Grenzgänge - Der autoritäre Konsens Europas

  • 18.07.2018, 10:53
Am 1. Juli übernimmt Österreich den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Die autoritär-konservative Regierung wird diesen Einfluss nutzen, um ihren Kurs der Abschottung nach außen und sozialen Kontrolle nach innen auf der europäische Ebene zu forcieren. Dagegen regt sich Protest.

„Ein Europa, das schützt,“ lautet das Motto, unter dem sich die österreichische EU-Ratspräsidentschaft präsentieren will. In den bisher spärlichen Verlautbarungen der Regierung zu den Schwerpunkten der österreichischen Ratspräsidentschaft finden sich dieselben rechten Schlagworte, die schon den Nationalratswahlkampf im vergangenen Herbst geprägt haben: Verstärkter Schutz der EU-Außengrenzen, Kontrolle illegaler Migration, mehr Abschiebungen, innere Sicherheit. Bereits seit 2015 mauserte sich Österreich zu einer der treibenden Kräfte in der europäischen Abschottungspolitik, trieb die Schließung der „Balkanroute“ voran, auf der Flüchtende versuchten, in den Norden Europas zu gelangen.

Todsichere Grenzen.

Für „sichere“ Grenzen nimmt die EU auch bereitwillig Kooperationen mit autoritären Regimen wie der Türkei oder sogar Milizen wie in Libyen in Kauf. So wurden der Türkei für ihre angebliche Annäherung an die EU seit 2009 neun Milliarden Euro zugesagt, deren Verwendung an keinerlei konkrete Zweckwidmung gebunden ist. Trotz massiver Menschenrechtsverletzungen, der Inhaftierung großer Teile der Opposition sowie hunderter Journalist_innen, der Entlassung zehntausender kritischer Beamt_innen und nicht zuletzt einem völkerrechtswidrigem Krieg gegen kurdische Autonomiegebiete in Syrien fließen diese Gelder weiter, um den sogenannten Flüchtlingsdeal nicht zu gefährden. In dessen Rahmen kann die EU Abschiebeflüge in die Türkei vornehmen und die Türkei sichert zu, Flüchtende zu stoppen, noch bevor sie europäischen Boden betreten können. Dass die libysche Küstenwache auf Schlauchboote Flüchtender sowie auf die Schiffe von Seenotrettungsorganisationen schießt, ist ebenso Gegenstand medialer Berichterstattung wie die Tatsache, dass in Libyen Folter, Vergewaltigungen und Ermordung von Flüchtenden an der Tagesordnung stehen. Bei einer Befragung der Hilfsorganisation Oxfam, die Geflüchtete, die die Überfahrt über das Mittelmeer überlebt haben, an Häfen in Sizilien betreut, gaben 30 von 31 Frauen an, sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Die Mehrheit der Befragten habe zudem Folter oder Tötungen mitansehen müssen. Diese Zustände sind ein direktes Produkt der Grenzpolitik der EU. Das Leid Geflüchteter wird unter hohem finanziellem Aufwand möglichst weit über die europäischen Außengrenzen hinweg verlagert. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass Geflüchtete in den Kooperationsstaaten massiver Gewalt ausgesetzt sind. Mit dem Sager „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“ brachte Sebastian Kurz, damals noch Außenminister, diese menschenverachtende Politik auf den Punkt.

Wen schützt Europa?

In den letzten Jahren hat sich ein gefährlicher Sicherheitsdiskurs durchgesetzt. Ausgehend von der parlamentarischen extremen Rechten wurde die Gleichung „weniger Migration = mehr Sicherheit“ zunehmend salonfähig. Einem der zentralen Gremien des Friedensnobelpreisträgers EU vorzusitzen und mit Schutz ausgerechnet den Ausschluss Schutzsuchender zu meinen, zeugt schon von einem bemerkenswerten Zynismus. Geschützt wird in Europa die Freiheit des Warenund Kapitalverkehrs, die Freiheit, sich voll und ganz dem kapitalistischen Wettbewerb auszuliefern. Wenn Kurz von einem „Europa, das schützt“ spricht, so meint er damit ein Europa der Abschottung.

Soziale Kontrolle.

Auch im Inneren soll das Schlagwort Sicherheit den Schirm darstellen, unter dem Themen von Wohlstand bis Wettbewerb verhandelt werden. Auch hier gibt die Verknüpfung der Themen allein schon Aufschluss über die inhaltliche Ausrichtung der Akteur_innen. Der Wettbewerb, vermeintliches Allheilmittel in neoliberaler Politik, soll immer autoritärer durchgesetzt werden, durch Disziplinierung sowie Ausschluss. Letzterer ist hier nicht nur als Ausschluss nach außen hin zu verstehen, sondern richtet sich ebenso nach innen, wo er sich in der Überwachung und Kontrolle all jener ausdrückt, die der Regierung als ökonomisch überflüssig gelten. Wer nicht produktiv ist, wird als Risikofaktor verhandelt, als potentielle Gefährdung der Sicherheit und Ordnung. Die österreichische Regierung stellt ideologisch die unheilvolle Verknüpfung von Marktliberalismus und autoritärem Nationalismus dar, deren Symbiose düstere Perspektiven für Europa zeichnet. Diese Politik ist jedoch freilich kein österreichisches Alleinstellungsmerkmal, vielmehr zeichnet sie sich in unterschiedlicher Ausprägung und Umsetzung überall in Europa ab. So versucht beispielsweise Macrons Regierung in Frankreich gerade, ein umfassendes Reformpaket durchzusetzen, das den Wettbewerb in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen vorantreiben soll. Insbesondere die Reformen der Arbeitsgesetze, die Verstärkung der Konkurrenz an den Universitäten sowie fremdenrechtliche Verschärfungen werden dort seit Monaten mit landesweiten Protesten und regelmäßigen Streiks ganzer Wirtschaftszweige beantwortet. Die autoritäre Bearbeitung der Griechenlandkrise oder die nationalistische Abschottungspolitik Ungarns sind weitere Beispiele für die Politik, die in Europa auf dem Vormarsch ist.

Auf dem Altar der Sicherheit.

Die Disziplinierung im Inneren zeigt sich auch in der zunehmenden Einschränkung bürgerlicher Freiheiten, man denke beispielsweise an den mehr als zweijährigen Ausnahmezustand in Frankreich, dessen Aufhebung von einem Anti-Terror-Gesetz begleitet wurde, das die polizeilichen Sonderrechte aus dem Ausnahmezustand weiterführt. Der Ausnahmezustand wurde somit teilweise in dauerhaft geltendes Recht übergeführt. Zusätzlich wurde eine neue Polizeieinheit gegründet, die sich vor allem mit der "Ghettoisierung gewisser Viertel" befassen solle. Menschenrechtsorganisationen und selbst die UN übten scharfe Kritik an den Reformen. Eine solche Aufrüstung der Polizei in Ausrüstung und Befugnissen kann man derzeit auch in Österreich beobachten. Das Überwachungspaket, das massive Einschnitte in die Persönlichkeitsrechte der gesamten Bevölkerung vorsieht, ist sicherlich das deutlichste Indiz dieser Entwicklung. Auch die Anschaffung einer größeren Anzahl an Radpanzern in Tarnoptik sowie die Einrichtung einer Pferdestaffel bei der Wiener Polizei sprechen eine eindeutige Sprache. Diese starke Fokussierung auf Sicherheitspolitik ist jedoch entgegen ihrer Wirkung alles andere als ein Zeichen der Stärke, sondern vielmehr ein deutlicher Hinweis auf die gegenwärtige Krise der Institutionen des globalen Kapitalismus. Die Aufrüstung der bewaffneten Kräfte sowie die Einschränkung grund legender bürgerlicher Freiheiten zeigen, wie sehr die derzeitige gesellschaftliche Hegemonie im Wanken ist. Der schleichende politische Wandel in Europa ist in ihren Institutionen bereits vollzogen, bevor ihn seine Gegner auch nur als autoritäre Wende fassen konnten.

Zwei Wege im Konsens.

In der medialen Darstellung wird oft ein Europa der zwei Wege konstruiert. Der vermeintlich gesellschaftsliberale Kurs Macrons wird dem illiberalen, nationalistischen Kurs Orbans als scheinbar vollkommener Widerspruch gegenübergestellt. Freilich unterscheiden sich die beiden signifikant in den ideologischen Grundlagen ihrer Politik. Für Macron steht die Absicherung möglichst freien Wettbewerbes unter anderen Vorzeichen als in Orbans völkischer Ideologie. Doch die Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung sowie die angewandten Herrschaftstechniken gleichen sich angesichts der sich zuspitzenden Krisenhaftigkeit der Verhältnisse. Je mehr sich die derzeitige gesellschaftliche Hegemonie bedroht sieht, desto stärker gleicht sich die konkrete Politik ihrer Herrschenden. Mit Maßnahmen hin zu mehr Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung in allen Bereichen des Alltags der Bürger_innen zieht sich die Politik auf die Exekution von vermeintlichen Sachzwängen zurück, um tagtäglich ihre Handlungsmacht zu demonstrieren. Stumm wurde ein autoritärer Konsens in Europa ausgehandelt. Bundeskanzler Kurz versucht, genau diesen Konsens in seiner Person zu vereinen und Österreich damit zum Vorreiter eines neuen Weges in ein Europa der nationalstaatlichen Abschottung und sozialen Kontrolle zu erheben.

Tag XYZ.

Gegen dieses Europa formiert sich anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs und ihrer Vorzeichen bereits jetzt Protest. Schon die Angelobung der rechten Regierung im Dezember war Anlass für Demonstrationen. Tausende Menschen gingen am „Tag X“ der Regierungsangelobung in Wien, Linz und Graz auf die Straße. Im Jänner folgte eine Großdemonstration mit zehntausenden Teilnehmer_innen, bei der die zu befürchtende Politik des Sozialabbaus im Zentrum der Kritik stand. Vor wenigen Wochen wurde nun eine erste Mobilisierung gegen den EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs gestartet. Dieses informelle Gipfeltreffen wird um den 20. September im beschaulichbürgerlichen Salzburg stattfinden, wohl auch in der polizeitaktischen Erwägung, durch die Verlegung aus Wien weg Proteste hintan halten zu können. Der Gipfel soll sich mit den Themen „Migration“ und „Sicherheit“ beschäftigen, eine unselige Verknüpfung, die bei der österreichischen Regierung beinahe schon zur Zwangsläufigkeit geworden ist. Keine Debatte über Migration kommt derzeit ohne Fragen der Sicherheit – freilich ist hier nur jene der österreichischen Bevölkerung vor Bedrohungen von „außen“ gemeint – aus. Für den Gipfel ruft eine breite Plattform verschiedener zivilgesellschaftlicher, linker und linksradikaler Gruppen zu vielfältigen Protesten auf. Man wolle „die Proteste gegen die Regierung ebenfalls auf eine neue Stufe (...) stellen“ und „für eine solidarische Gesellschaft“ auf die Straße gehen, heißt es im Aufruf auf der Mobilisierungsseite. Die zwei Wege, an deren Gabelung Europa derzeit steht, verlaufen nicht zwischen Macron und Orban, sondern vielmehr zwischen dem autoritären, illiberalen Konsens seiner Regierungen und den Forderungen nach einer solidarischen Gesellschaft jenseits nationalstaatlicher Abschottung.

Julia Spacil studiert Rechts- und Politikwissenschaften an der Universität Wien.

AutorInnen: Julia Spacil