Universität

Reden wir Tacheles: Claude Lanzmann

  • 20.06.2017, 18:15
Claude Lanzmann war auf Einladung des Filmclub Tacheles zu Besuch in Wien. Erzählt hat er vieles. Wir haben beim Filmclub nachgefragt, wie es dazu kam.

Claude Lanzmann war auf Einladung des Filmclub Tacheles zu Besuch in Wien. Erzählt hat er vieles. Wir haben beim Filmclub nachgefragt, wie es dazu kam.

Seit dem Sommersemester 2017 gibt es den Filmclub Tacheles an der Universität Wien. Bei einer Veranstaltungsreihe dieses Semester zeigte man Lanzmanns Israel-Trilogie. Höhepunkt war ein Vortrag von Claude Lanzmann selbst im vollbesetzten Audimax.

Lanzmann – ein polarisierender Charakter, einerseits bekannt durch seine Filme, andererseits durch seine schriftstellerischen Tätigkeiten, vor allem als Herausgeber von Les Temps Modernes, zusammen mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Wie kam es nun dazu, dass Lanzmann einen Vortrag im Wiener Audimax hielt? „Die Mutter eines Filmclub- Mitglieds hat den Vorschlag gebracht, was zunächst belächelt wurde. Ein Telefonat und eine E-Mail später hatten wir dann seine Einwilligung, was uns sehr verblüfft hat. Von diesem Zeitpunkt an war es für uns von höchster Wichtigkeit, dem Regisseur selbst Raum zu geben, sich zu seinen Filmen zu äußern“, erklärt ein Mitglied des Filmclubs.

Der Filmclub Tacheles ist eine Initiative von antifaschistischen Student_innen verschiedener geistesund kulturwissenschaftlicher Disziplinen, die Filme zu den Themen Judentum, Israel und Antisemitismus zeigen wollen. Primäre Intention zur Gründung war der Wunsch, Lanzmanns Hauptwerk vorzuführen. „Die meisten Studis wissen um die Filme, aber finden nie die passende Gelegenheit, sich diese anzuschauen“, meint eine Aktivistin des Filmclubs. Gezeigt wurde die Israel-Trilogie: Diese umfasst Pourquoi Israël, in dem es um die ersten Jahre des Staates Israel geht; Shoah, Lanzmanns wohl bekanntestes, 9½-stündiges Meisterwerk; und Tsahal, der um das israelische Heer zentriert ist. Insgesamt sind das 18 Stunden und 41 Minuten, die dieses Semester an vier Nachmittagen an der Universität Wien über die Leinwand liefen, wobei Shoah in zwei Etappen zu je zirka fünf Stunden gezeigt wurde.

Lanzmanns Filme sind voller Interviews und vermitteln authentische Eindrücke von Zeitzeug_innen in den 1970ern. Es fühlt sich zynisch an, in diesem Kontext den Begriff authentisch zu verwenden – Lanzmanns Werk ist zweifelsohne echt, reale Abbilder des Unvorstellbaren beziehungsweise Unzeigbaren. Shoah gilt bis heute als die erfolgreichste, umfassendste und auch erfassendste filmische Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Jüdinnen und Juden im zwanzigsten Jahrhundert. Es wäre nicht möglich, seine Filme an dieser Stelle ausreichend zu beschreiben – um zu verstehen, muss man sehen. „Was fundamental ist, lässt sich nicht zerteilen. Kein Warum, aber auch keine Antwort darauf, warum das Warum zurückgewiesen wird – aus Angst, dieser Obszönität zu verfallen“, so Lanzmann im Vorwort zum 2011 erschienenen Buch zu Shoah.

An einem Freitagabend im März füllte sich also das Audimax der Hauptuniversität mit Studierenden und Interessierten jeden Alters. Spannung lag in der Luft, als der 91-jährige Lanzmann den Saal betrat, gestützt auf einen Gehstock, begleitet von einer grandiosen Dolmetscherin. Lanzmann ist Franzose, und trotz seiner Deutschkenntnisse bevorzugt er seine Muttersprache – bewundernswert ist die Dolmetscherin, da Lanzmann keine Rücksicht nimmt. Man merkt, er hat schon oft diese Episoden aus seinem Leben erzählt, der Vortrag ist also ein Zuhören und Warten, ein Hin und Her zwischen jeweils 15 Minuten Französisch und Deutsch. Lanzmann erzählt von seinen Erfahrungen mit dem israelischen Militär, rund um den Dreh von Tsahal, von seinem neuen Film Vier Schwestern, der noch immer vom Material von Shoah zehrt. Auch über den Entstehungsprozess rund um seinen Film und einzelne Episoden mit seinen InterviewpartnerInnen wird gesprochen. Er verweist oft auf seine 2010 erschienene Autobiografie Der Patagonische Hase, in welcher er ebenso episodisch wie bei der Lecture im Audimax aus seinem Leben erzählt. Wer also mehr über die Entstehungsgeschichte seiner Werke erfahren möchte, ist mit seiner Autobiografie gut beraten. Darin führt er auch aus, dass er DolmetscherInnen gewohnt sei, die einen Lauf von einer halben Stunde Länge mit Notizen übersetzen können, was seine fordernde Erzählweise im Audimax erklärt. Lanzmann als Popstar unter den ErzählerInnen: Am Ende des Vortrags gab es Standing Ovations, gefolgt von Signier-Session, Selfies und langer Schlange am Merch-Tisch.

Ebenso dankbar wie der Filmclub Tacheles für die Zusage Lanzmanns waren wahrscheinlich auch alle Anwesenden über die Möglichkeit, Lanzmann einmal live zu erleben. Und auch der Filmclub Tacheles ist motiviert für mehr. Im Juni veranstaltete man ein Balagan am Campus mit Filmscreening und Party. Außerdem beginnen gerade Kooperationen mit Gruppen an anderen österreichischen und deutschen Universitäten.

Den Vortrag kann man sich unter diesem Link ansehen.
Der Filmclub Tacheles: https://www.facebook.com/ filmclubtacheles

Franziska Schwarz studiert viele Dinge an der Universität Wien, unter anderem Publizistik

Nicht länger wegsehen

  • 11.05.2017, 20:37
Seit zwölf Jahren steigt die Zahl rechtsextremer Straftaten rapide an. Linke Aktivist_innen und Künstler_innen geraten zunehmend ins Visier. Die Polizei bleibt tatenlos.

Seit zwölf Jahren steigt die Zahl rechtsextremer Straftaten rapide an. Linke Aktivist_innen und Künstler_innen geraten zunehmend ins Visier. Die Polizei bleibt tatenlos.

Rechtsextreme Gewalt nimmt rasant zu. Verzeichnete das Innenministerium im gesamten Jahr 2004 noch 322 Anzeigen wegen Verbrechen oder Vergehen mit rechtsextremem Tathintergrund, waren es 2015 bereits 1.691. Statistisch gesehen wird alle fünf Stunden eine solche Straftat verübt – von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.

Dieses Erstarken der militanten extremen Rechten manifestierte sich in den letzten Monaten in einer ganzen Serie an rechtsextremen Angriffen, Drohungen und Sachbeschädigungen gegen linke Strukturen, Räume und Personen. So wurden Tür und Fassade des linken Raumkollektivs w23 innerhalb weniger Monate gleich sechs Mal beschädigt. Zwei Mal versuchten die Täter dabei, sich Zugang zum Raum zu verschaffen. Auch die Anarchistische Buchhandlung im 15. Bezirk, das Ernst-Kirchweger-Haus sowie die Rosa-Lila-Türkis-Villa wurden in jüngster Vergangenheit Ziel rechtsextremer Sachbeschädigungen und Angriffe. Vor rund einem Jahr waren Personen auf dem Heimweg nach einer Kundgebung in Graz von bewaffneten Kadern der rechtsextremen „Identitären“ überfallen und verletzt worden. Ebenso ist 2014 einer Antifaschistin das Fenster eingeschossen worden, kurz nachdem sie ein Buch über die neofaschistische Gruppe veröffentlicht hatte. Nach einem Fernsehauftritt erhielt sie außerdem einen Drohbrief per Mail. Im Jahr 2012 wurde der betagte Antifaschist Albrecht Konecny am Rande der Proteste gegen den WKR-Ball von Neonazis mit einem Schlagring niedergeschlagen.

RECHTSEXTREMISMUS AN DER UNI. Auch vor der Universität machen rechtsextreme Umtriebe nicht Halt. Die Räumlichkeiten der Fakultätsvertretung Human- und Sozialwissenschaften (HUS) wurden mehrfach Ziel von Sachbeschädigungen, neben eingeschlagenen Fenstern hinterließen die Täter auch rassistische Botschaften an der Fassade. Erst im Jänner wurde eine Podiumsdiskussion der autonomen antifa [w] an der Universität Wien gestört, einschlägig bekannte rechtsextreme Hooligans stellten den Schutz für die Störaktion. Die Bühnenstürmung der „Identitären“ während der Aufführung von Jelineks „Schutzbefohlenen“ im Audimax ist nun schon ein Jahr her. Obwohl die Beteiligten zweifelsfrei identifiziert und auf ÖHInitiative auch wegen Besitzstörung rechtskräftig verurteilt wurden, gibt es nach wie vor keine Anklage wegen der im Zuge der Stürmung verübten Körperverletzungen.

Diese Aufzählung rechtsextremer Straftaten gegen linke Aktivist_innen, Künstler_innen und Räume ist keineswegs vollständig, macht aber die Bedrohung durch steigende rechtsextreme Gewalt deutlich. Außerparlamentarisch aktive Rechtsextreme werden derzeit selbstbewusster, organisieren sich verstärkt, bauen neue finanzstarke Strukturen und eigene Medienkanäle auf – das alles im Windschatten der FPÖ. Die steigende Reichweite und der bedeutend höhere Organisationsgrad eröffnen ihnen neuen Handlungsspielraum. Dieses Erstarken bringt nicht zuletzt eine merklich höhere Gefahr für politische Gegner_innen mit sich, ins Visier von Angriffen – von öffentlicher Diffamierung bis hin zu körperlicher Gewalt – zu geraten.

OPFERSCHUTZ FEHLANZEIGE! Bestärkt werden militante Rechtsextreme nicht zuletzt auch durch die Untätigkeit der Polizei, denn neben dem rechtsextremen Hintergrund haben all die genannten Fälle vor allem eines gemein: Die Täter_innen wurden nie verurteilt. Keine einzige der im Artikel erwähnten Straftaten wurde bisher aufgeklärt, keine Anklage erhoben, in den meisten Fällen wurden nicht einmal konkrete Beschuldigte ermittelt. Das sendet den Täter_innen ein fatales Signal: Dass ihnen nichts passiert, wenn sie politische Gegner_innen angreifen – dass der Staat wegsieht, solange die Betroffenen keinen Promistatus haben. Was den Schutz der Betroffenen von rechtsextremer Gewalt angeht, haben sich Polizei und Verfassungsschutz bisher nicht gerade als leuchtendes Vorbild hervorgetan.

Auf die Spitze trieb es dabei die Grazer Polizei, die nach dem erwähnten Angriff „Identitärer“ Kader im Jänner 2016 die Adressen und Telefonnummern der Betroffenen an die Täter_innen weitergab. Ein Antrag auf Schwärzung solcher personenbezogenen Daten der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“, der die Betroffenen juristisch vertrat und betreute, wurde abgelehnt.

Wenig überraschend: Die Ermittlungen wurden kurz darauf eingestellt. In einem anderen Verfahren wurde dem Opfer einer Nötigung durch Neonazis in der Vernehmung zur Tat ein Aktenauszug einer ganz anderen Anzeige – nämlich einer von Rechtsextremen gegen Unbekannt – vorgelegt und es wurde mehrfach versucht, sie nach einer Tatbeteiligung zu befragen. Ein weiterer Fall solch einer Täter-Opfer- Umkehr war der Umgang mit dem Angriff auf eine Gewerkschaftssitzung im Ernst-Kirchweger-Haus. Am Ende dieses Prozesses wurden Gewerkschafter verurteilt, während die angreifenden Hooligans aus dem Umfeld von „Eisern Wien“ und „Unsterblich Wien“ freigesprochen wurden.

IN DIE OFFENSIVE. Mit diesem Verhalten gefährdet die Polizei Betroffene rechtsextremer Gewalt noch zusätzlich, statt sie zu schützen. Dieser Umstand führt uns die Notwendigkeit antifaschistischen Selbstschutzes einmal mehr vor Augen. Die Bedrohung durch rechtsextreme Umtriebe und deren steigende Gewaltbereitschaft ernst zu nehmen, aber kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Vielmehr sollte sie zum Anlass genommen werden, antifaschistische Arbeit auf allen Ebenen weiterzuführen, Rechtsextremen das Selbstvertrauen, die Straße und jeglichen öffentlichen Raum konsequent streitig zu machen.

Julia Spacil studiert Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Genderwahn an Hochschulen

  • 23.02.2017, 19:36
Die Besorgnis, Wissenschaft würde durch die Gender Studies für die Umsetzung einer politischen Ideologie missbraucht werden, ist ein präsentes Thema im medialen Diskurs. Aber was ist dran an den Vorwürfen der Unwissenschaftlichkeit und fehlenden Objektivität?

Die Besorgnis, Wissenschaft würde durch die Gender Studies für die Umsetzung einer politischen Ideologie missbraucht werden, ist ein präsentes Thema im medialen Diskurs. Aber was ist dran an den Vorwürfen der Unwissenschaftlichkeit und fehlenden Objektivität?

Bedenken bezüglich der Wissenschaftlichkeit der Gender Studies werden von unterschiedlichen Personengruppen geäußert. Von journalistischen GendergegnerInnen über AntifeministInnen hin zu christlichen FundamentalistInnen (Ja, auch die machen sich Sorgen um den Verfall der Wissenschaft). Eine kritische Reflexion von Forschung ist grundsätzlich durchaus wünschenswert, allerdings muss sie auf einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand fußen, um einen konstruktiven Beitrag zu leisten. In der Gendergegnerschaft ist dies nun nicht ganz der Fall; die Gender Studies werden ohne tiefergehende Kenntnis pauschal als „pseudowissenschaftlicher Hokuspokus“ abgelehnt. Das macht es nicht ganz einfach, sich mit Argumenten der GendergegnerInnen auseinanderzusetzen. Versuchen wir es trotzdem, indem wir uns einen Kernvorwurf genauer ansehen: jenen der fehlenden Objektivität der Gender Studies aufgrund ihres politischen Gehaltes.

FEMINISTISCHE INVASION? Es ist kein großes Geheimnis, dass die Gender Studies einer politischen Bewegung entstammen und dass Gender ein höchst politischer Begriff ist. Hinter ihm steht die analytische Beobachtung, dass Menschen nach ihrer Geburt aufgrund ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale einer Kategorie (männlich oder weiblich) zugeordnet werden und diese Zuordnung ihren weiteren Lebenslauf bestimmt. Begonnen bei der Sozialisation von Jungen und Mädchen werden sehr unterschiedliche gesellschaftliche Vorstellungen und Anforderungen an Männer und Frauen herangetragen. Das Konzept Gender problematisiert das ungleiche Geschlechterverhältnis, das auf dieser Trennung fußt. Es geht also nicht darum, Menschen umzuerziehen und ihnen ein bestimmtes Verhalten aufzudrängen, sondern darum, den Rahmen für mögliches Verhalten zu erweitern. Männer sollen Gefühle zeigen dürfen und Frauen technische Berufe ergreifen können – wenn ihnen das entspricht – ohne dabei Schwierigkeiten zu bekommen. Es handelt sich also um eine Idee, die, wenn auch nicht unter dem Vorzeichen „Gender“, in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert und bejaht wird. Aus einer bestimmten Blickrichtung ist es damit durchaus plausibel, Gender als eine Bedrohung wahrzunehmen. Eine Bedrohung für sehr fundamentale gesellschaftliche Strukturen, die trotz des Fortschrittes der letzten 100 Jahre noch bestehen. So sind auch in der westlichen Gegenwartsgesellschaft Frauen diejenigen, die den Großteil von schlechtoder unbezahlter Versorgungsarbeit leisten, häufiger von Gewalt und Armut betroffen sind, weniger in Führungspositionen aufsteigen und Männer diejenigen, die misstrauisch beäugt werden, wenn sie mit Kindern arbeiten wollen. Dass das Infragestellen so fundamentaler gesellschaftlicher Prinzipien Anlass für emotionale Auseinandersetzungen gibt, ist wenig überraschend.

OBJEKTIV ODER DOCH POLEMISCH? Die Gender- KritikerInnen sprechen von einer „Genderisierung“ der Hochschulen, als ob es sich um eine staatlich verordnete „Invasion“ handle, die Unmengen an Steuergeldern verschlingen würde. Diese Behauptung hält einem Blick in die Realität jedoch nicht Stand. So sind beispielsweise an österreichischen Hochschulen 2.420 ProfessorInnen tätig, wobei sechs Professuren eine Volldenomination für Geschlechterforschung haben. Das Bild der Invasion ist, wenn auch wenig plausibel, dennoch wirkungsmächtig und nur ein Beispiel für den fast durchgängig polemischen Stil genderkritischer Beiträge, die den „Genderwahn“ als Gefahr für die Wissenschaft darstellen. Die Soziologinnen Sabine Hark und Paula-Irene Villa weisen darauf hin, dass dabei meist, ohne weitere Erörterung, von einem alltagsweltlichen Verständnis von Wissenschaft ausgegangen wird, das an positivistische Maßstäbe der Naturwissenschaften angelehnt ist. Dies ist aus mindestens zwei Gründen problematisch: Erstens delegitimiert ein derartiges Wissenschaftsverständnis jegliche Erkenntnismethoden der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Zweitens ist ein alltagsweltliches Wissenschaftsverständnis bestenfalls für den Alltag geeignet, eine vermeintlich wissenschaftliche Kritik darauf zu stützen, ist aber alles andere als passend. Widersprüchlich ist weiters, dass der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, trotz des engen Wissenschaftsbegriffes, nur an die Gender Studies gerichtet wird (übrigens auch an ihre naturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten). Es werden weder ganze wissenschaftliche Disziplinen noch sozialwissenschaftliche Forschungen von Gleichgesinnten angegriffen. All das spricht dafür, dass die Abwertung der Gender Studies nicht einer bloßen Besorgnis um Wissenschaftlichkeit geschuldet ist, sondern eher den Bedenken und Feindseligkeiten jener, die an den alten Strukturen hängen und eigene Privilegien gefährdet sehen. Es handelt sich um eine politische Motivation genau jener Art, wie sie den Gender Studies vorgeworfen wird und die wissenschaftlicher Objektivität vermeintlich im Weg steht.

POLITISCHE OBJEKTIVITÄT? In diesem Zusammenhang ist zu fragen, was wissenschaftliche Objektivität überhaupt sein kann. Das Bild eines isolierten Wissenschaftlers, der im Labor kulturunabhängige Ergebnisse produziert, ist in der Realität nicht haltbar. Jede forschende Person ist auch Teil der Gesellschaft, hat Vorstellungen und Wertehaltungen, die in den Forschungsprozess miteinfließen. Alleine die Wahl eines Forschungsgegenstandes ist schon von gesellschaftlichen Umständen geprägt. Denn was als erforschenswert angesehen wird, ist keine Frage, die objektiv beantwortet werden kann, sondern das Ergebnis von gesellschaftlichen Diskursen und Kräfteverhältnissen. Objektivität ist im Sinne einer völligen Unabhängigkeit von Gesellschaft undenkbar, egal in welcher wissenschaftlichen Disziplin. Dies bedeutet allerdings nicht, dass keine nachvollziehbare wissenschaftliche Erkenntnis möglich wäre, sondern nur, dass es einen bedachten Umgang mit der eigenen Rolle als forschende Person und dem Entstehungszusammenhang der Ergebnisse geben muss. Aus diesen Überlegungen heraus hat sich in den Sozialwissenschaften ein reger Diskurs darüber etabliert, wie solch ein Umgang Teil des Forschungsprozesses selbst werden kann. Gerade die Gender Studies haben hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Carina Brestian hat Soziologie und Gender Studies an der Universität Wien studiert.

„Scheiß Akademikerkinder“

  • 14.02.2017, 20:25
Warum studentisches Klassenbewusstsein kein Grund für eine Distanzierung ist.

Warum studentisches Klassenbewusstsein kein Grund für eine Distanzierung ist.

„Die Bundesvertretung der Österreichischen HochschülerInnenschaft (ÖH) distanziert sich vom ‚Scheiß-Akademikerkinder‘-Ruf gegen die Jungen Liberalen Studierenden (JUNOS) bei einer Medienaktion am Dienstag Vormittag“, war am Dienstag Nachmittag in einer APA-Aussendung zu lesen. Als wäre diese Distanzierung alleine nicht schon abstrus genug, fühlte man sich auch noch bemüßigt, die mutmaßliche Urheberin politisch zu verorten. „Das Zitat sei von einer Vertreterin der HochschülerInnenschaft der Uni Wien, die gemeinsam mit der Bundes-ÖH an der Aktion teilnahm, gekommen“, paraphrasiert die APA die Aussage der nicht namentlich genannten Bundes-ÖH-Funktionärin.

ÖVP-Aktionsgemeinschaft und JUNOS veranstalteten parallel zur von ÖH Bundesvertretung und ÖH Uni Wien organisierten Medienaktion gegen Zugangsbeschränkungen ebenfalls kleine Kundgebungen. Erstere verteilten Flyer für Zugangsbeschränkungen, zweitere inszenierten sogar eine Party, um ebendiese abzufeiern. „Juhu, keine überfüllten Hörsäle mehr!“, war auf einem Schild der JUNOS zu lesen. Was zusätzliche strukturelle Hürden für das von Liberalen zumindest zum Schein hochgehaltene Ideal der Chancengleichheit bedeuten, dürfte beim Parteinachwuchs der NEOS nicht bedacht worden sein. So feierte man defacto den Umstand, dass die Hörsäle – geht es nach den Plänen der Regierung – nicht mehr mit rauszuprüfenden ProletInnen vollgestopft sind. Man trug Partyhüte und warf Konfetti, was eine „Vertreterin der ÖH Uni Wien“ eben mit besagter „Scheiß Akademikerkinder“-Anmerkung quittierte.

2007 erschien im Mandelbaumverlag ein Sammelband, dessen Beiträge sich wissenschaftlich mit sozialer Ungleichheit im Bildungssystem auseinandersetzen. Das Buch trägt den Titel „Keine Chance für Lisa Simpson?“ und will damit auf folgenden Umstand hinweisen: Selbst eine überdurchschnittlich intelligente junge Frau, hat in Österreich, aus einer bildungsfernen ArbeiterInnenfamilie kommend, viel schlechtere Chancen ein Hochschulstudium abzuschließen als Kinder von AkademikerInnen. Die Einführung von immer mehr strukturellen Hürden spitzen dieses Missverhältnis kontinuierlich zu.

In den letzten zehn Jahren wurden aus den Studieneingangslehrveranstaltungen vielerorts STEOPs, an deren Ende Knock-Out-Prüfungen stehen. Kommissionelle Prüfungen, in deren Folge Menschen aus ihrer Studienrichtung ausgeschlossen und zwangsweise abgemeldet werden, haben stark zugenommen. Das Ende der Zulassungsfristen liegt heute im Unterschied zu früher fast ein Monat vor dem eigentlichen Semesterbeginn, was dazu führt, dass Menschen, die mit Hochschulstrukturen schlecht vertraut sind, oftmals die Deadlines verpassen und erst gar nicht mit dem gewünschten Studium beginnen können. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, werden nun für immer mehr Studien Aufnahmetests eingeführt. Prüfungen, für die von privaten Instituten mittlerweile hunderte Euro teure Vorbereitungskurse angeboten werden, die sich mehrheitlich wohl auch nur ein ganz bestimmtes Klientel leisten wird.

Menschen, die nicht als scheiß AkademikerInnenkinder gelten möchten, sollten diese Umstände in der Artikulation Ihrer politischen Forderungen zumindest reflektieren. Denn auch wenn man seine ererbten Privilegien nicht einfach so ablegen kann, geht damit - gerade deshalb - gesellschaftliche Verantwortung einher. Im konkreten Fall müsste dies heißen, für offene Hochschulen zu kämpfen, die allen Menschen – unabhängig vom Einkommen und formalem Bildungsstand der Eltern – ein erfolgreiches Studium ermöglichen.

Selbst in linken ÖH-Strukturen sind AktivistInnen, deren Eltern keine Matura machen konnten, eine kleine Minderheit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ÖH-Arbeit zumeist ehrenamtlich ist und maximal durch geringe Aufwandsentschädigungen abgegolten wird. Diese Prekarität verbunden mit der oftmals sehr hohen Arbeitsbelastung muss man sich erstmal leisten können. Mittel- und Langfristig kann sich ÖH-Arbeit - ähnlich einem erfolgreichem Hochschulstudium - sehr positiv auf den eigenen Lebenslauf auswirken, wodurch selbst linke ÖH-Strukturen die Reproduktion gesellschaftlicher Eliten eher befördern als ihr entgegenzuarbeiten. Auch deshalb ist die Distanzierung der Bundes-ÖH von der „Scheiß Akademikerkinder“ rufenden Aktivistin unangemessen und falsch.

 

Florian Wagner ist als Sohn einer gelernten Einzelhandelskauffrau aufgewachsen. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, wo er sich oft über scheiß AkademikerInnenkinder ärgern musste. Als progress-Redakteur ist er seit zwei Jahren Teil der ÖH-Bundesvertretung und ärgert sich noch immer.

Existenzieller Deutschkurs – dreimal so teuer

  • 18.06.2016, 15:36
Österreich will internationale Hochschulen, präsentiert sich als offen und zugänglich für alle. Leider liegt zwischen Idee und Realität eine Welt voller Hürden und Beschränkungen.

Existenzieller Deutschkurs – dreimal so teuer Österreich will internationale Hochschulen, präsentiert sich als offen und zugänglich für alle. Leider liegt zwischen Idee und Realität eine Welt voller Hürden und Beschränkungen.

Die Problematiken, mit denen Drittstaatsangehörige konfrontiert sind, die in Österreich studieren wollen, geraten kaum in den Blick öffentlicher Debatten. Selten werden Betroffene gefragt, welche bürokratischen Hürden sie zu überwinden haben, um hier studieren zu können. Täglich sind wir als Referat für ausländische Studierende der Bundesvertretung der ÖH mit dieser Problematik konfrontiert und versuchen künftige und gegenwärtige Studierende dabei zu unterstützen, ein Studium in Österreich zu beginnen, oder ein bereits begonnenes Studium abzuschließen.

BÜROKRATIE. Der Weg durch die Bürokratie ist lang und entsprechend aufwändig. Zunächst erfolgt die Anmeldung auf einer österreichischen Universität mit Reifeprüfungszeugnis und Studienplatznachweis. Im Falle eines positiven Zulassungsbescheids (die zuständigen Stellen benötigen etwa 12 Wochen für die Bearbeitung) müssen die angehenden Studierenden einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel stellen. Den Antrag für Studierende stellt man, sofern man visumfrei nach Österreich anreisen darf, in der MA 35, wenn nicht, muss der erste Antrag in einer österreichischen Botschaft gestellt werden. Zu erwähnen ist, dass es in manchen Ländern keine österreichische Botschaft gibt und Betroffene daher in benachbarte Länder einreisen müssen, um einen Antrag auf ein Visum für Österreich zu stellen. Auch in den Behörden der Herkunftsländer beträgt die Wartezeit einige Wochen. Erst wenn von der Botschaft ein sogenanntes „Visum D“ ausgestellt wird, ist die Einreise nach Österreich und die persönliche Inskription an der Universität möglich. Man kann sich vorstellen, dass das alles enorm viel Geld und Zeit kostet, zumal dieser steile bürokratische Weg nicht mit der Ankunft in Österreich endet. Nachdem man bereits im Herkunftsland von einem Magistrat ins andere gegangen ist, die erforderlichen Dokumente besorgt hat, übersetzen, abstempeln und beglaubigen ließ, setzen sich diese Strapazen in Österreich in ähnlicher Weise fort. Anträge für die Verlängerung von Visa und ständige Besuche in der MA 35 stehen auf der Tagesordnung. Unsicherheiten entstehen häufig durch die vielen unterschiedlichen Nachweise, die Drittstaatsangehörige erbringen müssen, um an einer österreichischen Hochschule studieren zu dürfen. Auf Unverständnis trifft beispielsweise der sogenannte Studienplatznachweis; eine Bestätigung dafür, dass die betreffende Person, die ein Studium in Österreich anstrebt, das gewünschte Studienfach auch auf einer anerkannten Hochschule in ihrem Herkunftsland studieren könnte.

[[{"fid":"2279","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Christopher Glanzl"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Christopher Glanzl","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Ausländische Studierende, besonders jene aus Drittstaaten, haben einen langen Weg hinter sich und kommen meist aus Ländern, in denen das durchschnittliche Monatseinkommen unter 500 Euro liegt. Im Vergleich zu Studierenden aus EU Ländern müssen sie Studiengebühren in der Höhe von 380-740 Euro pro Semester zahlen, dürfen aber gleichzeitig nicht mehr als zehn Stunden pro Woche arbeiten. Vom Bezug von Studienbeihilfe sind sie ausgeschlossen. Ausländische Studierende müssen jährliche Leistungsnachweise bei der MA 35 in der Höhe von 16 ECTS Punkten erbringen, sonst dürfen sie nicht in Österreich bleiben. Der finanzielle Aufwand ist also um ein vielfaches Höher, als für österreichische Studierende und hier sprechen wir noch nicht einmal von Lebensunterhaltskosten, die wir ja alle zahlen müssen. Im Endeffekt läuft dies darauf hinaus, dass nur Personen für ein Studium nach Österreich kommen können, deren Eltern die hohen Kosten dafür decken können.

SPRACHE MACHT INTEGRATION AUS. Das Bundesministerium für Äußeres betont im Bereich Integration die Notwendigkeit der Beherrschung der deutschen Sprache, ohne die eine Teilhabe an der Gesellschaft beinahe unmöglich scheint: „Das Erlernen der deutschen Sprache und die Akzeptanz unserer demokratischen Werte und Rechtsordnung sind zentrale Eckpunkte einer erfolgreichen Integration. Diese Grundpfeiler der Integration sind unabdingbare Voraussetzungen für die aktive Teilhabe an unserer Gesellschaft – ohne dabei die eigenen Wurzeln leugnen zu müssen“. Kurz gesagt sind wir ohne Sprache, mit der wir uns in einem bestimmten Raum, Land, in einer bestimmten Gruppe verständigen können, VERLOREN, NICHT ZUGEHÖRIG, NICHT FÄHIG. Sprache macht uns zu Menschen, bietet uns die Möglichkeit unser Denken zu erweitern, Fragen zu stellen und diese analytisch zu beantworten, die Möglichkeit weiter zu lernen und uns weiter zu entwickeln. Wenn ihr es so wollt, bietet uns auch die Möglichkeit, uns in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Da die Sprache enorm wichtig ist, sollten nicht-deutschsprachige Studierende die Möglichkeit haben, finanziell tragbare Deutschkurse zu besuchen, um sich damit auf ihr Studium vorbereiten zu können.

Der Vorstudienlehrgang der Wiener Hochschulen (VWU), welcher mit der Vorbereitung ausländischer Studierender auf ein Studium in Österreich beauftragt ist, existiert schon sehr lange, genau gesagt seit 1962. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen den sechs größten Hochschulen in Wien (Uni Wien, TU, WU, BOKU, MedUni, VetMedUni) und dem ÖAD (Österreichischer Austausch Dienst). Ziel ist es, für die Studierenden, die aus nicht deutschsprachigen Ländern kommen, unter anderem auch Deutschkurse anzubieten. An sich ist das Projekt sehr gut und hilfreich.

Wien ist eine Stadt, die durch Migration wächst. Diese Tatsache ist schon seit vielen Jahren bekannt. Auch an Wiener Hochschulen steigt die Zahl ausländischer Studierender von Jahr zu Jahr. Aus diesem Grund hat sich der VWU mit den Wiener Hochschulen zusammengesetzt und beschlossen, die bisherige Arbeitsweise zu reformieren.

[[{"fid":"2280","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Christopher Glanzl"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Christopher Glanzl","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

VWU NEU. Die Überlegungen, den VWU neu zu gestalten, gehen auf das Jahr 2013 zurück, in dem eine Diskussion zwischen dem VWU-Komitee und den Wiener Hochschulen stattfand. Es ging darum, die Vorstudienlehrgänge vor allem im Hinblick auf die Qualität zu verbessern, wie zum Beispiel einheitliche Inskriptionsfristen für alle DeutschkursanbieterInnen festzulegen, die Qualität der Unterrichtseinheiten zu verbessern, oder die Übungseinheiten aller KursanbieterInnen zu vereinheitlichen. Der VWU benötigte außerdem neue KooperationspartnerInnen, da zusammen mit der Österreichischen Orientgesellschaft (ÖOG) nicht genügend Kursplätze für alle Studierenden zu Verfügung gestellt werden konnten. Ende 2015 kamen zwei DeutschkursanbieterInnen hinzu: das Sprachzentrum der Uni Wien und „die Berater“.

Theoretisch klingt das Projekt VWU Neu gut und hilfreich für alle, die zum Studieren nach Österreich kommen wollen. Es stellt sich bei diesen Umstrukturierungen jedoch auch die Frage, wie die Qualitätsverbesserung finanziert werden soll und ob die für Drittstaatsangehörige existenziellen Deutschkurse erschwinglich bleiben.

Finanziert wird der VWU zum einen vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, zum anderen durch die Kursgebühren der TeilnehmerInnen, die sich bis jetzt auf 460 Euro pro Person und Semester beliefen. Im Zuge der geplanten Umstrukturierung des VWU, werden die Preise nun auf 1.150 Euro pro Semester erhöht, also fast das Dreifache. Das ist natürlich ein Schock für diejenigen, die jetzt schon am Existenzlimit leben.

WAS BETROFFENE DARÜBER DENKEN. Um auch die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen, haben wir Statements von jenen Drittstaatsangehörigen gesammelt, die den VWU besuchen. Über die künftige Verteuerung herrscht Unmut. „Viele Leute könnten es sich dann nicht leisten, in Österreich zu studieren“ bringt Muhamed aus dem Iran die Problematik auf den Punkt. Asaf aus Aserbaidschan meint “Wir haben keine Alternative, wir müssen jetzt zahlen, wir können nirgendwo anders hingehen“. Auch über die Gründe der steigenden Preise stellen unsere GesprächspartnerInnen Vermutungen an. Mirela aus Bosnien und Herzegowina sagt: “Die wollen uns hier nicht haben, ich fühle mich nicht willkommen. Sie wollen damit die Einwanderung stoppen”. Ein türkischer Student in Wien kommentiert: “Wenn die FPÖ in der Regierung ist, werden sie dieses Problem sowieso von den Wurzeln an lösen. Dann wird es weit und breit keine Kurse geben”. Ein anderer Gesprächspartner meint: „Das ist eine traurige Nachricht. Ich hoffe der Grund dafür ist nicht, dass sie eine höhere Bildung für ausländische Studierende in Österreich unmöglich machen wollen”.

[[{"fid":"2281","view_mode":"default","fields":{"format":"default","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Christopher Glanzl"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Christopher Glanzl","class":"media-element file-default"}}]]

Personen, die zum Studieren nach Österreich kommen und den VWU besuchen, befinden sich bereits in einer prekären Situation, was das Arbeitsrecht und das Studienbeihilferecht betrifft. Eva aus Österreich, die eine amerikanische Matura hat und noch einige Ergänzungsprüfungen absolvieren muss, findet die Situation „ziemlich frustrierend“ und weiter: „Auch jetzt sind VWU-Kurse teuer. Die Leute bekommen wenig Geld von den Eltern, müssen arbeiten. Ich arbeite auch, um mir den VWU zu leisten.“ Firas aus dem Iran erinnert sich: “Ich kenne Leute aus dem Iran, die nach ein oder zwei Jahren zurück mussten, weil sie kein Geld von ihren Eltern bekommen. Es gibt viele Personen, die sich in den Unterrichtsstunden nicht konzentrieren können, weil sie sich um andere Sachen kümmern müssen und andere Probleme haben, Probleme mit Geld zum Beispiel“.

UNLEISTBAR: VIELE KONSEQUENZEN. Aufklärung und die Bereitschaft die Studierenden genauer darüber zu informieren, warum die Deutschkurspreise dermaßen erhöht werden, ist kaum bis gar nicht vorhanden. Die betroffenen Studierenden an die VWUWebseite zu verweisen, führt vor allem zu Verwirrung und Unsicherheit.

Die VWU-Kommission beteuert natürlich, dass sich das Geld auszahlen wird und behauptet, dass man die Deutschkurse von nun an in zwei Semestern schaffen kann. Daran zweifeln Studierende wie Aman aus Ägypten, den wir bei der Vorbereitung auf die VWUPrüfungen mit unseren Fragen gestört haben: “Man kann es nicht in zwei Semestern schaffen, es ist zu wenig Zeit”. Noch schlimmer wird es wohl werden, wenn Studierende das Gefühl haben, dass sie nicht erwünscht sind.

Sprache ist eine wichtige, existenzielle Ressource für jeden Menschen. Diese Ressource ist notwendig für ausländische Studierende, die nach Österreich kommen, weil sie die Türen zu einer höheren Bildung öffnet. Schließen wir die Türen, machen wir die Deutschkurse unerschwinglich, dann schließen wir gleichzeitig den Zugang zu den Hochschulen und damit den Zugang zur freien Bildung.

Aylin Bademsoy studiert Germanistik und Philosophie, Kanita Halkic studiert Soziologie an der Universität Wien. Beide sind im Referat für ausländische Studierende auf der ÖH-Bundesvertretung tätig.
Kontakt:
auref@oeh.ac.at
oeh.ac.at/referate/referat-fuer-auslaendische-studierende

Kabelsalat in Öl

  • 24.06.2015, 20:18

40°C warmes Ölbad – was für manche wie eine Wellnessidylle klingt, ist für den schnellsten Computer Österreichs Alltag. progress hat sich den Supercomputer ,,Vienna scientific Cluster" genauer angesehen.

40°C warmes Ölbad – was für manche wie eine Wellnessidylle klingt, ist für den schnellsten Computer Österreichs Alltag. progress hat sich den Supercomputer ,,Vienna scientific Cluster" genauer angesehen.

„Legen Sie lieber die Jacke ab, es wird heiß!“ Damit soll Ernst Haunschmid, technischer Leiter des  Vienna  Scientific  Cluster  (VSC),  Recht behalten. Angenehme  40°C  Lufttemperatur  erwarten mich im Rechnerraum  des  VSC-3,  der  dritten  Version  des Supercomputers. Wenig konnte ich mir unter einem Hochleistungsrechner vorstellen, umso mehr staune ich über die Meter an schwarzen Kabeln, die aus weißen Tanks heraushängen. „Dagegen ist der Kabelsalat unter meinem Schreibtisch gar nichts“, ist mein erster Gedanke. Als Ernst Haunschmid den Deckel eines Tanks öffnet, blicke ich auf in Mineralöl eingelegte sogenannte Knoten. Diese kann man sich vereinfacht als Einzelcomputer vorstellen, die über ein Hochleistungsnetzwerk miteinander verbunden sind. Das Öl ist notwendig, um den VSC-3 zu kühlen.

Auch  die  roten  Kabel,  die  zusammen mit gelben und orangen an der Decke entlangführen und an manchen Stellen wie Lametta den Raum schmücken, erfüllen eine wichtige Funktion. Sie sind die Früherkennungssensoren  im  Brandfall – eine Gefahr, die man im Zusammenspiel mit Öl nicht unterschätzen darf. Auch die Behörden interessieren sich für dieses Thema, doch Ernst Haunschmid beruhigt: „Es ist schwierig, dieses Öl zu entzünden. Bei einem Flammpunkt von 177°C geht das nicht so einfach, nicht  einmal mit  einem Bunsenbrenner.“

Foto: Luiza Puiu

BAUSTELLE. In einem der Nebenräume werfe ich einen Blick auf das ausgeklügelte Kühlsystem und seine imposante Architektur. Von einem großen, zylinderförmigen Behälter führen dicke silberne Rohre weg und bahnen sich ihren Weg durch den Raum. Hier befindet sich unter anderem die Kühlleitung des VSC-2. Der Kühlraum entspricht meinen Vorstel- lungen von einem Ort, an dem High-class-Science passiert. Dass man einen der schnellsten Computer der Welt allerdings auf einer Baustelle suchen muss, hätte ich mir nicht gedacht. Denn auch jetzt wird noch  renoviert.

Am Gelände des Arsenals, zwischen dem Wiener Hauptbahnhof und dem Heeresgeschichtlichen Museum, steht der Supercomputer – oder besser gesagt: die Supercomputer. Mittlerweile gibt es drei Versionen des VSC, neben dem VSC-3 ist auch der VSC-2 im „Objekt 21“ am Arsenal untergebracht.

Damit die Tonnen an Material und somit auch der VSC überhaupt einziehen konnten, waren umfassen- de Vorbereitungen und aufwendige Umbauarbeiten notwendig. So musste zum Beispiel die Tragfähigkeit der  Decken sichergestellt oder die Vibrationsstärke in den Rechnerräumen getestet werden. Außerdem war eine Schutzbeschichtung am Boden notwendig, falls Öl oder Wasser ausfließen.

RECHENMASCHINE. Der Vienna Scientific  Cluster ist ein Projekt von acht österreichischen Universitäten und soll als schnellster Computer des Landes Spitzenleistungen im Bereich der Forschung erbringen. Diese Spitzenleistungen erreicht der VSC durch seine vielen „Cores“, also Prozessorkerne. Sie geben darüber  Auskunft, wie viele Rechenprozesse der Supercomputer parallel ausführen kann. An der Technischen Universität Wien wurde 2009 die erste Version des VSC, der VSC-1, in Betrieb genommen. Aufgrund der schnell voranschreitenden technischen Entwicklungen ließen sich die Energiekosten für das „veraltete“ System aber schon bald nicht mehr rechtfertigen – der Grundstein für den VSC-2 war gelegt. Die Einweihung des VSC-2 im Jahr 2011 fand bereits in den Räumlichkeiten des Arsenals statt. Zusätzlich zu den ursprünglichen Initiator*innen, der Universität für Bodenkultur, der Universität Wien und der Technischen Universität Wien, schlossen sich fünf weitere Unis dem Projekt an: die Universität Graz, die Technische Universität Graz, die Montanuniversität Leoben, die Universität Innsbruck und die Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Das Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft greift dem kostenintensiven Projekt seit Beginn an finanziell unter die  Arme.

2014 folgte der VSC-3. Das Besondere und Neue am VSC-3 ist die Ölkühlung. Bereits die Projektausschreibung war vom Gedanken geprägt, die Betriebskosten auf Dauer niedrig zu halten und dafür zu Beginn mehr in die Energieeffizienz zu investieren. Das Kühlsystem des VSC-3 wurde mit Platz 86 in der Green-500-Liste der weltweit energieeffizientesten  Supercomputer  belohnt.

Als ich den VSC-3 besuche, beträgt die Öltemperatur 47°C. Doch das kann sich schnell ändern, denn die Außentemperatur beeinflusst die maximale Kühl-leistung und dadurch die Öltemperatur wesentlich. Ernst Haunschmid rechnet nicht damit, dass der VSC-3 länger als fünf Jahre existieren wird. Die technische Wartung ist auf drei Jahre anberaumt, danach werden die Kosten zu hoch. Aus demselben Grund nahm man den VSC-1 Anfang April außer Betrieb: Die Energiekosten sind im Verhältnis zum Output schlicht zu hoch  geworden.

Foto: Luiza Puiu

ELF JAHRE. Forscher*innen, hauptsächlich aus den Naturwissenschaften, können mithilfe des Vienna Scientific Cluster Simulationen zeitsparender und parallel durchführen. Lehrende und Studierende am Institut für Theoretische Chemie der Universität Wien wissen diese Möglichkeit zu schätzen. Der Chemie- Student Ludwig Schwiedrzik führte im Rahmen seiner Bachelorarbeit sechs Wochen lang Simulationen  am VSC durch, elf Jahre hätte er mit einem normalen PC gebraucht. Für die Universitätsprofessorin Leticia González und Betreuerin von Ludwig ist klar: „Ludwig kann nicht elf Jahre warten.“

Die Forscher*innengruppe unterstützt von Senior Scientist Markus Oppel legt ihr Augenmerk auf die Simulation von chemischen Prozessen, die durch das Einfallen von Licht ausgelöst werden. PhD-Student Clemens Rauer erforscht zum Beispiel die molekularen Veränderungen, die Sonnenlicht in der Haut auslöst. Bei unserem Gespräch zeigt er auf einen Standard-PC mit vier Cores und erklärt: „Ich brauche viel mehr.“ „Viel mehr“ bedeutet eine Rechnerleistung im Ausmaß des VSC-3, dieser verfügt über stolze 32.320 Cores.

TEAMARBEIT. Um Zugang zum Vienna Scientific Cluster zu erlangen, muss das eigene Projekt einen Peer-Review-Prozess durchlaufen. Mithilfe mehrerer Gutachten wird dabei die wissenschaftliche Exzellenz geprüft. Neben diesem Kriterium gilt natürlich auch, dass man für die Durchführung der Forschung eine extrem hohe Rechenleistung benötigt. Ein gefördertes und damit bereits begutachtetes Projekt wie jenes von Clemens Rauer erhält viel leichter  und unkomplizierter Zugang zum VSC. Nur ein Wochenende musste der PhD-Student warten, bis er eine Zusage bekam und auch sein VSC-Account war innerhalb von fünf Minuten eingerichtet. Wer also schon in der „Scientific Community" oder in eine Forschungsgruppe eingebettet ist, kann den VSC ohne größere Hürden benutzen.

„Bachelor- und Masterstudierende beantragen den Zugang zum VSC nicht selbst“, so Leticia   González. „Sie forschen zusammen in einer Gruppe und teilen sich die Stunden untereinander auf – je nachdem, wie sie es für richtig halten.“ Markus Oppel ergänzt: „Das ist anders als in den Sozialwissenschaften, wir arbeiten immer in Teams.“

Neben regulär laufenden Projekten gibt es außerdem die Möglichkeit, Testaccounts  anzulegen, um zu prüfen, ob die Arbeit mit dem VSC überhaupt gewinnbringend ist. Auch Bachelorstudent Ludwig Schwiedrzik nahm dieses  Angebot  wahr.  Schnell  war klar, dass er mit Hilfe des VSC bessere Resultate und spannendere Erkenntnisse für seine Bachelor- arbeit erzielen würde. Auf die Frage, ob er während der Arbeit mit dem VSC auf Schwierigkeiten gestoßen sei, murmelt er mit sarkastischem Unter- ton: „Nein, nie.“ Auch wenn es am Anfang kleinere Probleme mit dem neuen System gab, Simulationen zusammenbrachen oder der Bildschirm nach der Mittagspause „None of your calculations have started“ anzeigte, ist Ludwig zufrieden. Er schreibt jetzt an einer Bachelorarbeit, in der er die von Licht verursachte Mutation eines bestimmten Teils der DNA untersucht. Die Ergebnisse kann sein Gruppenkollege Clemens weiterverwenden. Ludwig ist überzeugt: „Der VSC erlaubt mir, etwas zu machen, was anders nicht  möglich wäre.“

Foto: Luiza Puiu

RANKINGS. Nach all  diesen Schwärmereien ist es verwunderlich, dass die aktuelle Version des VSC, der VSC-3, nur auf Platz 85 der 500 weltweit schnellsten Rechner gelandet ist. Wie viel Bedeutung sollte man solchen Rankings überhaupt beimessen und wie aussagekräftig sind sie? Für Ernst Haunschmid vom VSC-Team geben sie wenig Auskunft über die tatsächliche Leistung des Rechners. Wäre ein höherer Platz im Ranking das primäre Ziel gewesen, hätte man das Projekt anders entwerfen müssen, ist Haunschmid überzeugt: „Die Frage ist, ob man das System optimal an eine Liste oder an seine Kund*innen anpassen will.“ Für ihn sind Supercomputer-Rankings „mehr PR als Herzensangelegenheit“ und ein Anziehungspunkt für Geldgeber*innen. Das kann man daran erkennen,   dass beispielsweise Minister*innen eher bei einem Termin auftauchen, wenn das Projekt einen Top-Platz vorweisen kann.

Der Gedanke von konkurrenzfähiger Forschung ist nichts Neues. So spricht auch Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner davon, dass der Vienna Scientific Cluster „die Wettbewerbsfähigkeit des Forschungsraums Österreichs absichert“. Auch wenn Markus Oppel vom Institut für Theoretische Chemie auf Kritik an Rankings hinweist, würde er gerne mit Ländern wie der Schweiz oder Deutschland mithalten können. Aufgrund höherer Investitionen in die Forschung gibt es dort größere und leistungsstärkere Computer, die für Wissenschafter*innen attraktiv sind.  Leticia  González hält es für gut und wichtig, dass der VSC-3 auf Platz 85 im Ranking der besten Hochleistungsrechner auftaucht. Trotzdem behält sie im  Hinterkopf: „Da sind 84 besser als wir.“

PhD-Student Clemens Rauer  stellt  schmunzelnd  fest: „Natürlich  wäre es nett, Zugang zum erstplatzierten Computer zu bekommen.“ Und Bachelorstudent Ludwig Schwiedrzik erwähnt in diesem Zusammenhang zukünftige Bewerbungen. Wenn er eines Tages ein Projekt mit einer höheren Computerleistung durchführen will, sieht er anhand der Liste, welche Unis dafür überhaupt in Frage kommen.

Im Arsenal plant man unterdessen schon den VSC-4. Jener Raum, in dem ich wegen der Hitze meine Jacke ablege, wird in  Zukunft die vierte Version des österreichischen Supercomputers beherbergen. Die Ausschreibung und Materialbeschaffung ist für 2016 anberaumt, 2017 will man den Betrieb aufnehmen. Vielleicht erfüllt der VSC-4 ja den Wunsch von Markus Oppel. Er wünscht sich, auf internationalen Konferenzen sagen zu können: „Wir haben jetzt den VSC-4 und sind in den Top 20.“

Sonja Luksik studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Bloß nichts mit Menschen

  • 24.06.2015, 17:01

Angst vor Referaten, fremden Menschen und Partys: soziale Phobie ist eine der häufigsten psychischen Störungen. Trotzdem hat kaum eine_r je davon gehört.

Angst vor Referaten, fremden Menschen und Partys: soziale Phobie ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen. Trotzdem hat kaum eine_r je davon gehört.

Wir leben unter Menschen. Was aber, wenn genau sie zum Auslöser für schwerwiegende Ängste werden? Lampenfieber vor Präsentationen, Bühnenauftritten und wichtigen Sport-Turnieren - das kennt jede_r. Menschen, die unter einer sozialen Phobie leiden, erleben viele verschiedene soziale Situationen ähnlich oder schlimmer. Mit sozialer Phobie zu leben bedeutet ständig das Gefühl zu haben, von anderen beobachtet und dabei negativ beurteilt zu werden. Sei es, wenn man in der Bäckerei um die Ecke einkauft, per Telefon einen Termin mit der Ärztin oder dem Arzt vereinbart, ein Mail verfasst, sich in einer Gruppe zu Wort meldet oder in der Mensa isst. All diese Situationen, die von den meisten Menschen als unproblematisch erlebt werden, können Menschen mit sozialer Phobie Angst machen. Betroffene befürchten stets, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und sich vor anderen zu blamieren. Lisa*, die schon ihr ganzes Leben an sozialer Phobie leidet, bringt es auf den Punkt: „Man hat immer das Gefühl, dass, egal wohin man geht, ein Scheinwerfer auf einen gerichtet ist."

Dies führt dazu, dass Betroffene sich selbst permanent beobachten, um peinliches Verhalten zu vermeiden. Sie bewerten, ob sie seltsam gehen oder sich eigenartig bewegen, womöglich komisch lachen, die Stimme merkwürdig klingt oder sie sich verhaspeln. Die Erwartung, sich vor anderen „falsch" zu verhalten, wird dabei oft zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. „Wenn mir jemand beim Schreiben zuschaut, habe ich die ganze Zeit Angst davor, dass meine Hand zittern könnte. Vor lauter Angst verkrampfe ich meine Hand immer mehr, sodass sie am Ende wirklich zittert", schildert Lisa das Problem.

WENN BLICKE TÖTEN. Auch wenn die Symptome von psychischen Erkrankungen wie Bulimie oder Schizophrenie gemeinhin geläufiger sind, ist die soziale Phobie doch deutlich verbreiteter. „Die soziale Phobie stellt heute eine der häufigsten psychischen Erkrankungen dar, nach Depressionen und Alkoholabhängigkeit. Die Dunkelziffer liegt vermutlich viel höher", erklärt die Psychologin und Psychotherapeutin Elisabeth Reisenzein-Hirsch. Im Laufe ihres Lebens sind bis zu 15 Prozent der Bevölkerung davon betroffen, wobei Frauen gefährdeter sind. Die ersten Probleme treten üblicherweise schon in der Kindheit oder Jugend auf. Erkannt wird die Erkrankung aber meist spät oder gar nicht. Auch Sabrina* hat erst mit 20 einen Namen für ihre Probleme gefunden, die sie schon seit dem Grundschulalter verfolgen. Warum aber weiß kaum jemand, dass es eine Erkrankung wie die soziale Phobie gibt? Lisa vermutet, dass es auch daran liegt, dass Betroffene nicht über ihre Probleme sprechen: „Wenn ich Angst davor habe, dass andere mich negativ bewerten, dann versuche ich mich so ,richtig' und unauffällig wie möglich zu verhalten. Ich habe mein Leben lang die Fähigkeit perfektioniert, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. Für mich wäre es das Allerpeinlichste, wenn andere sehen, wie schwer es mir zum Beispiel fällt, mit ihnen zu reden."

Sind Betroffene solchen angstauslösenden Situationen ausgesetzt, kreisen ihre Gedanken nur noch darum. „Wenn ich vor einer Gruppe von Studienkolleg_innen etwas sagen will, habe ich das Gefühl, ich rede nicht mehr so strukturiert, wie ich es vorhatte. Ich denke dann, die Leute verstehen mich nicht. Ich habe Angst, rot zu werden. Das ist mir unangenehm, weil es in der Situation nicht angebracht oder nötig ist und ich Angst habe, dass Leute es bemerken und sehen, wie unsouverän ich bei so etwas Einfachem bin", schildert Sabrina. Zusätzlich treten körperliche Angstreaktionen auf: „Ich fühle mich zittrig, angespannt und habe einen trockenen Mund. Außerdem fängt mein Gesicht an zu glühen." Doch die soziale Phobie hat noch eine weitere zentrale Konsequenz: Gefürchtete soziale   Situationen werden vermieden. So schweigt Sabrina mittlerweile in größeren Gruppen. In Ermangelung positiver Erfahrungen, die ihren Versagenserwartungen widersprechen, schaukeln sich ihre Befürchtungen mit der Zeit immer weiter auf. Eben dieses Vermeidungsverhalten führt zu deutlichen Einschränkungen im alltäglichen Leben. Studien, wie auch die von Lydia Fehm und Hans-Ulrich Wittchen, zeigen einen Zusammenhang zwischen sozialer Phobie und Schulabbruch sowie einem höheren Risiko für Arbeitslosigkeit. „Außerdem haben die Betroffenen weniger Freund_innen, weniger Freizeitaktivitäten und sind weniger oft verheiratet", so Reisenzein-Hirsch. Da Kontakte zu Mitmenschen mit derart großer Angst verbunden sind, sind Betroffene nicht selten in sozialer Isolation gefangen.

SCHÜCHTERNHEIT? Oft wird soziale Phobie für Schüchternheit gehalten. Sabrina dachte anfangs auch, sie sei einfach schüchtern, stellte dann aber fest „Schüchternheit und Zurückhaltung alleine können nicht erklären, warum mir die ganze Zeit übel ist und ich Bauchschmerzen habe, bloß weil ich mir einen Arzt- oder Ärztinnentermin ausmachen muss." Wer die soziale Phobie als Schüchternheit deklariert, verkennt ihr Ausmaß. „Unter der Erkrankung zu leiden und Beeinträchtigung im Alltag sind die wichtigen Unterscheidungskriterien", stellt Reisenzein-Hirsch klar. „Zwar behaupten, laut einer Studie von Stein, Walker und Forde, 60 Prozent der Befragten von sich, in manchen sozialen Situationen schüchtern zu sein, aber nur sieben Prozent geben auch an darunter zu leiden." Im Gegensatz zur Schüchternheit ist die soziale Phobie eine anerkannte psychische Erkrankung und wird in der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10), dem wichtigsten und international geltenden Diagnoseklassifikationssystem der World Health Organisation (WHO), beschrieben.

Dennoch suchen bei keiner anderen psychischen Erkrankung Betroffene so spät Hilfe wie bei der sozialen Phobie. Im Schnitt dauert es 14 Jahre, wie Reisenzein- Hirsch bestätigt. Sie schätzt, dass nur etwa ein Drittel der Betroffenen überhaupt in Therapie geht. Grund dafür ist meist nicht nur die soziale Phobie an sich, sondern sind auch Folgeprobleme, wie andere Angsterkrankungen, Depression oder Suchterkrankungen - welche bei sozialer Phobie die Regel sind. Sabrina, die bislang nicht in Therapie war, litt einige Jahre an Depressionen und auch bei Lisa kam es zu weiteren psychischen Erkrankungen: „Zusätzlich zur sozialen Phobie hatte ich eine generalisierte Angststörung und machte mir permanent Sorgen wegen allem Möglichen. In Therapie bin ich erst gegangen, als ich mit 20 an Panikattacken litt. Die soziale Phobie habe ich aber schon, seit ich denken kann."

Doch meist ist es die Phobie selbst, die Betroffene daran hindert, Hilfe in Anspruch zu nehmen - ein Teufelskreis. „Ich dachte immer, dass ich mich vor der Therapeutin oder dem Therapeuten blamiere, und er oder sie es lächerlich findet, dass ich seine  ihre Zeit mit sowas verschwende. Aber die größte Hemmschwelle war, dort anzurufen und hinzugehen", erzählt Lisa. Abwarten ist aber keine Alternative. Im Gegenteil, eine unbehandelte soziale Phobie wird in den meisten Fällen sogar chronisch, bestätigen sowohl Reisenzein-Hirsch als auch der Psychiater Dietmar Winkler.

ALLES FALSCH. Doch woher kommt die lähmende Angst vor der Blamage vor anderen Menschen? „Es gibt definitiv eine biologische Basis, also eine Veranlagung zu Angststörungen, und dies ist auch für die soziale Phobie belegt", erklärt Winkler. Leidet ein eineiiger Zwilling an sozialer Phobie, so ist der andere Zwilling in 30 bis 40 Prozent der Fälle ebenfalls betroffen. Typischerweise zeigen Sozialphobiker innen auch eine angeborene Verhaltenshemmung und neigen dazu, sich bei allem Neuen zurückzuziehen und in Angstsituationen zu erstarren. Weiters lässt sich, laut Winkler, eine Veränderung im Neurotransmittersystem von Betroffenen feststellen: „Das gilt vor allem für das Botenstoffsystem  Serotonin."

Aber auch Umwelteinflüsse sind für das Auftreten einer sozialen Phobie verantwortlich. „Das Erziehungsverhalten der Eltern, Beobachten und Nachahmen des Verhaltens anderer, kränkende soziale Situationen oder belastende Lebensereignisse spielen eine Rolle und können zu sozialer Phobie führen", bestätigt Reisenzein-Hirsch. Im Fall von Lisa traf all das zu: „Meine Eltern sind auch sozialphobisch. Sie hatten immer einen sehr kritischen Blick darauf, wie ich bei anderen Menschen ankomme. Mir wurde oft gesagt, dass irgendetwas an mir einen schlechten Eindruck machen würde: Wie ich andere ansehe, wie ich spreche, wie ich mich bewege, wie ich mich kleide. Deshalb habe ich selbst immer mehr darauf geachtet, ob ich etwas ,falsch' machen könnte. In meiner Schulzeit wurde ich gemobbt, das hat meine Angst vor negativen Reaktionen natürlich weiter verstärkt."

SICH TRAUEN LERNEN. Ein_e von Flugangst Betroffene_r könnte theoretisch ihr sein Leben lang das Fliegen und somit auch die Angst meiden. Bei Sozialphobiker innen ist das keine Option, wird die Angst doch vom alltäglichen Miteinander ausgelöst. „An sich ist die soziale Phobie eine gut behandelbare Erkrankung", ermutigt Winkler. In der Psychotherapie, im kognitiv-verhaltenstherapeutischen Setting, wird an dysfunktionalen Überzeugungen und Gedanken gearbeitet. „Die Betroffenen lernen, ihre negativen Befürchtungen zu hinterfragen. Sie werden dazu motiviert, angstbesetzte Situationen wieder aufzusuchen, ihre Aufmerksamkeit umzulenken und ihr Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten aufzugeben", erklärt Reisenzein-Hirsch. Konfrontation mit den angstauslösenden Situationen ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. So stellte Sabrina, nachdem sie sich zu einer mündlichen Prüfung überwand, fest: „Es klappt ja. Die Leute halten einem gar nicht vor, dass man total unruhig war oder Angst hatte. Man bekommt neutrales oder meistens eigentlich positives Feedback." Je mehr mündliche Prüfungen sie meisterte, umso mehr schwand ihre Angst davor.

Wenn die Hemmschwelle, zu einer Therapeutin oder einem Therapeuten zu gehen, zu hoch ist, kann es eine Hilfe sein, zum Erstgespräch eine Vertrauens- person mitzunehmen, rät Winkler. Medikamentöse Behandlung, vor allem durch Antidepressiva, kann zusätzlich zur Psychotherapie unterstützend wirken. Entscheidend ist dabei, sich von einer Psychiaterin oder einem Psychiater beraten zu lassen. Auch der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen kann hilfreich sein - zeigt er doch, dass man mit der sozialen Phobie trotz Angst vor dem Miteinander nicht alleine ist.

Der Schritt, sich Hilfe zu suchen, lohne, sich in jedem Fall, so Lisa: „Am Anfang ist es schwer, aber das ist es wert. Ich habe jetzt viel weniger soziale Ängste als früher. Oft spielt die Phobie sogar gar keine Rolle mehr in meinem Leben. Das konnte ich mir früher nicht mal vorstellen. Ich habe endlich das Gefühl, dass ich so sein kann, wie ich eigentlich bin - ohne meine soziale Phobie."


Theresa Kaar studiert Psychologie an der Universität Salzburg. Alisa Vogt studiert Psychologie an der Universität Wien.

*Name von der Redaktion geändert

 

Leintuchwissenschaft

  • 11.05.2015, 08:00

6.000 Euro für die Masterarbeit, 80.000 Euro für die Dissertation. Vom lukrativen Geschäft mit akademischen Leistungen und der Frage nach authentischer wissenschaftlicher Arbeit.

6.000 Euro für die Masterarbeit, 80.000 Euro für die Dissertation. Vom lukrativen Geschäft mit akademischen Leistungen und der Frage nach authentischer wissenschaftlicher Arbeit.

„Genügend Geld und kein Bock.“ Mit dieser Begründung hat sich eine Mitstudentin mit einer Ghostwritinganfrage an Anna*, eine Studentin aus Innsbruck, gewandt. Anna verfasst Arbeiten für andere Studierende – gegen Bezahlung. „Insgesamt habe ich rund 15 Seminararbeiten für andere Student*innen geschrieben“, sagt Anna. Für sie war es ein guter Nebenverdienst. „Je nachdem wie vertraut ich mit dem Thema war, musste ich mehr oder weniger Zeit für die Recherche investieren und daraus haben sich dann auch die Preise ergeben. Es waren allerdings mindestens 20 Euro pro geschriebener Seite“, sagt Anna. Pro Auftrag kamen rund 300 Euro zusammen.

Angefangen habe alles mit ihrer Mitbewohnerin. „Sie hat gewusst, dass ich mir beim Schreiben leicht tue und mich gefragt, ob ich ihre Seminararbeit verfassen kann“, erzählt Anna. Danach sei alles über Mundpropaganda gelaufen. Die Leute hätten die Studentin per Mail oder Facebook kontaktiert. „Persönlich kannte ich fast niemanden und ein schlechtes Gewissen hatte ich auch nie“, sagt Anna. Anstrengend sei es trotzdem gewesen, denn viele Leute hätten sich erst zwei Tage vor dem Abgabetermin gemeldet. „Bei manchen war die Deadline auch schon verstrichen und dann musste die Arbeit sehr rasch fertig sein“, sagt Anna.

Wie die Arbeiten beurteilt wurden, hat Anna nie erfahren. Sie hatte auch das Gefühl, dass die Studierenden, die die Arbeiten in Auftrag gegeben haben, kein großes Interesse an einem guten Studienerfolg hatten: „Sie wollten einfach, dass es erledigt ist.“ Über die Hintergründe der Student*innen habe Anna nie viele Fragen gestellt. „Ich weiß, dass sich manche nicht im Stande sehen, eine Seminararbeit oder einen Essay zu schreiben. Andere waren einfach zu faul und konnten es sich leisten, jemanden dafür zu bezahlen“, meint Anna: „Aber die Nachfrage war echt groß.“

MAMI UND PAPI KAUFEN EINEN TITEL. Wie lukrativ das Geschäft ist, weiß auch Thomas Nemet, Leiter einer Ghostwriting-Agentur in Salzburg. „Jedes Jahr haben wir zwischen 150 und 200 Aufträge von österreichischen Student*innen. Viele kommen von der Universität Wien, aber auch Salzburger und Grazer Studierende melden sich“, sagt Nemet. Am gefragtesten seien Arbeiten aus BWL, dann kämen geisteswissenschaftliche Fächer und die Medizin, die sich mit den Rechtswissenschaften den dritten Platz teile.

Er selbst habe am Ende seines Studiums rund zehn Arbeiten im Rahmen des Unternehmens geschrieben. Angeboten wird alles. Von Proseminararbeiten über Bachelor- und Masterarbeiten bis hin zu Dissertationen und gerichtlichen Gutachten können sich Studierende durchs Studium schummeln und Leistungen kaufen. Zumindest die, die das Geld dafür haben. Denn der Preis ist hoch. „Eine 20-seitige Arbeit mit Literaturrecherche ohne empirischen Teil kostet rund 1.600 Euro. Wir rechnen mit 300 Wörtern pro Seite und eine Seite kostet 80 Euro“, sagt Nemet. Eine Masterarbeit mit Expert*inneninterviews kommt auf eine Rechnung von 5.000 bis 6.000 Euro.

„Nachdem ein erstes Angebot bei uns eingeholt wurde, hören wir schon häufig, dass die Finanzierung zuerst mit den Eltern abgeklärt werden muss. Viele Studierende, die uns kontaktieren, haben einen guten finanziellen Background“, sagt Nemet. Ab einem Auftrag von mindestens 1.000 Euro kann in Raten gezahlt werden. „Dann liefern wir auch die Arbeit in Teilen. Geld gegen Leistung heißt unser Prinzip“, sagt der Unternehmensleiter.

Der Großteil der Auftraggeber*innen sei unter 30 Jahren. „Da sind von der Studienanfängerin mit Versagensängsten bis zum berufstätigen Student, der am Ende seines Studiums steht, alle vertreten“, sagt Nemet. Bevor die Student*innen die Arbeit ausgehändigt bekommen, müssen sie schriftlich versichern, dass sie damit nichts Illegales vorhaben, wie zum Beispiel die Arbeit als ihre eigene auszugeben. Somit ist die Ghostwriting-Agentur rechtlich aus dem Schneider. Auf die Frage, was das für die Wissenschaft bedeutet, wenn sich immer mehr Studierende Arbeiten schreiben lassen, antwortet Nemet: „Eigentlich nichts. Ein Uniabschluss heißt nicht, dass man Manager*in wird. Unsere Kund*innen müssen sich der Wirklichkeit im Berufsleben stellen und zeigen, was sie können.“ Thomas Nemet führt einen Doktortitel, den er sich laut eigenen Angaben selbst erarbeitet hat.

SCHULDGEFÜHLE. „Seminararbeiten zu schreiben ist mir immer leicht gefallen“, sagt Daniel*, ein Student der Geisteswissenschaften an der Universität Innsbruck. Das sei auch der Grund dafür gewesen, dass er oft von Studienkolleg*innen angesprochen wurde, ob er ihre Arbeiten gegen Bezahlung für sie erledigen würde. Meistens habe er abgelehnt, weil er die Faulheit anderer nicht unterstützen wollte. Zweimal hatte er aber zugesagt und die Bachelorarbeiten von Freunden geschrieben. „Zum Freundschaftspreis von 15 Euro pro Stunde habe ich für die erste Arbeit 20 bis 30 Stunden investiert“, sagt Daniel. Die zweite Arbeit ging schneller, denn da sei die Recherche schon erledigt gewesen und Daniel musste sie lediglich in Worte fassen. „Die Person hatte Probleme beim Formulieren und wollte sich auch nicht damit auseinandersetzen. Da war dann schon viel Faulheit dabei und das Geld in diesem Fall auch kein Problem“, behauptet Daniel. Er ist sich sicher, dass er viel Geld mit Ghostwriting verdienen hätte können, aber im Grunde finde er das unvertretbar. „Ich habe das zwei Mal gemacht, um Freunden zu helfen und das waren Ausnahmefälle. Aber Uni-Arbeiten für andere Student*innen zu schreiben, um Geld zu verdienen, das könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren“, so Daniel.

Das schlechte Gewissen plagt auch Petra*. Sie studiert im dritten Semester an einer Fachhochschule und würde sich gern die Bachelorarbeit von jemandem schreiben lassen. „Die Versuchung ist groß, aber dafür bin ich zu ehrlich“, sagt Petra. Kleinere Arbeiten seien da schon weniger ein Problem, denn im vergangenen Semester hat ihr ein Freund eine Seminararbeit geschrieben. „Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, als ich die Arbeit abgegeben habe, aber es war für ihn einfach viel weniger Aufwand, als es für mich gewesen wäre.“ Im Gegenzug für seine Arbeit habe sie ihm auch eine Arbeit verfasst. „Der Grund dafür war sicher die Bequemlichkeit. Ich hätte für die Recherche vieles heraussuchen müssen, das er parat hatte“, verteidigt sich Petra. Halbherzig habe sie sich vor der Abgabe noch einmal die Arbeit durchgelesen, um ein paar Formulierungen zu ändern, weil sie „ein bisschen paranoid geworden“ sei. „Ich habe schon irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil es mir extrem peinlich wäre, ertappt zu werden, obwohl das ja gar nicht möglich ist“, sagt Petra.

SANKTIONEN. „Sollten die Studierenden während des Studiums erwischt werden, gilt das als klassische Leistungserschleichung“, sagt Manfred Novak vom Institut für Universitätsrecht in Linz. Die Konsequenzen waren in den letzten Jahren relativ milde. Denn es wurde lediglich ein Prüfungsantritt oder ein Abgabetermin gestrichen. Die Arbeit musste also noch einmal geschrieben werden. Das Bewusstsein, dass sich viele Akademiker*innen ihren Titel nicht ehrlich erarbeiten, sei in den letzten Jahren gestiegen und daher wurde im Jänner eine Gesetzesnovelle verabschiedet, die zusätzliche Sanktionen erlaubt. „Die Gesetzesnovelle besagt, dass bei Vortäuschen von geistigem Wissen oder schwerwiegendem Plagiieren – darunter fällt auch Ghostwriting – von den jeweiligen Universitäten ein Ausschluss vom Studium von bis zu zwei Semestern verhängt werden kann“, sagt Novak. Das schließe alle Arbeiten, die während des Studiums verfasst werden müssen, mit ein. Das seien schon sehr drastische Maßnahmen, erklärt Novak, zumal die zeitliche Verzögerung auch zu einem Verlust von Studienbeihilfe und Stipendien führen könne. „Wenn der akademische Grad bereits geführt wird, dann wird er aberkannt und es droht eine Verwaltungsstrafe von bis zu 15.000 Euro“, erläutert Novak. Laut ihm gibt es insgesamt zwischen 5.000 bis 6.000 gefälschte Doktor*innentitel in Österreich.

„Natürlich ist es sehr schwer den Studierenden nachzuweisen, dass sie die Arbeiten nicht selbst verfasst haben“, sagt Nicole Föger von der Agentur für wissenschaftliche Integrität. Sie stellt sich die Frage, was ein wissenschaftlicher Titel überhaupt noch Wert ist, wenn vermeintliche Leistungen gekauft werden. „Die Karriere beruht dann auf einer oder mehreren Arbeiten, die man nicht selbst geschrieben hat. Das ist Betrug, zumal die Studierenden unterschreiben, dass sie die Arbeiten selbst verfasst haben“, sagt Föger.

Die Gründe, aus denen Studierende eine*n Ghostwriter*in engagieren, seien vielfältig. „Ich denke, dass in manchen Studienrichtungen die Masterarbeiten als nicht so wichtig angesehen werden und die Studierenden nicht das Bewusstsein haben, dass dies der Abschluss des Studiums ist. Sie wollen es nur schnell hinter sich bringen“, sagt Föger. Sie sieht auch Versagensängste als Motiv. Die Universität Graz versuche dem mit Projekten wie „Die Nacht der unvollendeten Arbeiten“ entgegenzuwirken. „Viele Studierende haben Angst vor dem leeren Blatt. Sie bekommen dort die Gelegenheit, gemeinsam mit anderen Studienkolleg*innen zu schreiben. Außerdem wird auch eine psychische Unterstützung angeboten, um eventuelle Schreibblockaden lösen zu können“, sagt Föger. Die Universitäten würden also das Problem des Ghostwritings erkennen und versuchen, ihm entgegenzuwirken und den Studierenden Unterstützung zu bieten.

„Auch die Agentur für wissenschaftliche Integrität versucht mit Vorträgen im Sinne des guten wissenschaftlichen Arbeitens Bewusstseinsbildung zu betreiben. Dabei sprechen wir auch das Ghostwriting an“, sagt Föger. Das Augenmerk liege darauf, den Studierenden die Bedeutung der Arbeiten nahe zu legen. „Die Abschlussarbeiten sollen nicht als etwas gesehen werden, das halt noch gemacht werden muss. Es kann auch Spaß machen, selbst ein Thema und eine*n Betreuer*in auszuwählen und dann in der schriftlichen Arbeit zu zeigen, was in den letzten Jahren gelernt wurde“, sagt Föger.

Wenn man sich das Ausmaß des Ghostwritings in Österreich ansieht, dürften die Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung und die Androhung schärferer Sanktionen noch nicht wirklich im titelverliebten Österreich gegriffen haben.

* Namen von der Redaktion geändert

 

Julia Beirer studiert Journalismus und Neue Medien an der FH der Wirtschaftskammer Wien. 

 

„Immerhin hab’ ich das Semesterticket“

  • 25.03.2015, 19:19

Die akademische Welt – eine Spielwiese der Entfaltung und Horizonterweiterung? Vielleicht, wenn du die Szene-Codes kennst. Paula Balov darüber, was an der Uni wirklich zählt.

Die akademische Welt – eine Spielwiese der Entfaltung und Horizonterweiterung? Vielleicht, wenn du die Szene-Codes kennst. Paula Balov darüber, was an der Uni wirklich zählt.

„Freuen Sie sich aufs Studieren,“ sagte die Frau vom Jobcenter, als ich frisch nach dem Abi (die deutsche Matura, Anmerkung der Red.) bei ihr landete: „Es wird die schönste Zeit Ihres Lebens.“ Ähnliches hörte ich auch von Freund_innen und Verwandten. Ich freute mich tatsächlich darauf, immerhin wurde sie mir von allen Seiten schmackhaft gemacht. Die Leute bezogen sich dabei nicht auf Ermäßigungen oder das Semesterticket, sondern auf diese ach so freie – nein, die freieste Form des Lernens, auf die unzähligen Perspektiven, die sich ergeben würden, blablabla.

Meine Erwartungen an die Universität waren bescheiden. Ich dachte, in einem Seminar geht es in erster Linie ums Lernen, darum eine Atmosphäre zu schaffen, in der jede_r seine_ihre Ideen und Probleme einbringen kann und hoffentlich mit dem Gefühl rauskommt: „Geil, ich hab was kapiert, ich hab einen Zusammenhang erkannt, ich habe die und die Fragen gefunden, die ich spannend finde…“

STATTDESSEN: Jede Menge akademischer Szene-Codes. Wer drückt etwas verschwurbelter aus? Wer macht mehr Namedropping? Wer kennt die richtigen Schlagwörter? Wer hat Marx gelesen? Aus meiner Motivation mich an Seminaren zu beteiligen, wurde zurückhaltendes in der Ecke Sitzen, weil ich mich nicht dumm fühlen wollte.

Ich bin Mittelschichtskind und als solches in vielerlei Hinsicht privilegiert. Es gibt jedoch einen Punkt, in dem ich nicht so privilegiert bin: Sprache. Deutsch habe ich erst in der Grundschule gelernt und wegen meiner (Aus-)Sprache nicht ernst genommen zu werden, war lange Alltag für mich. („Wie süß, solche Fehler machen nun mal ausländische Kinder!“)
Auch wenn meine Eltern studiert haben und ich mit meinem Vater am Mittagstisch über Beuys und Postmoderne philosophierte, haben wir das nie auf Angeberdeutsch getan. Mein Vater hat alltägliches Mazedonisch geredet und ich auf einem mazedonisch-kroatisch-deutschen Mix. Im Vordergrund stand das Verständnis. Ich war also mit dem geisteswissenschaftlichen Kauderwelsch nicht so vertraut wie meine Kommiliton_innen aus mehrheitsdeutschen, akademischen Familien.

Ich sah mit der Zeit ein, dass ich, um komplexe Zusammenhänge zu erfassen, nicht um Fachwörter und theoretische Konzepte herumkomme und diese auch sehr hilfreich sein konnten. Ich sah und sehe jedoch nicht ein, dass dieser zwar hilfreiche, aber auch oft überflüssige Sprachstil, zusammen mit einer elitären Performance, die Eintrittskarte in die akademische Welt bildet.

Stell dir vor, du stehst morgens auf und denkst: „Geil, gleich Blockseminar Postcolonial Studies!“, und hast ungelogen übertrieben viel Bock zu lernen. Und eine halbe Stunde nach Seminarbeginn fühlst du dich so klein, dass du am liebsten wieder in dein Bett kriechen würdest.

SO ERGING ES MIR OFT. Als würden mir ständig Leute reinwürgen, wie viele Defizite ich habe: Indem sie z.B. das, was ich gerade gesagt hatte, in Akademisch übersetzten, ehe es als Unterrichtsbeitrag gewertet wurde. Rhetorik und Performance sind das A und O. Wie naiv von mir zu denken, dass es ums Lernen gehen würde.

„Immerhin habe ich das Semesterticket“, dachte ich oft. Und Uni-Freund_innenschaften. Aber auch an denen ist Elite- und Leistungsdenken nicht vorbeigegangen: Einmal hat mich eine Kommilitonin eingeladen mit ihr und einer Dozentin Kaffee trinken zu gehen. Wir sprachen über ein Seminar, das wir im ersten Semester besucht hatten. „Du hast die Texte nie gelesen, oder?“, sagte sie schmunzelnd-herablassend vor der Dozentin. Doch, hatte ich. Aber ich hatte viele – trotz Fleiß und Mühe – nicht verstanden und nicht gerade den Eindruck, dass in dieses Seminar ein Raum gewesen wäre darüber zu sprechen. Zu oft wurde ich seltsam angeguckt, wenn ich Verständnisprobleme äußerte, so ein Ach-wie-süß-die-ist-zu-blöd-das-zu-checken-Blick. Ich fühlte mich bloßgestellt und als faul abgestempelt, auch noch direkt vor der Dozentin.

Ein anderes mal bin ich nach längerer Zeit wieder zu einem Seminar gekommen. Ich hatte neuen Mut getankt, es endlich mit dem Studieren hinzukriegen. Nach dem Unterricht fragte mich eine Kommilitonin, ob ich noch irgendwohin mitkommen könnte. „Nein, ich bin auf dem Sprung“, sagte ich. „Ach was, ich kenn dich doch! Du bist nie auf dem Sprung!“, kommentierte diese und meinte eigentlich: Du bist doch so ne schlechte Studentin, was wirst du schon großartig zu tun haben? Nee, is klar, ich sitz den ganzen Tag zu Hause und feil’ mir die Fußnägel, im Gegensatz zu ihr, die schon ihr ich weiß nicht wievieltes Praktikum in China gemacht hat.

MIT FICK-DICH-BLICK und Scheuklappen geisterte ich durch die Uni, bis ich mir sagte: So kann das nicht weitergehen. Also, was habe ich gemacht? Den nächsten Fehler: Geh mal zu den Gender-Studies, da ist es bestimmt anders! Lol. Ist die Rede von Klassismus und Hindernissen an der Uni, die durch Sprache und elitäre Performance produziert werden, siehst du weit und breit nur nickende Köpfe. Und dann geht es unbehelligt weiter mit schwer lesbaren Texten von Lann Hornscheidt (Wer braucht schon Absätze?) und Wortverschwurbelung vom Feinsten: „Akademische Entpositionierungen und paradoxe Entkomplexisierungen durch Intersektionalität“. Puh.

Witzigerweise schiebe ich mit diesem Text gerade auf, den ersten Satz meiner Bachelor-Arbeit niederzuschreiben. Ich bin den ganzen Tag dagelegen und habe mich selbst fertiggemacht: „Warum traust du dir so wenig zu?“ Dann ist es mir wieder eingefallen: Weil ich in der Uni gelernt habe, dass ich defizitär bleibe, was auch immer ich tue. Aber hey, ich habe es fast bis zur Bachelor-Arbeit geschafft und bin dafür verhältnismäßig unverbittert. Und ich habe eine Sache, die mich antreibt, weiterzumachen: Trotz. Gut für mich. Schlecht für die, die kein Mittelschichtsprivileg und keinen akademischen Hintergrund haben, die deutsch noch später gelernt haben – oder noch lernen, für die 300 Euro Studiengebühren sehr viel Geld sind und, die es vielleicht nicht bis zur Bachelor-Arbeit schaffen. Wahrscheinlich dürfen sie sich später noch anhören, sie seien „bloß faul“ gewesen. Zum Kotzen.

 

Paula Balov studiert Regionalstudien Asien/ Afrika an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dieser Text erschien zuerst auf herzbrille.wordpress.com, wo sie regelmäßig über Feminismus und Ex-Jugoslawien aus postmigrantischer Perspektive schreibt und Kurzfilme veröffentlicht.

Seiten