cyntoia brown – „me facing life”

  • 01.04.2019, 10:18

Am 7. August 2019 beginnt für Cyntoia Brown ein völlig neuer Lebensabschnitt. Nachdem sie als 16-jähriges Mädchen zu einer Haftstrafe von 51 Jahren verurteilt wurde und sie davon nun bereits 15 Jahre im Gefängnis verbracht hat, soll sie nun im August dieses Jahres entlassen werden. Bill Haslam, der Gouverneur von Tennessee, hat entschieden, dass ihre Strafe zu hart gewesen ist. Seine Entscheidung fiel sicher unter anderem auch deshalb so aus, weil berühmte Persönlichkeiten wie Kim Kardashian, Cara Delevingne, LeBron James und Rihanna sich in den sozialen Medien für Cyntoia stark gemacht haben. Nicht nur Stars unterstützten Brown in ihrem Kampf gegen das amerikanische Rechtssystem, durch den Hashtag #FreeCyntoiaBrown brachten unzählige Menschen ihre Unterstützung für die junge Frau zum Ausdruck.

Ein Leben voller Gewalt.

Am 7. August 2004 wird die 16-jährige Cyntoia Brown von ihrem „Freund“ Garion McGlothen, der sich auch Cut-Throat nennt, dazu gezwungen, auf die Straße zu gehen und sich zur Prostitution anzubieten. Eigener Aussage zufolge wollte Brown nach East Nashville, weil dort ein beliebter Treffpunkt der Prostitution zu finden ist. Sie trifft auf den 43-jährigen Johnny Michael Allen, der sie nach ihrem Preis für eine Nacht fragt. Nachdem er diesen von 200$ auf 150$ herunterhandelt, steigt sie zu ihm ins Auto. Cyntoia schlägt vor, in ein Motel zu fahren, Allen jedoch besteht darauf, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen. Er erzählt dem Mädchen, dass viele Frauen ihn nur aufgrund seines Geldes wollen, er aber wolle eine Frau, die ihn begehrt. In seinem Haus angekommen bemerkt Brown die vielen Waffen, die im ganzen Haus verteilt sind. Sie selbst beschreibt sich als sehr nervöse Person, die immer ein gewisses Misstrauen gegenüber fremden Personen verspürt. Als sie sich zusammen in sein Bett legen, ist er sehr grob zu ihr, er packt sie gewaltsam an den Beinen und blickt sie aggressiv an. Danach rollt er sich zur Seite und streckt seine Hand zu Boden. Cyntoia denkt, er greife nach einer Waffe, sie bekommt es mit der Angst zu tun, langt nach ihrer eigenen Waffe und erschießt ihn.

Diese Geschichte erzählt Cyntoia Brown im Gerichtssaal und im Dokumentarfilm Me facing life: Cyntoia’s Story vom Regisseur Daniel H. Birman. Der Polizeibericht von Detective Charles Robinson unterscheidet sich jedoch von Browns Angaben. Dieser ist davon überzeugt, dass Browns Motiv für den Mord nicht Angst, sondern Raub gewesen ist. Er ist gegen Cyntoias Freilassung, verfasst sogar einen Brief an den Gouverneur, in dem er ihn bittet, sie aufgrund der Tatsache, dass sie Gegenstände und auch Geld aus dem Haus mitgenommen hat und sich Allen in einer Schlafposition befand, als er ermordet wurde, nicht zu begnadigen.

Auch Staatsanwalt Jeff Burks ist sich, was Cyntoias Schuld angeht, sicher. Sie sei freiwillig mit Allen mitgefahren, habe in seinem Haus gegessen, benutz- te sein Bad und sah mit Allen gemeinsam fern.

Ganz anderer Meinung ist hingegen der forensische Psychiater Dr. William Bernet, der sich im Laufe der Verhandlungen ein Bild von Cyntoias psychischer Situation gemacht hat. Bernet geht davon aus, dass sich ihre kriminelle Handlung auf eine Persönlichkeitsstörung zurückführen lässt. Cyntoias Leben sei von Gewalt und Enttäuschung durchzogen und aufgrund vieler negativer Erfahrungen fehle ihr das Vertrauen in die Menschen.

Cyntoias Vergangenheit ist von Missbrauch geprägt. Begonnen bei ihrer Großmutter, die durch eine Vergewaltigung mit Cyntoias biologischer Mutter Georgina Mitchell schwanger wird. Schon sehr jung bringt Mitchell dann Cyntoia zur Welt. Während der Schwangerschaft trinkt sie jeden Tag Alkohol, greift zu Crack und Kokain. Außerdem ist Cyntoias biologische Familie mit einer Reihe psychologischer Erkrankungen vorbelastet: bipolare Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Suizidgedanken und -versuche, manische Depressionen; den Oberarm ihrer leiblichen Mutter ziert ein Suicide-Tattoo. Die einzige richtige Bezugsperson, die Brown wohl jemals hatte, ist ihre Adoptivmutter Ellenette Brown. Jedoch lief auch in dieser Familie nicht immer alles gut für Cyntoia, von ihrem Adoptivvater Thomas wird sie misshandelt, woraufhin sie flieht und auf Cut-Throat trifft. Ellenette Brown meldet Cyntoia nie als vermisst. 

Eine Liste, die Cyntoia während ihres Gefängnisaufenthaltes erstellt, zeigt, wie ernst ihre Situation gewesen ist. Mit 16 Jahren hatte sie bereits mit 36 Personen Geschlechtsverkehr: drei davon waren Verwandte und nur neun davon legten Wert auf geschützten Geschlechtsverkehr. Vergewaltigung kann sich laut Bernet auf viele Verhaltensweisen im späteren Leben auswirken. Er ist der Meinung, dass Cyntoia als Person wahrgenommen werden müsse. Sie war ein Kind, das sich in einer schlimmen Situation befand und aufgrund verschiedener Gründe falsch reagierte.

Neue Hoffnung.

Gouverneur Haslams Ansicht nach, soll positive Veränderung mit Hoffnung belohnt werden. Dies sei der Grund, warum er für Cyntoias Freilassung stimmte.

Cyntoia Brown war in den 15 Jahren, die sie im Gefängnis verbrachte, das, was man als Musterhäftling bezeichnen würde. Sie bekam die Möglichkeit, die Lipscomb Universität zu besuchen, die ihr eine völlig neue Welt eröffnete und auf der sie im Mai 2019 voraussichtlich auch ihren Bachelor abschließen wird. Ihre Zukunft will die 31-jährige jungen Frauen widmen, die sich genau wie sie selbst damals in scheinbar ausweglosen Situationen befinden.

Ihre Reaktion auf die Freilassung zeigt, wie sehr sie es zu schätzen weiß, dass ihr Kampf endlich ein Ende haben wird: „Thank you, Governor Haslam, for your act of mercy in giving me a second chance. I will do everything I can to justify your faith in me“.

Nina Köstl studiert Germanistik und Pädagogik an der Karl-Franzens Universität Graz.

AutorInnen: Nina Köstl