko von der Antiatom-Szene ist der Verein Atomstopp 2005 aus der Oberösterreichischen Überparteilichen Plattform gegen Atomgefahr hervorgegangen, die von WSL-Funktionären geleitet worden sei. Die Vorsitzende der Überparteilichen Plattform, Mathilde Halla, amtierte bis 2004 als Vizepräsidentin des WSL-Ö und organisierte Grenzblockaden gegen das AKW Temelin. Einmal trat dort auch Jörg Haider auf und hielt eine Rede. Der Geschäftsführer der Plattform Atomstopp und Witzany unterzeichneten ein von der FPÖ initiiertes Volksbegehren gegen das AKW Temelin. 2007 ist der Obmann der Initiative Atomstopp als Fraktionsexperte der FPÖ aufgetreten, erzählt Pöschko. Als Atomstopp 2010 kein Geld von der Landesregierung erhielt, protestierte die Linzer FPÖ.

Grüne wiegeln ab.

Anschober und der grüne Nationalrat Karl Öllinger, der als Neonazi-Experte gilt, verweisen auf ein Gutachten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW). Demnach sei der WSL bis Mitte der 1980er Jahre im „engeren Vorfeld“ des Rechtsextremismus zu verorten gewesen, der WSL-Präsident seit 1986 nicht mehr in Nazi-Kreisen aufgetreten. Dafür ist Witzany bei den Grünen aktiv. Auf der Homepage der Grünen von St. Florian wird er als Mitgründer und Ersatzmann für den Gemeinderat vorgestellt. Eine Nachfrage beim DÖW ergab, dass das Archiv für die Zeit nach 1986 kein Material über den WSL und Witzany hat und keine Recherchen anstellen kann.

Nach Ansicht Öllingers haben sich der österreichische und der internationale WSL Mitte der 1980er Jahre aus ideologischen Gründen von der deutschen Sektion getrennt. Im DÖW-Gutachten steht dazu nichts. Belegt ist ein Streit der alten Kameraden ums Geld: KontrahentInnen warfen Haverbeck vor, WSL-Gelder für sein Schulungszentrum abzuzweigen.

Dass Schwab jemals zur Besinnung kam, lässt sich auch nicht behaupten. 1992 behauptete er einen „Intelligenzverlust“ der Menschheit, die Kultur sinke ab, Schwachsinnige würden sich stärker vermehren als angeblich Begabte. Die Folge sei „der Geltungsverlust der weißen Rasse in aller Welt“. Weder der WSL-Ö noch Witzany haben sich je von Schwab und seiner Ideologie distanziert. Das räumt auch Öllinger ein, meint aber, der österreichische WSL bestehe aus „fünf bis zehn Hanseln“ und sei „rechtskonservativ“.

Teure Courage.

Der Streit beschäftigt sogar die Gerichte, die Landesregierung hat ein Mediationsverfahren durchgesetzt, das jedoch keine Einigung brachte. „Zuerst sollten wir eine Schweigevereinbarung über den Verlauf unterzeichnen, dann konnten wir nachweisen, dass die beiden Mediatoren befangen sind, weil sie für die Landesregierung gearbeitet hatten, jetzt kriegen wir kein Geld mehr“, sagt Pöschko.

Der Anti-Atom-Berater des Bundeslandes trat Ende 2010 wegen dem Streit zurück. Radko Pavlovec warf Landesrat Anschober einen „politisch motivierten Willkürakt“ vor. Anschober wolle kritische Gruppen „mittels Zwangsmediation zur Kooperation mit Personen oder Organisationen zwingen, die im Vorfeld des Rechtsextremismus angesiedelt sind“. Dass die Antiatom-Szene nun kein Geld mehr bekommt, nennt Pavlovec einen „Skandalbeschluss“: Ein grüner Landesrat kooperiere mit der FPÖ gegen eine unabhängige Anti-Atom-Initiative, die sich gegen eine Zusammenarbeit mit dem braunen Milieu wehrt. Von Anschober war trotz zweifacher Anfrage per E-Mail keine Stellungnahme zu bekommen. Die Antiatom-Szene fordert inzwischen seinen Rücktritt.

 

Faschistisch und revolutionär

  • 13.07.2012, 18:18

Eine faschistische Kleingruppe in widersprüchlichem Gewand gewinnt immer mehr Einfluss in Italien.

Eine faschistische Kleingruppe in widersprüchlichem Gewand gewinnt immer mehr Einfluss in Italien.

Im Jahr 2003 besetzte eine Gruppe von NeofaschistInnen ein Gebäude in Rom, das sie nach dem Dichter Ezra Pound, einem Verfechter Mussolinis, Casa Pound (CP) nannten. Sie berufen sich auf den italienischen Bewegungsfaschismus der 1920er-Jahre, den sie zu modernisieren versuchen – mit beunruhigendem Erfolg: Das Haus beherbergt heute über 20 italienische Familien und die Casa Pound ist mit über 2.000 eingeschriebenen Mitgliedern bereits in 14 Städten in ganz Italien vertreten. Unterstützt wird sie von ihrem intellektuellen Arm, dem Blocco Studentesco.

Weder links noch rechts. Die Einteilung des politischen Spektrums in links und rechts betrachten die NeofaschistInnen als veraltet: Weder links noch rechts, sondern „faschistisch-revolutionär“ sei die CP. Die Dinge werden selbst in die Hand genommen, Parteien und Gewalt nach außen hin abgelehnt. Im Zentrum ihres Programmes steht die Einheit der italienischen Nation und der Erhalt der Kernfamilie.

Ewiggestriges in poppigem Gewand. Ordentlichkeit und das Verbot von Waffen und Drogen innerhalb der CP sollen ein seriöses Bild vermitteln. Der Öffentlichkeit präsentiert die Casa Pound ein breites kulturelles Angebot. Rechtsrockkonzerte gehören ebenso dazu wie ein Radiosender und Theaterstücke. Außerdem wird zu Flashmobs, Demos und klassischen NGO- und Charity-Tätigkeiten aufgerufen. Ihre Bildsprache bedient sich antisemitischer Sujets, die allerdings auch aufgrund ihrer weiten Verbreitung in linken Kreisen für viele nicht unmittelbar auf rechtes Gedankengut hinweisen. In den politischen Kampagnen der CP wird neben dem „Aussaugen“ Italiens durch „Mietwucher“, „Raffgier“ und das personifizierte Böse, verkörpert von ImmobilienspekulantInnen („Vampire“), auch alles angeprangert, was die italienische Kernfamilie bedroht (Homosexuelle, FeministInnen, illegalisiert lebende MigrantInnen). Mit diesen widersprüchlichen Positionen will sich die CP in die in Mode gekommenen Grassroots-Bewegungen eingereiht wissen.

So gewaltfrei und bürgerlich sich die CP nach außen hin auch geben mag, so sehr widersprechen die Fakten dieser Selbstdarstellung. Der studentische Zweig der CP, der Blocco Studentesco, schreckt nicht vor Gewalt zurück: 2011 wurde bei Studierendenprotesten in Rom ein Demonstrationszug linker SchülerInnen und StudentInnen angegriffen. Auch der Attentäter, der im Dezember 2011 in Florenz zwei senegalesische Händler auf offener Straße erschoss und drei weitere schwer verletzte, stand in enger Verbindung zur Casa Pound. Letztere versuchten in den Tagen nach dem Mord auf ihrer Homepage ihr angekratztes Image wieder herzustellen, indem sie jede Verbindung zum Täter leugneten und diesen als irren Einzeltäter hinstellten. Gleichzeitig wird der grausame Mord in einschlägigen Internetforen und Facebookgruppen als HeldInnentat dargestellt. Dass solche Strategien des Leugnens nach wie vor aufgehen, liegt weniger am Geschick einer Organisation wie der CP, als vielmehr an der Akzeptanz rechtsextremer Ideologien in weiten Teilen Europas.

 

Von mysteriösen Mächten verfolgt

  • 13.07.2012, 18:18

Moishe Postone im PROGRESS-Interview über Straches „Wir sind die neuen Juden“-Sager am WKR-Ball, Opfermythos und Antisemitismus.

Moishe Postone im PROGRESS-Interview über Straches „Wir sind die neuen Juden“-Sager am WKR-Ball, Opfermythos und Antisemitismus.

Am 27. Jänner 2012 – dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, dem Tag der Befreiung von Auschwitz – luden Wiener Burschenschaften in die Hofburg, um das Tanzbein zu schwingen. Doch der Ball des Wiener Korporationsrings ist mehr als nur eine Tanzveranstaltung, er ist Dreh- und Angelpunkt zur Vernetzung von Rechtsextremen und Neo-Nazis in Österreich und ganz Europa. PROGRESS sprach über den Strache-Sager und typisch österreichische Kontinuitäten nach 1945 mit Moishe Postone, Professor an der University of Chicago. Ein hintergründiger Bogen von Antisemitismus, falsch verstandenem Antikapitalismus, TäterInnen-Opfer-Umkehr, bis hin zur Bedeutung von Auschwitz.

progress: Über Heinz-Christian Straches Aussage „Wir sind die neuen Juden“ wurde in den österreichischen Medien ausführlich berichtet. Es hagelte Kritik, aber Tiefgang fehlte. War das nur ein einmaliger „Ausrutscher“ oder steht das für eine Kontinuität in Österreich und Deutschland nach 1945?

Moishe Postone: Seit 1945 haben sich Rechte in Österreich und Deutschland auf unterschiedliche Art und Weise als Opfer dargestellt. Denn Österreich hat ja den wunderbaren Mythos, das erste Opfer des Nationalsozialismus, und dann Opfer der Besatzung gewesen zu sein. Aber auch die Deutschen fühlten sich als Opfer der Bombardierungen und der Teilung des Landes in BRD und DDR. Wenn die österreichischen Neo-Nazis und Burschenschaften nun sagen, sie seien „die neue Juden“, sagen sie damit: Wir sind die Opfer. Dabei ist es wichtig, festzuhalten: Das sieht zwar aus wie eine Umkehrung, ist es aber nicht. Denn Antisemitismus selbst basiert auf dem Glauben der Menschen, dass sie von mysteriösen Mächten verfolgt werden, die sie dann mit den Juden gleichsetzen. In diesem Sinne besteht eine Kontinuität auf einer tiefliegenden Ebene zwischen Nazi-Antisemitismus und einem Opfermythos Österreichs und Deutschlands – noch bevor sie sich mit Juden gleichsetzten.

Damit findet ein Austausch der TäterInnen- und der Opferrolle statt?

Ja, allerdings setzt Antisemitismus Juden immer mit Tätern gleich.

Sie schreiben, „Auschwitz war eine Fabrik zur Vernichtung des Wertes ..., das Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu befreien“. Sie setzen damit Antisemitismus und Kapitalismus in Bezug. Könnten Sie das weiter ausführen?

Ja, ich habe auch in meinem Aufsatz geschrieben, der Antisemitismus sei eine fetischisierte Form von Antikapitalismus. Das haben viele missverstanden. Denn ich sage damit nicht, die Nazis seien auf dem richtigen Pfad gewesen. Sondern nationalsozialistisches Denken ist eine Reaktion auf den Kapitalismus, die auf fundamentalem Unverständnis gegründet ist. Denn das Faktum, dass man gegen etwas ist wie Kapitalismus, macht diese Gegnerschaft ja noch nicht progressiv. Es kann sie auch reaktionär und mörderisch machen.

Also ist es eine rückschrittliche Form des Antikapitalismus?

Es ist vielmehr eine Verschiebung, eine verschobene Form des Antikapitalismus. Denn anstelle eines post-kapitalistischen, deutet der Nationalsozialismus auf die Utopie eines post-jüdischen Universums. Man glaubt: Gäbe es keine Juden, die Welt wäre heil.

Ist es dann richtig zu sagen, Juden und Jüdinnen hatten keinen Wert für die Nazis?

Nein, ich würde diese Problematik mit Marx betrachten und eher das Gegenteil behaupten. Was die Nazis glaubten zu vernichten, indem sie die Juden umbrachten, waren jene Merkmale der kapitalistischen Gesellschaft, die Marx mit dem Wert assoziiert. Marx sagt, dass die grundlegende Form der kapitalistischen Gesellschaft, die Ware, einen Doppelcharakter hat, einen konkreten und einen abstrakten. Im Weltbild des NS werden Juden und Jüdinnen zur Verkörperung des Abstrakten, und die Deutschen zu Repräsentanten des Konkreten, des Gebrauchswerts. Das Abstrakte, den Wert, will man dann auslöschen. Auch daran erkennt man, dass es widersinnig ist, Nazis als antimodern zu bezeichnen. Sie haben sich sehr positiv auf Technologie bezogen, weil Technologie für sie konkret war.

Das heißt, die JüdInnen wurden der konkreten, produktiven Arbeit gegenübergestellt?

Ja. Im Gegensatz dazu wurden Juden und Jüdinnen zu Parasiten erklärt. Sie stehen für die Finanzwelt. Gleichzeitig wurden sie aber auch mit Bolschewisten identifiziert. In beiden Fällen wurden sie als abstrakt, als Kosmopoliten gesehen, die wurzellos sind. Darin zeigt sich eine primitive Form des Antikapitalismus. Anstatt die Warenform zu begreifen, wird nur die abstrakte Dimension gesehen, ähnlich wie bei Pierre-Joseph Proudhon im 19. Jahrhundert, der das Geld abschaffen wollte. Sein Verständnis des Kapitalismus und sein Antisemitismus sind aufs Engste verbunden.

Die Niederlage der K.u.k.-Monarchie im ersten Weltkrieg verbunden mit sozio-ökonomischen Veränderungen führte ja damals in Österreich zur Zunahme von Antisemitismus. Wie hat sich das weiter ausgewirkt?

Man erinnere sich, dass knapp ein Viertel der Einwohner Wiens Juden waren. Neben Budapest lebten hier die meisten städtischen Juden in Europa – mehr als in Berlin. Bis die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen, war der Antisemitismus in Österreich stärker als in Deutschland. Der frühere Oberbürgermeister von Wien, Karl Lueger, ist dafür ein gutes Beispiel. Hitler bewunderte ihn sehr, und doch ist noch immer die Straße vor der Universität Wien nach ihm benannt.

Zur Person: Moishe Postone (*1942) ist Historiker an der University of Chicago und Teil des Committee on Jewish Studies. Er war Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und promovierte 1983 an der Frankfurter J. W. Goethe Universität. Bekannt wurde Postone im deutsch- sprachigen Raum insbesondere durch seinen offenen Brief an die deutsche Linke und seinen Aufsatz Nationalsozialismus und Antisemitismus - Theoretischer Versuch.

Pimp your bike!

  • 13.07.2012, 18:18

Die queere Jetset-Electro-Popband Pop:sch holt mit dir die Räder aus dem Keller und startet in den Frühling. Schritt für Schritt durch den Fahrraddschungel mit Andrea, Alex und Flo in der Wiener Bike Kittchen.

Reifen geplatzt? Pop:sch zeigt dir was zu tun ist.

Schritt 1: Hebe dein Rad in einen Montageständer oder stelle es auf den Kopf. Dann öffne die Halterung deines Reifens – benutze dazu Schraubenschlüssel und Zange.

Schritt 2:

Hänge deine Bremsen aus, damit sie den Reifen beim Herausheben nicht blockieren.

Schritt 3:

Nachdem du deinen Reifen aus dem Rad gehoben hast, solltest du nun ein loses Rad in Händen halten.

Schritt 4:

Nun kannst du einen sogenannten Reifenheber unter den Reifenmantel schieben und am anderen Ende in die Speichen hängen. Wenn du nun mit dem Reifenheber einen Kreis ziehst, löst sich der Mantel vom Rad und du kannst den Fahrradschlauch herausnehmen. Das kann einfacher oder ein bisschen schwieriger sein. Ein zweiter Reifenheber und ein bisschen Geduld machen die Sache auf jeden Fall einfacher. Aufpassen, dass du den Schlauch mit dem Reifenheber nicht aufschlitzt.

Schritt 5:

Nun musst du dich auf die Suche nach dem Loch machen. Am besten geht das, indem du den Schlauch wieder aufpumpst und ihn in einen Kübel Wasser hältst. Wo Blubberblasen aufsteigen, tritt Luft aus und du hast das Loch gefunden. Am besten gleich mit Lackstift oder Klebeband markieren. Wenn die Luft nur ganz langsam ausgeht und du das Loch nicht gleich finden kannst, hilft Spülmittel im Wasser: Die Bläschen werden dadurch gleich viel größer.

Schritt 6:

Um den Schlauch nun zu „verarzten“, raust du den trockenen (!) Bereich um das Loch großräumig auf – das passende Schleifpapier liegt dem Flickzeug aus dem Fachmarkt bei. Trage dann die Vulkanisierlösung, also den „Kleber“, dünn auf und warte fünf Minuten bis der „Kleber“ ganz trocken aussieht und keine Fäden mehr zieht. Dann kannst du das „Pflaster“ aufkleben – fest eine Minute lang andrücken! Um zu überprüfen, ob du alles richtig gemacht hast, noch einmal den Schlauch aufblasen und wieder im Wasserbad nach etwaigen Löchern suchen.

Schritt 7:

Den ganz leicht voraufgepumpten Schlauch (ein bis zwei Mal pumpen) legst du nun wieder in den Mantel über den Reifen. Aufpassen, dass er nicht verdreht oder verwurschtelt ist. Am besten fängst du an, indem du das Ventil beim Ventilloch in den Reifen steckst und dann den Schlauch auf beiden Seiten einlegst. Wenn der Schlauch zu lange erscheint, weil er schon recht ausgedehnt ist, dann nicht zusammenlegen, sondern einfach ein bisschen zusammenschoppen. Wenn der Schlauch ganz im Mantel und Reifen verschwunden ist, hebst du mit dem Reifenheber den Mantel wieder vorsichtig in die Felge, bis der Mantel ganz und verlässlich wieder sitzt. Nun kannst du deinen Reifen vorsichtig aufpumpen.

Schritt 8: Jetzt hängst du den Reifen wieder in das Fahrrad ein – beim Hinterrad Achtung auf die Gangschaltung! Nicht vergessen, auch die Bremsen richtig einzustellen und darauf zu achten, dass das Rad beim zuzerren zentriert sitzt, damit es nicht eiert. Wenn das Rad nun ein wenig holprig ist, weil der Mantel nicht überall gleich tief in der Felge sitzt, gibt’s einen einfachen Trick: Ein bisschen Luft auslassen und einige Runden drehen – dann wieder fest aufpumpen. Fertig!

Wie pumpe ich die Reifen auf? Wichtig ist dabei, dass du die benötigte Bar- Anzahl beachtest, die auf deinem Reifen angegeben ist. Für das Aufpumpen gibt es meist zwei Ventilgrößen – im Fachmarkt erhältst du entsprechende Pumpen. Am Siebensternplatz im siebenten Bezirk in Wien beispielsweise kannst du dein Rad auch an einer öffentlichen Stelle gratis aufpumpen. Ähnliche Vorrichtungen gibt es auch an vielen Fahrradwegen und vor den meisten Radgeschäften, die dafür auch kein Geld verlangen sollten.

Meine Bremsen sind locker! Was tun?
Schritt a) Schraube mit einem Imbusschlüssel deine Bremsvorrichtung lockerer und ziehe das Drahtseil um einen Hauch fester. Am besten direkt ausprobieren, ob die Stärke passt!
Schritt b): Direkt auf der Lenkstange gibt es eine kleine Schraube, mit der du das Bremsseil festerziehen kannst. Schraube dazu das äußere Teil der Vorrichtung so, dass der Abstand zur Bremse auf der Lenkstange größer wird! Fertig!

Meine Kette wird rostig! Was tun? Schnappe dir einen alten Fetzen und wische damit die Kette gut ab. Nun ist sie bereit, um mit Fahrradöl beträufelt zu werden. Damit sich das Öl gut verteilt, und nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig ist, wische nun noch einmal mit dem Fetzen darüber. Fertig!

Fahrradküchen und Selbsthilfewerkstätten


Du brauchst doch ein wenig Unterstützung? Einrichtungen wie die Bike Kitchen in Wien, Linz und Graz sind selbstverwaltete Selbsthilfewerkstätten, mit all dem Equipment, das du brauchst.

Bike Kitchen Wien
Goldschlagstraße 8, 1150 Wien
Bike Kitchen ReparierBAR: Jeden Do 16–24 Uhr
Frauen-/Lesben-/Transgender-Selbsthilfewerkstatt: Jeden 1. Fr im Monat, 16 Uhr bis ca. 20 Uhr. Nur für Frauen, Lesben, Transgender.
http://bikekitchen.net

Fahrrad.Selbsthilfe.Werkstatt im WUK
Währinger Straße 59, 1090 Wien; am Ende des Hofes/ LKW-Ausfahrt
Mo–Mi 15 bis 19 Uhr. 3,00 € für einen ganzen Nachmittag Werkstatt-Benützung. Preise für Ersatzteile sind Verhandlungssache – wende dich an den/die WerkstättenbetreuerIn.
http://fahrrad.wuk.at

Bike Kitchen Linz, Flügelhofstraße Ecke Lessingstraße
Selbsthilfewerkstatt: Jeden Do ab 14 Uhr
http://bikekitchenlinz.nospace.at

Fahrradküche Combinesch Graz, Schießstadtgasse 40
Selbsthilfewerkstatt: Jeden Do, 17–21 Uhr
http://combinesch.com

Bikerei Innsbruck, Dreiheiligenstraße 21a
Selbsthilfewerkstatt: Jeden Di 17–21 Uhr.
www.bikerei.org

Du möchtest Pop:sch live sehen? Hier die kommenden Tourdaten:
08.05 – Wien / OST Klub
Wir verlosen

das aktuelle Pop:sch-Album! Schreibe uns dazu den Namen des Pop:sch-Erstlings an progress@oeh.ac.at

Text: Flora Eder
Technische Unterstützung: Bike Kitchen Wien

Zweimal hingehört

  • 13.07.2012, 18:18

Kati Hellwagner und Eva Grigori über "Kees it realistisch" von Yasmo und "Bitches Butches Dykes & Divas" von Sookee.

Kati Hellwagner und Eva Grigori über "Kees it realistisch" von Yasmo und "Bitches Butches Dykes & Divas" von Sookee.

Yasmo | Keep it realistisch (2011)

KATI:

Es ist das Debütalbum der 22-jährigen Yasmo aka Yasmin Hafedh, die Texte und Gedichte schreibt, Poetry Slams und Freestyle-Rapsessions organisiert. Der Wienerin ist der Poetry Slam – die geschliffene Sprache, das Feilen an den richtigen Worten, der exakte Rhythmus beim Sprechen – anzuhören und sie erinnert dabei sehr an die sympathische Nina „Fiva“ Sonnenberg. Eine „Möchtegern-Stylerin, die nicht flowt“ ist sie jedenfalls nicht, die Yasmo, eher MC und Poetin gleichzeitig. Ihr Erstling ist ein sehr straightes, mit geraden, einfachen Beats hinterlegtes Album geworden, das die gesprochene Sprache ruhig, klar und deutlich in den Vordergrund stellt. Zusätzlich bekommt das Wiener Einbaumöbel ein paar verdiente Props und die vielen Danksagungen reichen sicher auch noch für die nächsten drei Alben.

EVA:

Yasmo ist Poetin, ja Dichterin, Slammerin, Spoken Word Artist ... aber Rapperin? Als MC überzeugt sie nicht, das gleich vorweg. Die erste Nummer des Albums, „Ich“, ist noch am besten, ansonsten macht es harmlose Sounds und Texte nicht tiefgründiger, wenn eines Gottfried Benn zitiert, auf Marx anspielt oder im Protestsongcontestfinale stand. „Wow, jetzt wird’s ja echt ganz gut!“, denkt eins an einigen Stellen, nur um festzustellen: „Oh, das ist ja Guest Artist...“ (Miss Lead, Mieze Medusa, Bacchus, Selbstlaut). „Ich will nur Sachen in Sprache packen“, singt Yasmo in „Mehr Liebe“. Und das muss eins ihr ohne Abstriche lassen: Yasmo liebt die Sprache, spielt mit ihr, ihren Grenzen und ihrer Vielschichtigkeit. Mehr Infos über Auftritte und die von ihr veranstalteten Poetry Slams: www.yasmo.at

Sookee | Bitches Butches Dykes & Divas (2011)

KATI:

Die Freundin in Berlin erzählt, sie sei grade zum fünften Malauf einem ihrer Konzerte gewesen. Die Freundin in Wien sagt, sie träumte nachts von ihr. Kein Entkommen also vor Sookee. Auf ihrem dritten Solo- Album erspart sie uns glücklicherweise die Spoken-Word-Anwandlungen des Vorgängers und präsentiert ein durchgängiges Hip-Hop-Album, das kräftig der Heteronormativität in die Fresse haut. Manches Mal siegt allerdings der Inhalt über den Stil, so scheint es – aber auch das ist besser als umgekehrt. Insgesamt bleibt das Gefühl, als wären Tic Tac Toe mit uns gewachsen und Linke geworden, anstatt zu heiraten, Kinder zu kriegen und peinliche Comebacks zu feiern. Ein Muss also für FeministInnen, die früher mal zu Girl-Power-Sound rumgehüpft sind. Gebt es ruhig zu!

EVA:

Sookee hat etwas zu sagen, ihre Sounds lieferten den Soundtrack zur deutschsprachigen Slutwalk-Bewegung, gaben queeren Praxen und Überlegungen eine Stimme, ohne pädagogischen Zeigefinger oder Angst vor deutlichen Worten, sondern intensiv liebend, begehrend, wütend, verzweifelt, ermutigend, begeistert. Mit am Mic lassen sich Kobito, Pyro One, Badkat, Refpol und Captain Gips hören. Die Beats sind deutlich fetter als auf den beiden Vorgängerinnen, gestiftet von Majusbeats, Beat 2.0 und Forbiddan. Auf ihren Konzerten gibt sie auch ihre Slam Poetry Skills zum Besten, die an der Wirklichkeit geschulte, scharfsinnige Beobachtungen verdichten. Der Hype um Sookee ist die angemessene queerfeministische Antwort auf unpersönlichen Ravepunk à lá Egotronic und Co.

 

Dreckige Gitarren

  • 13.07.2012, 18:18

Wild Flag, das sind Mary Timony, Carrie Brownstein, Rebecca Cole und Janet Weiss – die erste All-female-Supergroup der Rockgeschichte.

Wild Flag, das sind Mary Timony, Carrie Brownstein, Rebecca Cole und Janet Weiss – die erste All-female-Supergroup der Rockgeschichte.

Die Wild Flag Musikerinnen waren vor allem in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in verschiedenen Bands (Sleater Kinney, Helium), aktiv. Sie wirbelten den Malestream im Rockbusiness ordentlich auf. Die damalige Zeit stellt für Wild Flag immer noch einen wichtigen Bezugsrahmen dar, wie Rebecca Cole, Keyboarderin von Wild Flag im Interview mit PROGRESS bemerkt: „Wir alle profitieren von unseren individuellen Erfahrungen in unseren früheren Bands. Alle vier von uns sind der Musik leidenschaftlich verschrieben und es ist viel gegenseitiger Respekt und gegenseitige Bewunderung füreinander, sowohl als Musikerinnen als auch auf persönlicher Ebene, vorhanden.“

„ ... the sound is what found us.“ Obwohl der selbstauferlegte Anspruch, nach all den unzähligen Projekten eine „Traumband“ zu gründen, eher nach bedachter Beharrlichkeit klingt, veröffentlichten Wild Flag im Herbst 2011, bereits kurz, nachdem sie als Band zusammenfanden, ihren ersten Longplayer (Wild Flag) auf dem Londoner Label Wichita Records. Die Erwartungen an die junge Band waren, gemessen an der Prominenz ihrer früheren Projekte, sehr groß, weswegen der rasante Aufstieg nicht ganz so plötzlich kam, ihnen aber beachtliche Kritiken (Platz 9 der Besten Alben 2011 des Rolling Stone) bescherte.Dieses Tempo spiegelt sich auf gewisse Weise auch musikalisch wieder, wird hier doch ein ganz anderes Programm gefahren, als sich so manche, die dem 90er-Jahre-Sound von Helium und Sleater Kinney verfallen sind, erhofft hätten: Es wird durch die Bank gerockt – Mit allem, was dazugehört: Dreckige Gitarrensoli, wabernde Orgelsounds und hämmernde Drums. Mehr Rock und Punk als abgetragene Indie-Langeweile. Die Vocals von Carrie Brownstein und Mary Timony fallen mal rhythmisch, nahe am Sprechgesang, mal melodiös als Chorgesang aus. Energie und Dichte werden hier groß und vor allem laut geschrieben.

L’art pour l’art? Die meist sehr persönlich gehaltenen Texte nehmen oft auf das eigene musikalische Schaffen und das Spannungsverhältnis, das bei den Auftritten zwischen Band und Publikum entsteht, Bezug: „Wir wollen, dass sich die Leute im Publikum einen Moment der Freiheit, der Überraschung und der Selbstfindung an einem unerwarteten Ort erlauben“, betont Cole. Dieser sehr persönliche Zugang wird aber nicht als unumgänglich gesehen, sondern vielmehr als (politische) Konsequenz einer Offenheit, die ebensogut explizit politische Songtexte hervorbringen kann. Zur Zeit steht vor allem eines am Programm von Wild Flag: „We’re focused on making the music for the sake of making music.“ Ein Zugang wie dieser ist wohl nur vertretbar, wenn „Musik“ sehr weit gefasst wird, als etwas, das das immergleiche Rockstartum und Bandgehabe übersteigt. Das haben Wild Flag schon längst getan!

 

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