Auf der Uni verprügelt

  • 05.11.2012, 20:38

Österreichs Hochschulen pflegen das Image, Orte kritischer Reflexion und Toleranz zu sein. Im 20. Jahrhundert allerdings waren sie jahrzehntelang Hochburgen des Antisemitismus und der Deutschtümelei. Ein Blick auf eine verdrängte Geschichte, die nach 1945 keineswegs zu Ende war.

Österreichs Hochschulen pflegen das Image, Orte kritischer Reflexion und Toleranz zu sein. Im 20. Jahrhundert allerdings waren sie jahrzehntelang Hochburgen des Antisemitismus und der Deutschtümelei. Ein Blick auf eine verdrängte Geschichte, die nach 1945 keineswegs zu Ende war.

„Ich weiß nicht, ob ich da die richtige Ansprechpartnerin bin. Denn es war ja so, dass ich mich nur in der Jüdischen Hochschülerschaft bewegt habe. In den anderen Studierenden habe ich ja mutmaßliche Nazis oder Mitläufer gesehen“, erklärt Lucia Heilman (83) am Telefon. Zwei Stunden später öffnet sie trotzdem die Tür zu ihrer Wohnung. Sie ist eine lebhafte und aufgeschlossene Frau mit warmen Augen und einem lebenslustigen Lachen und auf dem Coverfoto dieser progress-Ausgabe zu sehen. Ihr sommersprossiges Gesicht spiegelt ihre Emotionen wider. Die Kindheit und Jugend der pensionierten Ärztin war vom Terror der Nazis gekennzeichnet. Nach der Volksschule durfte sie als Tochter einer Jüdin nicht mehr zur Schule gehen, die Wohnung ihrer Eltern wurde „arisiert“. Ihr Vater befand sich während dieser Zeit aus beruflichen Gründen in Persien und bemühte sich vergeblich, seine Frau Regina und Tochter Lucia nachzuholen. Als Lucia mit ihrer Mutter aus Wien deportiert werden sollte, hat Reinhold Duschka, ein Bergsteigerfreund des Vaters, den beiden das Leben gerettet. Er versteckte Lucia und ihre Mutter von 1939 bis zum Bombardement 1944 in seiner Werkstätte für Kunstgewerbe in Wien-Mariahilf. Nach dem Bombardement brachte er die beiden in einem kleinen Sommerhaus in Wien-Hütteldorf unter. Heilman erinnert sich daran, dass Duschka ihr Lehrbücher mitbrachte und wie wissbegierig sie war. Nach der Befreiung Österreichs holte sie die Matura nach und begann 1948 an der Universität Wien Medizin zu studieren. Dort bemerkte sie auch die antisemitische Kontinuität: „Ich erinnere mich an die Anatomievorlesungen während der Jahre 1948 bis 1950. Der damalige Professor unterrichtete die Inhalte der nationalsozialistischen ‚Rassenkunde‘ ohne diese als solche zu bezeichnen“, erzählt Lucia Heilman entrüstet. „Niemand hat das in Frage gestellt. Und auch die Bücher waren aus der Nazizeit.“ Lucia und ihre jüdischen StudienkollegInnen haben sich darüber geärgert; sie waren wütend. Auch die medizinischen Lehrbücher, wie beispielsweise der Pernkopf-Atlas, stammten noch aus der Nazizeit. Am meisten verärgert Lucia Heilman aber bis heute die Scheinheiligkeit der Bevölkerung: „Denn nach 1945 ist ja niemand mehr ein Nazi gewesen“, sagt sie stirnrunzelnd.

Gewalt an Universitäten. Linda Erker vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien erzählt, dass in den universitären Quellen der Nachkriegszeit die Zeit des Nationalsozialismus nur als „dunkle Zeit, die über uns hereingebrochen ist“ beschrieben wird. Schuldeingeständnisse seitens der Universität und Politik gab es damals keine. Dabei hatten die Deutschtümelei und der Antisemitismus an den Universitäten eine lange und überaus gewalttätige Vorgeschichte. Linda Erker und ihr Kollege Herbert Posch kramen Fotos aus den Jahren 1931 und 1933 hervor. Eines davon zeigt deutschnationale Studenten vor dem Haupteingang der Universität Wien, die die rechte Hand zum Hitlergruß heben. Dazwischen hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Juden raus“. Auf einem anderen Bild fliehen StudentInnen über Leitern aus dem ersten Stock des Anatomischen Instituts der Universität Wien. In ihren Gesichtern sind Angst und Panik zu erkennen. Posch erläutert den Kontext: „Hier müssen Studierende die Hörsäle über Leitern verlassen, weil die deutschnationalen Studierenden vor dem Ausgang rechts und links sogenannte ‚Salzergassen‘ gebildet haben. Sie haben auf die jüdischen Studierenden gewartet, um sie mit Prügelstöcken zu verdreschen.“ Der Anteil der jüdischen Studierenden lag zu dieser Zeit österreichweit bei etwa 13 Prozent. 75 Prozent davon studierten an der Universität Wien, nur zwei Prozent an der Universität Graz und nur ein Prozent an der Universität Innsbruck. Der Antisemitismus an den Universitäten Graz und Innsbruck war jedoch genauso stark wie an der Universität Wien und der Technischen Hochschule, der heutigen TU Wien. „Während der Studienzeit der 1920er- und 1930er- Jahre herrschte eine Gewalt an den Universitäten, die wir uns heute gar nicht vorstellen können“, erzählen Posch und Erker. „Schädelbasisbrüche, Knochenbrüche und existenzielle Gewalt gegenüber jüdischen und linken Studierenden standen damals an der Tagesordnung. Diese Gewalt hat sich auch im öffentlichen Raum an der Universitätsrampe zugetragen. Die Polizei hat zugeschaut und sich auf das Hausrecht des Rektors berufen. Die Universität Wien musste während dieser Zeit aufgrund der gewalttätigen Ausschreitungen sogar mehrmals im Jahr geschlossen werden.“ Manche jüdische Studierende, wie der spätere israelische Diplomat und Schriftsteller Benno Weiser Varon, erwarben in der zionistischen Selbstverteidigungsgruppe Haganah Selbstverteidigungskenntnisse, die sich an der Universität als überlebenswichtig erwiesen.

TechnikerInnen. Die Leiterin des Universitätsarchivs an der TU Wien, Juliane Mikoletzky, erzählt, dass auch an der Technischen Hochschule bis zur Zeit des Austrofaschismus wöchentlich Prügelorgien stattfanden. „Die Techniker hatten eine gewisse Affinität zu dem von den Nazis propagierten Fortschritt. Sie hofften, durch die Nazis viele technische Arbeitsplätze zu bekommen.“ An der Technischen Hochschule hatte es zunächst aber durchaus einen hohen Anteil an jüdischen Studierenden gegeben. Ihre Zahl sank jedoch im Sommersemester 1938 von 230 auf 16. Denn an allen Hochschulen und Universitäten wurden ab dem Sommersemester 1938 in der NS-Terminologie als „Volljuden“ bezeichnete Personen nicht mehr zum Studium zugelassen. Mikoletzky erwähnt, dass der Übergang von Austrofaschismus zum Nationalsozialismus an der Technischen Hochschule gesetzesmäßiger und „ziviler“ als an der Universität Wien vor sich ging. Sie vermutet, dass dieser schon länger vorbereitet worden war. Nach dem Novemberpogrom 1938 durften die sogenannten „VolljüdInnen“ die Universitäten nicht mehr betreten. Selbst der Besuch der Bibliothek wurde ihnen untersagt. Nur noch sogenannten „Mischlingen“ war bis in die 1940er- Jahre das Studium erlaubt. „Auch an der damaligen Hochschule für Bodenkultur (BOKU) hatte es nie über fünf Prozent jüdische HörerInnen gegeben. Dennoch war der Antisemitismus sehr stark und es gab auch gewalttätige Ausschreitungen“, berichtet Paulus Ebner, der im Archiv der TU arbeitet. In seiner Dissertation hat er sich mit der Hochschule für Bodenkultur als Ort der Politik von 1914 bis 1955 auseinandergesetzt. Eine Besonderheit stellte in diesem Kontext das Handeln Franz Sekeras dar, streicht er hervor. Dieser hatte sich eigenmächtig nach dem sogenannten „Anschluss“ zum „kommissarischen Leiter“ der Hochschule ernannt und verfügt, dass keine jüdischen HörerInnen mehr an der BOKU zugelassen wurden. Sekera galt als Hardliner und war bereits vor 1938 am Aufbau einer illegalen NSZelle an der Hochschule beteiligt. Nach 1945 wurde er zu zweieinhalb Jahren Kerker verurteilt und durfte nicht mehr an der BOKU unterrichten. „Die nationalsozialistischen Hardliner wurden sowohl auf der heutigen BOKU als auch der TU 1945 entlassen. Sie sind auch nicht mehr zurückgekehrt“, resümieren Ebner und Mikoletzky.

Robert Rosner. „Ich hatte in England neben der Arbeit eine Abendschulmatura absolviert und große Lücken im naturwissenschaftlichen Wissen. Aber mir haben meine Kollegen während des Chemiestudiums sehr geholfen“, erzählt Robert Rosner (88). „Bobby“ Rosner ist ein sehr aufgeschlossener Mensch, der gerne über seine Lebenserfahrungen berichtet. In seinem Arbeitszimmer befindet sich eine gut sortierte Heimbibliothek. In seiner Pension hat der Intellektuelle Politikwissenschaft studiert. Seither hat er mehrere Publikationen zur Wissenschaftsgeschichte veröffentlicht. In seiner Jugend musste Rosner mit seiner Familie vor den Nazis nach England fliehen. Dort kam er mit der EmigrantInnenorganisation Young Austria in Kontakt, die ihn stark geprägt hat. Als er mit seiner Frau nach dem Ende des Krieges nach Wien zurückkehrte, engagierte er sich in der Kommunistischen Partei und der Kommunistischen StudentInnenorganisation. 1968 trat er im Zuge des Prager Frühlings allerdings aus der KPÖ aus. Von 1947 bis 1955 studierte er Chemie an der Universität Wien. „Meine Studienkollegen wussten von meiner Lebensgeschichte als jüdischer Flüchtling und meiner politischen Einstellung. Dennoch hatte ich auch mit meinen linkskatholischen Studienkollegen ein gutes Verhältnis. Das lag daran, dass wir bei den stundenlangen Laborübungen enge Beziehungen aufgebaut haben“, resümiert er. „Ein bis zwei Studienkollegen waren gesinnungsmäßig braun geblieben. Aber sonst hatte ich das Gefühl, dass ich als gleichwertiger Studienkollege wahrgenommen wurde. Vielleicht lag das auch daran, dass ich mit den Jahrgängen 1928 und 1929 zu studieren begonnen hatte. Meine ältere Schwester hat als Lehrerin den Antisemitismus viel stärker gespürt als ich.“ Rosner erzählt, dass auch die Nazi-Professoren am Chemischen Institut 1945 entlassen wurden. „Im Keller des Chemischen Instituts hatte es bereits während der Nazizeit Widerstand gegeben. Unter anderem wurden auch jüdische Menschen versteckt. An der Physik hat es aber wesentlich schlechter ausgeschaut.“

Späte Auseinandersetzung. Im Zuge des NS-Verbotsgesetzes wurden die meisten nationalsozialistischen Professoren aus ihren Ämtern enthoben. Die Geschichte der vertriebenen Studierenden und Lehrenden wurde jedoch erst spät thematisiert. Denn nach 1945 wurde über Politik an den Universitäten nicht mehr gesprochen. Und mit der Lockerung der Gesetze kehrten nationalsozialistische Professoren im Laufe der 1950er-Jahre wieder an die Universitäten zurück. Herbert Posch war 1998 Teil des Projektes „Bildungsbiographien und Wissenstransfer, Studierende der Universität Wien vor und nach 1938“, das sich auf die Suche nach vertriebenen Studierenden und Lehrenden machte. Insgesamt 150 Personen haben sich bereit erklärt, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Unter anderem hat er auch in New York Interviews geführt. „Es wurde viel zu spät damit begonnen. Aber ich bin froh, dass wir damals dennoch angefangen und soviel Resonanz erhalten haben.“ 2009 wurde in Form eines Gedenkbuches der Universität Wien an die vorwiegend jüdischen Vertriebenen erinnert. Das Buch befindet sich im Denkmal Marpe Lanefesh am Universitätscampus Wien. Posch betreut die Online- Version des Gedenkbuchs, das laufend ergänzt wird. „Durch das Online-Gedenkbuch melden sich jene, die ihre Geschichte beisteuern wollen. Es sind Menschen wie du und ich, die von der Forschung unbeachtet geblieben sind. Und es sind nicht nur erfolgreiche Wissenschafter darunter. Auch diese Menschen dürfen nicht vergessen werden.“
 

Das Projekt der ÖH ,,Hochschulen in der NS-Zeit‘‘ startet in diesem Herbst. An mehreren Universitäten finden Lehrveranstaltungen zum Thema statt, Studierende werden wissenschaftliche Beiträge verfassen, die als Publikation veröffentlicht werden.

Mehr Infos: zeitgeschichte.oeh.ac.at

AutorInnen: Claudia Aurednik