100 Jahre B-VG

  • 11.05.2020, 12:36
Interview mit Verfassungsjurist em. Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer zur aktuellen Lage des österreichischen Rechtsstaates 100 Jahre nach dem B-VG 1920

Progress: 100 Jahre B-VG im Jahr 2020 – Was sind aus Ihrer Sich die wichtigsten Errungenschaften der österreichischen Bundesverfassung?

H.M.: Die wichtigsten Errungenschaften sind die Möglichkeit des Verfassungsgerichtshofes Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, dann die Gewaltenteilung der Verfassung und die unabhängige Justiz.

 

Progress: Sehen Sie bundesstaatliche Struktur auch als wichtig an?

H.M.: Das war eine politische Entscheidung am Beginn der Republik, dass Österreich als Bundesstaat eingerichtet werden soll und das ist passiert.

 

Progress: Österreich hat heuer zum Jubiläum die so ziemlich schwerste Prüfung für seine Verfassung seit 1945, sehen Sie den Rechtsstaat, den Verfassungsstaat als ausreichend robust gegen den politischen Missbrauch durch Regierungen?

H.M.: Missbrauch kann man nie ausschließen, aber unsere Verfassung trifft ausreichend Vorkehrungen, um die Gefahr des Missbrauchs möglichst gering zu halten, die jetzige Situation führt uns nicht in ein autoritäres System.

 

Progress: Es hat in den letzten Tagen und Wochen einige Kritik an der Gesetzgebung, bzw. an diesem „Verordnungsstaat“ der Bundesregierung, wie ist ihr Urteil zu dieser Vorgangsweise, die sich auf die COVID-Krise bezieht?

H.M.: Man muss davon ausgehen, dass hier möglichst rasch Maßnahmen gesetzt werden mussten, weil sich ja nicht leugnen lässt, dass wir es hier mit einem Virus zu tun haben, der sich rasch ausbreitet. Daher ist die Gesetzgebung im Rahmen der Verfassung passiert, wenn auch in einem Schnellverfahren, das auf Dauer nicht wünschenswert wäre. Die Verordnungen, die erlassen wurden, sind auf Gesetze gestützt, einzelne Verordnungen könnte man besser formulieren oder besser gestalten, aber das war im Wesentlichen wahrscheinlich auf die Eile zurückzuführen, die hier bestand.

 

Progress: Der VfGH wird sich ja mit einigen dieser Gesetze und VO beschäftigen müssen, d.h. aus Ihrer Sicht ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass es hier zu Aufhebungen kommt?

H.M.: Offensichtliche Gesetzwidrigkeiten oder Verfassungswidrigkeiten, sehe ich eigentlich nicht, es gibt hier vielleicht eine Ausnahme. Ob sich im Detail hier Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeiten verbergen, muss man sehr genau prüfen, das kann man so allgemein nicht einfach sagen. Der VfGH hebt im Jahr ca. 40 Gesetze und sehr viele Verordnungen auf, dies wird auch heuer so sein, aber das sind teils auch Flüchtigkeitsfehler, die durch den Zeitdruck zustande gekommen sind.

 

Progress: Was wäre die eine Ausnahme, von der sie gesprochen haben?

H.M.: Das COVID-Gesetz sieht vor, dass durch Verordnung das Betreten bestimmter öffentlicher Orte verboten werden kann, und in der Verordnung ist der gesamte öffentliche Raum erfasst, das ist jedoch kein „bestimmter“ öffentlicher Raum. Auch hier gibt es unterschiedliche Ansichten, meiner Ansicht nach ist dies gesetzwidrig.

 

Progress: Ein Thema, welches noch mehr diskutiert wurde und heute wieder durch diesen Leak des Protokolls einer Expertenratssitzung öffentlich wurde, inwieweit es rechtspolitisch problematisch ist, dass in Form von Pressekonferenz seitens Bundesregierung suggeriert wird, dass reine Empfehlungen zu Rechtsnormen werden.

H.M.: Dies ist problematisch, wenn Regierungsmitglieder auf Pressekonferenzen Behauptungen aufstellen, die so durch die Rechtsordnung nicht gedeckt sind, dann führt dies dazu, dass die Exekutive dazu verleitet wird strenger vorzugehen als dies geboten oder zulässig wäre und dies ist auch tatsächlich passiert in einzelnen Fällen.

 

Progress: Das heißt solche Strafbescheide haben dann schon auch im Wege des Rechtsschutzverfahrens Chance auf Aufhebung?

H.M.: Ja, sehe ich so.

 

Progress: Sehen Sie als Verfassungsjurist einen Bedarf an grundlegenden Reformen des österreichischen Rechtsstaates oder denken Sie, dass nach Aufhebung der COVID-Normen zur Tagesordnung übergegangen werden kann?

H.M.: Wir haben in den letzten Jahren eine grundlegende Rechtsschutzreform durchgeführt, wir haben die Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz zwischen 2012 und 2014 implementiert, dies funktioniert einigermaßen gut, einzelne Dinge müssen sich noch einspielen. Was man andenken könnte, wäre ein Eilverfahren, dass der VfGH vorläufigen Rechtsschutz gegen Gesetze oder Verordnungen gewähren kann, wenn gravierende Mängel drohen.

 

Progress: Das Versammlungsrecht ist eine besonders heikle Materie, wie weit ist dieses Grundrecht durch die COVID-Maßnahmen in Mitleidenschaft gezogen wurden, oder kann man das am Ende wieder schadlos herstellen?

H.M.: Es ist so, dass das Recht sich zu versammeln, Versammlungen zu bilden, Demonstrationen abzuhalten, durch die Menschenrechtskonvention verfassungsrechtlich geschützt ist und nur unter ganz bestimmten Umständen eingeschränkt werden darf, wenn es z.B. für die Gesundheit der Menschen nötig ist und dann nur unter ganz bestimmten Umständen. Wenn sich Menschen also mit einem Sicherheitsabstand zueinander versammeln, unter Umständen auch Schutzmasken tragen, müsste das auch zulässig sein.

 

Progress: Letzte Woche fand ja diese aus dem Ruder gelaufenen Versammlung in Wien statt, wenn die Schutzmaßnahmen eingehalten werden, müsste diese zulässig sein?

H.M.: Ja halte ich für zulässig, wenn die entsprechenden Schutzmaßnahmen nicht mehr gewährleistet sind, besteht natürlich die Möglichkeit der Auflösung.

AutorInnen: progress