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NICHT NUR LESEN GEGEN RECHTS, ABER AUCH.

  • 12.06.2024, 14:47
(auto)fiktionale Bücher, die zu politischer Handlungslust beitragen können

Der spürbare Rechtsruck in Europa lässt sich nicht allein durch Lesen abwenden. Schon Stefan Zweig beschrieb vor fast 100 Jahren in seiner Autobiografie Die Welt von Gestern, wie sehr er gegen den aufkommenden Faschismus angelesen und angeschrieben hatte. Auch ohne die Stefan-Zweig-Lektüre ist klar, wir können noch so viel diskutieren, lesen, schreiben oder Seminare belegen und dennoch sind rechte Bewegungen in ganz Europa auf dem Vormarsch.

Wer trotzdem noch etwas übrig hat für die Literatur, fragt sich vielleicht: Was lesen gegen den Faschismus? Nicht nur Theorietexte sind hilfreich, um die absolute Notwendigkeit einer solidarischen Zukunft zu verstehen. Besonders Autofiktionen ermöglichen uns Perspektiven, die uns sonst nicht immer zugänglich sind. Aus Empathie kann Solidarität und Wut über die unerträgliche Ungerechtigkeit entstehen, die durch kapitalistische, rassistische und patriarchale Politik jeden Tag reproduziert wird. Gleichzeitig haben autofiktionale Texte das Potenzial, unglaublich heilsam zu wirken. Heilsam wie Fatima Daas' Debütroman Die jüngste Tochter, indem sie die Geschichte einer jungen lesbischen Muslima in den Vororten von Paris erzählt. Der Roman zeigt poetisch, wie eine rassifizierte und queere Person lernt, sich selbst anzuerkennen.

Wütend machend schreibt der schweizerisch-kamerunische Autor Max Lobe in seinem autobiografisch gefärbten Roman Drei Weise aus dem Bantuland über Rassismus und Queerfeindlichkeit in der Schweiz. Nach seinem Studium hat der junge schwarze Protagonist Mwána Probleme, eine Lohnarbeit zu finden. Im Gegensatz zu privilegierten weißen Kommiliton_innen, die die Unterstützung ihrer Eltern sowohl finanziell als auch durch deren Kontakte genießen, ist Max Lobes Protagonist auf sich allein gestellt. In dem Roman geht es um die Ambivalenzen innerhalb einer linken Bewegung. Lobes Figur beginnt ein prekäres Praktikum bei einer Non-Government-Organisation, die sich gegen Rechtsruck einsetzt. So demonstrieren sie alle zusammen gegen das rassistische Schäfchenplakat der Schweizerischen Volkspartei, während er seit Tagen aufgrund seiner finanziellen Lage kaum etwas gegessen hat.

Rechte Politik schafft Tatsachen. Der französische Autor Édouard Louis schreibt: „Die Herrschenden mögen sich über eine Linksregierung beklagen, aber keine Regierung bereitet ihnen jemals Verdauungsprobleme, keine Regierung ruiniert ihnen jemals den Rücken, keine Regierung treibt sie dazu, ans Meer zu fahren. Die Politik verändert ihr Leben nicht oder kaum." (S. 71) Er bezieht sich hier auf die Auswirkungen, die Sarkozys Politik auf das Leben seiner Familie hatte. Louis schreibt: „Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage: eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. Für uns ist sie eine Frage von Leben und Tod." (S. 71) Louis erzählt von Sozialhilfekürzungen und wie die Politik Menschen in den Arbeitsmarkt drängt, gleichzeitig wird die Vermögenssteuer gesenkt. Louis lässt uns die Tatsachen, die rechte Politik schafft, in seinem Buch Wer hat meinen Vater umgebracht? verstehen.

Diejenigen, denen die Klimakrise schlaflose Nächte bereitet, können Robin Wall Kimmerer lesen. In Geflochtenes Süßgras erzählt die Botanikerin und Angehörige der Potawatomi eine Geschichte über die Beziehung zwischen Mensch und der sogenannten Umwelt. Hier habe ich gelernt, dass eine „Bucht sein" ein Verb sein kann und dass ich am Ende vielleicht mehr mit einem Berggipfel gemeinsam habe, der im Kapitalismus ausgebeutet wird, als mit einem Jeff Bezos oder Elon Musk.

Bücher zu lesen wird die FPÖ, die AfD und die Verschiebung des öffentlichen Diskurses nach rechts nicht stoppen können. Es kann aber trotzdem helfen: Die erlebte Empathie und Solidarität beim Lesen sind nämlich nicht fiktiv. Immer wieder erfahren, kann sie uns weiter politisieren.

 

Genannte Bücher:

Daas, F. (2021) Die jüngste Tochter. Claassen Verlag.

Kimmerer, R. W. (2021) Geflochtenes Süßgras. Aufbau Verlag.

Lobe, M. (2020) Drei Weise aus dem Banutland. austernbank verlag.

Louis, É. (2019) Wer hat meinen Vater umgebracht. S. Fischer Verlag.

Zweig, S. (2013) Die Welt von Gestern. Anaconda Verlag.

 

Carlotta Partzsch studierte Literaturwissenschaften an der Uni Wien und ist jetzt im Master in Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Der SUV als gelebte Männlichkeit

  • 05.06.2024, 13:14
Schon lange ist Klimapolitik kein ausschließlich grünes Steckenpferd mehr. Rechtspopulistische Parteien haben längst das Empörungspotenzial für sich erkannt und polemisieren gegen selbsternannte „Klimaterroristen“ oder das Diesel-Aus. Dabei durchlaufen rechte Parteien eine argumentative Gratwanderung. Während es vor einigen Jahren in rechtspopulistischen Fraktionen noch als en vogue galt, den Klimawandel und damit einhergehende Maßnahmen zu revidieren, erkennen immer mehr rechte Politiker_innen die menschliche Einflussnahme auf das Klima.

Dieser Paradigmenwechsel rührt nicht zuletzt aus der Erkenntnis rechter Parteien, dass ihre Polemik gegen die „Eliten“ auch ganz ohne Leugnung des Klimawandels greift. Und weil Klimapolitik etwas mit hegemonialer Männlichkeit zu tun hat.

 

Müde vom Klima. Obwohl es einen anhaltenden Konsens über die Relevanz und Notwendigkeit von Klimapolitik gibt, lässt sich ein „Greenlash-Effekt“ beobachten. Gemeint damit ist eine zusehends negative Einstellung zu wirkungsvoller Nachhaltigkeits- und Umweltpolitik. Diese „climate fatigue“, also Klimamüdigkeit, rührt unter anderem aus dem größer werdenden Zweifel an der sozialen Gerechtigkeit von klimapolitischen Maßnahmen und weil eine gewisse Lebensweise als bedroht erscheint. Dass in diesen realen Befürchtungen enormes politisches Verdruss-Potenzial steckt, zeigt auch ein Blick in die Vergangenheit.

Im Herbst 2018 erleuchten Frankreichs Straßen in grellen Neonfarben. Über 250.000 Menschen gehen auf die Straßen, um gegen die Regierung zu protestieren. Zum Symbol der landesweiten Proteste werden gelbe Neonwesten. Grund für die angeheizte Stimmung war ein umfangreiches CO₂-Steuerpaket Macrons, das Benzin- und Dieselpreise verteuerte, ohne gleichermaßen auf die soziale Verträglichkeit der Preiserhöhung zu achten. Die Proteste waren also vorprogrammiert. Denn wie bei allen Verbrauchssteuern, sind einkommensschwächere Haushalte prozentual stärker betroffen als einkommensstarke, weshalb derartige Steuern ohne Rückverteilung nur die Vermögensdisparität begünstigen. Das Gesetzespaket empfanden viele als Einschnitt in ihren Lebensstil, weshalb Macron in Folge der Proteste zurückrudern musste.

Jene Skepsis spiegelt sich auch in einer Eurobarometer Studie aus dem Jahr 2022 wider: Etwa bezweifeln 46% der Befragten, dass nachhaltige Energie für alle leistbar sein wird. Die Frage nach Nachhaltigkeit und Umweltschutz ist für viele Menschen eine ökonomische, weshalb man vielerorts weitreichenden Maßnahmen eher mit Zurückhaltung begegnet. Negiert man diese Tatsache, spielt man Rechtspopulist_innen in die Karten.

Verdruss über klimapolitische Maßnahmen ist aber auch deshalb zu beobachten, weil rechtspopulistische Politik es bestens versteht, politisches Kleingeld aus den gesellschaftlichen Dynamiken zu schlagen - in Frankreich und anderswo. Der zu beobachtende „Greenlash“-Effekt lässt sich zudem auch nicht nur durch seine wirtschaftlichen Zusammenhänge erklären.

 

Der kleine Mann und das Klima. Zu der berechtigten Skepsis gegenüber der sozialen Verträglichkeit von CO₂-Steuern, wie in Frankreich, gesellt sich nämlich ein identitätspolitisches Sentiment der Empörung. Eine Gemengelage, die der Rechtspopulismus längst in seine Strategie integriert hat. Als bedroht erscheint hier nicht nur die ökonomische Grundlage, sondern gleich eine ganze Lebensweise und Haltung. Eine explizit patriarchale Lebensweise, die stark mit dem Verbrauch von fossilen Brennstoffen verbunden ist.

Die Argumentationsformel dabei ist bestens bekannt: Klimapolitische Maßnahmen werden als oktroyierte Verbotspolitik der „Eliten“ imaginiert, die sich an der Lebensweise von Otto Normalverbraucher stößt. Typisch hierbei - ideologische Vereinnahmung wird immer woanders, nie jedoch bei sich selbst verortet. Gleichermaßen stilisieren sich Herbert Kickl und Co als vermeintliche Verteidiger_innen des kleinen Mannes, dessen Freiheiten es zu beschützen gilt. Es ist hier aber nicht nur der sprichwörtliche „Kleine Mann“, den rechte Politiker_innen auch in klimapolitischen Anliegen für sich beanspruchen. Denn in westlichen Männlichkeitsvorstellungen nimmt fossile Energie einen prominenten Stellenwert ein. Dicke Karren mit hohem Spritverbrauch markieren eben immer noch eine weit verbreitete Vorstellung von Maskulinität.

 

„Petro-Masculinity“: Der SUV als gelebte Männlichkeit. Die Politologin Cara Daggett spricht etwa von sogenannter „Petro-Maskulinität“, um die spezifische Korrelation von hegemonialer Männlichkeit und fossiler Energie (also Petrol/Petro) zu beschreiben. Der Verbrauch von fossiler Energie, konkret etwa in der Form von Verbrennungsmotoren in großen SUVs, sei demnach essenzieller Bestandteil in der Performanz und Auslebung von westlich geprägten Männlichkeitsvorstellungen, so Dagget. 

Um den identitätspolitischen Impetus von fossiler Energie zu verstehen, hilft auch ein Blick in die Vergangenheit. Den Befund, dass die westliche Wohlstandskultur nicht ohne entsprechenden fossilen Energieverbrauch zu denken ist, wusste nämlich schon die postkoloniale Theorie. Dipesh Chakrabarty (2009) etwa beschrieb die Errungenschaften der westlichen Moderne als „energy-intensive“, also in starker Abhängigkeit zu fossilem Brennstoff: Der westliche Wohlstand fußt gewissermaßen auf einem unerschöpflichen Verbrauch von fossilen Brennstoffen.

Insbesondere im 20. Jahrhundert war fossile Wirtschaftspolitik eine Garantie für hohe Beschäftigungsquoten und gesellschaftliche Prosperität. Wohlstand, der nicht ohne seine immanent patriarchale Ausrichtung zu denken ist, wie auch die Politologin Dagget weiß. Richtete sich die Wirtschaft doch vor allem an eine Gesellschaftsordnung, in der hegemoniale Männlichkeit eng mit dem intensiven Verbrauch von fossilen Brennstoffen verbunden war. Für den männlich geprägten Wohlstand der westlichen Industrienationen wurde fossile Energie also zum sine qua non.

„Petro-Maskulinität“ ist insbesondere deshalb ein interessanter Erklärungsansatz für den massiven Backlash, den Klimapolitik erfährt, weil fossiler Energie in der Auslebung und Performanz von patriarchaler Männlichkeit eine so große Rolle zukommt. Diese ideelle Dimension von fossiler Energie dient buchstäblich als zündender Treibstoff für rechte Identitätspolitik, denn fossiler Brennstoff nimmt einen immensen kulturellen und ideellen Stellenwert ein, wie die Politologin Cara Dagget es ausdrückt. 

Fossile Energie fungiert gewissermaßen als Chiffre für den breiten Wohlstand der westlichen Industrienationen, für patriarchale Selbstverwirklichung und klare gesellschaftliche Verhältnisse.  Zustände also, die in einer spätkapitalistischen Moderne zusehends Brüchigkeit erfahren und im Selbstverständnis rechtspopulistischer Parteien von einer linken Ideologie als bedroht imaginiert werden. 

Der Philosoph Zygmunt Baumann gebrauchte einst das Kunstwort „Retrotopie“, um das Herbeisehnen einer vermeintlich besseren Vergangenheit zu beschreiben, die in modernen Gesellschaften den utopischen Weitblick hin zu einer besseren Zukunft verdrängt habe. Petro-Maskulinität ist nichts anderes als ein solcher nostalgischer Reflex Baumannscher Art, ein Zurückwünschen einer unwiederbringlich vergangenen Zeit. Eine Zeit, in der ein großspuriger SUV noch ein Symbol des männlichen Wohlstands war und nicht der Klimaignoranz. Rechtspopulistische Politik versteht es, diese Sehnsucht bestens zu instrumentalisieren. Paradebeispiel für diese „Petrol-Nostalgie“ ist Donald Trump, der in seiner Amtszeit just aus dem Pariser Klimaabkommen austrat und damit signalisierte, dass seine Wählerschaft auch in Zukunft keine Sorge zu hegen braucht, auf schwere Pick-Up Trucks zu verzichten.

 

Klimapolitik mit Rechtsdrall. Nachhaltiger Klimapolitik wird somit ein identitätspolitischer Spin von rechts verpasst und gegen eine angeblich elitäre und vermeintlich links-ideologische Vereinnahmung behauptet. Nicht zuletzt deshalb treffen polemische Sager gegen die Eindämmung fossiler Energien in der männlichen Kernwählerschaft rechtspopulistischer Parteien auf so hohe Resonanz. Nicht nur in den USA, sondern auch in Österreich.

So überrascht es kaum, dass einst die leidige Debatte rund um das von der FPÖ geforderte Tempolimit 140 auf Österreichs Autobahnen so großen Widerhall erfuhr. Dass mittlerweile auch das konservative Politspektrum die Klaviatur des populistischen Argumentariums bestens zu bespielen weiß, zeigt auch ein Blick in die österreichische Innenpolitik. Vergangenes Frühjahr verkündete der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer mit dem Brustton der Überzeugung, dass Österreich „das Autoland schlechthin“ (Wie Karl Nehammer die ÖVP Zurück in die Zukunft Führt, 2023) sei. Kurz darauf kündigte Nehammer beim selbst veranstalteten Autogipfel sogar das bereits auf EU-Ebene beschlossene Ende des Verbrennungsmotors an. Eine rhetorische Umarmung an all jene, die durch wirksame Nachhaltigkeitspolitik und die Eindämmung von fossiler Energie ihre Identität gefährdet sehen.

Der frontale Klimaskeptizismus rechtspopulistischer Akteur_innen scheint etwas altbacken geworden zu sein und als Argumentationsstrategie überholt. Das dreiste Leugnen von anthropogener Einflussnahme auf das Klima hat als Strategie einschlägiger Parteien unter anderem auch deshalb ausgedient, weil rechtspopulistische Politakteur_innen erkannt haben, dass sie Klimapolitik bestens für ihre eigenen identitätspolitischen Interessen gebrauchen können - und das auch ganz ohne Klimaleugnung.

 

Stefan Meindl studiert Zeitgeschichte und Medien an der Universität Wien.

 

Foto © Lukas Pürmayr

 

Quellenbox:

Chakrabarty, D. (2009). The Climate of History: Four Theses. Critical Inquiry, 35(2), 197–222. https://doi.org/10.1086/596640

Daggett, C. (2018). Petro-masculinity: Fossil Fuels and Authoritarian Desire. Millennium, 47(1), 25–44. https://doi.org/10.1177/0305829818775817

Fairness perceptions of the green transition. (2022, Oktober). European Union. https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2672

Wie Karl Nehammer die ÖVP zurück in die Zukunft führt. (2023, 10. März). DER STANDARD. http://xn--h-0ga.at/SUV1

Über den verdrängten Rassismus in Österreich

  • 05.06.2024, 13:22
In einem Land, das sich weigert, seinen Rassismus anzuerkennen, bleibt der Kampf gegen Vorurteile und Ausgrenzung eine aussichtslose Aufgabe.

Das erste Lichtermeer gegen Rechts fand in Österreich 1993 in Wien statt. Ziel dieser Demonstration war es, ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz zu setzen. Auslöser dafür war das Volksbegehren „Österreich zuerst“ – auch Anti-Ausländer-Volksbegehren genannt. Initiator des Volksbegehrens war Jörg Haider, damals noch Vorsitzender der FPÖ, der in den folgenden Jahren mit seiner Anti-Ausländer-Kampagne und -Partei politische Höhenflüge erleben sollte. 

Ver- und Entfremdung. Folglich wurde die erste schwarz-blaue Koalition 2000 gebildet und erhielt 2002 eine Neuauflage bis 2005. Ich bin 1992 geboren, kam also genau zu Zeiten von wieder aufkochendem Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zur Welt und spürte das auch. Ich war wie gebrandmarkt – mein Name, meine Haare, die Tatsache, dass meine Erstsprache nicht Deutsch war, all das machte mich fremd. Zu einer Fremden. Diese Ver- und Entfremdung spürte ich überall und in jedem Aspekt meines Lebens, weil sie es mich spüren ließen. Die Kinder und Jugendlichen mit denen ich in einer Klasse sitzen musste, deren Eltern, die Nachbarn, meine Lehrer_innen und auch Menschen auf der Straße, im Supermarkt, in Behörden – überall. Ich konnte damals nicht benennen, was es war, ich wusste, dass sie mich als anders wahrnahmen und dass ich nichts tun oder sagen konnte, um diese Andersartigkeit, diese Fremdartigkeit zu konterkarieren. Ganz im Gegenteil, alles was ich sagte oder tat wurde als Beweis für diese Fremdartigkeit wahrgenommen und ich dafür ausgeschlossen.

Heute weiß ich, dass ich teils äußerst aggressive rassistische Übergriffe erlebt habe, nicht nur von Gleichaltrigen, sondern vor allem von Erwachsenen, die sich in solch einer Intensität in meinem Erwachsenenleben nie wiederholt haben. Nicht etwa, weil die Gesellschaft toleranter geworden ist, ganz im Gegenteil, weil es einfacher ist, Hass und Aggression auf ein Kind zu projizieren als auf eine Erwachsene. Es geht also nicht nur um Migranten_innen, sondern konkret ihre Kinder, ‚Migrantenkinder‘. Diese Kinder waren und sind nie so viel wert wie ‚echte österreichische Kinder‘, aber darüber hinaus wurden und werden sie als Bedrohung für das Land wahrgenommen. Hinter ihrer Existenz wird eine feindliche Übernahme vermutet, was die Traditionsschützer_innen Österreichs, also Rassist_innen, im wahrsten Sinne des Wortes wild werden lässt. Ursachenbekämpfung auf österreichisch eben.

Österreich und der Rassismus. Ich weiß aber auch, dass es keinen Sinn macht, in Österreich eine Diskussion über Rassismus anzustoßen, weil es hier keinen Rassismus gibt. Österreich belegt zwar die Spitzenposition jeder Rassismus-Statistik, die im EU-Raum durchgeführt wird, aber niemand hier ist rassistisch. Österreich hat höchstens ein ‚Ausländer-Problem‘, ein ‚Einwanderer-Problem‘, ein ‚Flüchtlings-Problem‘, aber doch kein ‚Rassismus-Problem‘! Wenn, dann sind es doch die Einheimischen, die fürchterlich unter dem ‚Ausländer-Problem‘ leiden und das Recht haben, sich und ihre Kultur und Tradition zu verteidigen.

Und damit schließt sich der Kreis wieder: Eine Rückkehr zu Traditionen, das wird das ‚Ausländer-Problem‘ lösen. Tradition statt Multikulti ist die neue Kampagne der ÖVP, mit der sie jetzt Wahlkampf macht. Fehlt nicht sehr viel bis ‚Daham statt Islam‘ (einer vergangenen FPÖ Kampagne) und ja, natürlich ist das beabsichtigt. Sie haben schon lange erkannt, was die Wähler_innenschaft von ihnen will und geben es ihr regelmäßig – mal subtiler, mal plumper, aber immer bedarfsgerecht. Spätestens seit die FPÖ wieder konsistent mit 30% die Umfragen dominiert, zeichnet sich bundesweit eine dritte Auflage von FPÖVP ab – weil die letzte so viel Spaß gemacht hat. Jetzt geht es eben darum, wer blauer sein kann, denn das will die Mehrheit der Österreicher_innen. Sie will sich überlegen fühlen gegenüber diesen fremdartigen Ausländer_innen, die nicht in ihre ‚Tradition‘ passen. Sie will diese fremden Ausländer_innen schlechtergestellt und bestraft wissen, denn wie kommen sie dazu, von unserem Sozialsystem zu profitieren? Von einem System, in das sie reinzahlen, seit sie in Österreich leben und arbeiten, aber rausbekommen dürfen sie nichts. Das muss man sich erarbeiten! Als hätten Migrant_innen je was anderes gemacht als zu arbeiten und zwar in Jobs, die Österreicher_innen nicht machen wollen, während sie von ebendiesen argwöhnisch beäugt, verspottet und erniedrigt wurden.

Jedes Migrantenkind mit Arbeitereltern kennt Geschichten von unfairen Verhältnissen auf der Arbeit, von verbaler Gewalt und manchmal auch von Übergriffen – kennt Tränen der Wut, der Trauer, der Aussichtslosigkeit, und weiß auch, dass die Zu- und Umstände, die dazu führen, beabsichtigt sind. 

Durch die Familienzusammenführung in den 70er Jahren sammelten sich eben zu viele Fremde in diesem Land. Dies erkannte man als Fehler und erkannte auch, dass es zusätzliche Mechanismen zur Gesetzgebung braucht, um diese Fremden wieder loszuwerden, weil es eben hin und wieder keine schwarz-blaue Regierung geben kann. Der Grund dafür: mannigfaltige Korruptionsskandale und Akteur_innen, die Millionen an Steuergeldern veruntreuten, aber wer ist da schon so genau? 

Das Resultat davon lässt sich sehen: Menschen, die nach Österreich kamen, in der Hoffnung, sich hier ein besseres Leben aufzubauen, kehren nach 30, 40 Jahren geleisteter Arbeit und mit einem geschundenen, abgenutzten Körper wieder in ‚ihre‘ Heimat zurück. Oftmals hat sich die besagte Heimat nicht sonderlich stabilisiert in der Zwischenzeit, ganz im Gegenteil, aber alles ist besser, als für etwas gehasst zu werden, was man an sich nicht ändern kann. 

Rassistisch sind immer die anderen. Und die anderen? Die nicht FPÖVP wählen? Tja, was ist mit den anderen, das ist eine gute Frage. Sie reproduzieren sehr unreflektiert rassistische Erzählungen über Ausländer und Fremde. Ja, viele dieser Menschen würden wohl nicht abstreiten, dass es Rassismus in Österreich gibt, und dass dieser Rassismus das Leben von diversen Gruppen von Menschen schwieriger macht, nur würden sie diesen Rassismus nie bei sich verorten – es sind eben immer die anderen, die rassistisch sind. Die Demos gegen Rechts sind immer gut besucht, nur frage ich mich, ob die Menschen dort wirklich wissen, wogegen sie demonstrieren.

Sinnvoller, als auf diesen Demos zu stehen, wäre es Zivilcourage zu zeigen und einzugreifen, wenn ein rassistischer Übergriff passiert, auf menschenverachtende Hintergründe von Begriffen aufmerksam zu machen, wenn diese fallen, auch wenn keine Ausländer_innen anwesend sind und sich ernsthaft mit der Frage nach Privileg und Unterdrückung auseinanderzusetzen – vor allem mit den eigenen Privilegien. Aber von Menschen in privilegierter Position zu verlangen, diese zu hinterfragen, gehört zu den Unmöglichkeiten dieser Welt, denn sie sind ja gar nicht privilegiert.

Privilegien. Ein Privileg ist alles, worüber man sich keine Gedanken machen muss. Unpolitisch zu sein, wie die meisten auf diesen Demos, ist ein Privileg. Einen echten österreichischen Namen zu tragen, ist ein Privileg. Sich keine Gedanken über Anfeindungen im öffentlichen Raum machen zu müssen, ist ein Privileg. All das sind Privilegien, die vielen in Österreich verwehrt bleiben.

Ich schaue mir Bilder von besagten Demos an und bin erschlagen vom Selbstinszenierungsdrang. Mir kommen Schilder unter wie Döner statt Nazis; ich höre Diskussionen mit, wo vermeintliche Allys (= Personen, die sich aktiv für die Unterstützung und Solidarität mit marginalisierten Gruppen einsetzen und selbst nicht betroffen sind) die Frage danach stellen, wer denn die Drecksarbeit macht, wenn es keine Ausländer_innen mehr gibt – so kurzsichtig, diese Rassist_innen; ich muss mir anhören, wie mir ebendiese vermeintlichen Allys erklären, dass ich trotz meiner muslimischen Eltern ganz cool bin – und ich empfinde nichts als Resignation. Nichts, was ich je sagen oder machen könnte, würde irgendetwas an der Situation ändern, denn ich spreche aus einer Betroffenheitsperspektive und kann daher nicht ernst genommen werden. Ein Favorit ist auch: Du musst das unemotional sehen. Weil ja erst meine Emotionen den Rassismus problematisch machen.

Nach vielen Jahren hier bin ich das alles gewohnt. Ich mache mir keine großen Gedanken mehr, ob oder wie das Rassismus-Problem in Österreich bewältigt werden könnte, weil ich keine Zukunft hier für mich sehe. Ich habe mich abgefunden mit den ständigen Anfeindungen, der Hetze, den Beleidigungen und dem Spott. Ich habe erkannt, dass das für viele hier fast schon einen Selbstzweck erfüllt, oder besser gesagt einige sogar erst mit Leben und Sinn erfüllt, wenn sie hassen und verachten können – es macht Sinn, wenn man sich die Geschichte vor Augen führt. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich eine Gefahr und Bedrohung für dieses wunderschöne Land darstelle und muss gestehen: ich wollte es nie.

 

Nilüfer Dag studiert Gender Studies an der Universität Wien.

 

Foto © Lukas Pürmayr

 

Der Verfassungsschutz und seine Nazis?

  • 05.06.2024, 13:29
Spionageskandale, dubiose Durchsuchungen und enge Kontakte zu österreichischen Neonazi-Strukturen im mittlerweile aufgelösten Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) zeigen eines: der österreichische Verfassungsschutz scheint ein Problem mit Rechtsextremen in den eigenen Reihen zu haben.

Die Marsalek Bande. Rund um die neu auftauchenden Spionageskandale spielt hier der ehemalige Verfassungsschützer Egisto Ott eine zentrale Rolle. Zusammen mit seinem Vorgesetzten Martin Weiss, der wiederum direkter Mitarbeiter des untergetauchten Russlandspions Jan Marsalek ist, war Ott Teil eines Spionage-Netzwerkes innerhalb des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung.

Die Vorwürfe an eben diesen Spionage-Kreis sind lang. So soll Egisto Ott etwa Dokumente zum russischen Nervengift Nowitschok herausgegeben, gestohlene Smartphones von Spitzenbeamten an Spione verkauft, illegal Personendaten abgefragt und bei der Jagd auf einen Kreml-kritischen Journalisten geholfen haben. (1)

 

Infobox Jan Marsalek

Jan Marsalek ist ein ehemaliger Spitzenmanager, der in einem milliardenschweren Betrugsfall rund um das Wirecard-Unternehmen zu einem aktiven Agenten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB wurde. Er wird seit 2020 von mehreren europäischen Sicherheitsbehörden gesucht und ist in Russland untergetaucht. Marsalek hat(te) zahlreiche Verbindungen zu hohen österreichischen Beamten, wie etwa dem Ex-Spitzen-Politiker Johann Gudenus (FPÖ) und zwei Verfassungschützern. Über diese Verbindungen hat Jan Marsalek zahlreiche sensible Informationen an den Kreml weitergegeben.

 

Suspendierungen und Evakuierungen. Bereits 2018 machten ausländische Geheimdienste auf die Russland-Verstrickungen von Egisto Ott (und anderen) aufmerksam: dieser wurde vom BVT zwar suspendiert, konnte kurze Zeit später aber in der ‚Sicherheitsakademie‘ schon wieder als Polizist tätig sein. Hier spioniert Ott einfach weiter und späht für seinen ehemaligen Vorgesetzten Martin Weiss, der nun für Jan Marsalek arbeitet, zahlreiche Personen aus. Bis zuletzt waren Egisto Ott und Martin Weiss in Spionageskandale verwickelt; während Martin Weiss aber in Dubai auf freiem Fuß ist (und wahrscheinlich nie vor ein österreichisches Gericht kommen wird) sitzt Egisto Ott seit März 2024 in U-Haft.

Neue Details. Wöchentlich kommen neue Details in der ,Causa Egisto Ott‘ ans Tageslicht. Über die 573 seitigen "Faktenblätter D" der ‚AG Fama‘, einer Ermittlungskommission im Bundesministerium für Inneres, ist nun bekannt geworden, dass Egisto Ott in mehreren Fällen illegal Antifaschist_innen ausspionierte. Bereits 2016 soll der Verfassungsschützer Adressen von mindestens 43 Personen und deren Umfeld abgefragt und möglicherweise an Rechtsextremisten weitergegeben haben. (2)

Die betroffenen Antifaschist_innen wurden zu keinem Zeitpunkt darüber informiert, dass ihre Daten, darunter auch Wohnadressen, möglicherweise an organsierte Rechtsextremisten weitergegeben wurden. Es scheint ganz so, als war Egisto Ott die Verfolgung von progressiven Kräften ein Herzensprojekt.

Legale und Illegale Methoden. Für die Verfolgung von antifaschistischen Aktivist_innen nutzte das Bundesamt für Verfassungschutz und Terrorismusbekämpfung neben illegalen Aktivitäten (wie etwa Datenabfragen) auch ganz legale Rechtskonstruktionen. Im Zuge der Ermittlungen im sogenannten ‚Antifa2020 Prozess‘ wurde der Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung und Organisation“ konstruiert. Mit diesem Vorwurf wurden weitreichende Ermittlungsmethoden, wie etwa das Abhören von Mobiltelefonen, legitimiert und die Möglichkeiten von Repressionen erheblich erweitert.

Prioritäten. Egisto Ott ist in dem weiten ‚Skandal Verfassungsschutz‘ nur das Symptom einer kaputten Institution. Eine Institution, der ein nicht haltbarer ‚Extremismusbegriff‘ zugrunde liegt. In diesem verdrehten Extremismusbegriff werden etwa linke und rechte Gewalt gleichgesetzt; die vermeintliche ‚politische Mitte‘ wird zur ‚demokratischen Mehrheit‘ auserkoren. Diese Fehlanalyse erkennt die autoritäre Zuspitzung eben dieser ‚politischen Mitte‘ nicht. Im spürbaren Rechtsruck werden Rassismus, Antisemitismus und andere menschenfeindliche Diskriminierungsformen genau hier wieder salonfähig. Der österreichische Verfassungsschutz beschäftigt sich indes lieber mit der Verfolgung von Antifaschist_innen, diffamiert diese als ‚staatsgefährdend‘.

Aus den Akten zum Antifa2020 Prozess geht etwa hervor, dass in fast jedem Bericht des damaligen Verfassungsschutzes eine politisch verdrehte Meldungslegung zu finden ist. Antifaschist_innen werden als extremistisch und gewaltbereit beschrieben, Rechtsextreme  werden hingegen als “rechtsgerichtete Bürgerbewegung” bezeichnet und beschönigt. 

Gleichzeitig hatte das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung offensichtlich keine Ressourcen für tatsächliche Terrorismusbekämpfung. So wurden Warnungen von ausländischen Geheimdiensten zu dem späteren islamistischen Attentäter in der Wiener Innenstadt ignoriert. Dieser hatte im November 2020 in unmittelbarer Nähe des Wiener Stadttempels mehrere Menschen ermordet.

Rechtsextremer Sumpf. Die Liste an Querverbindungen zwischen österreichischen Sicherheitsbehörden und zentralen Rechtsextremist_innen ist lang; FPÖ-nahe Beamt_innen und Politiker_innen scheinen als Scharnier zwischen dem organisierten Rechtsextremismus auf der einen Seite und der parlamentarischen Rechten auf der anderen zu fungieren. Der Verfassungsschutz wird hier zum Legitimationswerkzeug, mit der die Kriminalisierung von progressiven Bewegungen vorangetrieben wird und weitreichende Repression ermöglicht wird.

In einer 2018 vom damaligen Innenminister Herbert Kickl angeordneten Razzia des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, welche von der FPÖ-nahen ‚Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Straßenkriminalität‘ durchgeführt wurde, wurden große Mengen an Daten und Informationen über rechtsextreme Netzwerke vernichtet. Der Leiter ebendieser Razzia soll dabei enge Kontakte zu Neonazi Gottfried Küssel gehabt haben.

2022 gab es außerdem Berichte, nach denen zufolge die FPÖ versucht haben soll, sich Personendaten über Egisto Ott zu besorgen. Bei einer Hausdurchsuchung in der Wohnung Otts wurde ein Eisernes Kreuz samt Hakenkreuz gefunden. Dass im unmittelbaren Nachfeld der illegalen Datenabfragen ein Einbruch durch Neonazis bei einer abgefragten Person versucht wurde, bestärkt die Vermutung, dass Ott die abgefragten Daten an Rechtsextreme weitergegeben hat.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung war und ist neben Spionageskandalen also augenscheinlich auch in rechtsextreme Netzwerke verwickelt, weitere vermeintliche ‚Einzelfälle‘ sind in der Quellenbox angeführt. (3) und (4)

Am rechten Auge weiter blind? Mit der offiziellen Schließung des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung hören die Skandale aber noch lange nicht auf. In Österreich besteht der jetzige ‚Verfassungsschutz‘ aus der bundesweit agierenden Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst und den einzelnen Landesämtern für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Obwohl das ehemalige BVT aufgelöst ist, bestehen weiterhin klar rechte bis rechtsextreme Strukturen innerhalb der Landesämter. In Wien etwa untersteht das zuständige Landesamt der Landespolizeidirektion Wien, welches wiederum von Gerhard P. geleitet wird, der selbst aktiv in einer völkisch-nationalen schlagenden Burschenschaft war. Das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung gilt als FPÖ-nahe, erreicht diese in dortigen Gewerkschaftswahlen doch regelmäßig 40% und mehr.

Während antifaschistische Kräfte hier als ‚staatsgefährdend‘ eingestuft und verfolgt werden, scheinen gerade die Landesämter am rechten Auge weiterhin blind zu sein.

 

Infobox Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst
Die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) ist seit dem 1. Dezember 2021 die Nachfolgeorganisation des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT). Sie untersteht dem Bundesministerium für Inneres und damit dem derzeitigen Innenminister Gerhard Karner, seines Zeichens Mitverantwortlicher des ‚Dr. Engelbert-Dollfuß-Museums‘ in Niederösterreich und 2021 mit schwerwiegenden Antisemitismusvorwürfen konfrontiert. (5)

 

Der Hass auf progressive Bewegungen vieler österreichischer Beamt_innen ist gefährlich: sowohl für antifaschistische Aktivist_innen, die der Gewalt von Rechtsextremen ausgesetzt sind als auch für das Projekt einer gesellschaftlichen Veränderung. Wenn Rechtsextreme nicht gezielt verfolgt werden, verhindern die Landesämter für Verfassungsschutz damit auch progressive Politik.

Mehr Überwachung. Die Befugnisse des Verfassungsschutzes werden seit Jahren ausgeweitet. Unter einer fadenscheinigen Argumentation fordert hier auch die ÖVP und ihre DSN weitreichendere Möglichkeiten der Überwachung und Repression. Das alles wird unter einem rassistischen Sicherheitsbegriff legitimiert, der Migrant_innen und als migrantisch angenommene Personen als ‚Gefahr für die Demokratie‘ diffamiert. Über diesen Sicherheitsbegriff rechtfertigt der österreichische Staat auch seine Unterstützung des europäischen Abschieberegimes. In seinem menschenfeindlichen Verständnis muss hier die ‚Festung Europa‘ geschützt werden, Zuwanderungsströme werden zum ‚Sicherheitsrisiko‘ erklärt.

Gleichzeitig sind linke Bewegungen immer mehr Repressionen ausgesetzt. Das zeigt sich unter anderem auch in der Kriminalisierung der kurdischen Befreiungsbewegung. Egal ob Sicherheitsbehörden nun dysfunktional und korrupt (wie das aufgelöste BVT) oder effektiv sind: Sie sind immer eine Gefahr für progressive Linke und vor allem diskriminierte Gruppen. Dem Diskurs um staatliche und öffentliche Sicherheit liegen menschenfeindliche Narrative zu Grunde; insbesondere der Verfassungsschutz ist hier Einfallstor für Rechtsextremismus, Rassismus, Missbrauch und Gewalt. 

Ein Umstand, der leider nicht verwundert. Linke Bewegungen stellen immer auch das Bestehende infrage, denken Gesellschaft neu, frei von diskriminierender Gewalt und Faschismus.

 

Tina Wafien studiert Politikwissenschaften und ist selbst immer wieder von Repression betroffenen.

 

Foto © Vanessa Hundertpfund

 

Quellenbox

(1) Wie Egisto Ott zum gefürchteten Doppelagenten für Russland wurde. (2024, 05. April). DER STANDARD. www.öh.at/V1
(2) Ex-BVT-Agent Ott zapfte offenbar illegal Daten zu Antifaschisten ab. (2024, 24. April). DER STANDARD. www.öh.at/V2
(3) Hackspiel, S. (2022, 11. Februar). Rechtsextremismus-Vorwurf: Kärntner LVT-Leiter Tauschitz muss gehen | Tiroler Tageszeitung Online. www.öh.at/V3
(4) Die verräterische Küssel-Mail. (2024, 19. April). DER STANDARD. www.öh.at/V4
(5) Rücktrittsaufforderung an Innenminister Karner wegen antisemitischer Rhetorik. (2021, 13. Dezember). DER STANDARD. www.öh.at/V5

MAKE THE FORTRESS EUROPE FALL

  • 05.06.2024, 14:14
Die GEAS-Reform als Höhepunkt der EU-Abschottungspolitik und linke Antworten auf die Krise(n). Am 10. April wurde vom EU-Parlament die sogenannte GEAS-Reform beschlossen. Sie ist der aktuelle Höhepunkt einer konsequenten Aushöhlung des Asylrechts und der Entrechtung von Nicht-Europäer_innen und reiht sich in einen jahrzehntelangen Prozess ein, in dem die EU den Zugang von außen so weit wie möglich limitiert und kontrolliert.

Die GEAS-Reform hat das Ausmaß des Rechtsrucks offenbart, der sich seit Jahren schleichend in der gesamten EU vollzieht. Da auch vermeintlich liberale und linke Parteien dafür gestimmt haben, zeigt sich, dass rechtspopulistische Politik mittlerweile kein Phänomen am rechten Rand mehr ist, sondern schon längst in der sogenannten “Mitte” verankert ist. Seit Jahren können wir europaweit eine Verschärfung des Diskurses um Flucht und Migration erleben, in der vor allem rassifizierte Menschen kriminalisiert und entmenschlicht werden. Diese gesellschaftliche Stimmung hat nun den Weg freigemacht für ein durch und durch rassistisches und menschenverachtendes Asylgesetz. Um das Ausmaß der Reform begreifen zu können, müssen wir jedoch zuerst verstehen, wie es dazu kam und was in der Reform beschlossen wurde.

 

Die GEAS-Reform kam nicht überraschend. GEAS steht für “Gemeinsames Europäisches Asylsystem” und hat dementsprechend zum Ziel, ein EU-weit einheitliches Asylsystem festzulegen. Die Forderung nach standardisierten Asylverfahren wurde im Kontext der starken Belastung der EU-Außenstaaten vor allem seit 2015/2016 lauter, da durch eine höhere Zahl an Ankommenden die Schwächen des sogenannten Dublin Systems offensichtlich wurden. Durch die Dublin-Verordnung von 1997 wurde festgelegt, dass jener EU-Staat, den Asylsuchende als erstes betreten, für die Bearbeitung des Asylantrags und gegebenenfalls die Asylgewährung zuständig ist. Dies führte zu einer Überlastung von Ländern wie zum Beispiel Griechenland und Italien, die darauf mit der Errichtung von “Auffanglagern” reagiert haben. Anstelle der proklamierten temporären Unterkünfte traten Lager, in denen tausende Menschen unter widrigsten Bedingungen teilweise jahrelang zusammengepfercht festgehalten wurden. Das berühmte Zitat der EU-Kommissarin Ylva Johansson “No more Morias”, mit dem auf den Brand im Lager “Moria” 2020 reagiert wurde, hat sich allerdings nicht in Form einer Verbesserung der Situation für die Ankommenden an den EU-Außengrenzen realisiert, sondern in der verstärkten Abschottung der gesamten Union.  

 

Was ist ein “Sicherer Drittstaat”? 

Als vermeintlich “sicher” gelten jene Nicht-EU-Staaten, in denen den Antragstellenden in Teilen des Landes keine Gefahr vor Verfolgung und/oder illegaler Zurückweisung droht. Den EU-Mitgliedstaaten ermöglicht dies, dass sie Asylanträge ablehnen und die Antragstellenden in diesen “sicheren Drittstaat” abschieben können. Für Länder, mit denen die EU ein Migrationsabkommen hat, gilt eine Sicherheitsvermutung. 

 

GEAS legalisiert den rechtswidrigen Status Quo. Offiziell soll die GEAS-Reform einen besseren Umgang mit Migrationsbewegungen bewirken. Faktisch schafft sie einen rechtlichen Rahmen für Praktiken, die bereits seit Jahren an den Außengrenzen betrieben werden, obwohl sie gegen Asyl- und Menschenrechte verstoßen. Doch was beinhaltet sie konkret?  

 

1. Ankommende sollen in Sammellagern an den EU-Außengrenzen festgehalten werden können. In diesen Lagern gelten die schutzsuchenden Personen offiziell als „nicht eingereist“ - obwohl sie sich bereits auf EU-Boden befinden. Diesen Status behalten sie, bis in einem für drei Monate geplanten Verfahren geprüft worden ist, ob sie eine „Aussicht auf Asyl“ haben oder nicht. Menschen, die aus einem Land kommen, in dem in den Vorjahren weniger als 20% der Menschen Asyl gewährt bekommen haben, sollen direkt abgeschoben werden können. Außerdem sollen Menschen, die aus einem sogenannten „sicheren Drittstaat“*(INFOBOX rauf) geflohen sind oder auf ihrer Flucht durch einen solchen gekommen sind, wieder in diesen abgeschoben werden können. GEAS sieht zudem vor, die Kriterien für „sichere Drittstaaten“ auszuweiten, was im Endeffekt bezweckt, dass es mehr Länder gibt, in die abgeschoben werden kann. 

Damit wird den antragstellenden Personen ihr Recht auf ein individuelles Asylverfahren verwehrt. Pushbacks, das bedeutet das illegale und meist gewaltsame Zurückdrängen von Asylsuchenden über die Staatsgrenze, werden damit legalisiert und systematisch im großen Stil ermöglicht.

Dieser Filtermechanismus ist im Kern unvereinbar mit dem individuellen Recht auf Asyl laut Genfer Flüchtlingskonvention! Denn in einem Asylverfahren haben die Antragsstellenden das Recht, die eigene individuelle politische Verfolgung darzulegen. Sie sind nicht dazu verpflichtet, eine gesetzlich festgeschriebene Vermutung über die Situation im Herkunftsland zu widerlegen. Die GEAS-Reform bedeutet deshalb, dass das Recht auf Asyl praktisch ausgehebelt wird. NGOs kritisieren schon lange, dass Menschen, die in den Lagern an den Außengrenzen eingesperrt sind, keinen Zugang zu rechtlicher Unterstützung haben und sie befürchten, dass sich dies mit dieser geplanten Vorverlagerung der Grenzverfahren verschärfen wird. 

 

2. Mit der GEAS-Reform wurde auch die sogenannte “Krisen-Verordnung” verabschiedet. Diese soll es in Szenarien von “Krise, höherer Gewalt oder Instrumentalisierung” ermöglichen, die bereits niedrigen Schutzstandards noch weiter zu senken. Die Szenarien sind in den Verordnungen allerdings so vage definiert, dass Mitgliedsstaaten sehr flexibel von der Verordnung Gebrauch machen können. 

 

3. Um die Staaten an den europäischen Außengrenzen vermeintlich zu entlasten, enthält die GEAS-Reform außerdem einen sog. „Solidaritätsmechanismus“. Durch diesen können Länder bei „erhöhtem Migrationsdruck“ verlangen, dass andere EU-Staaten Asylsuchende aufnehmen. Diese können dann entweder der Forderung Folge leisten – oder sich freikaufen, indem sie Personal in die betreffenden Länder entsenden oder 20.000€ pro ankommende Person zahlen. Dieses Geld soll dann in die weitere Migrationsabwehr fließen. Das heißt zum Beispiel in die Grenzüberwachung durch Frontex, einer europäischen Agentur für “Grenzschutz”, oder die sog. libysche “Küstenwache”[1].

Dass der Begriff der “Solidarität” in der Reform verwendet wird, verweist auf die Doppelmoral der EU. Denn diese vermeintliche Solidarität bezieht sich auf die gemeinsamen Unternehmungen in der rassistischen Abschottung der EU vom Rest der Welt, nicht auf die Solidarität mit Menschen aus Ländern des Globalen Südens. Mit GEAS stimmten vermeintlich nicht-rechte Regierungen dem zu, was das rechte Lager seit Jahren fordert: eine “Festung Europa” zu errichten. GEAS ist ein Beschluss, der schockieren sollte, da er die rassistische Politik der EU ans Tageslicht bringt.  

 

Wo blieb der Protest? Doch ein großer Aufschrei gegen die GEAS blieb aus. In Wien fand am 10. April eine Demonstration gegen die Reform statt, an der gerade mal rund 300 Personen teilnahmen. Wo waren die 35.000, die bei der „Demokratie verteidigen“-Demo im Jänner gegen Rechts auf die Straße gegangen sind? Wo blieb die zivilgesellschaftliche Kritik? Wo blieb die zivilgesellschaftliche Kritik daran, dass die die österreichische Bundesregierung die Reform mitgetragen hat?

“Die humanitäre, menschenrechtliche Skandalisierung scheint ausgedient zu haben”, so eine Rednerin auf der Kundgebung in Wien. Aktuell wird sichtbar, wie sehr rechte Einstellungen inzwischen im Diskurs normalisiert und in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Doch auch in linken Organisierungen ließen die Proteste gegen die GEAS-Reform zu wünschen übrig, auf die frühen Warnungen von NGOs über die geplante Reform folgte keine nennenswerte Reaktion. Was sagt uns das über den Zustand der Linken, wenn eine Kritik am Abbau des Asylrechts und ein gemeinsamer Kampf gegen die rassistischen und menschenunwürdigen Zustände an den EU-Außengrenzen ausbleiben? 

 

Raus aus der Isolation. Uns muss bewusst sein, dass es sich bei der Situation an den europäischen Außengrenzen, der Klimakrise und der erstarkenden Rechten nicht um isolierte Probleme handelt. Vielmehr fällt hier an verschiedenen Stellen die Krisenanfälligkeit des gesamten Systems auf. Rassismus erfüllt bis heute eine funktionale Rolle für das kapitalistische Produktionssystem, da dadurch Ausbeutungs- und Ausgrenzungsverhältnisse legitimiert werden. Dies zeigte sich offensichtlich in der Ausbeutung BIPoCs im Kolonialismus und hält in weniger sichtbarer Form bis heute an, wenn Menschen ohne europäischen Pass am Arbeits- und Wohnungsmarkt diskriminiert werden, um Unternehmen als billige Arbeitskräfte den Profit zu sichern. Durch rassistische Ideologie werden die materiellen Vorteile der Menschen im globalen Norden gegenüber Migrant_innen aus Ländern des globalen Südens verteidigt. Zudem erfüllen Neiddebatten und das Narrativ um begrenzte Ressourcen, die von Zuwanderung bedroht wären, sozialpsychologische Funktionen. Denn bei allgegenwärtigen Abstiegsängsten und der Frustration über vermeintlich unveränderbare Verteilungsverhältnisse, wird Konkurrenz geschürt, die von rechten Parteien auf eine konstruierte Bedrohung von außen projiziert wird. Rassismus als ein auf Vorurteilen basierendes Bewusstseinsproblem zu verstehen, wie es in liberalen Antirassismus-Debatten der Fall ist, greift also zu kurz. Es wird nicht reichen, die katastrophale Situation an den EU Außengrenzen lediglich mit der Forderung nach "mehr Toleranz" zu bekämpfen. Wer in diese Falle tappt, ist auch nicht in der Lage, die verschiedenen Krisen, denen wir aktuell gegenüberstehen, zu fassen. Die Kritik am Rassismus der EU und in der europäischen Gesellschaft muss mit der Kritik an kapitalistischen Verhältnissen einhergehen. 

Doch auch in den radikaleren linken Organisierungen scheint die Verbindung der Kämpfe gegen Rassismus und Kapitalismus ein bloßes Lippenbekenntnis zu bleiben. Wir tendieren dazu, uns als einzelne Gruppen mit spezifischen Problemen auseinanderzusetzen und verlieren dabei den Blick für den gemeinsamen Nenner unserer Bestrebungen. Das wäre jedoch angesichts der multiplen Krisen, denen wir heute als Gesellschaft gegenüberstehen - von steigenden Lebenshaltungskosten über Kriege bis zum Klimakollaps - dringend notwendig. Diese lähmen augenscheinlich einen großen Teil der Linken und führen bis zur Resignation aufgrund vermeintlicher Aussichtslosigkeit. Umso wichtiger wäre es daher, entgegen der Perspektiv- und Hilflosigkeit, die einzelnen Kämpfe in der Praxis zu verbinden und solidarisch nebeneinander zu stehen.  

Wenn wir hinsichtlich der EU-Wahlen im Juni und der Nationalratswahlen im Herbst gegen das Erstarken rechter Kräfte arbeiten wollen, müssen wir uns eingestehen, dass es, so wie es gerade läuft, nicht funktionieren wird. Unserer Meinung nach ist eine gemeinsame Diskussion darüber nötig, was wir der rassistischen Abschottungspolitik der EU entgegensetzen können und wie wir diese Arbeit mit lokalen Kämpfen langfristig vereinen können. Wir brauchen ein konsequentes Zusammendenken von Herausforderungen, das sich auch in der Praxis niederschlägt. Es reicht nicht zu fordern, dass die GEAS-Reform nicht eingeführt wird (obwohl das natürlich ein riesiger Erfolg wäre). Wir müssen die Utopie einer solidarischen Gesellschaft jenseits kapitalistischer Logiken einfordern, in der Bewegungsfreiheit und offene Grenzen zusammen mit leistbarem Wohnraum, Gesundheitsversorgung und einem guten Leben für Alle existieren. 

 

Susanna und Sandrine studieren Soziologie an der Universität Wien und beschäftigen sich in ihrer politischen Arbeit mit der Situation an den EU-Außengrenzen.

 

Foto © Vanessa Hundertpfund

Über einen materialistischen Antirassismus Begriff: Mendívil, E. R. & Sarbo, B. (2022). Die Diversität der Ausbeutung: Zur Kritik des herrschenden Antirassismus.
Für mehr Infos zur GEAS-Reform: PRO ASYL. (o. D.). PRO ASYL – Der Einzelfall zählt. www.öh.at/G1
Sicherere Drittstaaten: PRO ASYL. (2023, 10. März). Das Ende vom Flüchtlingsschutz in Europa? Die Gefahr von »sicheren Drittstaaten« | PRO ASYL. www.öh.at/G2

 

[1] Wir stellen „Küstenwache“ unter Anführungszeichen, weil ihre Aktivitäten wenig mit Seenotrettung zu tun haben. Die sogenannte libysche “Küstenwache” führt regelmäßig Pullbacks durch, das heißt, Menschen wird die Ausreise verwehrt. Libyen, das nach Bürgerkriegen seit 2022 zweigeteilt ist, gilt als Transitland für Menschen aus ganz Afrika. Doch in den „Auffanglagern“ herrschen fatale Missstände, die von Menschenhandel bis zu Folter und Mord reichen. 

Unsere Solidarität gegen ihre Repression

  • 12.06.2024, 14:18
Wann immer sich Rechte die Straße oder das Parlament nehmen, gibt es Menschen, die das nicht unkommentiert lassen. Dabei werden politische Aktivist_innen jedoch oft selbst Betroffene von staatlichen Repressionen. Im Lichte des aufsteigenden Autoritarismus in Gesellschaft und Politik stellt sich die Frage, wie sich dieser auf strafrechtliche Verfolgung von Aktivist_innen und damit verbundene Solidaritätsarbeit auswirken könnte.

Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Rechte Parteien nutzen ihre politische Macht dafür, gesetzliche Änderungen in ihrem Sinne herbeizuführen. Dass dabei auch gezielt politischer Aktivismus eingeschränkt wird, ist nichts Neues: Vermehrten Eingriffen unterlag in der Vergangenheit die Versammlungsfreiheit.

Erst 2017 verschärfte eine Novelle das Versammlungsgesetz: Einerseits wurde die Frist für das Anmelden von Versammlungen von 24 auf 48 Stunden erhöht, was es verunmöglicht, spontane Demos zu organisieren, ohne eine Strafe für das späte Anmelden zu erhalten. Andererseits wurde der Schutzbereich eingeführt, welcher de facto eine Verbotszone um eine Versammlung bildet, in der keine andere stattfinden kann. Daraus resultierte eine schlagartige Erhöhung von Verwaltungsstrafen gegen Aktivist_innen und Organisator_innen seit 2017.

Obwohl die FPÖ seit den Corona-Demonstrationen die Versammlungsfreiheit in ihrer Wichtigkeit hervorhebt, wird sich die Partei wohl für weitere Einschränkungen einsetzen. Im oberösterreichischen Landtag sprechen sich ÖVP und FPÖ bereits jetzt für zusätzliche Verschärfungen aus, um gegen Proteste der „Letzten Generation“ vorzugehen.

Die Rechtslage in anderen Ländern zeigt, welche Änderungen noch möglich wären: In Nordrhein-Westfalen wurden neue, weitreichende Straftatbestände geschaffen, die Gegendemonstrationen faktisch verbieten. Außerdem wurde ein Verbot für Demos auf Autobahnen eingeführt. Anlass waren hier Proteste aus der Klimabewegung, wie beispielsweise die Besetzung des Kohleabbaugebiets in Lützerath. Mehrere NGOs, darunter Amnesty International, kritisierten das Gesetz stark und gingen dagegen vor – bis jetzt erfolglos.

 

 

Kriminalisierung und Verfolgung. Politisch motiviertes Handeln beobachten wir jedoch nicht nur in Gesetzen und Gesetzessänderungen, sondern auch im Verfolgungswillen der Justiz gegenüber linken Aktivist_innen.

Bei Ermittlungen gegen Antifaschist_innen im „Antifa 2020“-Verfahren wurde der Vorwurf der kriminellen Vereinigung § 278 StGB herangezogen, um weitreichende Kompetenzen zur Observation zu ermöglichen und gleichzeitig das Bild von linken Demonstrant_innen als kriminelle Bande zu zeichnen. Noch vor Anklage wurde dieser Paragraf fallen gelassen. Mit diesem Vorwurf wurden bereits Aktivist_innen im „Tierschützerprozess“ und aktuell auch die „Letzte Generation“ konfrontiert.

Es gibt unzählige Beispiele, die zeigen, dass bei linkem Aktivismus eine starke Motivation der Strafverfolgungsbehörden vorliegt. Auffällig ist im Gegensatz dazu auch, wie wenig Ressourcen in Verfahren gegen Personen aus dem rechtsextremen Spektrum fließen. Wenn Ermittlungsverfahren gegen linke Aktivist_innen ohne Anfangsverdacht Monate später dann doch eingeleitet werden, obwohl sich die Staatsanwaltschaft ursprünglich dagegen entschieden hatte, liegt der Verdacht nahe, dass durch eine interne Weisung interveniert wurde.

Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Rechtsextremist_innen hingegen ziehen sich über Monate und Jahre; die Justiz steuert gegen zunehmende rechte Gewalt nur wenig entgegen, blockiert mit dem Weisungsrecht sogar gezielt Verfahren. Es wird also eines klar: 

Der Einfluss, den eine rechte Regierung, allen voran eines_r Justizministers_in, mit dem Weisungsrecht auf strafrechtliche Verfahren hat, ist eindeutig und bereitet Sorgen.

 

 

Polizei – Kein Freund und Helfer. Die Polizei ist im Staat kein neutraler Akteur, der nur Gesetze umsetzt. Mit ihrem Gewaltmonopol  schafft die Polizei Fakten, um ihr eigenes Vorgehen zu legitimieren und wird dabei von der Politik geschützt. Dass die Polizei dabei besonders motiviert gegen linke Aktivist_innen vorgeht und gleichzeitig am rechten Auge blind ist, zeigen diverse “Einzelfälle” von Polizeigewalt und internen Skandalen.

Bei der „BlockGas“-Demonstration 2023 etwa wurden Klimaaktivist_innen in einem Polizei-Kessel mit Pfefferspray besprüht und der Vorwurf der „Schweren gemeinschaftlichen Gewalt ”, für den Haftstrafen von bis zu zwei Jahren möglich sind, seitens der Polizei konstruiert.

Im Gegensatz dazu blieben Corona-Demonstrationen, die während der Pandemie zum Sammelbecken für Rechtsextreme jeder Couleur wurden, oft ohne Maßnahmen. Der Einsatzleiter begrüßte freudig einen der vermummten Demonstranten. „Er ist einer von den Guten.“, sagte eine Maßnahmengegnerin über jenen Polizisten, wie in einem Video des Presseservice Wien zu sehen ist. Kritik oder Konsequenzen bleiben aus.

Repressionen von Seiten der Polizei gegenüber linkem Aktivismus werden von einer rechten Regierung nicht nur akzeptiert, sondern offen unterstützt. Für politische Aktivist_innen bedeutet das einen Anstieg an präventiven Untersagungen, übermäßige polizeiliche Präsenz sowie unverhältnismäßige Maßnahmen und Gewalt.

Besonders betroffen von Repressionen sind hier, aufgrund von Racial Profiling, People of Colour. Hier wird Gewalt von Polizei und Staat mit einem menschenfeindlichen Sicherheitsbegriff legitimiert, der People of Colour in einem rassistischen Generalvorwurf angebliche Kriminalität anhängt.

Legitime emanzipatorische Proteste werden durch Polizei und Politik als extremistische Gewalttat geframed. Das verstärkt die gesellschaftliche Entwicklung nach rechts und soll linke Bewegungen als Ganzes in der Bevölkerung diskreditieren.

Mit Sorge beobachten wir auch die zunehmende Aufrüstung und Militarisierung der Polizei, die von rechten Parteien vorangetrieben wird. Seit 2019 befindet sich in jeder Polizeistreife in Österreich ein Sturmgewehr. Die Einführung einer berittenen Polizei, die vor allem bei der Auflösung von Menschenmengen zur Anwendung kommen sollte, konnte noch gestoppt werden. Als Herzensprojekt von Herbert Kickl könnte diese Idee jedoch bald wiederbelebt werden. Ein weiteres Beispiel für Aufrüstung ist die Verwendung von Gummischrot bei Demonstrationen in der Schweiz und Frankreich. Aktuell ist der Einsatz in mehreren europäischen Ländern, darunter auch Österreich, verboten. Polizeigewerkschaften setzen sich hier allerdings immer wieder für eine Legalisierung ein.

 

Du, ich, wir sind Rote Hilfe. Repressionen sind die staatliche Antwort auf einen linken Aktivismus, der den Status quo und das Machtmonopol des Staates infrage stellt. Als Linke drängt uns diese Analyse dazu, uns mit den Wirkungen von Repression auseinanderzusetzen.

Bereits in der ersten Republik vor über 100 Jahren machten es die politischen Gegebenheiten notwendig, eine Hilfsorganisation für die Opfer der Klassenjustiz zu gründen. Obwohl die Umstände heute andere sind, ist Solidaritätsarbeit immer noch relevant.

Aufgrund der aktuellen Entwicklungen hin zu einer autoritären Gesellschaft und einem Ausblick, der Sorgen bereitet, ist es notwendig, Strukturen auszubauen, die sich mit Repressionen beschäftigen. All jene Menschen, die aufgrund ihrer politischen Tätigkeit Nachteile erleiden, wie zum Beispiel vor Gericht gestellt, zu Geld- oder Gefängnisstrafen verurteilt werden oder Polizeigewalt erfahren, sollen Unterstützung erhalten. Getroffen hat es einige, gemeint sind wir Alle.

Menschen, die sich für gesellschaftliche Veränderung einsetzen, sollen das in dem Bewusstsein tun, dass sie nicht ohne politische und finanzielle Unterstützung dastehen. Den Versuchen der staatlichen Behörden, zu isolieren, Ohnmachtsgefühle zu schüren und exemplarische Strafen auszusprechen, stellen wir das Prinzip der Solidarität entgegen und ermutigen zum Weiterkämpfen.

Wir wissen, dass Repressionen wirken und auf uns in Zukunft noch viel mehr Arbeit zukommen wird, die uns an unsere Grenzen und vielleicht auch selbst in den Fokus der Justiz bringen könnte. Dennoch darf sich daraus keine Resignation ergeben, sondern nur die Aufforderung, weiterzumachen. Über Generationen hinweg treten zahlreiche Genoss_innen in solidarische Beziehungen zueinander, die weder durch Repression noch Verbote zerbrochen werden konnten. So soll es auch in Zukunft sein.

 

Die Rote Hilfe Wien ist eine strömungsübergreifende Solidaritätsorganisation, die Menschen unterstützt, die aufgrund ihrer linkspolitischen Aktivität Nachteile erleiden.

 

Rechtsinfokollektiv. (2021, 9. Mai). Verschärfungen im Versammlungsrecht deutlich spürbar. Rechtsinfokollektiv – RiKo. http://xn--h-0ga.at/R1

Presseservice Wien. (2021, 7. November). KONFORMISTISCHE REBELLEN. Verschwörungsideologie und Antisemitismus während der Corona-Pandemie [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=c55qE2hK3bM


Kappa. (2023, 6. Mai). LEIPZIG, DIE REPRESSION WIRKT. REDEN WIR DARÜBER-Kappa. http://xn--h-0ga.at/R2

Für einen anständigen Aufstand. Statt einem Aufstand der Anständigen.

  • 12.06.2024, 14:25
Millionen verteidigen die Demokratie gegen Rechts - klingt gut. Wirklich? Warum eine Brandmauer nicht reicht und was sonst noch wichtig wäre. Wir müssen unsere Demokratie verteidigen! Es braucht einen Aufstand der Anständigen. Her mit einer klaren Grenze im demokratischen Diskurs: ob konservativ oder liberal - gegen Nazis sind wir doch alle. Oder?

Dass im deutschsprachigen Raum Millionen von Menschen gegen Rechts auf die Straßen gehen ist nicht alltäglich und schwer zu übersehen. Doch parallel dazu findet auch ein weniger sichtbarer Kampf um die Deutungshoheit über die Proteste statt. Sind wir jetzt gegen Rechts oder gegen Rechtsextrem? Wer ist Teil dieser „Brandmauer" und was soll sie beschützen? Und was ist eigentlich „unsere Demokratie“? Kann ein Aufstand anständig sein? Wir stecken mitten in einer Weichenstellung des zukünftigen politischen Diskurses. Nur wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir auch entscheidend mitbestimmen.

Der steigende Rechtsextremismus ist kein Zufall, sondern ein gesellschaftliches Produkt. Proteste sollten deshalb nicht bei einem konservativen „Demokratie verteidigen!" stehenbleiben, sondern klare Systemkritik äußern. Ein Kampf gegen Rechts muss den Kampf für das gute Leben aller beinhalten.

Eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gute: Seit langem gab es keine so großen Proteste gegen Rechts mehr wie in den letzten Wochen und Monaten. Millionen Menschen auf den Straßen, nicht selten so viele, dass Proteste abgesagt werden mussten, weil sie zu groß waren. Die Schlechte: diese Proteste sind in weiten Teilen konservativ.

Konservativ in dem Sinne, dass der inhaltliche Schwerpunkt oft auf der Verteidigung und dem Erhalt der herrschenden Verhältnisse liegt. Das klingt natürlich schöner, wenn vom Aufstand der Anständigen und der Rettung der Demokratie die Rede ist - gemeint ist dasselbe. Der Ansatz: um gegen den aufkommenden Faschismus zu kämpfen, müssen wir als Restgesellschaft einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden, den wir verteidigen. In diesem Fall den Erhalt der repräsentativen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, und so weiter. Es geht zu oft um das absolute Minimum. Und wehe, es geht um mehr: was soll denn mit den Konservativen passieren, wenn nicht mehr zwischen Rechts und Rechtsextrem unterschieden wird? Lieber integrieren: und wenn dann auf einzelnen Demos selbst CDUler_innen Brandreden gegen die AFD schwingen (dürfen), schlägt das großdeutsche Herz höher.

Aber ist dieser neue Antifaschismus, der die Quarzhandschuhe abgelegt und sie gegen Samthandschuhe getauscht hat, die richtige Strategie? Wie breit kann eine Bewegung sein, damit sie stabil bleibt, aber nicht unbeweglich wird? Treten wir kurz einen Schritt zurück. Rechtsradikale entstehen natürlich nicht im luftleeren Raum und nur weil sie vermeintlich antidemokratisch sind, müssen wir nicht plötzlich auf einen rein defensiven Systemerhalt zurückweichen. Denn was wird hier eigentlich verteidigt?

Was verteidigt wird. Das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus beschreibt der Soziologe Vivek Chibber als nicht gerade glorreich: Eigentum und dessen Verteilung bestimmen maßgeblich die politischen Geschicke. Reiche kommen leichter in die Politik oder können von außen Lobbyismus in ihrem Interesse betreiben. Gelebte Partizipation von oben also, während die meisten von uns froh sein können, wenn sie es am Sonntag zur Wahlurne schaffen und dann die nächsten Jahre jemand anderes für uns bestimmt. Und unabhängig von der aktuellen Regierung: in Zeiten des globalen Kapitalismus sind Maßnahmen wie nachhaltige Umverteilung von Reichtum oft schwer möglich. Die wirtschaftliche Macht von Großkonzernen schafft einen engen Rahmen, aus dem realpolitisch schwer auszubrechen ist. Und wenn dann in Österreich die obersten fünf Prozent mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens besitzen, ist das demokratiepolitisch mindestens schwer bedenklich. Treffen sich ein Elektriker und eine Milliardenerbin auf einer Demo. Verteidigen beide die gleiche Demokratie?

Von dieser demokratischen Schieflage im Kapitalismus profitieren natürlich nur wenige - sollten die restlichen 95% dann nicht mit Leichtigkeit Reformen im Sinne der Mehrheit erkämpfen können? Nicht wenn ihnen andere Interessen wichtiger erscheinen! Wem weisgemacht wird, dass das größte Problem "die Ausländer" seien, der sieht im österreichischen Milliardär einen Landsmann und kein Demokratieproblem. Rechte Kulturkämpfe treiben die inszenierten Unterschiede zwischen Geschlechtern, Herkunft und so weiter voran und verschleiern damit zugrundeliegende Machtverhältnisse.

Kurz nach dem zweiten Weltkrieg schreibt die politische Theoretikerin Hannah Arendt ihr politisches Hauptwerk, The Origins of Totalitarianism. Darin nennt sie als zentrale Bedingung für den Erfolg totalitärer Ideologien die Handlungsunfähigkeit durch Verlassenheit. Wer von sich und seinen Mitmenschen stark entfremdet ist, wenn eine Gesellschaft sich im Gegeneinander, statt im Miteinander befindet, bieten Nationalismus und Führerkult Halt. Diese gefährliche Entfremdung spüren wir im krisengebeutelten, individualistischen Spätkapitalismus immer mehr. Handeln ist für Arendt das selbstermächtigte, gemeinsame und politische Agieren von Menschen auf Augenhöhe. Repräsentative Demokratien wie unsere entpolitisieren in diesem Sinne ihr Wahlvolk, ist doch ihre zentrale Dynamik nicht das aktive politische Handeln, sondern gerade die Stimm-Abgabe, um andere für sich entscheiden zu lassen. 25% Nichtwähler_innen sind kein Zufall: Das resignierte "Wählen ändert eh nix" ist heutzutage keinem übelzunehmen. Um es mit KIZ zu sagen: „Ihr könnt im Wahllokal ankreuzen, wer den Puff besitzt - Es bleiben immer die gleichen Freier, den'n ihr ein'n lutschen müsst."

Kurzum: Rechtsextremismus ist weniger eine Gefahr, als vielmehr Produkt und Stütze der herrschenden Verhältnisse. Unser politisches System fördert Unmündigkeit, unser wirtschaftliches verhindert bedeutsame Veränderungen im Interesse der Mehrheit. Zeit für einen Strategiewechsel?

Das gute Leben. Ein rein moralistisches „Gegen Rechts" ist wenig überzeugend, überlegte Systemkritik muss deshalb eine weitere Komponente beinhalten. Demos gegen Rechts müssen den Anspruch haben, mit beiden Beinen in der breiten Gesellschaft zu stehen. Das heißt aber nicht, Politiker_innen aus möglichst allen Ecken einzuladen. Der Protest auf der Straße ist kein Wahlspektakel, sondern das Sprachrohr derjenigen, die nicht täglich in Medien und Parlament zu Wort kommen. Breit aufgestellt zu sein heißt stattdessen den Anspruch zu haben, nicht immer dasselbe, links-liberale Publikum anzusprechen, sondern klarzumachen, dass „Gegen Rechts" auch „Für das gute Leben" heißt. Ein gutes Leben ist eines ohne finanzielle Not, ohne Repression oder Vereinsamung, stattdessen materielle Sicherheit, freie Gesundheitsversorgung und gesellschaftliche Teilhabe. Es ist selbstverständlich, dass ein glaubhafter Kampf gegen Rechts auch feministisch, antirassistisch und kapitalismuskritisch ist. Gleichzeitig muss klar sein, dass die Arbeiterin, die Gendern komisch findet, willkommener ist als ihr Chef, der Prideflags postet und Löhne drückt.

Dieses gute Leben für Alle muss wieder zum Politikum werden. Denn gut und für alle schließen sich nicht aus. Mein gutes Leben ist eben nicht von deinem guten Leben bedroht, sehr wohl aber von radikaler Vermögenskonzentration wie in Österreich. Unsere Mitstreiter_innen im Kampf gegen Rechts und für das gute Leben sind die 95%, für die das gute Leben noch fern ist. Ihre Wut und Angst vor sich zuspitzenden Verhältnissen ist verständlich. Diese Menschen müssen wir abholen wo sie stehen, um eine befreite, gerechte und radikal demokratische Gesellschaft des Miteinanders zu erkämpfen.

 

Moritz Leitner arbeitet und studiert Erziehungswissenschaften und Philosophie in Innsbruck.

 

Foto © Elias Posch

Arendt, H. (2011). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft : Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus (14. Aufl.). http://ci.nii.ac.jp/ncid/BA45745696

Chibber, V. (2021). Das ABC des Kapitalismus: Band I-III.

 

Im Windschatten der Unzufriedenheit.

  • 12.06.2024, 14:31
Immer wieder versuchen Rechtsextreme, Protestbewegungen zu kapern. Auch wenn dies nicht immer erfolgreich ist, darf die Gesellschaft davor nicht die Augen verschließen.

Seit der Corona-Pandemie erlebt die FPÖ in den Meinungsumfragen einen Höhenflug. Nicht unwesentlich dazu beigetragen haben dürfte ihre Positionierung gegen die Maßnahmen der Regierung und in Folge dessen auch die Beteiligung an Corona-Demonstrationen. Die FPÖ, sowie in kleinerer Form auch ihre Abspaltung BZÖ und neugegründete Parteien (MFG, dieBasis), boten sich in der Pandemie als einzige parlamentarische Verbündete für Impfgegner_innen an. Dadurch dürften sich auch Personen, welche keine überzeugten FPÖ-Wähler_innen sind und andere Programmpunkte vielleicht sogar ablehnen, aus einer vermeintlichen Perspektivlosigkeit dieser Partei zugewandt haben. In Deutschland versuchte die AfD Partei es auf die gleiche Weise, wenn auch weniger erfolgreich. Doch nicht nur rechtsextreme Parteien, auch ihre Vorfeldorganisationen und andere rechtsextreme Gruppierungen versuchten im Zuge der Corona-Proteste an Einfluss zu gewinnen.

FPÖ und andere Schwurbler. In den Jahren der Pandemie wurde Wien zum Schauplatz unzähliger Demos gegen die Corona-Maßnahmen. Obwohl diese in ihrer Größe variierten und auch durch diverse Unstimmigkeiten bei den Organisierenden unterschiedliche Leute ansprachen, konnten sich hier vor allem Gruppen aus dem militant-rechtsextremen Milieu sehr medienwirksam präsentieren. Während bei den gemeinsam veranstalteten Großdemos der Gruppen „FAIRDENKEN“ um Hannes Brejcha und „direktdemokratisch“ unter der Führung des Ex-BZÖ-Politikers Martin Rutter noch Vertreter aus allen Bereichen der extremen Rechten auf den selben Demos liefen, änderte sich dies, nachdem sich Rutter und Brejcha zerstritten hatten und begannen, jeweils eigene Demos zu organisieren.

Auf den Demos von FAIRDENKEN fanden sich sehr bald Personen aus dem Umfeld des verurteilten Alt-Neonazis Gottfried Küssel ein, welche als „Corona-Querfront“ auch eigene Demos in Eisenstadt organisierten. Küssel pflegt enge Kontakte zu rechtsextremen Fußball-Hooligans, beispielsweise der Wiener Gruppe „Tanzbrigade“. Auf den Demos fielen diese Hooligans vor allem durch hohe Aggressivität und Angriffe auf Presse, Polizei und Gegendemonstrierende auf.

Gleichzeitig begaben sich die neurechten „Identitären“ in das Lager von Martin Rutter. Mehrmals traten Mitglieder der Gruppierung auf den Demos auf, darunter Martin Sellner und Jakob Gunacker. Anders als den Rechtsextremisten um Küssel ging es den „Identitären“ in erster Linie nicht darum, aktiv Personen, welche in ihr Feindbild fallen, anzugreifen, sondern sich durch martialisches Auftreten mit mehreren Transparenten, Vermummung, Pyrotechnik und Knüppelfahnen auf den Demos bemerkbar zu machen und die daraus resultierenden Bilder für ihre Propaganda zu nutzen. Das soll allerdings nicht heißen, dass „Identitäre“ nicht gewalttätig wurden: In Videos diverser Demos ist zu sehen, wie Demo-Teilnehmende unter Anleitung rechtsextremer Akteure Polizeiketten durchbrechen oder auf Pressevertreter_innen losgehen. Wie man auf Transparenten und in Redebeiträgen erkennen konnte, ging es den „Identitären“ nicht nur um Corona oder die Impfung, sondern auch darum, rassistische, antisemitische und queerfeindliche Positionen in diese Proteste hineinzutragen. Eine weitere Absicht, die sie verfolgten, war die Rekrutierung neuer Mitglieder; dies gelang ihnen auch teilweise, beispielsweise durch Personen aus dem Umfeld der verschwörungsideologischen Gruppe „Studenten stehen auf“, welche fortan immer wieder auf rechtsextremen Demos auftraten. Aber auch die stärkere personelle Überschneidung mit der Freiheitlichen Jugend kann als Resultat der gemeinsamen Auftritte auf Coronademos betrachtet werden.

Rechte Mobilisierungen. Diese Taktik ist grundsätzlich nichts Überraschendes, vor allem wenn man betrachtet, dass die „Identitären“ seit einigen Jahren immer weniger Personen aus eigener Kraft mobilisieren konnten. Bei vergangenen Demos, welche direkt von den „Identitären“ oder einer ihrer Tarnorganisationen in Wien veranstaltet wurden, kamen nie mehr als 500 Teilnehmende. Auch bei der rassistischen „Remigrationsdemo“ im Juli 2023 konnte diese Zahl nur aufgrund monatelanger Mobilisierung in europäischen Nachbarländern erreicht werden, da viele der Teilnehmenden aus Deutschland, der Schweiz oder Belgien angereist waren. Die „Identitäre Bewegung“ und andere Rechtsextreme setzen jetzt darauf, sich in den Windschatten von Protestbewegungen zu stellen, die zwar nicht direkt aus dem Milieu des militanten Rechtsextremismus kommen, aber diesem nicht ablehnend genug oder schlimmstenfalls sogar offen gegenüberstehen.

Bauern und Nazis. Ein aktuelleres Beispiel dafür liefern die Proteste deutscher Landwirt_innen zu Beginn des Jahres: Dabei wurde hauptsächlich gegen die Streichung von Subventionen für Agrardiesel sowie strengere Umweltauflagen demonstriert, da sich Landwirt_innen dadurch in ihrer Existenz bedroht sahen. Auch wenn diese zu großen Teilen von regionalen Bauernverbänden getragen wurden, haben sich hier Rechtsextreme aus verschiedenen Spektren, von der AfD über Coronaleugner_innen bis hin zu neonazistischen Gruppen wie dem „III. Weg“, in diese Proteste eingebracht. Als „Hauptfeind“ wurden die Regierungsparteien SPD, FDP und vor allem die Grünen betrachtet. Durch eine thematische Ausweitung weg von der Landwirtschaft allein und hin zum „Mittelstand“, welcher durch die Politik der Ampelregierung vermeintlich ausgelöscht werden würde, wurde von diversen Akteur_innen versucht, das Momentum der Corona-Proteste wieder aufleben zu lassen.

Diese Versuche, die ursprünglichen Themen eines Protests mit den eigenen Motiven, beispielsweise Rassismus, antieuropäische und nationalistische Tendenzen oder Antisemitismus, zu verknüpfen, sind ebenfalls ein maßgeblicher Teil dieser Taktik. Bei den Corona-Demonstrationen wurde hierzu oft auf die antisemitischen Verschwörungsideologien des „Great Reset“, beziehungsweise des „Great Replacement“ Bezug genommen; diese besagen, dass eine (jüdische) Weltelite versucht, durch die Impfung, Abtreibung und gesteuerte Zuwanderung die „europäische Kultur“ auszulöschen.

Ganz so extrem ist es bei den Bauerndemos nicht, auch weil sich hier eher gemäßigtere Mitte-rechts Parteien wie CDU/CSU und Freie Wähler als parlamentarische Vertretung dieser Proteste anbieten; außerdem stehen, ähnlich wie in Österreich, die Landwirtschaftsverbände traditionell dem konservativen Lager näher, weshalb eine Öffnung nach Rechtsaußen zumindest im offiziellen Rahmen unwahrscheinlich bleibt. Dennoch wird auch hier durch rechte Gruppen und Einzelpersonen versucht, nationalistische und rassistische Spins einzubringen, etwa durch die Behauptung, die Regierung würde mehr Geld an Geflüchtete ausgeben als an den deutschen Mittelstand. Bei manchen Traktor-Demonstrationen zeigten Personen auch die Fahne der nationalsozialistischen Landvolk-Bewegung.

Schlussfolgerungen. Doch was ist die Konsequenz daraus? Während Journalist_innen und antifaschistische Initiativen immer wieder auf rechte Unterwanderungen hinweisen, wird dem vor allem innerhalb des konservativen Lagers eher mit Gleichgültigkeit begegnet. Gerade die Corona-Proteste haben gezeigt, wie schnell Rechtsextreme und ihre Positionen innerhalb einer Protestbewegung geduldet oder gar begrüßt werden, wenn es gegen einen gemeinsamen vermeintlichen Feind geht. Die Zivilgesellschaft darf dieses Potenzial nicht unterschätzen und muss sich entschieden gegen rechtsextreme Tendenzen in allen Protestbewegungen stellen.

 

Hannes Zaunhuber studiert Publizistik und arbeitet als freier Journalist in Wien.

 

Foto © Vanessa Hundertpfund

Beyond Tragedy.

  • 12.06.2024, 14:40
Unraveling Femicide, Immigrant Marginalization by Far-Right Blame, and Art's Redemption Quest.

On February 24th, a troubling wave of far-right propaganda reshaped the tragic events of the previous night. Five women were murdered in crimes deeply rooted in gender bias, yet the narrative quickly shifted—immigrants were blamed, and the term 'femicide' was called into question, implying that the victims somehow brought this upon themselves. Among the chaos, three women were savagely killed in a brothel, and in a separate, equally tragic event, a mother and daughter were victims of domestic violence. This misdirection, which scapegoats immigrants for deeper societal issues, distorts public perception and adds to the struggles of those who are already marginalized—particularly immigrants, women, and sex workers. This article dives into the effects of such far-right narratives on public discussions. We'll also look at how art, especially cinema, challenges these distortions and offers a way to see, understand, and maybe even correct these harmful views.

 

A Bloody Friday. February 23rd witnessed a horrific tragedy when a 51-year-old woman and her daughter were brutally murdered by the husband and father in their family home. This grievous event alone marked the day with profound sorrow, yet the violence did not cease there. Just a few hours later, three women working in a brothel were also killed under brutal circumstances.

All five deaths share a common, unsettling theme: they were victims of what is increasingly recognized as femicide, targeted for their gender in acts driven by entrenched societal roles. These crimes underscore a grim pattern of gender-based violence, highlighting urgent issues of safety and equality that demand attention. This is indicative of the broader issue of marginalization, a process where certain groups, in this case, women, are pushed to the edge of society, given lesser importance, and systematically deprived of resources and rights. Such marginalization not only limits their opportunities but also exposes them to greater risks, including violence. The tragic events of February 23rd are a stark reminder of the deadly consequences of such societal neglect.

Surprisingly, a review of the coverage in various news outlets, including diverse magazines like 'Der Standard', 'Heute', and 'Krone', reveals a troubling perspective in the comments section. A significant proportion of these comments, more than 60 percent—with over 75 percent in 'Heute' and 'Krone'—either question the very existence of the term 'femicide' or wrongfully shift the blame onto immigrants. These responses are not only misinformed but also alarmingly xenophobic, with some even suggesting that immigrants should be barred from entering the country. This kind of rhetoric serves to further marginalize already vulnerable groups, intensifying divisions and perpetuating a cycle of misunderstanding and prejudice. This is an example of how far-right rhetoric can manipulate blame, shifting it from one marginalized group to another, or even blaming the victims themselves for their predicament.

To those who argue that barring immigrants from entering Austria could halve the number of femicides, since allegedly half of the perpetrators are immigrants, I present a crucial counterpoint. It is vital to recognize that a significant number of the victims are also immigrants. Applying the same logic, one could absurdly suggest that banning all men from Austria might eliminate nearly 100% of femicides. Clearly, this points to the flaw in scapegoating specific groups rather than addressing the root causes of violence.

Addressing domestic violence is crucial, as many femicides begin with less severe forms of violence that escalate over time. Notably, in 2022, women in Austria earned 18.4% less than men. Such wage disparities undermine women’s independence and can trap them in violent domestic situations. Moreover, the social stigma fueled by far-right narratives against sex workers—a profession predominantly chosen done by women—deprives these workers of the respect typically afforded to male-dominated professions and can put them in additional danger.

Simone de Beauvoir poignantly noted in 'The Second Sex,' 'One is not born, but rather becomes, a woman.' This transformation is heavily influenced by societal norms and cultural narratives. In this vein, Joseph Beuys’s assertion that art can instigate societal change becomes particularly poignant. Cinema, as a powerful form of art, holds the potential to reshape society’s views on women and impact the perception and treatment of further marginalized groups such as sex workers.

 

As Nozhat Bady elaborates in her article "Kill, My Love" on 1940s noir films, works like "Gaslight" and Fritz Lang's "Secret Beyond the Door" vividly depict how victims of domestic violence can become trapped, unable to perceive the truth or acknowledge the violence committed by a loved one. These films expose viewers to the grim realities of such situations, emphasizing the psychological manipulation and harm involved. In more recent years, feminist cinema has taken proactive steps beyond merely raising awareness. It has begun to advocate for liberating actions, featuring films that not only highlight issues but also inspire women to take transformative steps. For example, 'A Single Woman' by Paul Mazursky portrays how a woman alone can achieve her dreams and be self-sufficient, by showing her transformation following a forced divorce.

However, it is crucial to distinguish between films that call for change and those that cater to neoliberal sentiments. Mark Fisher, in his book "Capitalist Realism”, critiques how certain films, like "Wall-E”, perform our anti-capitalism for us—what Robert Pfaller has termed 'interpassivity.' These films allow us to feel enlightened about our awareness while enabling us to continue consuming without prompting real change. This critique is now applicable to the movie "Barbie”, which, despite displaying feminist values, leads to no substantive action or systematic change. Moreover, it generated significant profits for a company long criticized for perpetuating unrealistic body standards among women.

Lastly, let's examine how cinema can reshape perceptions about sex workers and help break the social stigma surrounding them.  A notable film is Yorgos Lanthimos’s recent work 'Poor Things' which illustrates how working as a prostitute becomes liberating for the protagonist, Bella, enabling her to gain independence and forge human connection. Another example is 'Belle de Jour' by Luis Buñuel, which explores the mystery and allure of prostitution through the eyes of a wealthy woman who becomes a sex worker, revealing the complex motivations and experiences behind such choices.  More films like these in coming years could significantly alter public perceptions.

I hope this serves as a compelling example of how art can function as a powerful tool to instigate change and provide cultural policy solutions to de-marginalize diverse groups. This stands in stark contrast to far-right distortions of narratives, which further marginalize these communities.

 

Mehrta Shirzadian
 PhD Candidate, Molecular Biology, Vienna Biocenter (VBC) PhD Program, University of Vienna Master's Student, Art and Science, University of Applied Arts Vienna

 

Photography © Lukas Pürmayr

 

 

References

Beauvoir, S. (1952). The Second Sex (H. M. Parshley, Trans.). Knopf.

Harlan, V. (2004). What is Art?: Conversations with Joseph Beuys. Clairview Books.

Fisher, M. (2009). Capitalist Realism: Is There No Alternative? Zero Books.

 

Online Sources:

Cahiers du Féminisme - Article: https://cahiersdufeminisme.com/?p=2702 (Accessed April 14, 2024)

Der Standard - "Fünf sind fünf zu viel": https://www.derstandard.at/story/3000000208962/fuenf-sind-fuenf-zu-viel (Accessed April 14, 2024)

Kronen Zeitung - Article: https://www.krone.at/3266308 (Accessed April 14, 2024)

Heute - "5 Femizide an einem Tag: Frauen fordern jetzt Taten": https://www.heute.at/s/5-femizide-an-einem-tag-frauen-fordern-jetzt-taten-120021912 (Accessed April 14, 2024)

European Institute for Gender Equality - "Gender-based violence": https://eige.europa.eu/sites/default/files/documents/20211560_mh0121100enn_pdf.pdf (Accessed April 14, 2024)

Eurostat - "Gender pay gap statistics": https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Gender_pay_gap_statistics (Accessed April 14, 2024)

 

Auf der Suche nach Utopia

  • 03.05.2024, 10:28
Zwischen Hyperpolitik und Entpolitisierung – Warum wir dringend konkrete Utopien brauchen.

Während Rechtsextremismus und Gewalt in Deutschland und Österreich zunehmen, fehlt es an politischen Alternativen und konkreten Zukunftsvisionen.

Die gegenwärtige politische Landschaft in westlichen Demokratien ist geprägt von einem häufig gebrauchten, doch oft diffusen Begriff: der Krise der Demokratie. Inflationär verwendet, verweist er auf eine Schwächung demokratischer Institutionen, den Aufstieg demokratiefeindlicher, rechter Parteien und zunehmende autoritaristische Einstellungen in der Bevölkerung. Aber gibt es überhaupt noch glühende Verteidiger:innen einer progressiven  Demokratie, die dieser negativen Entwicklung etwas entgegensetzen? Beobachten wir nicht eher eine zunehmende Entpolitisierung in allen Gesellschaftsschichten?

Einer Entpolitisierung würde der Historiker Anton Jäger vehement widersprechen. Er beobachtet im Gegenteil eine „hyperpolitisierte“ Gegenwart. Mit dem Konzept der Hyperpolitik beschreibt er in seinem Buch mit demselben Titel eine Gesellschaft, die sich zwar in einem Zustand intensiver Politisierung befindet, aber dabei ohne entscheidende politische Konsequenzen verharrt. In diesem Spannungsfeld entsteht eine paradoxe Dynamik: politische Energie wird erzeugt, ohne dass ersehnte Veränderungen eintreten. Diese Analyse wird zum Beispiel durch die Black Lives Matter Demo 2020 in Wien greifbar, die trotz der außergewöhnlich hohen Beteiligung letztlich durch das Fehlen einer nachhaltigen institutionellen oder organisierten Form keine signifikante Verbesserung der Lebensrealität Schwarzer Menschen in Österreich erzielte. Darüber hinaus ist eine gewisse Bescheidenheit und inhaltliche Leere vieler Parteiprogramme zu beobachten, die immer mehr Menschen resignieren lässt. Die Zeit der Massenmobilisierung ist vorbei – es sei denn es handelt sich um rechtspopulistische Themen.

 

Gefährliche Entwicklungen und das Anbiedern an Rechte Narrative

Wer heute aus linker Perspektive das gute Leben für alle einfordert, wird häufig belächelt. Glück wird im öffentlichen politischen und psychologischen Diskurs oft als individuelles Streben betrachtet und nicht als ein gemeinsames Ziel, das es politisch zu erkämpfen gilt. Diese Sichtweise verhindert eine kollektive Ausrichtung auf das Streben nach einem besseren Leben und einer solidarischen Gemeinschaft. Sozioökonomischen Umstände werden individualisiert und privatisiert, persönlicher Erfolg wird dadurch zu etwas, auf das die Politik keinen Einfluss hat. Wenn also die Welt, in der wir leben, schlecht ist, ändern wir nicht die Welt, sondern die Art, wie wir mit ihr umgehen. Diese Entpolitisierungstendenz und Individualisierung ist international beobachtbar. Konkrete Utopien hingegen haben das Glück und ein gutes Leben für alle zum Ziel und formulieren klare Vorschläge, wie dieses zu erreichen ist.

Anstatt utopische Ziele zu formulieren, zeichnet sich die Parteienlandschaft in Deutschland und Österreich durch einen Mangel an visionären Konzepten aus. Dieser zeigt sich auch in der Anpassung an rechtsextreme Positionen. Das Anbiedern an rechte Narrative schafft eine gefährliche Dynamik, die dazu führt, dass gesellschaftliche Tabuthemen Eingang in den politischen Diskurs finden. Bedrohungen für die Demokratie werden verharmlost und nationalistische Narrative gewinnen an Dominanz. Die aktuelle politische Landschaft scheint sich zunehmend nach rechts zu orientieren und es fehlt an klaren Gegenpositionen und Alternativen. Narrative rechtsextremer Parteien wie der AFD oder der FPÖ werden mittlerweile von konservativen, liberalen, grünen und auch sozialdemokratischen Parteien übernommen. Der deutsche Bundeskanzler war im Oktober groß auf der Titelseite des Spiegel mit folgendem Zitat abgebildet:„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Solche Sätze hätte man noch vor wenigen Jahren von keinem Sozialdemokraten erwartet – ja nicht einmal von der Ex-Kanzlerin Angela Merkel, die der konservativen CDU angehörte.

Sowohl in Deutschland, als auch in Österreich wird aktuell über das Aussetzen des Asylrechts diskutiert. Die FPÖ fordert wiederholt „einen sofortigen Asylstopp“, obwohl es sich dabei um einen Verstoß gegen die EU-Menschenrechtskonvention handelt. Wo bleibt der Aufschrei?Diese Forderung entbehrt jeder realen Grundlage. Die Zahl der Anträge auf Asyl in Österreich sinkt seit Jahren. Das liegt auch an der Kooperation Österreichs mit Ungarn und Serbien, die bereits an der EU-Außengrenze durch illegale Pushbacks die Anzahl der Asylanträge bedeutend minimieren. Die Gewalt, mit der flüchtende Menschen an den EU-Außengrenzen konfrontiert werden, wird von fast allen politischen Parteien Deutschlands und Österreichs bewusst in Kauf genommen oder zumindest geduldet. Die Linke in Deutschland und in Österreich die KPÖ und die SPÖ unter Andreas Babler sind die einzigen Parteien, die nicht auf diesen Zug aufspringen. Doch wo bleibt eine offensive Gegenpolitik?

 

Die Klimakrise als Chance für neue Utopien

Kriegerische Auseinandersetzungen nehmen weltweit zu und auch Hunger und Klimaschäden werden Menschen weiterhin dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen und irgendwo anders Schutz zu suchen. Vor dieser Realität können wir uns nicht verschließen. Vor allem die Klimakrise muss dabei mitgedacht werden. Diese wäre eigentlich eine Chance, um neue politische Lösungen und Perspektiven in den Diskurs einzubringen. Zwei Dinge macht die drohende Klimakatastrophe nämlich deutlich: 1. Alles verändert sich und auch wir müssen etwas ändern, um uns anzupassen. 2. Der Kapitalismus und seine Logik des ewigen Wachstums sind mit den endlichen Ressourcen unseres Planeten einfach nicht vereinbar. Hier wäre eine radikale Politik der Endlichkeit einzufordern.
 Doch keine politische Partei formuliert konkrete Vorschläge, wie die Katastrophe abzuwenden ist. Kein:e Politiker:in entwirft eine konkrete Utopie, die zukünftigen Generationen ein unbeschwertes Leben auf diesem Planeten noch ermöglichen könnte.

Ähnlich wie in Deutschland und in Österreich die Klimakrise im politischen Diskurs ausgeblendet und verharmlost wird, geschieht es auch mit rechter Gewalt und extremistischen Ideologien. Doch marginalisierte Menschen können die wachsende Bedrohung nicht einfach wegschieben und ignorieren. Rassismus und Antisemitismus nehmen in Deutschland und Österreich massiv zu. Wir erleben eine brandgefährliche Situation, aber ich beobachte innerhalb der Regierung kein Interesse, sich damit auseinanderzusetzen. Während es für die Mehrheit der Gesellschaft einfacher ist, die angesprochenen Probleme und ihre eigene Verantwortung zu ignorieren, wären Betroffene froh, wenn wir eine Gesellschaft bauen, in der sie nicht um ihr Leben fürchten müssen. Wenn man sich vor Augen führt, wie schnell antisemitische Gewalt seit dem 7. Oktober angestiegen ist, bekommt man es mit der Angst zu tun. In Deutschland wurden dem Bundeskriminalamt seitdem 680 antisemitische Straftaten gemeldet. In Österreich warnte die Israelische Kultusgemeinde vor einem Anstieg der antisemitischen Vorfälle auf 300 Prozent im Vergleich zu den Daten im Vorjahr. Bereits in den ersten 13 Tagen seit Beginn des Kriegs wurden 76 antisemitische Vorfälle gemeldet. Dabei wurden jene nach dem 20. Oktober, wie zum Beispiel die heruntergerissene Israel-Fahne vor dem IKG-Gebäude, oder der Brand und die Hakenkreuz-Schmierereien im jüdischen Teil des Zentralfriedhofs in der Statistik noch nicht einmal berücksichtigt. Auch die Zahl rassistischer Vorfälle und Einstellungen in Deutschland und Österreich hat erheblich zugenommen. Laut einer Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA), die am 25. Oktober veröffentlicht wurde, liegt Österreich gemeinsam mit Deutschland an der traurigen Spitze.

Wir sind also gesellschaftlich an einem Punkt, an dem wir über konkrete Gewalterfahrungen seitens der Polizei, staatlicher Institutionen, oder rechter Gruppen auf den Straßen und im Internet sprechen müssen. Wir sind immer noch an einem Punkt, an dem Rassismus und Antisemitismus für viele betroffene Alltag ist. Wo bleibt die breite Diskussion darüber? Wo die gesellschaftliche Auseinandersetzung? Wo politische Initiativen und Projekte? Das Ziel von Politik muss sein, diese Gewalt zu reduzieren. Ist das bereits utopisch?

Anstatt sich mit aktuellen Bedrohungen der Demokratie auseinanderzusetzen, versuchen die Regierungen in Österreich und in Deutschland, ihr eigenes Versagen zu kaschieren. Progressive demokratische Kämpfe der Bevölkerung werden von der Politik selbst bekämpft. Das zeigt sich unter anderem an der Kriminalisierung der Proteste gegen die Klimapolitik. Die aktuelle Situation erinnert an die Handlung des Romans Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch. Dass Buch zählt heute zur Schullektüre und beschreibt, wie offene und deutliche Drohungen an die Gesellschaft von der Bevölkerung ignoriert und verharmlost werden. Die Brandstifter kündigen offen an, Brände stiften zu wollen, doch es wird ihnen nicht geglaubt und erst recht nichts dagegen unternommen. Am Ende wundert man sich darüber, dass es brennt.

 

Utopie oder Dystopie? Das Fehlen klarer Visionen

Aktuell liegt die FPÖ in allen Umfragen auf Platz eins. Was machen wir, wenn sie die Wahlen nächstes Jahr gewinnt? Wie gehen wir mit der Gewalt gegen marginalisierte Gruppen und den Anstieg rechtsextremer Ideologie in der Gesellschaft um? Ist es wirklich schon utopisch, wenn man ein Leben ohne Gewalt und Armut auf einem bewohnbaren Planeten fordert? Egal, wie die Antwort darauf lautet, bleibt die zentrale Frage: warum tut es niemand?

Die politische Konzeptlosigkeit zeigt sich in der Orientierungslosigkeit der Parteien. Es fehlt an Zukunftsvisionen, die über das Anbiedern an rechte Narrative hinausgehen. Ein Funke Hoffnung entflammt mit Andreas Babler als neuer Spitze der SPÖ. Sein Plädoyer für sozialdemokratische Werte, eine Politik gegen rechte Gewalt und kapitalistische Ausbeutung bietet eine mögliche Antwort. Babler setzt dem rechten Diskurs aktiv etwas entgegen, wenn er über Gerechtigkeit, Solidarität und Respekt spricht. Doch obwohl er dabei nicht wirklich radikal ist, wird er für seine Rhetorik belächelt. In der berühmten Rede, die ihm zum Wahlsieg verholfen hat, stellte er fest: „Wir sind also Träumer, wenn wir das alles umsetzen wollen.“ Er setzt der inhaltlichen Leere der österreichischen Parteienlandschaft sozialdemokratische Forderungen entgegen, indem er betont, dass diese Träume realisierbar sind. Bablers Rede war hoffnungsvoll und kämpferisch, doch stellt sein Programm nicht die einzige mögliche Zukunftsvision dar. Die Tatsache, dass die Sozialdemokratie in Österreich bereits als größter Traum gilt, während sie in Deutschland völlig undenkbar geworden ist, zeichnet ein düsteres Zukunftsbild.

Bis zur nächsten Wahl verbleibt weniger als ein Jahr, in dem noch Einiges passieren kann. Dass eine offensive, emanzipatorische Politik, in der niemand zurückgelassen wird, utopisch geworden ist, zeigt deutlich, wie es um konkrete Utopien in der Gesellschaft steht. Wir müssen die Klimakrise mitbedenken und radikalere Utopien formulieren. Die Forderung nach einem guten Leben für alle und einer progressiven, demokratischen Bewegung ist kein Luxus, sondern eine Überlebensnotwendigkeit.

 

 

Nadja Etinski studiert Zeitgeschichte und Medien an der Uni Wien, arbeitet als Buchhändlerin und schreibt regelmäßig Artikel zu gesellschaftspolitischen Themen.

 

Foto © Vanessa Hundertpfund

Studium „all inclusive“?

  • 03.05.2024, 09:57
Weiterhin bestehende Barrieren und eine enge Leistungsdefinition. Wie utopisch ist inklusive Bildung an den österreichischen Universitäten?
INFO: Die Definition von Behinderung richtet sich in diesem Artikel nach der UN-Behindertenrechtskonvention. Weiters wird zwischen Beeinträchtigungen – zum Beispiel Erkrankungen, Gehörlosigkeit, etc. – und Behinderungen unterschieden. Behinderungen entstehen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention erst durch die Wechselwirkungen zwischen dieser Beeinträchtigung und den Barrieren in der Umwelt bzw. Gesellschaft. Man spricht hier auch von „behindert werden“.

 

An den neoliberal geprägten Universitäten geht es vor allem um Effizienz, schnelle Abschlüsse und rasche Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt. Es gibt Zugangsprüfungen, Mindeststudienzeiten, eine Mindeststudienleistung mit Sperrfrist und Meilensteine, die durchaus das Potential zu Hürden haben (z.B. die Studieneingangsphase). Insgesamt ist das System Studium an einem Durchschnitt ausgerichtet, der sich in sehr engen Grenzen bewegt, was Zeit, Energie und andere Ressourcen betrifft. 

Demgegenüber steht nun aber die von Österreich ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention. Diese fordert ein diskriminierungsfreies und inklusives Studieren für alle. Inklusion bedeutet in diesem Kontext mehr, als nur Menschen mit Behinderungen „in die ausgrenzende Gesellschaft“ einzuschließen, wie die Sozialforscherinnen Marianne Hirschberg und Swantje Köbsell betonen. Sie unterscheidet sich damit klar von integrativen Bildungskonzepten. 

Dass Verbesserungen für Studierende mit Behinderungen angestrebt werden, zeigt sich unter anderem an den mit dem Diversitas-Preis ausgezeichneten Projekten, aber auch generell an einem verstärkten Fokus auf das Thema. Gleichstellung und Diversitätsmanagement werden als „wesentliche Bestandteile der gesellschaftlichen Verantwortung der Universitäten“ gesehen, wie das Bildungsministerium schreibt.

Dennoch wurden im Zuge meiner Interviews für die Dissertation weiterhin bestehende bauliche Barrieren genannt. Darunter fällt unter anderem, dass Aufzüge nicht in alle Stockwerke fuhren, Rampen zu steil oder Türbeschriftungen zu klein waren. Ebenso braucht es ein vermehrtes Anbieten von Schriftdolmetschung, eine zugänglichere Laborumgebung und einen Abbau technischer Barrieren.

Für Studierende mit Behinderungen gibt es bei Bedarf überdies sogenannte Nachteilsausgleiche, wie die Prüfungszeitverlängerung, die sehr wesentlich und wichtig sind – gleichzeitig führen diese aber nicht dazu, dass sich das System verändert. Es wird von einem individuellen Problem, einem „Nachteil“, ausgegangen, den die Person geltend machen muss, um durch unterstützende Maßnahmen in das System, das als weitgehend neutral betrachtet wird, eingepasst zu werden. Also eher Integration als Inklusion.

Dass Studierende ihren „Nachteil“ geltend machen müssen, bedeutet, dass sie sich erklären und ihre Nachteilsausgleiche selbst aushandeln müssen. Nur eine Diagnose zu nennen, schafft kein vollumfängliches Verständnis für die erlebten Behinderungen im Studienalltag. Und da kommt es natürlich stark auf das Gegenüber an. Ist das Gegenüber verständnisvoll und offen oder denkt vielleicht, ich will mich vor etwas drücken? Hat die Person, die Kompetenz und die Ressourcen, um die Unterstützung erfolgreich umzusetzen? Kann ich meine Bedürfnisse überhaupt so kommunizieren, dass ich die Unterstützung bekomme, die ich brauche? Weiß ich überhaupt was ich brauche? Auch ein wichtiger Punkt, vor allem, wenn keine Vorerfahrung besteht. Und natürlich – Bedürfnisse können sich im Zeitlauf auch ändern, Hilfsmittel können aufhören zu funktionieren oder die bauliche Barrierefreiheit ist nicht mehr gegeben, weil man in einem anderen Gebäude studiert oder gerade eine Baustelle vor Ort ist. 

An den österreichischen Unis gibt es eigene Anlaufstellen mit Behindertenbeauftragten, die erfahrungsgemäß sehr engagiert sind und eben sowohl die Kompetenz, als auch die nötigen Mittel zur Umsetzung von Unterstützungsmaßnahmen haben. Aber selbst im besten Fall ist der Zugang zu Nachteilsausgleichen oder Maßnahmen zur Erhöhung der Barrierefreiheit damit verbunden, dass man seine Behinderungen bekannt gibt – was nicht alle Studierenden wollen. Die sich teils leider immer noch bewahrheitende Befürchtung ist, dass man dadurch Nachteile erlebt, anders behandelt wird oder verletzende Aussagen hören muss. Gerade Studierende mit psychischen Erkrankungen sind hiervon betroffen, was sich ebenfalls im Zusatzbericht der Studierendensozialerhebung gezeigt hat. Manche beschließen auch, nur einen Teil der Behinderungen preiszugeben, um in die enge Leistungsdefinition zu passen.

Überdies wurde aufgezeigt, wie viel Mehraufwand es mit sich bringen kann, durch diese individualisierende Sichtweise für sich selbst zugänglichere Studienbedingungen zu schaffen. Hinzu kommen bürokratische Angelegenheiten, die außerhalb der universitären Sphäre liegen und die etwa die Beantragung des Behindertenpasses, von Attesten, Pflegegeld, Transport- oder Assistenzleistungen betreffen. 

Eine interviewte Person hat sehr schön auf den Punkt gebracht, was vielfach implizit oder explizit geäußert wurde:

„Ich will ja auch nicht, dass da jetzt immer ganz speziell für mich Lösungen gefunden werden. Da bin ich auch irgendwie müde. Ich hätte gerne, dass es von Haus aus geht. Dass es auch darauf ausgerichtet ist, dass Menschen mit Einschränkungen das machen.“

Insgesamt ergeben sich einige Ansatzpunkte, um im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention die Barrierefreiheit für alle von vornherein zu erhöhen. Das beginnt bereits vor der Lehrveranstaltung – bei der Gestaltung zugänglicher Curricula, Unterrichtsmaterialien und Universitätsgebäude. Darüber hinaus wurden die Lehrenden als wesentliche Ansprechpersonen von Studierenden genannt, weshalb spezielle Trainings zu inklusivem Unterrichten hilfreich sein können. Barrierefreiheit sollte hier weiter gedacht werden, denn auch die Hörsaalgröße, die Belichtung, die Akustik, die didaktischen Methoden, Zeit, Zeitpunkt und Zeitrahmen haben einen Einfluss auf die Lernenden. Hinzu kommen noch unvorhergesehene Studienunterbrechungen und die Frage, wie damit umgegangen wird. Ferner ist die Studienorganisation wesentlich, dazu zählen zum Beispiel Anmeldeverfahren, die Prüfungsdichte oder die Regelung der Anwesenheitspflicht. In diesem Kontext ist die Online-Lehre, die während der Pandemie relativ flächendeckend ermöglicht wurde, besonders hervorzustreichen.  Obgleich es auch hier verschiedenste Barrieren geben kann, ist es mir dennoch ein Anliegen, mich für eine Beibehaltung – und kontinuierliche Optimierung – der geschaffenen Strukturen einzusetzen. Und zwar nicht als reines Entweder/Oder, sondern als wertfreie Ergänzung. Für all jene, die aus gesundheitlichen Gründen phasenweise oder eventuell für die Dauer des restlichen Studiums nicht in Präsenz teilnehmen können.

Mein Wunsch, der in naher Zukunft hoffentlich KEINE Utopie mehr ist, besteht darin, dass sich der Blickwinkel auf Studierende mit Behinderungen verschiebt. Beeinträchtigungen sollen nicht mehr als individuelles Defizit betrachtet werden, sondern die strukturellen Behinderungen sollen überdacht werden. Nimmt man die UN-Behindertenrechtskonvention als Richtschnur, sollte das Ziel sein, eine Kultur und ein Lernumfeld zu schaffen, das die Diversität von allen Lernenden versteht und fördert. Dazu gehört, die Zugänglichkeit in allen Belangen von vornherein größtmöglich zu erhöhen. Was nicht nur den Studierenden mit Behinderungen zugute kommen würde – eine Rampe beim Haupteingang hilft darüber hinaus jenen, die beispielsweise mit Kinderwägen unterwegs sind oder größere Ausrüstung transportieren müssen. Und auch wenn es in einigen Fällen weiterhin sehr wichtig sein würde, individuelle Lösungen zu finden, würde die Notwendigkeit der Offenlegung von Beeinträchtigungen zum Großteil obsolet werden, da Studierende frei wählen könnten und somit die Chance geringer wäre, dass sie überhaupt „behindert werden“. Denn eines zeigen Sheryl E. Burgstahler und Rebecca C. Corey: dass Nachteilsausgleiche jenen helfen, die sie brauchen und an der Leistung der anderen wenig verändern. Gleiches lässt sich für die generelle und in einem breiten Sinne gedachte Zugänglichkeit der einzelnen Studiengänge sowie der Universitäten feststellen.

Michaela Joch beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit (WU WIEN) mit der universitären Zugänglichkeit.

 

Literatur:

Hirschberg, M. & Köbsell, S. (2016) Grundbegriffe und Grundlagen: Disability Studies, Diversity und Inklusion. In I. Hedderich et al. (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik (S. 555-568). Verlag Julius Klinkhard.
Burgstahler, S. E. & Corey, R. C. (2010) Universal Design in Higher Education: From Principles to Practice (1. Aufl.). Harvard Education Press.
 

Weiterführende Information:

UN-Behindertenrechtskonvention https://www.sozialministerium.at/
Studierendensozialerhebung https://www.ihs.ac.at/
Ansprechpersonen an den Universitäten https://www.uniability.org/
 

Foto © M. Letizia Ristoni

Das Klima braucht auch kleine Siege

  • 22.03.2024, 11:32
Neue Perspektiven auf alte Diskurse

Im Klimadiskurs verhärten sich wieder die Fronten. Besonders offensichtlich zeigt sich diese Entwicklung gerade auf Social Media. Die COP28, deren Gastgeber ein Ölmagnat ist, trägt einen großen Teil dazu bei. Eine Klimakonferenz auszurichten, die als Vorsitz den Vorsteher des sechstgrößten Ölkonzerns der Welt hat, hätte in vielen satirischen Redaktionen wohl als zu unrealistisch und nicht subversiv genug gegolten – der Realität war das aber leider egal. Wie jedes Jahr, wenn die internationale Klimapolitik auf der großen Bühne steht, kommt die Diskussion um sie nicht ohne recycelte Argumente und Falschinformationen aus.

Diskussionsvergiftung. Im Diskurs rund um dieses Thema werden nicht nur viele Gehässigkeiten ausgetauscht, sondern auch alte Argumente wiederbelebt, um Standpunkte zu begründen. Eines der beliebtesten Argumente, besonders von Konservativen, ist das des freeridings (auf Deutsch: Trittbrettfahren). Es sei doch egal, wenn wir auch Kohle abbauen, die Menge ist im globalen Vergleich quasi egal. Allein China und die USA stoßen so viel mehr CO2 aus, da kann Deutschland nicht mithalten – und Österreich schon gar nicht. Wenn „wir“ im globalen Vergleich so insignifikant sind, warum sollten wir uns dann zurückhalten? Hier werden andere Länder des freeridings bezichtigt – sie können sich so verhalten, wie sie wollen, während wir den Preis bezahlen. Diese Art von Argumentation löst in vielen Gegner_innen der Fossilen starke oppositionelle Reaktionen aus. Dieses Argument ist zwar faktisch korrekt – einen einzigen Kohleabbau zu stoppen, wirkt mit Blick auf die Gesamtsituation des Klimas wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Jedoch hat dieses Argument eine unsichtbare anti-humanitäre Dimension. Um das Ganze jedoch besser zu verstehen, sind ein paar Konzepte unerlässlich: Die Folgen des Klimawandels, wenn die Länder und Volkswirtschaften der Welt mit business as usual fortfahren; die Moralität hinter dem genannten Argument; und was Klimapolitik kann und soll. Hier also nochmal kurz die Fakten, mit welchen Folgen zu rechnen ist, wenn die Entwicklung der Welt auf dem aktuellen Pfad bleibt und ein realistisches Zielszenario, das weniger Folgen mit sich trägt.

Mit fossiler Energie gegen die Wand. Das Szenario, welches am nächsten an die derzeitigen sozioökonomischen Entwicklungen herankommt, ist dunkel: Der CO2-Ausstoß bleibt quasi bis zum Ende des Jahrhunderts gleich. Das ist der ungefähre Pfad, den die Nationen der Welt im Paris Agreement festgelegt haben. In diesem Zeitraum erwärmt sich die Erde um ungefähr 2,7 - 3,2 Grad Celsius. Was wie ein netter Sommerurlaub klingt, hat jedoch enorme Konsequenzen. Regionale und transnationale Konflikte, Ressourcenknappheit und größere Ungleichheit sind nur ein paar der Folgen, welche die Forschenden für wahrscheinlich erklären. Dazu kommen lauwarme politische Maßnahmen und omnipräsente Gefahren durch Umweltschäden.

Ein weniger gefährliches Szenario orientiert sich an einer globalen Erwärmung von zwei Grad. Dies scheint zwar nicht mehr realistisch, ist aber durch entschlossene Politik noch möglich. In dieser Welt mehren sich zwar Extremwetterereignisse und der Meeresspiegel steigt um bis zu 60 Zentimeter, allerdings könnten schwerwiegendere Folgen vermieden und der globale Lebensstandard erhöht werden. Das wohl wichtigste Detail, das man oftmals in diesen technischen Diskussionen rund um den Klimawandel vergisst, ist das mit jedem zehntel Grad weniger Erderwärmung weniger Menschen, ob schon geboren oder noch nicht, sterben. Dieses humanistische Ziel des Klimaschutz- es darf nicht aus den Augen verloren werden – womit wir wieder beim Argument des freeridings wären.

Anti-Klimaschutz, Anti-Menschen. Bei den Unzulänglichkeiten seiner eigenen Regierung auf andere zu verweisen, ist naheliegend. Erst recht dann, wenn die Datenlage darauf hindeutet, dass das eigene Land nicht so „schuldig“ ist wie andere. Doch offenbart sich in dieser Struktur ein dunkles Sentiment. Da vom menschengemachten Klimawandel intensivierte Extremwetterereignisse direkt zum Verlust von Menschenleben führen, ist dieses Argument, dass man nichts machen könne, wenn andere schlimmer sind, nicht zu beachten. Im Gegensatz zu dem, was dieses Argument nämlich behauptet, sind kleine Lösungen etwas Gutes. Die Gefahr der Klimakrise steigt mit jedem zehntel Grad. Je höher die Erderwärmung ausfällt, desto mehr Menschenleben wird diese Krise kosten. Das bedeutet wiederum, dass alle Maßnahmen, die, ohne selbst Menschenleben zu kosten, die Klimakrise eindämmen, Menschenleben retten. Jeder noch so kleine Protest hilft. Von Großdemos wie Fridays for Future bis hin zu lokalen Protesten der indigenen Bevölkerung, um einen winzigen Teil des heimischen Ökosystems zu retten – es geht nicht um die Größe, da jedes Umdenken der Politik im Klimabereich Leben rettet. Gerade deswegen ist das scheinbar gute Argument des Trittbrettfahrens im Kern so abtrünnig. Anstatt mitzuhelfen, die Löcher im eigenen Boot zu stopfen, wird auf diejenigen hingewiesen, die es nicht tun. Dazu wird dann noch empfohlen, sich genau so zu verhalten, wohlwissend, dass diese Rhetorik Leben vernichtet.

Was Menschen, die solche Argumente verwenden davor schützt, sich kritisch mit ihrer Argumentation auseinanderzusetzen ist, dass diese Tode medial unsichtbar gemacht werden. Die Länder, die am meisten unter den Folgen der Klimakrise leiden, sind weit weg. Wenn Einwohner_innen des globalen Südens die Auswirkungen der Klimakatastrophe erfahren, ist es einfach, auch abseits von rassistischen Ressentiments, wegzuschauen.

Doch wegzuschauen ist fatal: stattdessen gilt es, utopische Zukunftsvisionen zu erlauben. Zu diesem Prozess gehören keine „aber die Anderen“-Argumente, sondern eine „Ja, und“-Haltung. Diese Haltung funktioniert auf zwei Ebenen.

Ja, und? & Ja, und! Das Offensichtliche zuerst: Die „Ja, und?”-Haltung ist eine der Akzeptanz. Die Akzeptanz, dass es Dinge gibt, die außerhalb der Kontrolle der einzelnen Person liegt. Kinder auf den FFF-Demos in Österreich haben keinen Einfluss auf Umweltpolitik der Volksrepublik Chinas. Indigene Völk- er, die ihren Lebensraum beschützen wollen, haben keinen Einfluss auf die Investitionsentscheidungen amerikanischer Ölfirmen. Man sollte sich dessen bewusstwerden und sich darauf verlassen, dass kleine Proteste, an denen man teilhat, größere inspirieren und somit über Zeit die großen Staatsregierungen zum Umdenken bringen – hoffentlich schnell genug. Die andere Seite, die „ja, und!“ Haltung ist ein wenig komplexer.

Offenheit ist hier das Gebot der Stunde. Um kleine Siege zu erlangen, braucht es Alles, womit wir gewinnen können. Das bedeutet einen Mix aus den uns zur Verfügung stehenden Optionen verwenden, um die schlimmsten Effekte der Klimakrise zu verhindern. Ausbau von öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Radwegen? Ja! Und so weiter. Das sind bei weitem nicht alle Vorschläge, die die Klimaforschung hervorgebracht hat, sie reichen aber um das Prinzip zu illustrieren. Bei allen diesen Vorschlägen wird man Widerstand erfahren, mal stärker, mal schwächer. Davon darf man sich nicht demoralisieren lassen. Kleine Siege sind unfassbar wichtig.

Was Klimapolitik kann und soll. Klimapolitik ist so herausfordernd wie unübersichtlich. Viele Aspekte müssen mit den verschiedensten Interessensgruppen abgestimmt werden, um etwas zu erreichen. Klimapolitik, zumindest in ihrem jetzigen Stadium, kann kleine Siege und symbolische Gesten am besten. Doch das ist keineswegs schlecht. Natürlich, auch ich wünsche mir mehr und effektiveren Klimaschutz – aber weniger ist besser als nichts. Dazu lassen sich kleine Siege in wichtigen Wahlkreisen schnell in eine „green spiral“ umwandeln. Das bedeutet, dass Trittbrettfahren von der globalen Politik nicht beachtet wird, sondern die Interessen der Wähler_innen am wichtigsten sind – ist den Wählenden Klimaschutz wichtig, wird das Klima geschützt. Was nicht zu vergessen ist, ist das Framing: Kleine Siege sind nun mal klein, das heißt es bleibt immer Luft nach oben.

Man kann - und soll - sich, trotz vielen guten Maßnahmen, immer für mehr und besseren Klimaschutz einsetzen. Klimapolitik kann nicht antidemokratisch über die Bedürfnisse vieler Interessensgruppen hinwegentscheiden, auch wenn es manchmal danach aussieht. Die Wichtigkeit, kleine Projekte umzusetzen, die dazu beitragen größere zu legitimieren darf nicht unterschätzt werden. Klimaschutz ist selten nutzlos oder falsch. Auch wenn sich andere schlechter verhalten, darf man nicht in der Machtlosigkeit verfallen, sondern muss besonders stark um den Planeten kämpfen!

 

 

Konstantin Philipp studiert Politikwissenschaft an
der Universität Wien und Economic Policy an der
Utrecht University

 

 

Foto © Vanessa Hundertpfund

Barbie und die Revolution

  • 22.03.2024, 10:32
Von der (Un)Möglichkeit zur Kritik. Eine Bestandsaufnahme zum Wechselverhältnis von Kultur, Kritik und Ökonomie.

In der symbolischen Ökonomie spielen Kultur und Ökonomie einander zu – kulturelle Symbole und Artefakte werden ökonomisiert, und ursprünglich als ökonomisch wahrgenommene Produkte werden nunmehr als kulturelle identifiziert.

Die Kultur (…) verwandelt sich in eine Ware“ (Musner, 2009, S. 39). Es scheinen sich im Zuge der Reflexion gegenwärtiger Wirtschaftsverhältnisse neuartige Lesarten von Kultur festzuschreiben. Der idealistisch überhöhte Satz von Mark Twain: „Kultur ist das was übrigbleibt, wenn der letzte Dollar ausgegeben ist“, kann so nicht mehr stehengelassen werden. Dass kulturelle Werte, bzw. eine wertvolle Kultur auf das engste mit ökonomischen Prozessen verstrickt sind, scheint beinahe schon selbstverständlich, wobei selten die weitreichenden Implikationen einer solchen Wahlverwandtschaft erkannt werden.

Die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters dazu: „Kultur ist eben nicht das Ergebnis des Wirtschaftswachstums, sondern sie ist dessen Voraussetzung“ (Grütters, 2014). Die Verschränkung wurde also erkannt. Doch was heißt es, wenn Kultur, Wert und Wirtschaft in Relation zueinanderstehen?

Kulturalisierung. Der Soziologe Andreas Reckwitz fasst diesen Wandel der Kulturverhältnisse unter dem Begriff der Kulturalisierung. Vereinfacht gesagt, meint Kulturalisierung schlichtweg eine Art Ausdehnung der Kultur, und zwar nicht im kulturwissenschaftlichen, auf Prozessen der Bedeutungskonstruktion und Sinnstiftung fußenden, sondern in einem engen Sinn: „Kultur als Sphäre der Valorisierungsdynamik dehnt sich in der Spätmoderne aus, weil immer mehr Dinge – jenseits der Frage nach Nutzen, Interessen und Funktion – in das kulturelle Spiel von Aufwertung und Abwertung hineingesogen werden“ (Reck-witz, 2020, S. 35). Bereits hier lässt sich erahnen, dass dem Immateriellen, dem Kognitiven eine zentrale Funktion innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft zukommt. Wie kommt es zur anfangs erwähnten symbolischen Ökonomie und worauf basiert sie?

Neuer Kapitalismus. Der klassische industrielle Kapitalismus, durchlebt eine Reihe von Krisen, welche ihn zwar regelmäßig zu schwanken bringen, ihn jedoch nie ernsthaft in Frage stellen. In den 1970er Jahren geschieht nun etwas vollends Neues: er scheint zu erodieren (vgl. ebd. S. 158). Die Gründe hierfür interessieren in diesem Kontext nicht weiter. Weitaus wichtiger ist die Charakterisierung der Welt, die darauffolgt. Zwei Dinge sind interessant. Erstens der qualitative Wandel des Kapitalismus, welchen Luc Boltanski und Ève Chiapello unter dem Signum des „neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello, 2018) zufassen versuchen. Die beiden Autor_innen verweisen auf eine grundsätzliche Umstrukturierung der vormals starren, auf Fließbandarbeit und Massenproduktion basierenden Industrie. Diese neue Form des Kapitalismus setzt nunmehr, am prominentesten aus den Parolen der 68er Generation gespeist, auf eine Form von Arbeit, die auf flachen Hierarchien, Flexibilität, subjektiver Erfüllung und Entgrenzung fußt. Zweitens nimmt hier eine neue Subjektform ihren Ausgang. Im Rahmen der „Selbstverwirklichungsrevolution“ (Reckwitz, 2020) wird mit den Werten der „nivellierten Mittel-standsgesellschaft“ (Schelsky, 1953), welche weitgehend auf soziale Akzeptanz, durchschnittlichen Konsum bzw. die Durchschnittlichkeit im Allgemeinen setzt, gebrochen. Einzug finden „Leitwerte der Lebensqualität, der Entfaltung des Selbst, des Lebensgenusses, der Verwirklichung von Möglichkeiten des Erlebens, der Suche nach Erfahrungen des Außergewöhnlichen, eines ästhetischen und teilweise auch eines ethisch bewussten Lebensstils“ (Reckwitz, 2020,S. 151). System und Subjekt entsprechen einander funktional. Besonders augenfällig wird dies im Kontext der Waren und Konsumgüter, welche nun ebenso immer drastischer immaterielle Werte verkörpern. Die Nützlichkeit tritt in den Hintergrund und gibt der Form freien Lauf. Das Bedürfnis nach Massengütern, sprich Gütern, welche einen gewissen durchschnittlichen Lebensstandard versprechen (bspw. Nützlichkeitsgüter, wie Waschmaschinen, Kühlschränke, etc.) kann grundsätzlich gestillt werden, was eine Problematik im Kontext der kapitalistischen Steigerungslogik darstellt. Im Gegenzug dazu können kognitiv-kulturelle Waren in einer Endlosschleife produziert und konsumiert werden. Der Wunsch nach subjektiver Zufriedenheit kann nur auf Zeit befriedigt werden (Ansätze einer solchen Lesart finden sich bspw. bei Fourastié, 1954).

Kognitiv-kultureller Wert. Ein Beispiel: Der neue Nike-Schuh ist nicht oder nur marginal „besser“ als der Schuh jeder anderen Marke. Jedoch erzielt er auf dem Markt höhere Preise als vergleichbare Produkte. Die Herstellung, zumeist in Billiglohnländern situiert, kann hier keine zufriedenstellende Begründung liefern. Viel eher bezieht der Schuh seinen Wert aus anderen Quellen. Er hat einen kognitiv-kulturellen Wert. Kognitiv in dem Sinne, als dass ein hohes Maß an Wissensarbeit in ihm steckt (Design, Copyright) (hierzu: Drucker, 1972). Kulturell wertvoll ist der Nike-Schuh als Idee und durch das Gefühl, welches er hervorruft. Jedoch werden nicht nur ökonomische Güter kulturalisiert. Wechselseitig vollzieht sich ebenso eine Ökonomisierung vormals nichtökonomischer Sphären.

Radikalisierte Ökonomisierung. Diese kann in verschiedensten Aspekten nachvollzogen werden, besonders spannend gestaltet es sich im Kontext der Kritik. Bereits im Rahmen der 68er Bewegung und der Krise des Industriekapitalismus kann eine Inwertsetzung der Kritik wahrgenommen werden. Das Wirtschaftssystem schafft es die Kritik an sich selbst anzuwenden, sie zu integrieren und zum substanziellen Bestandteil seiner selbst zu machen (hierzu: Boltanski/Chiapello, 2018, S. 211f).

Kritik wird nun wie vieles andere zur konsumierbaren Ware. Ein Beispiel aus der etwas jüngeren Vergangenheit: Der im Sommer 2023 erschienene Barbie-Film mit Ryan Gosling und Margot Robbie in den Hauptrollen übt Kritik an patriarchalen Strukturen und wird zum Boxoffice Erfolg. Feministische Thematiken werden zum Alltagsgespräch, vergeschlechtlichte Hierarchien diskutiert, klassische Geschlechterbilder dekonstruiert. Der Film schafft es jedoch, Kritik an patriarchalen Strukturen vor aller Augen zur Ware innerhalb eines noch immer auf der Ungleichheit der Geschlechter fußenden Systems zu machen. Der Preis für Kinotickets ist hier nicht die zentrale Problematik: Es geht viel eher darum, dass die ideologische Aufladung des Films, die Zuschreibung moralisch „richtige“ Werte zu vermitteln, schlichtweg den kulturellen Wert des Films steigert, ohne die Substanz des Systems, welches maßgeblich dazu beiträgt, die Disziplinarstrukturen hervorzubringen, im Kern anzugreifen.

Kein Richtiges im Falschen. Theodor W. Adorno mag recht gehabt haben, als er den Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ (Adorno, 1980) formulierte. Es gibt eben auch keine richtige Kritik im Falschen. Solange die Kritik Teil des Systems ist, bzw. innerhalb des Systems zu einem bloßen Produkt verkommt, führt sie sich selbst ad absurdum und belässt das sie äußernde Subjekt in blauäugiger Selbstzufriedenheit. Doch was geschieht mit Ansätzen, welche das System im Ganzen thematisieren? Auf Amazon findet sich eine ungekürzte Ausgabe des „Kapitals“ von Karl Marx für unter acht Euro. Byung-Chul Han hierzu: „Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware, das ist das Ende der Revolution“ (Han, 2022,S. 32).

Das System denkt die Kritik an sich selbst bereits mit, wandelt sie zur Ware und bietet sie auf dem Markt feil. Die Kritiker_innen werden zu Konsument_innen, kritisiert wird nur noch die Qualität verschiedener Kritikwaren. Sie werden im Prozess der Kulturalisierung qua Valorisierung auf- und abgewertet, werden wichtig oder unwichtig, ihr Ziel treffen sie nicht.

Sebastian Kunig studiert Europäische Ethnologie an der Universität Wien.

 

Foto © Maria Letizia Ristori

Adorno, Theodor W. (1980): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Gesammelte Schriften). Frankfurt am Main (Erstausgabe 1951).
Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2018): Der neue Geist des Kapitalismus. Köln. (frz. Orig. 1999).
Drucker, Peter (1972): Die Zukunft bewältigen. Aufgaben und Chancen im Zeitalter der Ungewißheit. München (amerik. Orig. 1969).
Fourastié, Jean (1954): Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. Köln (frz. Orig. 1949).
Grütters, Monika (2014): Kultur ist mehr als alles andere ein Wert an sich, breg-de/aktuelles/kultur-istmehr-als-alles-andere-ein-wert-an-sich-782452 (letzter Zugriff: 13.12.2023).
Han, Byung-Chul (2022): Kapitalismus und Todestrieb. Essays und Gespräche. In: fröhliche Wissenschaft 155. 3. Auflage. Berlin.
Musner, Lutz (2009): Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt, Frankfurt am Main.
Reckwitz, Andreas (2020): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. 4. Auflage, Berlin

Die faule Lüge

  • 01.01.2023, 15:57
Über die Scham, faul zu sein, und den Druck, durchgehend zu leisten: Was ist Faulheit und welchen Platz hat diese in unserer Leistungsgesellschaft?

 

CW: Schilderung von Rassismus 

"Warum kann ich das nicht einfach alles machen?", habe ich oft mich selbst und meine Therapeutin gefragt. Warum fällt es mir so schwer zu studieren, zu arbeiten, politisch aktiv zu sein, mich um den Haushalt zu kümmern, Menschen auf WhatsApp zurückzuschreiben, auf Emails zu antworten und dann auch noch jeden Abend meine Zähne zu putzen? Warum bin ich die Einzige, die das nicht schafft? Woher weißt du, dass du die Einzige bist?, fragt dann meine Therapeutin. Weil niemand sonst darüber spricht. Sprichst du darüber? Nein. Warum nicht? Weil ich mich schäme. Weil ich denke, dass ich faul bin, dass ich kaputt bin, und mich dafür schäme, nicht einfach leisten zu können.

Produktivität hatte in meiner Welt immer höchstes Gebot: schnell und effektiv arbeiten, Geld verdienen, am besten alles gleichzeitig machen. Die anderen schaffen es ja auch. "Die anderen, die alles schaffen" waren sogenannte Productivity Influencer auf Instagram und YouTube, die ihr Geld damit machen, darüber zu reden, wie unheimlich produktiv sie durch Methode X und Y geworden seien. Dabei beginnt die Geschichte viel früher: Schon als Volksschulkind wusste ich, dass meine Leistung das ist, was schlussendlich zählt. Wer nicht leistet, versagt. Ist ja schließlich auch das Einzige, das benotet wird - nicht der Weg dorthin, oder die Mühe, die ich mir gemacht habe. Das zieht sich durch’s Gymnasium und wurde mir dann auch später im Studium von der Regierung so bestätigt; siehe UG-Novelle. Du schaffst keine Mindestanzahl an ECTS pro Semester? Was für ein_e Versager_in.

Forderungen wie “Leistung muss sich wieder lohnen”[1] tauchen immer wieder im politischen Diskurs auf und wirken wie ein perverses Verlangen, Leute in nützlich und nutzlos, wertvoll und wertlos einzuteilen. Leistung wird durch und durch romantisiert - zum Beispiel als Hustle Culture oder “THAT girl”-Ästhetik. Auch das Studierendenleben wird glorifiziert: möglichst lang in der Bib zu bleiben, um 4:30 Uhr aufstehen, um zu lernen, 12h lange “Study with me”-Livestreams auf YouTube. Die Kehrseite, Überanstrengung bis hin zum Burnout, wird dabei ignoriert.

Wer nicht leistet ist faul? Oft scheint mir, als gäbe es bei diesem Thema nur schwarz oder weiß. Entweder bringt man Leistung, arbeitet 40h oder mehr, erfüllt alles, was gesellschaftlich  in diesem Lebensabschnitt erwartet wird - oder man ist faul. Ich unterrichte Deutsch für Menschen, die gerade erst nach Österreich gekommen sind, Menschen, die ausgewandert sind, aber auch Menschen mit Fluchterfahrungen. Manchmal höre ich dann: "Flüchtlinge sind faul. Sie sollen sich anstrengen, Deutsch zu lernen, sind ja schon seit Jahren hier." Ja, ich unterrichte auch Leute, die schon lange hier sind und kaum sprechen. Keine_r davon ist faul. Es sind Männer, die im Unterricht ganz still werden und merklich mit den Gedanken woanders sind; bei ihrer Familie, im Krieg, bei der Angst, nicht in Österreich bleiben zu dürfen. Das sind Stress und Trauma. Die Mutter, die seit elf Jahren in Österreich ist, aber ihre Hausübung nicht macht, weil keine Zeit dafür ist; neben ihrem Job als Putzkraft muss sie täglich zwei Mahlzeiten auf den Tisch bringen, den Haushalt machen und sich um ihre fünf Kinder kümmern. Sie fragt mich oft, wie sie das alles schaffen soll - ich wünschte, ich könnte es ihr sagen. Dann höre ich, wie wieder mal irgendein_e Politiker_in über die "faulen Flüchtlinge" schimpft, als würde die Person wissen, worüber sie spricht.

"Faul" ist ein Adjektiv, das ich eigentlich nur falsch verwendet höre. Meistens dann, wenn die Person nicht die ganze Situation kennt. Es ist so einfach, Leute als faul abzustempeln. Viel einfacher als Mitgefühl zu zeigen und versuchen zu verstehen.

Was ist Faulheit eigentlich? Faulheit ist laut dem Duden die Unlust, sich bei etwas zu betätigen.[2] “Faulheit” zählt auch als eine der sieben christlichen Todsünden, was uns zeigt, wie tief diese Angst vor der Faulheit in der westlichen Kultur verankert ist. Demnach ist in den vorher genannten Fällen nicht von Faulheit zu sprechen. In keinem der Beispiele waren die Personen unwillig, etwas zu tun.

Wirkliche Faulheit wäre also, gewollt weniger zu tun. Ich denke dabei an die Leute, die ich bei meinen unterschiedlichen Erfahrungen in der Arbeitswelt kennenlernen durfte. Leute in der Gastro, die ihre Leistung ihrem Gehalt anpassen. Wenn dieses unterirdisch gering ist, warum sollten sie sich schinden, wenn sie dafür nichts bekommen? Faulheit, die per Definition bewusst ist, kann auch eine aktive Rebellion gegen die Leistungsgesellschaft sein. Vielleicht ist sie gerade deshalb auch eine Todsünde - weil sie das System hinterfragt.

Faulheit ist ein Konstrukt, das versucht, uns ein schlechtes Gewissen zu machen, wann immer wir nichts “Nützliches” machen, nicht als produktiv gelten. Der Begriff “Produktivität” kommt eigentlich aus der Wirtschaft. Er beschreibt die Relation von Input und Output von Wirtschaftssystemen, wie Privathaushalten oder Unternehmen. Was gemeinhin als “Produktivität” bezeichnet wird, ist die “Arbeitsproduktivität” - die durchschnittliche Arbeitsleistung einer_s Mitarbeitenden innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Den Wert eine_rs Arbeitenden an der Produktivität zu messen, erfasst jedoch nie das ganze Bild. Menschen sind komplexe Wesen, und ihr Wert hängt nicht von ihrem Output ab.

Zeitverschwendung ist wichtig. Dinge, die gemeinhin als produktiv eingestuft werden, sind meistens damit verbunden, wie lukrativ sie sind. Side-Hustles sind lukrativ, Fantasybücher zu lesen ist es nicht. Pausen sind es nicht. Dabei ist es genau das, was wir brauchen, um uns zu erholen. Erholung ist keine Zeitverschwendung.

Auf Instagram scrollen, Netflix schauen, malen, mit Freund_innen telefonieren - all diese Dinge fühlen sich für mich wie guilty pleasures an, weil sie mir nichts “bringen”, im wirtschaftlichen Sinne. In einer idealen Welt wäre mir das aber egal - dann würde ich ohne Schuldgefühel tun, was mich glücklich macht. Kann denn etwas Zeitverschwendung sein, wenn es mir Freude bereitet? Menschen können nicht nur leisten. Menschen sind nicht dafür gemacht, durchgehend produktiv zu sein - wir brauchen Pausen und Auszeiten, um am Ende des Tages noch die Kraft zu haben, den Geschirrspüler auszuräumen und Zähne zu putzen. Man muss manchmal den Kopf ausschalten, um später wieder denken zu können.

Eine Art der Zeitverschwendung ist die Prokrastination. Meine Freund_innen höre ich oft über sich selbst schimpfen, weil sie “schon wieder prokrastinieren”, sie sind frustriert, nennen sich faul - Schuld und Scham drehen sich im Kreis. Dabei hat Prokrastination meistens einen Grund.[3] Es gibt Barrieren, warum wir gewisse Dinge nicht einfach so erledigen können. Es ist wichtig, diese Barrieren zu erkennen und zu benennen und sie nicht einfach als Faulheit abzustempeln. Dazu müssen wir mehr Nachsicht und Mitgefühl mit uns selbst haben, weil sie sonst niemand mit uns hat. Diese Barrieren sind ohne Schuldzuweisungen anzugehen, sondern mit Neugierde.

Prokrastination beispielsweise rührt oftmals aus der Angst, nicht gut genug zu sein. Oder sie ist ein Zeichen von Überforderung - nicht zu wissen, wo man anfangen soll. Ablenkung ist dann einfacher: schnelles Dopamin durch Instagram Reels zum Beispiel.

Universitäten sind keine Ausnahme. Der Drang nach Produktivität zieht sich durch jeden Teil unseres Lebens. Um dieses Problem langfristig zu lösen, müssen wir gegen die kaptitalistischen Denkweisen und das System selbst gehen. Wir können mit dem anfangen, was uns am nächsten ist: die Universitäten.

Das akademische Umfeld in Österreich bietet wenig Spielraum für die unterschiedlichen Kontexte, in denen wir uns als Studierende zurecht finden müssen. Seien es Arbeit, Pflegeverpflichtungen, Stress, Anxiety, Traumata - um nur einige zu nennen. Kaum jemand ist nicht betroffen und jede_r Studierende ist vor individuelle Herausforderungen gestellt. All diese Umstände können als Barrieren fungieren, die uns davon abhalten, im Studium aufzublühen. Das sollte aber Platz haben. Das heißt nicht, dass Noten geschenkt werden sollten - bereits einfache Anpassungen wie eine “No questions asked 48h Verlängerung” für Abgaben können bereits viel bewirken.

Ein Appell an Universitäten: Habt Empathie gegenüber euren Studierenden. Ein erfolgreiches Studium sollte nicht davon abhängen, wie frei von Altlasten eure Studierenden sind. Professor_innen sind oft Leute, denen die akademische Arbeit immer leicht gefallen ist. Diese gilt es zu überzeugen: Nur weil ihr in diesem System aufblühen konntet, heißt das nicht, dass eure Studierenden das genauso können. Wer jetzt davon anfängt, dass jene, denen das Studieren schwer fällt, nicht dafür gemacht seien, sollte kurz über dieses Statement nachdenken. Dürfen Leute mit Trauma nicht studieren? Sollte Menschen mit einer mentaler Krankheit der Abschluss verwehrt werden? Ich rede nicht davon, das Studieren inhaltlich “einfacher” zu machen. Ich rede davon, das Studieren so zu strukturieren, dass es für diese Personen machbar wird. "If a student is struggling, they probably aren't choosing to", schreibt Sozialpsycholog_in Devon Price.[4]

Das ist kein individuelles Problem, sondern hat System. Es ist Hustle-Culture und Late Capitalism, aber das hilft nicht viel im Moment. Was ist jetzt zu tun? Wenn wir uns für unsere eigene “Faulheit” verurteilen, dann handelt es sich dabei nicht um Faulheit, sondern um ein Hindernis, bei dem wir Unterstützung brauchen. Das kann sich als Prokrastination äußern und ist nicht zu verurteilen. Es ist wichtig, uns selbst Pausen zu erlauben, unsere Umstände zu erkennen und uns nicht schlecht dafür zu fühlen. Aktiv “Zeit zu verschwenden”, um unserem Gehirn eine Pause zu lassen. Leistungsdruck kritisch zu betrachten und zu hinterfragen, was als produktiv eingestuft wird und was nicht. Aktiv faul zu sein. Forderungen an Universitäten und Institutionen einzubringen.

Es hat lange gebraucht, bis ich aufgehört habe, mich dafür zu schämen, keine Maschine zu sein;meinen Selbstwert nicht von meiner Leistung abhängig zu machen und mir ein Recht auf Menschlichkeit einzugestehen, wie u.a. mal eine Pause zu brauchen oder nicht durchgehend leistungsfähig zu sein. Crazy, ich weiß. Mein Appell an Empathie geht nicht nur an Universitäten: Es gibt noch genug Leute, die an Faulheit glauben und diesen Begriff falsch verwenden. Merksatz: Wenn wir eine Person als "faul" einstufen würden, sehen wir höchstwahrscheinlich nicht das ganze Bild. Und anstatt diese Person dann in die praktischen Schubladen “nützlich” und “nutzlos” einzuteilen, könnten wir diesen Moment nutzen, um Empathie zu zeigen.

 

Eluisa Kainz ist 22 Jahre alt und studiert Business & Economics an der Wirtschaftsuniversität Wien.

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Laura Wiesböck: „Leistung muss sich wieder lohnen“, Momentum Institut 10.09.2019, https://www.momentum-institut.at/news/leistung-muss-sich-wieder-lohnen

https://www.duden.de/rechtschreibung/Faulheit

Olubusayo Asikhia: "Academic Procrastination in Mathematics: Causes, Dangers and Implications of Counselling for Effective Learning", in: International Education Studies 3(3), Juli 2010, https://files.eric.ed.gov/fulltext/EJ1066019.pdf

Devon Price: “Laziness does not exist”, Medium 23.03.2018,https://humanparts.medium.com/laziness-does-not-exist-3af27e312d01

 

 

Keine Gerechtigkeit für Frauen

  • 01.01.2023, 15:56
Nicht funktionierende staatliche Schutzmaßnahmen, schwangere Teenager und eine Botschaft: Straflosigkeit. Gewalt an Frauen in Ecuador.

CW: Schilderung von Gewalt

Geraldina Guerra erzählt uns von einem Kampf, den die Zivilgesellschaft führt. Gegen komplizierte bürokratische Prozesse. Gegen ein System, das eigentlich beschützen sollte. Und gegen machistische und frauenfeindliche Stereotypen in der Gesellschaft. Sie ist Frauenrechtsaktivistin und Präsidentin der Stiftung ALDEA (Asociación Latinoamericana para el Desarrollo Alternativo). Wir treffen sie im Garten ihres Hauses in Mindo, nahe der Hauptstadt Quito. Inmitten von Vogelgezwitscher und Bananenbäumen erzählt Guerra von der Problematik der Gewalt an Frauen im Land: „Die Gewalt ist die andere Pandemie. Die Pandemie im Schatten. Sie bringt mehr Frauen um als der Krebs oder Verkehrsunfälle. Sie durchdringt leise das Leben und die Körper der Frauen.“

65 von 100 Frauen. Etwa 65 von 100 Frauen in Ecuador sind Gewaltopfer. Diese kann verschiedene Formen haben, zum Beispiel physisch, psychisch oder auch ökonomisch. Ein besonders großes Problem ist die sexualisierte Gewalt an Frauen, Kindern und Jugendlichen: „Vier von zehn ecuadorianischen Frauen sind Opfer sexualisierter Gewalt. In den Fällen von Sexualgewalt an Minderjährigen passieren 60% im eigenen Haushalt. Das heißt, es sind die eigenen Eltern, Onkel, Geschwister oder Großeltern, die Gewalt ausüben.“ Oft nimmt die geschlechtsspezifische Gewalt ihre schlimmste Form an: Alle 28 Stunden stirbt eine Frau durch einen Femizid.

An Gesetzen und Protokollen zum Schutz vor Gewalt mangelt es in Ecuador nicht. Schwierig ist eher die Umsetzung, denn bei der Staatsanwaltschaft und anderen zuständigen Stellen herrscht Personalmangel: „Du hast manchmal eine einzige Person, um die Gewaltfälle zu bearbeiten, aber gleichzeitig auch Diebstähle und alle möglichen Sachen, die in diesem Bezirk passieren.“ Dadurch bleiben Fälle jahrelang liegen und die Täter werden spät oder gar nicht zur Verantwortung gezogen: „Es gibt keine Gerechtigkeit für die Frauen. Die Message ist dann: Es ist egal, dass ein Vater seine siebenjährige Tochter vergewaltigt hat. Fatal. Was man mit der Gewalt machen muss, ist, eine handfeste Botschaft senden. Von Sanktionen, von Gefängnis. Von Bestrafung. Und das ist, was nicht passiert.“

Keine Schulung. Polizist_innen seien außerdem nicht genug geschult im Umgang mit Gewalt und die Frauen selbst würden oft ihre Rechte nicht kennen. Viele wissen nicht, dass sie sich im Ernstfall an eines von elf Frauenhäusern wenden können. Doch selbst dieses Angebot erscheint wenig: In Österreich gibt es 29 Frauenhäuser – bei halb so vielen Einwohner_innen wie in Ecuador.

Wir fahren nach Puerto Francisco de Orellana ins Amazonasgebiet. Palmen und Bananenbäume säumen die Straße, Schäfchenwolken stehen am blauen Himmel, es ist heiß. Hier befindet sich das Frauenhaus „Casa Paula“, welches seit über 20 Jahren eine Anlaufstelle für Gewaltopfer der Amazonasregion bietet. 

Inez Ramirez Maldonado hat das Haus gegründet und leitet es bis heute. Sie ist um die 50 und hat die langen schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten. Neben ihr arbeiten hier im Haus eine Anwältin, eine klinische Kinderpsychologin, zwei Sozialarbeiterinnen, eine Lehrerin, zwei Pädagoginnen und die Administratorin. Die Frauen, Jugendlichen und ihre Kinder bekommen hier Unterkunft, Essen, Kleidung und gesundheitliche Versorgung. Das ist oft notwendig, so Maldonado: „Wenn die Frauen kommen, kommen sie mit dem, was sie am Leibe haben. Sie kommen zerschnitten, geschlagen, vergewaltigt, schwanger, manchmal mit einer Vielzahl an Krankheiten. Viele sind knapp einem Femizid entgangen. Sie wurden fast umgebracht. Wir möchten ihnen zumindest eine Grundausstattung geben, damit sie sich wohl fühlen hier im Haus.“ Das ist nicht billig. Eigentlich bekommen Frauenhäuser eine Teilförderung vom ecuadorianischen Staat. Casa Paula hat diese heuer aus bürokratischen Gründen nicht bekommen, das versprochene Geld von der Gemeinde ist auch noch nicht angekommen. So ist das Haus auf NGOs und Spendengelder angewiesen – die meisten davon aus Europa. Trotz der stetigen Geldnot hilft das Team des Frauenhauses, wo es kann. Jugendlichen Gewaltopfern wird ein Schulplatz gesucht und finanziert, damit sie ihre Ausbildung beenden und sich ein eigenes Leben aufbauen können. Doch das funktioniert nicht immer: Manche werden per Gerichtsentscheid zurück in ihre Familien geschickt und müssen dort wieder mit dem Täter zusammenleben. „Eine fatale Entscheidung“, so Guerra.

Casa Paula. Maldonado wohnt mit ihrer Tochter, ihrem Mann und fünf Hunden nicht weit vom Frauenhaus entfernt. Ihre Familie beschreibt sie als ihre größte Stütze, gerade in der schwierigen Zeit um die Gründung des Frauenhauses. Auf dem schwarzen Sofa im Wohnzimmer sitzend, erinnert sie sich zurück: „Es gab einige Männer hier, die mit allen Mitteln verhindern wollten, dass ein Frauenhaus entsteht. Sie haben sogar die Bauarbeiter_innen geschlagen das ganze Baumaterial auf die Straße geschmissen. Ich habe dann alle Frauen organisiert und wir haben in einem großen Aufmarsch den Baugrund besetzt. 15 Tage haben wir dort geschlafen, bis sie mit der Basis für das Haus fertig waren.“ Der Widerstand hat sich schließlich gelohnt und für Maldonado ist das Frauenhaus damals wie heute ein Herzensprojekt: „Ich würde sagen, es war ein Lebensziel von mir, dass diese Organisation aufrechterhalten und gepflegt wird. Dass sie diese Betreuung anbieten kann. Denn wir retten Leben, indem wir einer sehr vulnerablen Gruppe Betreuung und Schutz bieten. Einer Gruppe, die nicht mehr hat als Casa Paula.“

Spenden an Casa Paula: paypal.me/AylluHuarmicunaF

 

Zur Autorin: Julia Wendy studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Sie hat 2021/22 ein Jahr in Mindo, Ecuador, verbracht.