Über meinen Charakter red’ ich nicht

  • 11.12.2014, 12:23

Selbsttäuschung ist immer dann eine Versuchung, wenn die eigene Vorstellung
von einem guten Leben bedroht wird, sagt die Philosophin Kathi Beier.
Im progress-Interview erklärt sie warum.

Selbsttäuschung ist immer dann eine Versuchung, wenn die eigene Vorstellung von einem guten Leben bedroht wird, sagt die Philosophin Kathi Beier. Im progress-Interview erklärt sie warum.

progress: Was ist „Echtsein“? Und welche Rolle spielt Selbsttäuschung dabei?

Kathi Beier: Authentizität wird von vielen Philosophen als Ideal oder Wert begriffen, der dem, was man das Phänomen der Selbsttäuschung nennt, direkt widerspricht. Dabei kann man Selbsttäuschung als eine Form des Glaubens wider besseres Wissen bezeichnen: Jemand hält an Überzeugungen fest, von denen er oder sie eigentlich wissen könnte oder sogar schon weiß, dass sie nicht stimmen. Eine Person, die sich selbst täuscht, erkennt, dass sie ihre Vorstellung eines guten Lebens nicht verwirklichen kann. Das kann unterschiedliche Gründe haben.

Etwa eine Handlung aus der Vergangenheit, von der ich jetzt erkenne, dass sie schlecht oder falsch war – ich müsste sie mir eigentlich zuschreiben, aber das möchte ich nicht, weil ich dann als schlechter Mensch dastehen würde. Diese Person erkennt also etwas nicht an, was doch zu ihrem Leben gehört. Und damit sind wir bei der Beschreibung von Authentizität, die einige Philosophen geben. Nämlich: Authentisch oder „echt“ ist man dann, wenn man etwas als zu einem gehörig anerkennt, was zu einem gehört.

Sie sagen, die Selbsttäuschung wird dann zur Versuchung, wenn die eigene Vorstellung von einem guten Leben bedroht ist. Welche Rolle spielt die Selbsttäuschung dann bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen?

Man könnte sagen, dass Selbsttäuschung erst ab einem gewissen Alter möglich ist, denn dafür müssen zwei Dinge gegeben sein: Man muss einerseits eine Vorstellung davon haben, was ein gutes Leben für einen bedeutet, und andererseits muss ein Bewusstsein dafür existieren, dass das Leben endlich ist. Denn nur, wenn wir dieses Endlichkeitsbewusstsein haben, wird auch die Aufgabe dringlicher, die Zeit, die uns noch zur Verfügung steht, so gut wie möglich zu leben.

Ein Punkt, an dem man merkt, dass gewisse Dinge endlich sind bzw. wichtige Entscheidungen getroffen und Weichen gestellt werden müssen, ist gegen Ende des Studiums. Ist es überhaupt möglich, in dieser Zeit authentisch zu sein?

Ein Problem in dieser Zeit ist vielleicht, dass man noch gar nicht so genau weiß, was man kann und was man will. Das führt aber noch nicht direkt zu einer Selbsttäuschung. Das ist eher ein Auftrag, diese Dinge herauszufinden. Ich glaube nicht, dass man Authentizität berechtigterweise so beschreiben könnte, dass man sich ganz genau einschätzen kann. In Bewerbungsgesprächen wird ja oft verlangt, dass man Rechenschaft über die eigenen Fähigkeiten ablegt. Das ist eine Forderung, die man gar nicht erfüllen kann. Denn eine Beurteilung des eigenen Charakters kann man eigentlich für sich selbst nicht leisten. Das können andere Personen besser. Wenn ich einen Rat geben sollte, würde ich sagen, dass man dieses Anliegen in einem Bewerbungsgespräch zurückweisen und sagen sollte: „Aus moralphilosophischen und theoretischen Gründen geht das nicht.“ Wobei ich dazu sagen muss: Ich hab das einmal versucht – das kam nicht so gut an.

Oft werden einem viele Rollen gleichzeitig abverlangt. Inwieweit verlangt der Versuch der Erfüllung dieser Rollen auch ein gewisses Maß an Selbsttäuschung?

Einige Philosophen sagen, dass die vielen Rollen, die man ausfüllen müsste, dem Unauthentischen gewissermaßen Vorschub leisten. Man muss so vieles auf einmal sein, dass man gar nicht mehr weiß, wer man ist und sich selbst verliert. Das hat jetzt aber noch nichts mit Selbsttäuschung zu tun. Denn die passiert ja nicht unbewusst, sondern ist eine Reaktion, die manche Menschen an den Tag legen und andere nicht. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Feststellung, dass man zu viele Rollen erfüllen müsse, überhaupt stimmt.

Vielleicht geht es ja nicht nur um die unterschiedlichen Rollen, sondern um den Druck und den Perfektionismus, mit dem man versucht, all diesen Rollen gerecht zu werden. In gewisser Weise muss man schon wissen, was man will. Und da ziehen sich ein paar Dinge durch die Geschichte der Philosophie hindurch, die für ein gutes Leben für wichtig gehalten werden. Etwa gute Freunde zu haben, sich einer Arbeit widmen zu können, die am besten noch mit einer Entlohnung verbunden ist, oder irgendein Projekt zu finden, an das man sich gerne verschwenden würde. Diese klassischen Rollen sind gut beschrieben, die kennt man seit Aristoteles.

Es könnte viel mehr sein, dass wir in der modernen Zeit ein Problem damit haben, weil ganz bestimmte Vorstellungen davon existieren, was es heißt, ein guter Freund zu sein. Sicher ist es auch so, dass sich bestimmte Rollen in Frage stellen lassen – das liegt aber oft an äußeren Umständen. Zum Beispiel daran, dass bei einem Alleinverdiener das Geld nicht mehr reicht, um die ganze Familie durchzubringen. Die äußeren Umstände erfordern heute, dass man berufstätig und familienfreundlich ist. Und das bringt einen natürlich in Schwierigkeiten.

Aber bei diesen Druckpunkten muss nicht unbedingt das Authentische verloren gehen, sondern man merkt vielleicht erst dadurch, was man gerne machen würde, was sich aber den Umständen entsprechend nicht verwirklichen lässt. Aber man kann diese Umstände ändern oder zumindest darauf drängen, dass einem in dieser Gesellschaft ein menschenwürdigeres Dasein ermöglicht wird. Man muss sich den Umständen nicht ergeben. Wenn man das tut, läuft man eher Gefahr, nicht mehr authentisch zu sein oder sich in einer Selbsttäuschung zu verlieren.

 

Das Interview führte Theresa Aigner.

AutorInnen: Theresa Aigner