Sociogenomics - Zwischen Natur- und Sozialwissenschaften

  • 17.04.2018, 14:20
Nachdem Umwelt und Vererbung lange als Gegensätze gehandelt wurden, will eine neue Disziplin eine Brücke zu schlagen.

Am Anfang war Francis Galton.

Der Diskurs um Umwelt und Vererbung geht bis zu den Ursprüngen der modernen Biologie zurück. Francis Galton, ein Cousin Darwins und Begründer der Eugenik, also der Anwendung der Humangenetik auf Bevölkerungspolitiken, erklärte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Vererbung zum Ursprung unseres Seins und damit zum Gegenstück zur Umwelt. Damit kam er zahlreichen empirischen Erkenntnissen zuvor: Erst 1869 entdeckte Friedrich Miescher phosphatreiche Moleküle, die er „Nuclein“ nannte. Rund hundert Jahre später zeigten Rosalind Franklins Messungen, wie DNA passierende Röntgenstrahlen beugt. Durch die Beugung des Lichts konnte sie Rückschlüsse über die Struktur des Moleküls ziehen. Die dabei entstandenen Aufnahmen waren die Grundlage für die spätere Entschlüsselung der DNA-Helix, die auch mit dem Nobelpreis geehrt wurde. Dabei war man sich erst wenige Jahre zuvor nach einem Experiment von Alfred Hershey und Martha Chase einig geworden, dass DNA - und nicht Proteine – die Trägerin genetischer Information ist.

Kein Entkommen vom Pavlov’schen Reflex.

Bekanntlich gibt es aber dennoch Einflüsse der sozialen Umwelt auf die Biologie. Schließlich war der Speichelfluss von Ivan Pavlovs Hunden empirisch messbar und das Lernen ist per Definition ein Prozess, bei dem Außeneinflüsse abgespeichert werden. Seit einigen Jahren sind weitere Indizien für umweltbasierte Veränderungen in der Erbinformation bekannt: Bei einer Maussorte war aufgefallen, dass ihre Fellfarbe und Fettleibigkeit mit der Nahrung variierte und die Gene auf eine bisher unbekannte Art und Weise beeinflusst wurden. Dass die Bausteine der DNA verändert werden können, folgt aus ihrer chemischen Natur. Entscheidend ist hierbei aber folgendes: In der Zelle befinden sich Histone, kleine Proteine, um die sich die DNA-Fäden wickeln, sodass die zwei Meter langen Stränge in der Zelle Platz haben. Diese Histone können durch spezifische Umwelteinflüsse aktiviert oder deaktiviert werden. Aus dieser Erkenntnis und den technischen Fortschritten bei der Entschlüsselung der DNA-Sequenz haben sich mittlerweile diverse Subdisziplinen entwickelt. Sie alle eint eine „-omics“-Endung. So sind Studien, bei denen die Gesamtheit der Gentranskripte analysiert wird, die „Transcriptomics“, die der Genome, also der Gesamtheit der Gene eines Organismus, die „Genomics“. Mit der jungen Disziplin der Social Genomics hat sich auch eine Disziplin entwickelt, die untersuchen möchte, wie soziale Faktoren die Aktivität vom Genom beeinflussen.

Bienen und Politik.

„Social Genomics umfasst auf der einen Seite das Identifizieren der Gene, die soziales Verhalten beeinflussen. Auf der anderen Seite umfasst es aber auch das Erforschen der Umwelteffekte auf die Gene“, so lautet zusammengefasst die bevorzugte Definition von Gene E. Robinson. Robinson ist Professor an der University of Illinois in Urbana- Champaign und war einer der Ersten, die sich mit dem Thema beschäftigten. Er fand 2002 das erste der Gene, die bei Bienenvölkern für die Arbeitsaufteilung zuständig sind, und ein Jahr später publizierte er eine Arbeit darüber, wie sich soziale Einflüsse bei der Arbeitsaufteilung im Transkriptom widerspiegeln. Seine Forschung stützt sich auf die Anwendung neuer Techniken, um die molekulare Basis von Sozialverhalten zu ergründen. Damit sind zum Beispiel High Throughput Technologies gemeint. Diese erlauben es, große Mengen zellulärer Informationen (in Form von mRNA, DNA oder Proteinen) automatisiert zu sequenzieren. Einige Unis haben mit den gewonnen Daten bereits ganze Datenbanken für den öffentlichen Zugriff angelegt. Doch auch wenn Robinson mit Bienenvölkern arbeitet, ist Social Genomics nicht nur eine naturwissenschaftliche Disziplin. Die drei Politikwissenschaftler_ innen John Alford, Carolyn Funk und John Hibbing untersuchten 2005 im Fachmagazin „American Political Science Review“, ob politische Orientierung genetisch vererbt wird. An diese Fragestellung schlossen sich andere an und hinterfragten den Zusammenhang zwischen Genen, die bei Depressionen beteiligt sind, und Wahlverhalten. Letztendlich entstand das Feld der Genopolitics, der genetischen Untersuchung politischen Verhaltens. Genopolitics ist ein Teil von Sociogenomics. Zur Abgrenzung von Sociogenomics mit „rein naturwissenschaftlichen“ Zugängen wird auch der Term „Social Science Genomics“ verwendet. „Social Science Genomics ist dabei mehr ein Phänomen der Sozialwissenschaften als der Biologie, da es hauptsächlich Sozialwissenschaftler_innen sind, die genomische Methoden und Daten verwalten, um soziale Phänomene zu untersuchen“, so Kaya Akyüz, der sich im Rahmen seiner Doktorarbeit am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Uni Wien damit beschäftigt, wie sich neue Forschungsfelder entwickeln. Er selbst fokussiert sich hierbei auf Genopolitics: „Social Genomics und Genopolitics entspringen der Big Data Ära, in der quantitative Sozialwissenschaftler_ innen die Möglichkeit erkannten, genomische Daten in ihre Forschung einzubeziehen.“ So ähnlich erlebte es Robinson: „Ich habe den Bedarf gesehen, diese mächtigen neuen Werkzeuge in die Studie von Sozialverhalten aufzunehmen. Insbesondere dabei jene, die uns erlauben zu verstehen, wie ‘Umwelt‘ funktioniert.“ Als „mächtig“ gelten diese Werkzeuge vor allem, weil man damit mittlerweile die gesamte zelluläre Erbinformation entschlüsseln kann. So ist es heute – bei entsprechendem Budget - möglich, innerhalb eines Tages das Genom eines Menschen zu entschlüsseln. Bis zum Jahr 2000 brauchten Wissenschaftler_innen dafür noch Jahre.

Der Preis vom Fortschritt?

Wie bei anderen neuen Technologien ist auch hier die Frage nach den Gefahren relevant. „Ob generiertes Wissen für Eugenik missbraucht werden kann, ist schwer zu sagen; gerade im Hinblick auf unberechenbare Regierungen wie jener Trumps“, so Akyüz. Er sieht aber mehr das Problem darin, dass Menschen Dinge determiniert sehen, sobald von DNA die Rede ist: „Wir haben eine Tendenz, essentialistisch zu denken, wenn es um Genetik geht. Hierauf reagieren aber auch Social Genomicists, indem sie angeben, dass Genetik eben nur einen Teil der Variation erklärt.“ So meint auch Robinson, dass „Sociogenomics den richtigen Rahmen bietet, um eugenisches Denken zu verhindern, schließlich ist das Hervorheben der Rolle der Umwelt auf das Genom das Gegenteil von genetischem Determinismus.“ Aus der genaueren Kenntnis einzelner Gene ergibt sich jedoch ein weiteres Risiko, jenes der „postmodernen Eugenik“. „Hier ist nicht mehr der Staat Akteur, sondern Individuen. Ein Szenario wäre, dass sich Menschen im Rahmen von Familien- oder Karriereplanung für genetisch veränderte Babys oder körperliche genetische Veränderungen entschieden, da sie sich eine Verbesserung erhoffen“, erklärt Akyüz. Das klingt jetzt alles ziemlich nach Science-Fiction. Versuche, genetische Veränderungen in Embryonen durchzuführen, gab es aber bereits in China und in den USA. So hat Shoukhrat Mitalipov letzten Sommer 145 menschliche Embryonen genetisch so verändert, dass ein Gen, das zum plötzlichen Herzstillstand führt, ausgeschaltet wurde. Die Embryonen wurden zwar nie in Gebärmütter eingepflanzt, sie lösten aber dennoch ethische Debatten aus. Auch wenn letztere Versuche auf Grund der ethische Fragwürdigkeit in Europa unwahrscheinlich sind, vorgeburtliche Auswahlmöglichkeiten gibt es schon einige und Präimplantationsdiagnostik (PID), wie sie bei künstlicher Befruchtung in Großbritannien zum Einsatz kommt, liefert genauere Ergebnisse über genetische Veränderungen an Embryonen als bisher. PID ist zwar in Österreich nur unter Auflagen erlaubt, aber es wird auch ohne PID stark selektiert. So sollen bereits Millionen weiblicher Föten aufgrund der früheren Ein-Kind-Politik in China vor der Geburt abgetrieben worden sein. Freilich ist das ein Feld offener Debatte, das nicht im Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht von Frauen gesehen werden sollte. Aber zu diskutieren, wie mit technischen Fortschritten umgegangen werden soll, anstatt Frauen und Familien in Entscheidungen alleine zu lassen, erscheint sinnvoll. Gibt es Krankheiten, die man vor der Geburt verhindern darf und sollte, oder läuft man generell in Gefahr, die ökonomische Verwertungslogik bereits vor der Geburt an die nächsten Generationen weiterzugeben? Die Tatsache, dass in China Föten aufgrund ihres Geschlechts abgetrieben werden, zeigt zumindest, wie abstrus „unerwünschte“ Eigenschaften sein können.

Brücken bauen?

Kann nun Social Genomics das Gegensatzpaar von Umwelt und Vererbung auflösen? „Nachdem Umwelt und Vererbung als Gegensatzpaar akzeptiert sind, ist dieses auch nicht aufzulösen“, meint Akyüz. Catherine Bliss von der University of California in San Francisco ist da anderer Meinung: „Eine Wissenschaft, die natur- und sozialwissenschaftliche Zugänge in einer ausgeglichenen Art und Weise verbindet - wo beiden Seiten der Gene-gegen- Umwelt-Gleichung genauso viel Aufmerksamkeit bekommen - sollte die alten Ideen von Umwelt und Vererbung sprengen.“ Kaya Akyüz lenkt ein: „Die aktuelle Situation erlaubt vielen, sich in transdiziplinären Gruppen zu engagieren, die die Grenzen ausloten können.“ Für Bliss, die letzten Monat ein Buch zu Social Genomics veröffentlicht hat, ist genau diese Interdisziplinarität eine ihrer Stärken: „Meine Befürchtung ist nur, dass die Wissenschaft momentan einseitig auf die genetische Seite ausgerichtet ist.“ Vor dem Schreiben des Buches beschäftigte sich Bliss mit der Entwicklung der Social Genomics und schaute sich an, wie Genetiker_innen mit kritischen Variablen wie ethnischer Differenz umgingen. Erst später fiel ihr auf, dass auch Sozialwissenschaftler_ innen beteiligt sind. Sie hinterfragte daraufhin deren Einfluss in der Debatte und ob durch sie ein verantwortungsvollerer Umgang mit kritischen Variablen an den Tag gelegt wird. Für Bliss steht jedenfalls fest: „Die Social Genomics sind weder rein sozial-, noch rein naturwissenschaftlich. Es ist ein wahrlich transdisziplinäres Feld, das die Macht hat, sozial- und naturwissenschaftliche Perspektiven in wichtigen und neuen Wegen zu vereinen.“ Akyüz erinnert aber: „Selbst wenn Wissenschaftler_ innen versuchen, Gene und Umwelt miteinander zu verbinden, sind sie letztendlich limitiert von den Faktoren, die dem Feld erlauben, sich weiter zu entwickeln.“ So kann Wissenschaft auf Basis großer Datenbanken nur so komplex sein, wie die Daten, die ihr zu Grunde liegen. Fehlen Informationen über biologische oder soziale Parameter, stößt die Analyse schnell an ihre Grenzen. So ließen sich aus derzeitigen Bestände genomischer Daten bereits ganze Fachzeitschriften mit Genen füllen, die einem bestimmen Verhalten zu Grunde liegen könnten. Aber ohne weitere Daten über das Zusammenspiel von Zelle und sozialer Umwelt werden die Social Genomics ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht. kommt, dann reagiert man darauf mit Geldstrafen. Wenn man die neun Seiten über Bildung im Regierungsprogramm liest, kommt der Verdacht auf, dass die vergessen wurden, die es am meisten betrifft – nämlich die Schüler_innen.

AutorInnen: Felix Korbinian Schmidtner