Die ,,Volksgemeinschaft‘‘ bröckelt

  • 05.12.2015, 18:25
Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ versucht theoretische Überlegungen zum Zusammenspiel von Neonazismus, Pädagogik und Geschlecht mit pädagogischen Praxen in Beziehung zu setzen.

Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ versucht theoretische Überlegungen zum Zusammenspiel von Neonazismus, Pädagogik und Geschlecht mit pädagogischen Praxen in Beziehung zu setzen. Mitherausgeber Andreas Hechler spricht mit Judith Goetz über rechte Wortergreifungen gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und den fehlenden Blick auf Opferperspektiven und Alternativen.

progress: Ihr schreibt in eurem Buch, dass „Neonazismus nur mit ganz bestimmten Männlichkeiten und Weiblichkeiten“ funktioniert. Was ist damit gemeint?
Andreas Hechler: N(eon)azistische Männlichkeiten und Weiblichkeiten sind exklusiv; sie sind idealtypisch weiß, (seit vielen Generationen) deutsch, christlich oder verwurzelt in der germanisch- nordischen Mythologie, gesund, heterosexuell etc. Was also de facto hyperprivilegiert und nur auf eine kleine Minderheit überhaupt zutreffen kann, ist nach neonazistischer Lesart „normal“.

Darüber hinaus stehen diese Konstruktionen im Dienst einer größeren Sache. Hier greift unter anderem eine vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, die Frauen und Männern innerhalb der „Volksgemeinschaft“ klar definierte Aufgaben und Orte zuteilt. Zu all dem gesellen sich autoritäre und diktatorische Züge, sowohl als strategisches Element zum Erreichen der politischen Ziele als auch ganz prinzipiell in der Vision, wie Gesellschaft organisiert sein soll. Das Zusammenspiel der genannten gesellschaftlichen Positionierungen, Verhaltensweisen und Einstellungsmuster produziert ganz bestimmte Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Anders formuliert: Es werden all diejenigen ausgeschlossen, die davon abweichen.

Stärker denn je machen sich Rechte gegen vermeintliche „Frühsexualisierung“ stark. Warum ist sie bedrohlich für den Rechtsextremismus und was kann eine Sexualerziehung im frühen Kindesalter zu einer geschlechterreflektierten Pädagogik gegen Rechts beisteuern?
„Frühsexualisierung“ ist ein schillernder Kampfbegriff, der nicht näher definiert wird. Eine altersangemessene Sexualerziehung trägt ganz maßgeblich dazu bei, Kinder in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zu unterstützen und zu einer selbstbestimmten, verantwortlichen und gewaltfreien Sexualität zu befähigen. In dieser Hinsicht wirkt Sexualerziehung gegen Scham bzw. Beschämung, für Kinderrechte und für die freie Entscheidung, wen Menschen lieben wollen und mit wem und wie sie Sex haben möchten. Dagegen läuft das rechte Spektrum Sturm, mit den immer gleichen „Argumenten“ einer angeblich „natürlichen Scham“ und des „Elternrechts“. Zudem stören sie sich ganz maßgeblich daran, dass Kinder sich frei entwickeln können sollen, da das eben auch die Möglichkeit beinhaltet, schwul, lesbisch, bi-/pansexuell, queer, trans*geschlechtlich, nicht-binär, nicht-verheiratet, polyamourös oder was auch immer zu leben oder auch abzutreiben. Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als Möglichkeiten gleichberechtigt neben viele andere zu stellen, ist ein fundamentaler Angriff auf ein Verständnis, das Sexualität als „natürlich“ fasst und es darüber hinaus auf Fortpflanzung (der „Volksgemeinschaft“) verengt. Der Wunsch nach Klarheit und Eindeutigkeit löst sich durch das Offenlassen von allen geschlechtlichen und sexuellen Möglichkeiten im Nichts auf – die „Volksgemeinschaft“ beginnt zu bröckeln. Ein Beitrag behandelt die Modernisierung homofeindlicher Argumentationen. Was hat sich in aktuellen rechten Debatten gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt geändert? Der angesprochene Artikel argumentiert, dass Homosexualität nicht mehr als Akt „wider die Natur“ diffamiert und die Existenz der anderen (homosexuellen usw.) Kulturen toleriert wird, solange keine „unethischen“ Vermischungen stattfinden – etwa in dem Sinne, dass Heterosexuelle mit Homosexualität „angesteckt“ werden könnten. Gesellschaftlich marginalisierten Gruppen wird so zwar offiziell eine Daseinsberechtigung zugesprochen, jedoch nur dann, wenn sie sich in die etablierte „Kultur“ integrieren, inklusive dem faktischen Verbot, ihre Interessen auch wirksam auszudrücken.

In Anlehnung an die analytischen Perspektiven eines „Postfeminismus“ können wir vielleicht für bestimmte Spektren von einer „Post-Homofeindlichkeit“ sprechen. Diese bejaht Gleichstellung, hält sie aber für erreicht und warnt vor einer angeblichen Umkehrung ins Gegenteil. Diese gesellschaftlichen Akteur_innen kämpfen gegen ihren Macht- und Privilegienverlust.

Ihr betont, dass sich insbesondere die Sozialpädagogik bis heute an einer verengten Vorstellung deklassierter (männlicher) Jugendlicher orientiert. Welche Probleme ergeben sich durch die Vernachlässigung der Erwachsenen in geschlechterreflektierten pädagogischen Auseinandersetzungen mit Neonazismus?
Die Verengung betrifft nicht nur die Sozialpädagogik, sondern auch mediale Diskurse, institutionelles Handeln etc. Große Teile der Gesellschaft bleiben durch die Projektion des Neonazis als „jungmännlichdeklassiertgewalttätigausm Osten“ unberücksichtigt. Dabei weisen gegenwärtig europaweit Menschen ab dem sechzigsten Lebensjahr – und nicht etwa Jugendliche – die höchsten Zustimmungswerte zu neonazistischen Einstellungsmustern auf. Somit wird die zurzeit zahlenmäßig größte problematische Gruppe von vornherein aus dem Aufmerksamkeitsfeld ausgeblendet.

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Kinder in aller Regel viel offener und weniger stereotypisierend als Erwachsene sind, wenn es um Geschlecht geht. Erwachsene geben Kindern und Jugendlichen – häufig unbewusst – ihre Vorstellungen von Geschlecht mit. Das trifft in besonderer Weise diejenigen, die sich nicht geschlechtskonform verhalten. Daher muss auch für Pädagog_innen eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen geschlechtlichen Sozialisation und daran gekoppelten Vorstellungen von Geschlecht gefördert werden.

Was ist eurer Meinung nach an täter_innenfokussierten Ansätzen in der Neonazismuspräventionsarbeit zu kritisieren?
In der Neonazismusprävention findet sich fast durchgehend ein Täter_innenfokus. Es ist zwar naheliegend, sich ,,den Neonazis“ – ihren Taten, Strukturen und Ideologien – zuzuwenden. Verloren gehen hingegen zwei andere Ebenen, die für eine Präventionsarbeit von großer Bedeutung sind: Einerseits fehlt der Blick auf Menschen, die von Neonazis real oder potenziell angegriffen werden, in täglicher Angst vor Bedrohungen leben und in ihrem Aktions- und Handlungsradius stark eingeschränkt sind. Wird ihre Perspektive nicht wahrgenommen, werden ihre Verletzungen unsichtbar gemacht mit der Folge, dass Diskriminierungen reproduziert und Gewöhnungseffekte in Kauf genommen werden. In einer solchen Neonazismusprävention ändert sich für die Diskriminierten überhaupt nichts. Ein erfolgreicher Kampf muss aber daran gemessen werden, ob sich real etwas für diskriminierte Gruppen verbessert hat. Andererseits fehlt der notwendige Blick auf Alternativen.

Wie könnten und sollten derartige Alternativen aussehen?
Hierzu gehört insbesondere die Stärkung nicht-neonazistischer, antifaschistischer, nicht- und antirassistischer sowie queerer Lebenswelten und Jugendkulturen. Auch das Einüben nicht-diskriminierender Verhaltensweisen, demokratischer Interessenvertretungen und Konfliktlösungsstrategien zählen dazu. Ohne diese bringt auch die beste Präventionsarbeit nichts. Neonazismusprävention ist kein Selbstzweck, sondern Teil eines gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses.

Zu einer erfolgreichen Neonazismusprävention gehören drei Ebenen und eine Fokusverschiebung: An erster Stelle stehen der Schutz, die Unterstützung und das Empowerment derjenigen, die von Neonazis real oder potenziell bedroht werden. An zweiter Stelle stehen der Aufbau und die Unterstützung von Alternativen zum Neonazismus. An dritter Stelle steht die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Neonazis und rechts orientierten Kindern und Jugendlichen.

Für die Pädagogik gilt es, für diese drei Ebenen zielgruppenspezifische Angebote bereitzustellen. Da die Arbeit mit Täter_innen sowohl der Schutzverpflichtung gegenüber Opfern und Diskriminierten als auch einer Stärkung von Alternativen zuwiderläuft, sollten nicht die selben Personen und Institutionen alle drei Ebenen gleichzeitig bespielen.

Pädagog_innen stecken in dem Dilemma, einerseits Ansprüche pädagogischer Unterstützung in der Arbeit mit rechtsaffinen Jugendlichen zu verfolgen und andererseits wirkungsvolle Arbeit gegen rechtsextreme Orientierungen zu leisten. Wie könnte das gelöst werden?
Ich finde, dass Michaela Köttig in ihrem Buchbeitrag auf der Grundlage ihrer eigenen pädagogischen Arbeit in einer rechten Mädchenclique viele wertvolle Impulse liefert. Das Dilemma lässt sich meines Erachtens nicht auflösen, aber es können Rahmenbedingungen für einen guten Umgang geschaffen werden. Dazu gehören unter anderem ein guter Personalschlüssel, zeitlich fest eingeplante und bezahlte Reflexionsräume (Reflexion, Intervision, fachkundige Supervision), realistisch erfüllbare Anforderungen, finanzielle und räumliche Ressourcen, eine Ausbildung, in der die kritische Auseinandersetzung mit Geschlecht und Neonazismus Teil des Curriculums ist, regelmäßige Fort- und Weiterbildungen, die Möglichkeit, bei Bedarf Hilfe von außen zu holen und angemessene Erholungszeiten.

Eine geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts kann derzeit nicht gut gemacht werden, wenn Ressourcen dafür schlicht nicht vorhanden sind. Das hat nichts mit persönlichem Scheitern zu tun; die Haltung mag noch so toll, das Wissen um Geschlecht und Neonazismus noch so profund, die Methodik ausgefeilt sein – wenn man* drei Jugendclubs parallel als einzige_r Sozialarbeiter_in betreuen muss, wie es in mehreren Bundesländern der Fall ist, wird all das nicht viel helfen. Es braucht bessere Arbeitsbedingungen für eine erfolgreiche Arbeit.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

AutorInnen: Judith Goetz