Identitätskannibalismus in Nuova Esperanza

  • 28.10.2014, 01:55

Eine Theater-Rezension

Eine Theater-Rezension

Mittelmeer. Ein Schiff der Grenzschutzbehörde Frontex rammt ein Flüchtlingsboot und bringt es zum Kentern. Die einzigen Überlebenden: Die eitle Fernsehjournalistin Swantje van Eycken, Flo Hagenbeck, eine Berliner Performance-Künstlerin, Le Boeuf, ein apologetischer Frontex-Offizier, und ein stummer afrikanischer Flüchtling. Sie landen auf einer unbewohnten Insel, auf der es nichts zu essen gibt. Bald stellt sich die Frage: Wer wird (zuerst) verkocht?

„Eine mediterrane Groteske“ ist Richard Schuberths Lese-Drama „Frontex – Keiner kommt hier lebend rein“ und treffender könnte die Bezeichnung weder für sein Buch, noch für die realen Ereignisse, auf die es sich bezieht, sein. Das Stück über die absurde Flüchtlingspolitik Europas und die konformistische Kraft schlechten Humors entstand schon 2011 – lange vor der bislang größten Flüchtlingstragödie vor der italienischen Insel Lampedusa im Oktober 2013. Zum Erscheinungsdatum diesen Herbst hat „Frontex“ nichts an Aktualität eingebüßt. Ganz im Gegenteil, Schuberth kann eine traurig-prophetische Vorwegnahme der Ereignisse diagnostiziert werden: Literatur, die ihrer Zeit voraus ist.

In „Frontex“ kommt jedenfalls niemand gut weg, und das ist auch richtig so: Weder die eitlen Journalist*innen, die sich aus Karrieregeilheit in Gefahr bringen, noch die abgehobenen Künstler*innen, die es wissen, aus Tragödien ästhetischen und materiellen Profit zu ziehen – ein Hauch von Selbstkritik, Herr Schuberth? Am schlimmsten geht Schuberth mit der europäischen Politik und ihrer Öffentlichkeit ins Gericht: Die unfassbar zynischen Auftritte vom Frontex-PR-Sprecher und Stand-Up-Comedian Dennis Quartermain und „Mama Merkel“ lassen Ekelgänsehaut aufkommen.

In einer anarchokapitalistischen Welt geht es radikal um Verwertung und Verwertbarkeit, versinnbildlicht etwa im letzten Tabu Kannibalismus, einer absurden „Asyl-Casting-Show“ und einem vollklimatisierten Dienstleistungs-Flüchtlingslager komplett Reintegrations-, Sinn- und Berufsfindungscoachings – genannt „Nuova Esperanza“. Das alles illustriert Schuberth mit bizarrsten Wendungen, kühnsten Überspitzungen und paralysierender Direktheit. Ob das Lachen dem Publikum bei Schuberths ätzendem

Fernseh-Humor punktuell im Halse stecken bleibt? „Frontex“ ist jedenfalls ein atemberaubendes, gleißend bebildertes Drunter und Drüber und somit eher ein durchgehendes Röcheln. Das Drama kann also durchaus mit der stürmischen See verglichen werden, auf der es spielt: mitreißend, aber auf eine bedrohliche Art und Weise.

 

Richard Schuberth liest aus „Frontex“ am 20. November um 20 Uhr mit musikalischer Begleitung Jelena Popržans im ehemaligen Ost Klub.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

 

 

 

AutorInnen: Olja Alvir