Trans

„Aus Hassrede wurden Hassverbrechen“

  • 29.11.2016, 14:26
Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder erzählt in ihrem Film „Trans X Istanbul“ über die Vertreibung von und die Gewalt gegenüber Trans*personen in Istanbul. Im Rahmen des Filmfestivals „Transition“ wurde der Film gezeigt. progress sprach mit der Filmemacherin.

Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder erzählt in ihrem Film „Trans X Istanbul“ über die Vertreibung von und die Gewalt gegenüber Trans*personen in Istanbul. Im Rahmen des Filmfestivals „Transition“ wurde der Film gezeigt. progress sprach mit der Filmemacherin.

Verbale Beschimpfungen. Gewaltvolle Übergriffe. Mord. Trans*frauen in Istanbul sind mit Hass und Vorurteilen konfrontiert. Morde von und Gewalt gegenüber Trans*frauen werden von der Polizei meist nicht untersucht. Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder begleitete die in Istanbul lebende Trans*frau Ebru Kırancı in ihrem täglichen Kampf gegen eine transfeindliche Gesellschaft mit ihrer Kamera. Das Ergebnis: Trans X Istanbul – ein Film, der die Entwicklung von Hassrede zu gewaltvollen Taten bis hin zum Mord aufzeigt und dabei Verschränkungen von Politik, Gesellschaft und ökonomischen Interessen analysiert. Im Mittelpunkt des Films steht dabei die Rolle von Urbanisierungs- und Gentrifizierungsprozessen, die zur Vertreibung von Trans*frauen führen. Mittlerweile zählt auch Maria Binder zu den Unterstützer*innen des von Ebru Kırancı aufgebauten Trans*-Vereins „Istanbul LGBTT“. Ein Gespräch mit Maria Binder über die Situation von Trans*frauen in Istanbul und welche Rolle dabei die menschenverachtende Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie die damit einhergehende eingeschüchterte Zivilgesellschaft spielt.

progress: Du greifst in deinen Filmen immer wieder das Thema Menschenrechte auf. In Trans X Istanbul geht es, wie der Name schon verrät, um die Rechte von Trans*frauen in Istanbul. Wie bist du auf das Thema gekommen?
Maria Binder: 2001 recherchierte ich zu Frauen in der Türkei, die verfolgt wurden, weil sie öffentlich darüber sprachen, dass sie vom Staat, also der Polizei, dem Militär vergewaltigt wurden. Im Zuge der Filmarbeiten, die ich gemeinsam mit Verena Franke gemacht habe, lernten wir die Trans*frau Hülya kennen. Sie hat als Sexarbeiterin in Istanbul gearbeitet, ist mehrfach entführt und vergewaltigt worden. In diesen Recherchen wurde uns klar, dass es Überschneidungen gibt, wie Unterdrückung von Frauen-, Trans*gender und LGBT*-Personen systematisch funktioniert. Wobei ich denke, dass es nochmal ein Unterschied zwischen Trans* und Gay gibt.

Kannst du darauf genauer eingehen?
Der Bildungshintergrund ist ein anderer. Outen sich Trans* gegenüber der Familie, ist das sichtbar. Oft verstößt die Familie Trans*personen, insbesondere Trans*frauen. Trans*frauen werden bei der Geburt männlich zugeordnet, was als das stärkere Geschlecht von der Gesellschaft gesehen wird und sie wählen dann das schwache Geschlecht. Patriarchal ist das als eine Art Entehrung der Männlichkeit definiert. Durch den Ausschluss von Trans*frauen aus der Familie, fällt die Schule weg. Es gibt einen Bruch in der Bildung. Wenn du keine Bildung hast, ist es schwierig einen Job zu finden. Und selbst wenn du Bildung hast, findest du als Trans*frau oft keinen anderen Job außer in der Sexarbeit. Schwule und Lesben haben diesen Knick in der Biographie meistens nicht so schnell. Das Coming-Out kann noch eher hinaus gezögert werden. Der Bildungsweg ist dadurch nicht so gebrochen.

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Kommen wir zurück zum Film: Im Film geht es unter anderem, um einen transfeindlichen Konflikt zwischen verschieden Hausparteien im Istanbuler Stadtteil Avcılar. Ebru spricht dabei immer wieder den Satz aus „Aber ihr ward doch Freund*innen“. Wie kann es sein, dass sich diese Freund*innenschaft in Transfeindlichkeitumgewandelt hat?
Da gab es ganz verschiedene Ebenen der Eskalation: Aus Hassrede (hate speech) wurden Hassverbrechen (hate crime). Allein die Hassrede hat dabei diverse Entwicklungen durchgemacht. Früher sind die Konfliktparteien tatsächlich zusammen gesessen, haben gemeinsam Tee getrunken. Hürriyet, die eine der Protagonist*innen des Kampfs gegen Trans* ist, hat vorher für eine Trans*frau Vorhänge gekauft und genäht. Dieser Häuserblock, um den es da geht, ist jetzt in einem Flächennutzungsplan. Als der Wert dieser Gegend stieg, hieß es, wir wollen keine Prostitution in unserem Haus. Obwohl schon davor klar war, dass hier Sexarbeiter*innen arbeiteten. Daraus wurde dann, wir wollen keine Trans*. Daraus wiederum wurde, wir haben die PKK besiegt, wir werden auch die Trans* besiegen. Die PKK ist aus deren Sicht eine Terrororganisation und wurde mit Waffen beschossen. Das heißt Trans* wurde mit Terror gleichgesetzt. Man sieht hier, wie sich Hasssprache entwickelt. Hass verstanden als systemischer und nicht als ein Gefühlsbegriff, wo verschiedene Mosaiksteine zusammen spielen und sich verschränken. Dadurch kann der Hass so eine Zugkraft entfalten. Da gehören Medien dazu, da gehört der Staat dazu. Und irgendwann kippt diese Stimmung. Die Personen, die gegen Trans* kämpfen, standen plötzlich jeden Samstag als demonstrierender Mob vor der Tür. Trans*personen wurden beim Arbeiten von Männergruppen mit Stöcken überfallen. Samen, eine alten Freund*in von Ebru, wurden Sofas vor ihrer Wohnungstür gestellt und angezündet, während sie in der Wohnung war. Ihr wurde auch in die Wohnung geschossen. Das ist Terror gegen Leib und Leben, aber auch Psychoterror. Dann kommt noch das Zusammenspiel mit der Polizei dazu, die nicht ermittelt. Stattdessen werden die Wohnungen der Trans*personen versiegelt, sie müssen ausziehen.

Du hast die Rolle der Medien angesprochen. Ebru kritisierte, dass selten über Morde an Trans*personen berichtet wird, die Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Welche Rolle spielen die Medien hier?
Viel kann ich dem nicht hinzufügen. Außer vielleicht, dass es sich nach dem Putsch erheblich verschärft hat. Es gab vorher zunehmend linke Medien, die darüber berichteten. Bis 2010 gab es eine Form von Boykott, das hat sich durch unsere Arbeit, durch die Trans*-Organisation geändert. Aber jetzt gibt es einen Rollback. Die Medien haben Angst zu berichten. Erdoğan sagte, dass sich diejenigen, die mit LGBT*-Organisationen zusammenarbeiten, schuldig machen, den Terror unterstützen.

International wird sehr wohl berichtet, dass Morde an Trans* in der Türkei zunehmen. Gibt es gar kein Bemühen von staatlicher Seite etwas zu ändern? Vor allem mit dem Hintergrund, dass die Türkei um den EU-Beitritt ansuchen will?
Vor den Wahlen, die Erdoğan wiederholen ließ, gab es Druck seitens der LGBT-Organisationen auf die Stadtverwaltungen. Es gab LGBT-freundliche Stellungnahmen vor der Wahl von der CHP und der HDP. Die Stadtverwaltungen von Beşiktaş, Kadıköy und Şişli haben uns geholfen: Anfang des Jahres ist unser Vereinssitz ausgebrannt. Die Stadtverwaltung von Beşiktaş hat uns das Geld gegeben, um den Verein wieder herrichten zu lassen. Danach hieß es von den Besitzern, dass sie uns nicht mehr haben wollen. Und warum? Weil sie es nun gewinnbringend vermieten konnten. Da verschränkt sich die Profit-Ebene mit der Politik, mit Erdoğan, der auffordert LGBT-Organisationen nicht zu unterstützen. Es ist so ähnlich wie in Cihangir. Das ist ein Istanbuler Stadtteil, der mit dem Prenzlauer Berg in Berlin verglichen werden kann. Eine Hochpreisgegend. Alles ist schick und cool, Künstler*innen sitzen rum. Vorher haben hier Trans* gewohnt, aber sie sind systematisch vertrieben worden. Das passiert überall nach dem gleichen Muster. Im Endeffekt ist das nicht typisch türkisch, sondern transkulturell: Wie jemand aufgrund eines äußeren Merkmals ausgegrenzt und das mit ökonomischen Interessen gekoppelt wird. Wenn es gleichzeitig eine starke Zivilgesellschaft gibt, dann wird das aufgefangen. Im Moment ist die Zivilgesellschaft in der Türkei aber so verängstigt, weil es diesen Mob auf der Straße gibt. Vor dem Putsch gab es politisch auch eine sehr breit aufgestellte Opposition. Durch die Kriminalisierung von der HDP ist aber einiges gebröckelt. Auf diese Form von Öffentlichkeit müsste man sich beziehen, aber die trauen sich nicht, weil die Hegemonie auf der Straße die Anderen haben. Wie auch nach der Trump-Wahl, wo sich so viele plötzlich ermuntert fühlen mit ihrer rechten Gesinnung in Wort und Tat in die Öffentlichkeit zu treten, sich wieder zu trauen. Das ist in der Türkei ganz ähnlich.

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Ebru wollte 2014 für die HDP Istanbul kandidieren. Das hat aber nicht geklappt. Wieso nicht?
Ebru war in der Vorwahl. Die Partei wählt dann diejenigen, die einen Listenplatz bekommen. Damals ist entschieden worden, dass keine Trans* auf eine Liste kommen soll. Stattdessen ist Barış Sulu, ein Freund von uns, auf die Liste in Eskişehir gewählt worden. Mittlerweile ist er im Exil in Berlin, weil er aufgrund seiner Kandidatur vom IS verfolgt worden ist. Im IS-Magazin wurde ein Bild veröffentlicht mit dem Aufruf zur Tötung. Im Nachhinein bin ich daher froh, dass es nicht geklappt hat. Ebru wäre heute vielleicht im Knast. Oder an einer Parteiveranstaltungen von der HDP, die immer wieder tätlich angegriffen werden, verletzt worden. Wenn man es positiv sehen will: Es war klug von der Partei, Ebru nicht noch zusätzlich zur Zielscheibe zu machen.

Ebru versucht bereits seit Jahren die türkische Gesellschaft zu verändern, natürlich insbesondere eine Besserstellung von Trans*personen zu erreichen. Hat sie in diesem Kampf auch Erfolge erreicht?
Ein großer Erfolg ist, dass wir ein Trans*-Haus für Geflüchtete aus dem Irak, dem Iran, aber vor allem aus Syrien aufbauen konnten. Das ist ausschließlich Community-finanziert und hält sich bereits vier Jahre lang. Mit Hilfe des holländischen Konsulats konnten wir auch ein Jahr lang Traumatherapie anbieten. Es fanden Workshops statt, die gleichzeitig die Funktion hatten, Gemeinschaftlichkeit zu erzeugen, weil plötzlich hast du nicht nur ein Sprachproblem, sondern Identität fängt wieder an eine Rolle zu spielen. Ein anderer Erfolg ist, dass wir Fortbildungsmaßnahmen in Form eines interaktiven Trainings für Lehrer*innen, Rechtsanwält*innen und Journalist*innen durchführen konnten.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Dünne Dialoge

  • 18.06.2016, 13:54
OMG, eine Graphic Novel aus dem deutschsprachigen Raum zu Transition!

OMG eine Graphic Novel aus dem deutschsprachigen Raum zu Transition! Die deutsche Illustratorin Sarah Barczyk erhielt 2014 das Egmont-Comic-Stipendium und zeichnete die Geschichte von Kai, der trans ist. Ganz ohne Probleme kommt die Geschichte aber nicht aus: Kais Eltern sind vorerst uneinsichtig und dann verliert er auch noch eine Freundin. Trotz Kais Unbeirrtheit, sind es die Momente des Zweifels, die den Charakter erst persönlich machen: der ersten Besuch beim Therapeuten („Aber was, wenn er sagt, ich sei psychisch krank“), der eigenen dicken Körper („Warum sind die ganzen Transmänner immer sportlich oder schlank?“), die Wahl der passenden Umkleide („Mh. Umkleide…Oje, da hab ich noch gar nicht dran gedacht.“).

Leider ist das aber schon alles, was den_die Leser_in am Charakter fesselt. Die abgehackten Dialoge wirken eher wie schlechte Übersetzungen, denn wie authentische Gespräche. Auch inhaltlich stellt sich bald heraus, dass ein kritischer Ansatz mit Geschlecht umzugehen keine Rolle in „Nenn mich Kai“ spielt. Was für Kai zählt, ist so gut wie möglich als „echter“ Kerl durchzugehen. Da gehört auch das richtige Bro-Verhalten in Männergruppen und Mackertum (gegenüber Frauen_) dazu. Und wer weiß besser wie das funktioniert als Kais Freund, der Cis-Mann Marko. Er zeigt Kai wie Mann-Sein geht: „Du gehst viel zu feminin. So geht das! Schön O-Beine machen und locker schwingen!“ Ähm, ok?

Im Vordergrund der Graphic Novel steht das Bedürfnis einen programmatisch-geraden Weg darzustellen dessen Anfang in Barczyks Zeichnungen symbolisch platt im Flowerfresh-Deo-noch-sanfter liegt und mit einem 48-Men-Power-Deo endet. So klar wie die Geschlechterrollen in „Nenn mich Kai“ verteilt sind, so geradlinig ist auch Barczyks Zeichenstil in Schwarz-Weiß: Für Schattierungen, Grautöne und das Dunkel der Tiefen bleibt wenig bis kein Platz. Im Missy Magazin-Interview erklärt Barczyk ihre Zielgruppe seien eher unwissende Cis-Personen, wie sie bis vor Kurzem selbst eine war. Was als eine noble Idee daherkommt, ist in der Ausführung leider nur ein oberflächlicher Cis-Blick auf Transition und Geschlechterstereotypen geworden. Das Stipendium zu dem Thema wäre bei einer Trans-Person wohl besser aufgehoben gewesen.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Sarah Barczyk: Nenn mich Kai
Egmont Graphic Novel
80 Seiten
15,50 Euro

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

„Die Angst konnte sich nicht in mein Leben schleichen.“

  • 16.06.2016, 19:59
Der Hamburger Unternehmer und ehemalige Piraten-Politiker Claudius Holler wurde durch ein YouTube-Video bekannt, in dem er um Hilfe bat: Diagnose Hodenkrebs, ohne Krankenversicherung, aber mit Schulden. Wir haben bei einem seiner Vorträge zum Thema „Unversichert“ in Berlin mit ihm gesprochen.

Der Hamburger Unternehmer und ehemalige Piraten-Politiker Claudius Holler wurde durch ein YouTube-Video bekannt, in dem er um Hilfe bat: Diagnose Hodenkrebs, ohne Krankenversicherung, aber mit Schulden. Wir haben bei einem seiner Vorträge zum Thema „Unversichert“ in Berlin mit ihm gesprochen.

progress: Du hast eine krasse Zeit hinter dir.
Claudius Holler: Ich habe mich knapp eineinhalb Jahre durch ein tiefes Tal gemüht, um kurz vorm Anstieg noch mal richtig auf die Nase zu bekommen. Mein Leben war zuletzt wirklich kräftezehrend und entmutigend, schließlich schien es jedoch wieder bergauf zu gehen. Dann drängelte sich auf einmal der Krebs in mein Leben.

Was war vorher los?
Mein Bruder und ich haben 2010 aus unserer Werbeagentur heraus ein eigenes Produkt herausgebracht: 1337Mate. Das wurde mehr und mehr zu unserem Hauptprojekt, weil uns die Arbeit daran endlich wieder erfüllte und Spaß machte. Es lief gut und immer besser. Alles sprach dafür, dass wir langfristig davon leben und dabei sozial wirtschaften könnten. Leider ging völlig unerwartet mitten in der Produktion unser beauftragter Abfüllbetrieb insolvent. Wir reden, vorsichtig geschätzt, von einer sechsstelligen Summe, die wir dabei verloren haben. Geholfen hat uns da niemand, als Start-up stehst du bei sowas oft ganz allein im Regen.

Du hast dich entschieden, deine wirtschaftlichen Probleme und deine Erkrankung öffentlich zu machen. Warum?
Ich fühlte mich hoffnungslos ausgeliefert und sah meine eh schon ramponierte Existenz zerschellen. Krankheiten im Allgemeinen, Krebs im Besonderen, kommen zeitlich immer ungelegen. Ich war zudem auch noch unversichert. Natürlich war allein die Diagnose schon ein krasser Schock, auf Krebs ist kein Mensch vorbereitet. Die Aufnahme des Videos war eine Kurzschlussreaktion. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich veröffentlichen würde. Am nächsten Tag ging ich all-in, ich hatte eh nichts mehr zu verlieren.

Welche konkreten Folgen hatte die Videoaktion für dich?
Die spürbarste Folge war eine komplette Woche im Paralleluniversum. Ich konnte das Ganze nur von außen betrachten, obwohl ich ja Protagonist war. Klar, ich kenne mich ein bisschen in diesem Internet aus und bin ein wenig vernetzt. Das, was direkt nach der Veröffentlichung passierte, hat mich aber komplett überrollt. Tausende kommunizierten mit mir, bedachten mich mit lieben Worten, Genesungswünschen und ließen mich an ihren Geschichten teilhaben. Dazu kam ein multimediales Echo über alle Kanäle hinweg. Am ersten Tag ohne Kamerateam um mich herum war ich erstmal verwirrt. Ganz ehrlich, das war bis zur Operation die bestmögliche Ablenkung. Die Angst konnte sich nicht in mein Leben schleichen.

Wie kommt es, dass in einem Land mit einem sehr guten Gesundheitssystem Leute einfach durch das Raster fallen?
Irgendwann bemerkte die Bundesregierung, dass hunderttausende Menschen ohne Versicherungsschutz sind und suchte nach Abhilfe. Die Lösung durfte aber nichts kosten. Die Versicherungspflicht nahm den Staat dann aus der Verantwortung, jetzt konnte ja keine Person mehr unversichert sein, denn es war verboten. Leider wurde ignoriert, dass Menschen nicht deswegen unversichert sind, weil sie das so lässig finden oder sich bereichern wollen, sondern weil es ihnen schlicht am Geld dafür fehlt. Hast du wenig Geld, ist dein Beitrag im Verhältnis dazu unanständig hoch, weil die prozentualen Beiträge nach unten hin gedeckelt sind. Die politische Lösung hat also vornehmlich eine Schuldenfalle aufgestellt, bei der schnell fünfstellige Summen aufgehäuft werden und zwar bei denen, die eh schon knapp bei Kasse sind.

Also ein kalkulierter Systemfehler?
Dass der kalkuliert ist, will ich nicht mal unterstellen. Aber es ist dreist, dass mit Hilfe der Ich-AG eine politisch gewollte Form der Selbstständigkeit zur Schönung von Arbeitslosenstatistiken dient, die Risiken aber gänzlich auf ein wachsendes Selbstständigen- Prekariat abgewälzt werden. Auch der Trend zum erzwungenen Subunternehmertum, weil Arbeitgeber_innen Festanstellungen umgehen wollen, verstärkt diese Entwicklung. Die nötige Absicherung für schlechte Zeiten und Gesundheitskosten, die sich am realen Einkommen bemessen, fehlen leider. Auch dass Menschen ohne Papiere in der Not keinerlei Hilfe bekämen, ist beschämend für ein so reiches Land wie Deutschland. Mittlerweile gibt es spendenfinanzierte Kliniken, wie die Praxis ohne Grenzen, die explizit für die Versorgung dieser Gruppe gegründet wurden. Die zeigen sich erstaunt, wie viele ihrer Patient_innen Selbstständige sind.

Kommst du mit den vielen traurigen Geschichten klar, die du nun sicher hörst?
Das tue ich, aber mich erschreckt, wie wenig ich ein Einzelschicksal bin. Es ist unwürdig für dieses reiche Land, wie viele Menschen keine ausreichende Krankenversicherung, aber horrende Schulden ans Gesundheitssystem haben. Die Krankheitsgeschichten, einige wesentlich dramatischer als meine, sind derart gebündelt natürlich hart, andererseits war da auch ganz viel Mut und Stärke herauszulesen. Ich kenne mittlerweile über fünfzig Menschen, die auch keine zwei Hoden mehr haben, sogar aus meinem Bekanntenkreis, die bisher nie davon erzählt hatten.

Du konntest dir von den Spenden eine Hodenoperation „leisten“. Hast du jetzt auch genug für die Nachsorge und eine Versicherung?
Ja. Also ich weiß noch nicht, was in diesem Sommer auf mich zukommt. Ein Lymphknoten in der Bauchgegend ist noch kritisch zu beobachten und könnte mit Pech noch mindestens eine Operation oder sogar eine Chemotherapie nach sich ziehen. In jedem Fall bin ich jetzt wieder versichert und wäre dafür gewappnet.

Wie fühlt es sich an, wenn deine Eier plötzlich Schlagzeilen schreiben?
Ich twitterte irgendwann irritiert „Liebes 13-jähriges Ich, das da zwischen deinen Beinen wirst du dereinst vor tausenden Menschen kommunizieren. Und das ist voll okay“. Dann wissen halt fünf Prozent der Menschen in Deutschland von deiner Weichteil- Flickschusterei. Auch das ist okay. Die Reaktionen geben mir recht. Es sind ja weniger meine Eier, um die es geht, sondern das Thema, welches sie transportieren, und das fristete bisher ein tabuisiertes Schattendasein.

Die ganze Welt ist voller Phallussymbole. Und trotzdem werden weder Schwänze in Filmen gezeigt, geschweige denn Schwanzprobleme benannt. Warum?
Wir sind auch und gerade in unserer übersexualisierten Welt maximal verklemmt. Der weltgrößte Macker wird mit seinem Wurmfortsatz hadern. Die ganzen Phallussymbole sind nur billige Proxies, die derbe Männlichkeit simulieren sollen. Verletzlichkeit und Fehlbarkeit zwischen den Beinen sind mit solchen Ängsten verbunden, dass Hege und Pflege vernachlässigt werden. Ein echter Mann schleppt sich nicht zum Arzt und lässt sich erst recht nicht zwischen die Beine fassen. Ich versuche gezwungenermaßen, mich davon frei zu machen.

Ist der kranke Schwanz ein unmännlicher Schwanz?
Erschreckend, oder? Nicht umsonst haben wir ein umfassendes Beleidigungsarchiv, das auf das männliche Geschlechtsorgan und dessen ausbleibende Superkräfte abzielt. Dabei gibt es bei vielen gesundheitlichen Herausforderungen funktionierende Lösungen. Es darf nur nicht darüber geredet werden.

Glaubst du, junge Menschen wissen ausreichend Bescheid über Gesundheitsvorsorge? Für Mädchen ist es ja normal, schon früh in der Gynäkologie vorbeizuschauen, in Teenager- Zeitschriften gibt es Tipps, wie „das erste Mal Frauenarzt“ vorbereitet werden kann, für Jungs gibt es sowas nicht.
Ich habe seit meinem Film mit vielen Männern darüber gesprochen, wie oft sie in ihrem Leben die Urologie besucht haben. Abgesehen von Menschen mit diesbezüglichen Krankheiten, gingen die Antworten von „noch nie“ bis maximal dreimal. Ich glaube, der Sexualkundeunterricht an unseren Schulen, die Aufklärung zu Hause, aber auch das Gesundheitswesen an sich klammern das Thema Anatomie, Funktionalität, Vorsorge und Pflege zu sehr aus. Diese Tabuisierung spiegelt sich unter anderem in erschreckenden Unterhaltungen wider, die ich nach meinem Schritt in die Öffentlichkeit geführt habe. Ich habe einige Personen massiv überreden müssen, mit den von ihnen selbst diagnostizierten – teilweise schmerzhaften – Auffälligkeiten unbedingt in ärztliche Behandlung zu gehen. Die waren voller Angst und verschleppten es teilweise schon mehrere Jahre.

Viele Transgender- oder intergeschlechtliche Menschen bekommen keine adäquate Gesundheitsversorgung. Wenn eine Frau mit einem Penis Probleme hat, wird sie nicht richtig behandelt oder ist sogar Diskriminierung oder Gewalt ausgesetzt.
Hier kommt zur Problematik fehlender Versicherung noch hinzu, dass wir gesellschaftlich immer noch nicht in der Realität angekommen sind. Binäre Geschlechtszuweisung ist auch oder gerade im Gesundheitssystem keine Ausnahme. Ich durfte per Zufall in einem Krankenhaus behandelt werden, das diese binäre Sicht offensichtlich nicht teilt. Ich lernte in meiner Aufenthaltszeit mehrere Transgender-Menschen kennen, die dort (im Rahmen einer Angleichung) zu ihrem Körper fanden.

Nicht alle haben dein Netzwerk und deinen Mut. Was rätst du Menschen in ähnlichen Lagen?
Wir können nicht jeden Einzelfall mit Solidaritäts-Flashmobs auffangen. Das muss gesamtgesellschaftlich und politisch gelöst werden. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, diesem Missstand ein wenig Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vieles von meinem Wissen hätte ich mir schon vorher gewünscht. Dass die gesetzliche Grundversorgung zum Beispiel die Behandlung von Krebserkrankungen nicht zwingend einschließt, weil sie nicht akut lebensbedrohlich sind, ist blanker Hohn. Das möchte ich valide aufarbeiten und zusammentragen, so dass Wege aus dieser Zwickmühle heraus sichtbar werden.

Bei deinem Vortrag gibst du unversicherten Menschen den Tipp, zur Behandlung nach Dänemark zu fahren.
Mir selbst waren viele Informationen, auch mangels Auffindbarkeit, nicht bekannt. So können auch Selbstständige über Hartz IV aufstocken und es gibt Wege, die Krankenversicherungsrate abzumildern. Ich bereite gerade die Gründung einer gemeinnützigen GmbH vor, die sich dem Thema „Unversichert“ annimmt. Dort will ich Informationen zusammentragen, wie Betroffene offiziell oder über legale Grauzonen aus ihrer misslichen Lage kommen können. Das werden Hilfestellungen gegenüber Ämtern und Krankenkassen sein, aber auch eine Möglichkeit, politische Forderungen zu platzieren.

Auf Twitter hat jemand geschrieben, dass du wahrscheinlich mehr Reichweite hast als alle staatlichen Gesundheits- und Präventionsprogramme zusammen.
Meine eigene Bekanntheit ist – vor allem gemessen an der Reichweite von #hollerkaputt – recht überschaubar. Sehr populäre Twitter-Accounts teilten meine Geschichte. YouTube selbst war da ein kleiner Hebel, der schnell von den klassischen Medien überholt wurde. Ich komme ja aus der Werbung und darf deswegen auch Plattitüden raushauen: Content is King. Die Themen „Unversichert“ und „Krebs“ waren kritisch und emotional genug, ihre Reichweite selbst zu generieren. Ich habe die Aufmerksamkeit schnell genutzt, um mein Einzelschicksal zurückzunehmen und als Testimonial zu agieren. So etwas fehlt trockenen Kampagnen oft: Authentizität beim Thema.

Das klingt abgeklärt. Wie geht es dir, wenn du offline bist?
Krebs ist ein Arschloch. Dieses Arschloch bestimmt jetzt erstmal hart mein Leben. Ich muss mich damit arrangieren, es ertragen und mich dagegen wehren. Das schlaucht und in manchen Momenten schleichen sich Angst und Trauer heran. Aber dann überrascht mich der Frühling, aus den Boxen rollt der Bass und zur Not ploppt auch mal ein Bier auf. Ich will mich nicht noch weiter runterziehen lassen. Ich bin mir aber sicher, dass da noch ein paar Momente auftauchen werden, in denen ich mich klein, schwach und tieftraurig fühle.

Anne Pohl arbeitet für einen Abgeordneten in Berlin. Daneben ist sie freiberufliche Marketing- und Event-Beraterin und gründet non-kommerzielle Projekte wie herzteile.org.

Retter_innen der Kernfamilie

  • 10.03.2016, 17:17

Stärker denn je nehmen Rechtsextreme (staatliche) Gleichstellungspolitiken und sexualpädagogische Maßnahmen ins Visier. Besondere Bedeutung kommt dabei den Debatten rund um vermeintliche „Frühsexualisierung“ zu.

Obgleich die Bedeutung des Schlagworts „Frühsexualisierung“ in rechtskonservativen und rechtsextremen Diskursen zumeist nicht näher ausgeführt wird, scheint sich der Terminus in den letzten Jahren zu einem Kampfbegriff entwickelt zu haben. Er wird dabei vor allem zur Abwehr zeitgemäßer pädagogischer Ansätze der Sexualerziehung im frühen Kindesalter zum Einsatz gebracht, die Kindern ein positives Körpergefühl, Abbau von Schamgefühlen und die Entwicklung einer verantwortungsvollen, selbstbestimmten Sexualität ermöglichen sollen. Die Bestrebungen zielen unter anderem auf die Befähigung ab, (sexualisierte) Gewalt zu erkennen und sich gegen diese zur Wehr zu setzen.

In kindergerechter Weise werden Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit nur als eine von vielen gleichberechtigten Möglichkeiten geschlechtlicher und sexueller Lebens- und Begehrensformen präsentiert, von „natürlichen“ Vorstellungen von Sexualität wird Abstand genommen. Grund genug für konservative und rechte Kräfte, Sturm zu laufen. Anlass für Diskussionen lieferten in Deutschland ein Methodenbuch zur „Sexualpädagogik der Vielfalt“ sowie Bestrebungen, „Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten“ in Sexualkunde-Unterrichtspläne zu integrieren.

In Österreich wiederum stand vor allem die 2012 vom Verein Selbstlaut herausgegebene sexualpädagogische Broschüre „Ganz schön intim“, die Lehrer_innen Anregungen für die Thematisierung von Liebe und Sexualität im Unterricht liefert und unter anderem Selbstbefriedigung, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Beziehungen und Intersexualität selbstverständlich behandelt, im Fokus eines vermeintlichen Skandals. Sowohl von ÖVP, FPÖ, BZÖ als auch (rechts-)katholischen Organisationen wurde die in den Medien als „Sex- Fibel“ (Kurier) oder „Sex-Unterlagen“ (Krone) betitelte Broschüre als „verstörend“ kritisiert, da sie homosexuelle Paare heterosexuellen gleichstellt. Dadurch würde, so die homophobe Argumentation, die „Kernfamilie bedroht“ und „Kindern ein irritierendes Bild von Familie und Sexualität“ (Barbara Rosenkranz) vermittelt.

ALTBEKANNTE MUSTER. In der Diskreditierung derartiger pädagogischer Ansätze bedienen sich Rechtsextreme bekannter Methoden, die von selektiven Darstellungen über die Umdeutung von Diskursen bis hin zur Verbreitung von Unwahrheiten reichen. So ist in einschlägigen Veröffentlichungen und Wortbeiträgen von „ideologischer Stimmungsmache“, „staatlicher Umerziehung“, „Indoktrination“, „Manipulation“ oder der „Trans- und Homosexualisierung“ der Kinder und Schulen zu lesen und zu hören.

Nicht selten inszenieren sich die selbsternannten Retter_innen der „Kernfamilien“ dabei als die eigentlichen Diskriminierten, da „Berufsschwule“ und „Genderbeauftragte“, so die beinahe wahnhaften Vorstellungen, bis in die Klassenzimmer die Erziehung ihrer Kinder bestimmen könnten, während die Rechte der Eltern ausgehebelt würden. Der Diskurs fixiere sich zudem zu stark auf „Diskriminierungen, die in der sexuellen Identität begründet sind“, wohingegen andere Benachteiligungen außer Acht gelassen würden. So wird „Frühsexualisierung“ von der Auflösung der Familie bis hin zum Niedergang des Bildungssystems und des (deutschen) Volkes für so ziemlich alles verantwortlich gemacht. Wenig verwunderlich auch, dass in antifeministischer Manier Vaterlosigkeit als schwerwiegenderes Problem in Stellung gebracht und in weiterer Folge bejammert wird, dass (frauenfeindliche) Väterrechtsorganisationen nicht in gleicher Weise an Schulen dürften wie Sexualpädagog_innen. Umschreibungen wie „unnatürlich“, „pervers“ oder gar „pädophil“ zielen zudem nicht nur darauf ab, Homosexualität damit in Verbindung zu bringen, sondern alles von Heterosexualität Abweichende zu stigmatisieren.

BESORGTE ELTERN. Inszenierte Angst- und Bedrohungsszenarien ermöglichen es der extremen Rechten, ihre Positionen als notwendige, legitime Kritik in öffentlichen und medialen Debatten zu präsentieren. Durch die ohnehin tiefe Verankerung derartiger Denkmuster in der Mitte der Gesellschaft, gelingt es ihnen zudem, ihre antifeministische und homophobe Agenda als mainstreamfähig darzustellen.

Die Hartnäckigkeit, mit der Rechtsextreme hierzulande versuchen, sexualpädagogische Debatten zu beeinflussen, zeigte sich zuletzt auch an Hand einer auf progress-online.at erschienenen Rezension zweier Kinderbücher, „die darauf verzichten, die Mär von Zweigeschlechtlichkeit und Vater- Mutter-Kind-Familien zu zementieren“. Grund genug für manche sowohl auf Facebook wie auch der rechtsextremen, von Martin Graf gegründeten, Internetplattform unzensuriert.at heiß zu laufen und mit biologistischen Argumenten die heterosexuelle Kleinfamilie als einzige zur Reproduktion fähige, „natürliche“ Instanz zu verteidigen.

Der Grund für das unglaubliche Mobilisierungspotential derartiger Diskurse kann vor allem darin gefunden werden, dass durch Sexualerziehung im frühen Kindesalter tatsächlich die Möglichkeit besteht, sexistischen, homo- und transfeindlichen Denkmustern präventiv vorzubeugen. In Aufruhr scheinen Rechtsextreme und ihre Verbündeten jedoch vor allem deswegen zu sein, weil durch derartige Bestrebungen nicht nur dichotome Geschlechtervorstellungen ins Wanken geraten, sondern auch die traditionelle heteronormative, bürgerliche Kleinfamilie. Die Familie wird als „Keimzelle, Rückgrat und Leistungsträger“ der Gesellschaft dagegen in Stellung gebracht, um vermeintlich natürliche Geschlechterordnungen und die damit verbundenen Privilegien aufrechtzuerhalten und abzusichern. Das vermeintliche Wohl der Kinder wird für die eigenen Interessen instrumentalisiert.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at).

Female to… WHAT THE FUCK?!?

  • 12.06.2015, 20:46

Dieser Tage findet in Wien das queere Filmfestival identities statt. An zehn Tagen – noch bis zum 21. Juni – werden im Gartenbaukino, Top Kino und im Filmcasino internationale Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilme zu unterschiedlichen Themenbereichen des queeren Spektrums gezeigt.

Dieser Tage findet in Wien das queere Filmfestival identities statt. An zehn Tagen – noch bis zum 21. Juni – werden im Gartenbaukino, Top Kino und im Filmcasino internationale Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilme zu unterschiedlichen Themenbereichen des queeren Spektrums gezeigt.

Zwischen 1994 und 2015 fand das identities in Wien sechs Mal statt. Jedes Mal wurde es größer: mehr Filme, mehr Publikum, mehr Preise. Heuer wird erneut der beste Lang- sowie Kurzfilme prämiert, zusätzlich hat das Publikum die Chance, einen eigenen Preis zu vergeben. Auch das Rahmenprogramm bietet viel Abwechslung. Neben der obligatorischen Eröffnungsparty gibt es Gespräche mit den Filmschaffenden vor und hinter der Kamera, Partys und eine Familienjause mit Kakao und Krapfen.

Nach der Veröffentlichung des Programms gab es Widerstand. Nick Prokesch thematisierte in seinem offenen Brief an die Festivalleitung die mangelnde Repräsentation von Trans*Personen und queer people of color. Stattdessen wird ein Film wie „Dallas Buyers Club“ gezeigt, der von Hass auf so gut wie alle Mitglieder der LGBTQIA-Community nur so strotzt. Dabei hieß die erste Ausgabe des identities Festivals „trans-X. Eine filmische Identity Tour“ und trug somit das Thema Trans*identitäten  sogar im Titel. Ein weiterer Brief mit Kritik, vor allem betreffend der eurozentristischen und kolonialen Perspektiven, die das Festivals reproduziert, kursiert in den Sozialen Medien.

Nick Prokesch ist Protagonist von „FtWTF“, ein ebenfalls am identities gezeigter Dokumentarfilm, der verschiedene Trans*biografien zeigt und jenseits gewohnter Klischees von „falschen Körpern“, Operationenflut und Opferperspektive agiert. Hier gibt es Raum für nichtbinäre Identitäten, das Ausloten von lebbaren Männlichkeiten und entstehende Reibungsflächen innerhalb queer-feministischer Communities.

Der Film feiert Premiere am 18. Juni (ausverkauft) und wird am 21. Juni erneut aufgeführt.

Wir haben die zwei Regisseurinnen Cordula Thym und Katharina Lampert zu einem Gespräch getroffen.

progress: Könnt ihr kurz was zu eurer Motivation sagen, FtWTF zu machen?

Unseren letzten Film haben wir über lesbisches Leben im Wien der 50er und 60er Jahre gemacht – und sehr viel Zeit mit Recherchieren und der Suche nach Protagonistinnen verbracht.

Während wir den Film gemacht haben, wurde Trans*(männlichkeit) ein immer wichtigeres Thema in Wien – sowohl in unserem persönlichen Umfeld als auch politisch.

Daraus und auch aus dem Bedürfnis mit Leuten, die wir schon länger kennen und nicht erst suchen müssen zusammenzuarbeiten, ist die Idee für diesen Film entstanden. Wir haben auch versucht mit dem Film dem schon oft erzählten Narrativ: „Mensch im falschen Körper geboren – schmerzhaftes Coming Out – geschlechtsangleichende Operationen  - Ende“ andere Geschichten entgegenzusetzen. Und auch die Auseinandersetzung mit Männlichkeiten in der queeren Szene war ein großes Thema.

Gibt es spezielle Schwierigkeiten oder Vorzüge von Österreichischen Gesetzen, wenn es um Trans*Personen geht?

2009 ist der Paragraph zur Zwangssterilisation und die „geschlechtsangleichenden“ Operationen von Trans*Personen gekippt worden. Vorher war dies notwendig, um den Personenstand zu ändern. Damit ist Österreich eines von elf Ländern in Europa, wo das möglich ist. Allerdings müssen Trans*Personen immer noch eine vorgeschriebene Anzahl an Psychotherapiestunden absolvieren, dem äußeren Erscheinungsbild dieses Geschlechtes entsprechen bzw. sich ihm annähern und beweisen dass sie für immer im angestrebten Geschlecht leben wollen, wofür ein psychiatrisches Gutachten notwendig ist.

Gab es beim Dreh einen Moment, der euch hinter der Kamera besonders berührt hat?

Da gab es natürlich viele Momente. Eigentlich ist jedes Interview ein sehr intensives und persönliches Erlebnis. Wir kannten unsere Protagonist*innen zum Großteil zwar schon länger, aber in so einem Interview stellt mensch dann doch auf einmal Fragen, die in einem normalen Alltagsgespräch so nicht gestellt werden würden. Das war sehr spannend.

Hat es euch überrascht, dass die erste Vorstellung so schnell ausverkauft war?

Es hat uns jedenfalls sehr gefreut! Natürlich sind viele von den Karten auch an die Protagonist*innen und das Team gegangen – bei so einem Film sind ja immer sehr viele Leute beteiligt und da die Premiere schönerweise in Wien stattfindet, können die auch alle kommen.

Wie geht es mit dem Film nach dem identities weiter? Gibt es schon einen Kinostart für Österreich oder andere Festivaltermine?

Wir hoffen dass der Film international auf vielen Festivals laufen wird, für Österreich müssen wir noch einen Verleih finden, der ihn ins Kino bringt.

Gibt es im etwas, das ihr gerne im Film festgehalten oder thematisiert hättet, aber nicht konntet?

Ein Dokumentarfilm zeigt natürlich auch immer nur einen kleinen Ausschnitt der Realität. Wir haben uns bemüht die unterschiedlichen Geschichten gut zu erzählen und wir hoffen, dass wir eine ausgewogene Balance gefunden haben.  Es ging uns auch nicht darum abgeschlossene Geschichten zu erzählen. Wir haben aber bewusst gewisse Themen, zum Beispiel. medizinische Detailaspekte weggelassen. Das wäre dann ein anderer Film.


„FtWTF“
Regie: Cordula Thym und Katharina Lampert
Mit: Nick Prokesch, Dorian Bonelli, Mani Tukano, Denice Bourbon, Gin Müller, Persson Perry Baumgartinger, Hans Scheirl u.v.a.
85 Minuten
Premiere: 18.6.

 

Katja Krüger ist Unternehmerin und mastert derzeit die gender studies.

 

Arbeit! Wohnraum! Community! Wie LGBTI-Flüchtlinge menschenwürdiger leben könnten

  • 31.03.2015, 12:29

Der Mord an der Trans*frau Hande Öncü zeigte ein weiteres Mal auf, was verschiedene Vereine schon lange problematisieren: LGBTI-Flüchtlinge finden sich in Österreich oft in einer prekären Situation wieder. Ein kurzer Abriss über die zentralsten Forderungen an Österreichs Asylpolitik.

Der Mord an der Trans*frau Hande Öncü zeigte ein weiteres Mal auf, was  verschiedene Vereine schon lange problematisieren: LGBTI-Flüchtlinge finden sich in Österreich oft in einer prekären Situation wieder. Ein kurzer Abriss über die zentralsten Forderungen an Österreichs Asylpolitik.

„Der Mord an Hande hätte verhindert werden können, würde die österreichische Politik und Justiz das Asylrecht achten“, so heißt es in einem Statement des Vereins „Asyl in Not“. Während sich Österreichs Medienlandschaft immer noch nicht sicher ist, wie sie Hande jetzt benennen soll und daher versucht sich mit Schlagwörtern wie „Sex-Mord“ oder gar „Sado-Maso-Toter [sic!]“ zu retten; schreien nicht nur die heimischen, sondern LGBTI-Vereine weltweit auf und verurteilen den Mord als weiteres Hate Crime, das eine menschenwürdigere Asylpolitik verhindern hätte können.

Hande Öncü, 35-jährige Trans*Frau, geboren in Samsun, aufgewachsen in Izmir, ist vor etwa eineinhalb Jahren aus der Türkei geflüchtet. Der Grund: mehrfache Diskriminierungen und Gewalterfahrungen, die ihr ein Leben als Trans*frau kaum ermöglichten. Die Hoffnung, dass sich dies in Österreich ändert, erwies sich als falsch. Anfang des Jahres wurde sie ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Hintergründe dieses Mordes aber auch etlicher weiterer tragischer Gewalttaten an LGBTI-Flüchtlingen  bleiben meist außen obwohl es einige Vereine gibt, die sich speziell für LGBTI-Flüchtlinge einsetzen, wird das Thema nach wie vor tabuisiert. Es finden sich kaum offizielle Zahlen, die sich damit auseinandersetzen; kaum Betroffene, die sich trauen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen; und vor allem keine politischen Bekenntnisse seitens der Bundesregierung etwas an der Situation zu ändern. Diesen Eindruck bestätigt auch die Politikwissenschafterin und Gründerin des Vereins MiGaY, Ewa Dziedzic: „Wenn man das politisch kommuniziert, wird dir gesagt, dass du dich mit Orchideenthemen auseinandersetzt, die ein paar Opfer betreffen.“ Das ist auch mit ein Grund, wieso sich sowohl die Medienberichterstattung als auch die Ermittlungen der Polizei kaum auf die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen fokussieren, welche transidente Flüchtlinge ausgrenzen und diskriminieren. Trotz dieser fehlenden Informationen sind sich viele politische Aktivist_innen einig: Die Probleme sind in der Asylpolitik zu finden, in den Flüchtlingsheimen, in der fehlenden Infrastruktur. Vor allem drei zentrale Forderungen werden in diesem Zusammenhang immer wieder laut:

GESICHERTER WOHNRAUM. Handes erste Anlaufstelle war – wie für viele andere Flüchtlinge in Österreich auch – das Flüchtlingslager Traiskirchen. Ein Ort, den viele mit Negativerfahrungen in Verbindung bringen. Eine Kritik, die selten auftaucht, ist jene der sexuellen und diskriminierenden Gewalterfahrungen, welche LGBTI-Personen und Frauen in diesem Umfeld erfahren: Was es hier braucht, sind Alternativen, so Ewa Dziedzic: „Wenn Flüchtlinge nach Österreich kommen und es klar ist, dass der Fluchtgrund ihre sexuelle Identität ist, muss sicher gestellt werden, dass diese Personen nicht in einem Flüchtlingsheim  mit vielen anderen Flüchtlingen, die womöglich homophob oder transphob sind, landen und die Betroffenen so nochmals retraumatisierend dieser Ausgrenzung ausgesetzt sind.“ Die Forderung: Gesicherter Wohnraum, zum Beispiel in Form von Wohngemeinschaften. Dafür braucht es Geld. Doch solange das Problem tabuisiert wird, fehlt auch das dringend notwendige Budget.

UNTERSTÜTZENDE BERATUNG. Ein diskriminierendes Umfeld findet sich natürlich nicht nur in Flüchtlingsheimen, auch von Seiten der Asylbehörden sowie von ungeschulten Berater_innen kann Homophobie und Transphobie ausgehen. Die aktuell diskutierte Einführung eines Schnell-Asylverfahren, welches auch die Beratungstätigkeit in den Asylbehörden selber verankert sehen möchte, anstatt sie – wie bisher – an unabhängige Beratungsstellen auszulagern, würde diese Probleme verschärfen. Zudem kommen Flüchtlinge oft in entlegenen Orten unter, in der eine beratende und unterstützende Infrastruktur für LGBTI-Flüchtlinge vollends fehlt. Auch Ewa Dziedzic betont die Wichtigkeit einer Eingliederung in die LGBTI-Community: „Es ist das Beste, was Menschen passieren kann, dass sie sich irgendwo aufgefangen fühlen und ihre Erfahrungen mit Menschen teilen können, die eine größere Sensibilität haben als Behörden oder die eigene Herkunfts-Community in Österreich.“ Hande hat diesen Sprung in Wien geschafft, doch die Rahmenbedingungen, die sie ausreichend schützen hätten konnten, fehlten.  

LEGALE ARBEIT. „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit“, so heißt es im Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auf Grund der diskriminierenden Erfahrungen in den zugeteilten Unterkünften entscheiden sich LGBTI-Flüchtlinge oft dafür den Weg alleine zu gehen. Sie flüchten erneut. Doch durch das Verlassen der Unterkünfte fallen Krankenversicherung und die finanzielle Unterstützung weg. Gleichzeitig gibt es keine Möglichkeit legal einer Arbeit nachzugehen. Hande verdiente ihren Lebensunterhalt daher durch Sexarbeit. Nicht nur für sie war dies eine enorm prekäre und von Gewalt sowie Diskriminierung geprägte Situation, die gleichzeitig im Widerspruch zu Artikel 23 steht. Der Zugang zu legaler Arbeit muss für alle in Österreich lebenden Menschen Gültigkeit besitzen.

Die Politik reagiert kaum auf die Probleme, mit denen LGBTI-Flüchtlinge zu kämpfen haben. Die Forderungen, die schon seit langem und nun erneut wieder von verschiedenen Vereinen an die Bundesregierung herangetragen werden, bleiben auch nach dem Mord von Hande ungehört.

 

Valentine Auer ist freiberufliche Journalistin und studiert Theater-, Film- und Medientheorie.

 

Asyl in Not: www.asyl-in-not.org

MiGaY: www.migay.at Facebook: https://www.facebook.com/migay.at

Nachruf der Solidaritätsgruppe für LGBTI AsylantInnen und MigrantInnen Têkoşîn: http://derstandard.at/2000011043534/Hande-die-ermordete-Frau-aus-Ottakring

Irgendwo dazwischen

  • 30.09.2012, 21:20

Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden.

Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden.

„Wann lässt du dich operieren?“ – „Nimmst du Hormone oder so?“ Diese Fragen werden Jolly (siehe Porträt, Anm.), Student_in der  Materialwissenschaften in Jena, häufig gestellt, wenn er_sie mit anderen Personen darüber spricht, dass er_sie trans* ist. Beim Thema Transgender haben die meisten eine Metamorphose von Frau zu Mann oder umgekehrt vor Augen. Trans* beziehungsweise Transgender ist aber ein Überbegriff, den einerseits Menschen verwenden, die sich auch mit Begriffen wie Transsexuelle, FTM (Female to Male) oder MTF (Male to Female) beschreiben und sich damit klar als Mann beziehungsweise Frau identifizieren. 

Andererseits gibt es viele Personen, die sich erst gar nicht in dieses Schema einpassen wollen, und für die eine geschlechtliche „Uneindeutigkeit“ Grundlage ihres trans*-Seins bedeutet. Die Frage, wo Transgender anfängt und aufhört, lässt sich somit nicht eindeutig beantworten. „Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit, nämlich Geschlechternormen teilweise abzulehnen und sich selbst nicht mit dem Geschlecht zu  identifizieren, das einem nach der Geburt zugeordnet wurde“, sagt Jolly.

Status Quo. In Österreich ist seit einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes aus dem Jahre 2009 der Operationszwang für  Trans*Personen gefallen. Das heißt, dass eine geschlechtsanpassende Operation für eine Personenstandsänderung, durch die das gelebte Geschlecht offiziell anerkannt wird, nicht mehr verpflichtend ist. Diese Änderung muss beim Standesamt des Geburtsortes  beantragt werden. Allerdings lässt der Gesetzestext noch immer Raum für Interpretationen, weshalb bezüglich  Personenstandsänderungen keine Rechtssicherheit besteht. Eine Ablehnung des Ansuchens liegt im Ermessen des oder der jeweiligen BeamtIn. Je nach Bundesland gibt es hier Unterschiede. „Es geht in Wien und in Salzburg relativ problemlos, in Kärnten und der Steiermark gibt es ziemliche Schwierigkeiten“, erklärt Andrea von TransX, einem Verein für Transgender-Personen.

Kranke Klassifikation. Eine weitere Hürde bei der Personenstandsänderung ist für viele Trans*Personen die Forderung nach einem psychiatrischen Gutachten, in dem explizit die Diagnose „Transidentität“ gestellt wird. Laut der WeltgesundheitsorganisationWHO sind Trans*Personen krank. Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden. Im Diagnosekatalog ICD (International Classificationof Disease) wird Transsexualität als eine „Persönlichkeits- und Verhaltensstörung“ geführt, wodurch Trans*Personen pathologisiert werden. „Viele Transgender-Personen finden es diskriminierend, dass sie die Krankheitswertigkeit nachweisen müssen. Wenn eine Transgender-Person den Personenstand dem anpassen will, was er_sie empfindet, und dann den ganzen Zinober machen muss, fühlt er_sie sich natürlich nicht gut“, sagt Angela Schwarz von der Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen. Die Pathologisierung garantiert im Moment jedoch, dass beispielsweise genitalanpassende Operationen von der Krankenkasse übernommen werden. „Die Sorge ist, dass, wenn die Einstufung als Krankheit weg ist, medizinische Systeme nicht mehr zahlen wollen“, sagt Schwarz.

Dabei gäbe es durchaus internationale Richtlinien für die Behandlung von Transgender-Personen – die sogenannten Standards Of Care – die von der WPATH, der internationalen Gesellschaft für Transgender Gesundheit, formuliert wurden. Doch anstatt diese anzuerkennen, wird in Österreich eine Kommission eingesetzt, die eigene Empfehlungen entwickelt.

Recht auf freie Namenswahl. Ein weiterer Missstand in Österreich ist, dass es derzeit nicht möglich ist, einen Vornamen zu wählen, der dem staatlich zugewiesenen Geschlecht widerspricht. Im Bundesgesetzblatt Nummer 195/1988 steht in Paragraph drei  geschrieben, dass die Änderung des Vornamens nicht bewilligt werden darf, wenn dieser „nicht dem Geschlecht des Antragsstellers entspricht“. Bisher können Menschen, die in einem anderen Geschlecht leben wollen als dem, das ihnen bei der Geburt zugewiesen worden ist, ihren Vornamen folglich erst dann offiziell tragen, wenn eine Personenstandsänderung bewilligt worden ist. Dafür brauchen sie aber jenes psychiatrische Gutachten, das ihnen eine psychische Störung bescheinigt. Damit werden Menschen für krank erklärt, obwohl diese weder den Wunsch noch Bedarf nach medizinischer Behandlung haben. „Das ist vor allem für die Personen eine Hürde, die gerade damit beginnen, im anderen Geschlecht zu leben“, sagt Heike Keusch vom Vorstand des Vereins TransX. Daher fordert TransX das Recht auf freie Namenswahl. Das heißt, dass die Geschlechtszugehörigkeit beim Namen nicht mehr zwingend sein soll. Bislang stelle sich die Politik in dieser Causa aber völlig quer.

Zwar können die Personen für sich selbst – etwa im Alltag – ihren Namen wechseln, aber bei offiziellen Angelegenheiten bleibt der unpassende Name bestehen. Eine Option für eine Namensänderung ist im Moment die Wahl eines geschlechtsneutralen Vornamens. Das kostet in etwa 500 Euro, die sich nicht jedeR leisten kann. Aus verschiedenen Gründen kann diese Gebühr erlassen werden. „Ein weiterer Grund für einen Erlass wäre für uns, dass eine Transgender- Person einen geschlechtsneutralen Vornamen haben will“, erklärt Schwarz.

Ähnliche Situation. In Deutschland ist eine Namensänderung nur nach einer einjährigen Psychotherapie und der Vorweisung von zwei verschiedenen Gutachten möglich. Ein Preis, den Jolly nicht bezahlen will, auch wenn er_sie gerne den im Pass eingetragenen Namen ändern möchte: „Wenn sich die Regelung nicht verbessert, dann würde ich lieber darauf verzichten und den schmalen Grat  dazwischen für mich selbst finden, als dieses Prozedere über mich ergehen zu lassen. Dabei geht’s für mich auch ums Prinzip und die Anerkennung, dass es so, wie es jetzt ist, gar nicht geht.“ Progressiver ist da Argentinien: Dort wurde vor kurzem ein  fortschrittliches Transgender-Gesetz  verabschiedet, mit dem eine Namensänderung und Geschlechtseintragung in Dokumenten nur mehr  einen Gang zum Amt braucht. Für Jolly ist das eine klare Lebensverbesserung. Trotzdem stellt er_sie klar: „Solange die gesellschaftliche Akzeptanz nicht da ist, sind alle gesetzlichen Regelungen nur halb so viel wert.“

Coming-Out. Laut Andrea haben sich die Reaktionen auf Coming-Outs im familiären Umfeld in den vergangenen Jahren verbessert, weil die Leute besser aufgeklärt seien: „Dass die Eltern und Verwandten in der Regel nicht glücklich sind, ist klar. Die ganz großen Katastrophen habe ich in den letzten Jahren aber nicht mehr erlebt.“ Dass es für Familienangehörige dennoch oft schwierig ist, mit der Situation umzugehen, hat auch Jackie erlebt. Er*sie schreibt in Wien derzeit an ihrer*seiner Masterarbeit
und ist in einer katholisch geprägten Familie aufgewachsen, die eine sehr konservative Vergangenheit hat: „Meine doch eher aufgeschlossene Mutter meinte, ich solle mit meiner Identität nicht hausieren gehen und dass meine Großeltern ‚das’ nichtverkraften würden. Und weil ich meine Mutter mag, hab ich das dann im Dorf nicht so rumerzählt, weil sie im Endeffekt diejenige ist, die dem Dorf dann ausgesetzt ist und nicht ich.“ „Die Leute fallen nicht mehr in Ohnmacht, wenn sie Transen sehen“, sagt Andrea, die bei TransX in der Beratung tätig ist und lacht.

Offene Diskriminierung würde es in unserer Gesellschaft kaum mehr geben – unterschwellig jedoch sehr wohl. Das bekommen viele Trans*Personen vor allem im Berufsleben zu spüren. „Ich habe in der Firma getransed und dann nicht mehr Fuß fassen können und  bin dann fünf Jahre lang herumgeschoben worden, bis ich aufgegeben habe“, erzählt Andrea. Rund 50 Prozent können laut Heike  Keusch ihren Job behalten. „Das geht aber oft mit viel Bauchweh und anderen Geschichten einher“, sagt sie. Laut Schwarz sind Bildung und Aufklärung in diesem Zusammenhang wesentliche Aufträge. Die Haltung „Ich verstehe nicht, warum dieser Mann plötzlich eine Frau sein will, und weil ich es nicht verstehe, kann ich darüber stänkern“ ist ihrer Meinung nach sehr wohl noch  verbreitet. Auch Jolly stößt auf der Uni des Öfteren auf diese Art von Unverständnis: „Das Problem beispielsweise bei meinen Kommiliton_innen ist, dass ich versucht habe, Gespräche zu führen und von ihnen keine Bereitschaft da war, auch nur ansatzweise darüber zu reden“, erzählt er_sie.

Verfolgung. Als großes Thema in Zusammenhang mit Transgender sehen Keusch und Andrea in Zukunft die Betreuung von Trans*Personen, die in Österreich um Asyl ansuchen, weil sie in ihrer Heimat aufgrund ihrer Transsexualität verfolgt werden. Ein bekannter Fall ist jener von Yasar Öztürk, die in der Türkei von der Polizei misshandelt wurde. Ihre Abschiebung konnte zwar verhindert werden, ein positiver Asylbescheid fehlt aber bis heute. „Dabei geht es nicht nur darum, dass diese Leute Asylstatus bekommen, sondern dass diese Leute, wenn sie in der Grundversorgung sind, in Wien leben können, da sie in Flüchtlingsheimen außerhalb ebenfalls mit Diskriminierung zu kämpfen haben“, erklärt Schwarz.

Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Viele Trans*Personen sehen sich nicht als strikt männlich oder weiblich, sondern bewegen sich in einem Feld dazwischen. „Zweigeschlechtlichkeit an sich ist kein großartiges Konzept“, sagt Jolly. „Für mich bedeutet Trans*, dass ich mich selbst nicht als eines der beiden von der Gesellschaft vorgegebenen Geschlechter definieren möchte.“ So von anderen Menschen wahrgenommen zu werden, gestalte sich aber auch als schwierig, weil die Möglichkeit, weder als „Frau“ noch als „Mann“ verstanden zu werden, in deren Köpfen gar nicht existiere. „Die Leute tun sich leichter, wenn sie andere in zwei Schachteln einordnen können. Wenn es in die Bandbreite der Identitäten geht, wird es schwierig“, sagt Schwarz. „Dass für manche die Zuordnung zu einem Geschlecht unerträglich ist, ist zu akzeptieren. Wie man das jetzt im Detail umsetzen kann, weiß ich aber  nicht“, fährt sie fort. Die kritische Frage, in welchen offiziellen Papieren das Geschlecht überhaupt aufscheinen muss, stellt Schwarz ebenso wie Jolly.

Dennoch hält Schwarz es für unwahrscheinlich, dass es im westeuropäischen Rechtssystem etwas anderes als Mann und Frau geben  wird. „Geschlechtsidentitäten völlig auszuheben, wäre ein bisschen wie das Kind mit dem Bade auszuschütten, weil es im  negativen Sinne Diskriminierung auf Basis des Geschlechts gibt. Diese wäre dann nicht mehr feststellbar. Außerdem ist Geschlecht für viele schon auch ein Teil der Identität. Es wäre nicht in Ordnung, das als null und nichtig wegzuwischen.“ Abseits der  Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung, freier Personenstandsänderung und freier Wahl des Vornamens geht es bei der  Verbesserung der Lebensrealitäten von Trans*Personen auch um eine gesellschaftliche Veränderung. Die Geschlechtsidentitäten von  Personen als ihre eigene Wahl zu akzeptieren und anzuerkennen, sei dabei der erste Schritt, meint auch Jolly: „Das Wichtigste ist, dass sich Leute darauf einlassen können. Dass sie Identitäten auch mal akzeptieren, auch wenn sie diese gerade nicht  nachvollziehen können. Dass sie beispielsweise gewünschte Pronomen verwenden und versuchen, den anderen Namen zu verwenden und darin zu denken.“

* Die Verwendung von Personalpronomen in unterschiedlichen Schreibweisen entspricht den Selbstbezeichnungen der Interviewten.

Info: Jeden zweiten und vierten Donnerstag wird von 20:00 bis 22:00 Uhr von TransX persönliche Beratung in der Rosa Lila Villa angeboten. Nähere Informationen gibt es unter www.transx.at.