Pädagogik

Neues Lehramt

  • 23.02.2017, 17:36
Seit nunmehr einem Semester ist das Sekundarstufenstudium in Österreich flächendeckend im Rahmen von „Pädagog_innenbildung NEU“ (PBN) reformiert. Mythen und Unsicherheiten sind nach wie vor vorhanden.

Seit nunmehr einem Semester ist das Sekundarstufenstudium in Österreich flächendeckend im Rahmen von „Pädagog_innenbildung NEU“ (PBN) reformiert. Mythen und Unsicherheiten sind nach wie vor vorhanden.

Bisher wurden Lehrer_innen je nach Schultyp an verschiedenen Institutionen ausgebildet. Wer beispielsweise an einer Neuen Mittelschule (NMS) unterrichten wollte, studierte davor an einer Pädagogischen Hochschule (PH). Ein Lehramtsstudium an einer Universität qualifizierte zu AHS- und BHSLehrer_ in. Die PBN schreibt nun für alle Sekundarstufenlehrer_innen eine gemeinsame, einheitliche Ausbildung vor. Nach Abschluss des Studiums kann in sämtlichen Schultypen der Sekundarstufe (10-18 jährige Schüler_innen) unterrichtet werden. Die Ausbildung für Volksschullehrer_innen wurde im Bachelor um zwei Semester verlängert und benötigt nunmehr zusätzlich einen mindestens einjährigen Master. Im Zuge der PBN wurde weiters die Ausbildung der Sonderpädagog_innen reformiert. Der Mythos vom Ende der Sonderpädagogik ist jedoch falsch. Sonderpädagogik kann zwar nicht mehr als „eigenständiger Studiengang“ absolviert werden. Nun aber kann das Fach „Inklusive Pädagogik“ entweder als Schwerpunkt im Primarstufenstudium (vormals Volksschulstudium) oder als quasi Zweitfach im Sekundarstufenstudium gewählt werden. Inklusion wurde mit PBN als Prinzip in sämtlichen Curricula verankert. Wertschätzung und Anerkennung von Diversität sind grundlegende Gedanken dahinter. Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention spricht von Inklusiver Bildung und meint damit „ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen“. „Ich sehe es als Vorteil, dass sich alle angehenden Pädagog_innen mit Unterricht von Schüler_innen mit verschiedenen Bedürfnissen auseinandersetzen und auf Individualisierung und Differenzierung vorbereitet werden. Alle Studierenden, die sich für eine Spezialisierung in diesem Bereich interessieren, werden nach dem Abschluss des Studiums für die Begleitung von Schüler_ innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in inklusiven Settings und an Sonderschulen – wie die früheren Sonderpädagog_innen – eingesetzt werden“, meint die Vizerektorin der Pädagogischen Hochschule Oberösterreichs Katharina Soukup-Altrichter. Bereits 2003 drückte ein OECD-Bericht die Notwendigkeit von Diversitätsmanagement aus: „Die Aufgaben und Anforderungen an die Rolle des Lehrers haben sich verändert, österreichische Lehrer sind sehr wissensorientiert, aber oftmals nicht gut vorbereitet auf die Verschiedenheit ihrer Schülerinnen und Schüler und deren Bedürfnisse.“

KOOPERATION UND VERBUND. PHs und Universitäten müssen für das Sekundarstufenstudium kooperieren und gemeinsame Studienpläne anbieten. In sogenannten „Verbünden“ oder „Clusterregionen“, zu denen sich verschiedene Universitäten und PHs zusammengeschlossen haben, wird dies praktisch realisiert. Mittlerweile gibt es vier solcher Verbünde: Nord- Ost (der Zusammenschluss von PHs und Unis in Wien und Niederösterreich), Süd-Ost (Kärnten, Burgenland und Steiermark), Mitte (Oberösterreich und Salzburg) und West (Tirol und Vorarlberg). Die Verbünde haben jeweils Studienpläne für alle Lehramtsstudierenden in der jeweiligen Region ausgearbeitet. Das Ergebnis: vier verschiedene Curricula für Lehramtstudierende der Sekundarstufe.

OPTIMISMUS. „Mit PBN wird ein weiterer wichtiger Meilenstein in der österreichischen Bildungspolitik gesetzt“, heißt es dazu aus dem Bildungsministerium. „Die hochwertige Ausbildung der pädagogischen Berufe auf tertiärem Niveau und die mehrstufigen Eignungs- und Aufnahmeverfahren führen zu Qualitätssicherung und letztlich Gleichwertigkeit der pädagogischen Berufe.“ Durch das neue Lehramt sollen in Zukunft die geeignetsten Studierenden ausgewählt werden, eine einheitliche Ausbildung erhalten und nach dem Studium alle Schüler_innen einer gewissen Altersgruppe, egal in welchem Schultyp, unterrichten können. Soweit jedenfalls die Theorie. Denn die betroffenen PHs, Universitäten und Studierendenvertreter_ innen sehen die neuen Lehramtsstudien weit weniger optimistisch als das Bildungsministerium. Sie kritisieren Mängel in der Entstehung und in der Umsetzung der Reform. „Einer unserer Hauptkritikpunkte ist, dass man sich viel zu lange Zeit für die Umsetzung gelassen hat, zum Beispiel beim Erstellen der neuen Curricula, insbesondere im Verbund Nord-Ost. Und das, obwohl schon lange klar war, dass die Pädagog_innenbildung NEU kommt“, kritisiert etwa Magdalena Goldinger von der ÖH-Bundesvertreung im Gespräch mit progress. „Man hat das einfach auf die lange Bank geschoben, und dann musste alles plötzlich schnell gehen.“ Dadurch wären Curricula zu spät ausgearbeitet worden und für die betroffenen Studienanfänger_innen sei es schwierig abzuschätzen, wie ihr Studium verlaufen wird. Weiters gibt es eine Reihe inhaltlicher Kritikpunkte und Unklarheiten.

Offen ist bis jetzt die grundsätzliche Frage, wo genau angehende Lehrer_ innen studieren werden. Denn die Universitäten und Hochschulen in den einzelnen Verbünden sind teilweise weit voneinander entfernt. Wie die Kooperation der verschiedenen Standorte dabei im Detail aussehen wird, ist von Verbund zu Verbund verschieden. Bisher garantiert nur der Verbund Süd-Ost, also die Steiermark, Kärnten und das Burgenland, dass ein Lehramtsstudium an einem einzigen Standort möglich sein wird. In den anderen Verbünden müssen Lehramtsstudierende möglicherweise zwischen verschiedenen Standorten pendeln. Ein genauer Studienort wird kaum mehr zuordenbar. Mobilität und Verkehrsanbindung werden bei mehreren hundert Kilometern Standortunterschied zur wesentlichen Voraussetzung für das Lehramtsstudium. Dies ist nicht zuletzt durch die Fahrtkosten, die momentan damit verbunden wären, eine kaum überwindbare Hürde für viele Studierende. Damit drängt sich die Notwendigkeit einer praktikablen Fahrtförderung auf, wie sie beispielsweise von der ÖH mit dem österreichweiten Studierendenticket (siehe Seite 8) gefordert wird.

Ein Punkt, an dem sich die Geister zwischen PHs und Unis scheiden, ist der Anteil der Praxisstunden im neuen Curriculum. Lehramtsstudierende an Universitäten werden im neuen Curriculum während des Studiums deutlich mehr Praxisanteil haben als bisher. An den PHs reduziert sich der Anteil der Praxis im Bachelorstudium allerdings. „Im Vergleich zu den bisherigen 30 ECTS-Punkte Schüler- Kontakt im NMSStudium kann diese Neuerung schwer als Verbesserung bezeichnet werden“, kritisiert daher Dominik Weinlich von der Studierendenvertretung der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/ Krems, die nun mit der Universität Wien im Verbund Nord-Ost zusammenarbeitet. Nicht ganz so dramatisch wird diese Entwicklung von der Vizerektorin Soukup-Altrichter gesehen: „Es gibt viele Vorteile im neuen Sekundarstufenstudium. Die Kooperation zwischen PHs und Unis kann eine Akademisierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Professions- und Praxisnähe bieten. Wir werden auch weiterhin bereits im ersten Semester Erfahrungsmöglichkeiten im Praxisfeld Schule bieten.“ Dass auf die Kooperationspartner jedoch auch weiterhin Herausforderungen warten, zeichnet sich ab. Seit jeher unterrichten an PHs besonders viele „Praktiker_innen“. Vielfach sind es hier langjährige Lehrer_ innen, die Lehrveranstaltungen zu Didaktik halten. Sie können aus ihren Erfahrungen in der Schule schöpfen. Dieser Praxisbezug geht eventuell verloren, wenn auch bei Lehrenden die formellen Abschlüsse immer mehr gewertet werden. So war insbesondere der Lehrendenpool (welche ProfessorInnen welche Lehrveranstaltungen halten dürfen) ein großes Thema bei den Verhandlungen.

UMSETZUNG HAKT. Grundsätzlich ist die einheitliche Ausbildung von Lehrer_ innen eine gute Idee. In dem Punkt sind sich Studierendenvertreter_ innen durchaus mit dem Bildungsministerium einig, nur die Umsetzung wird kritisiert. „Dafür müsste es eigentlich eine Auflösung der verschiedenen Hochschulsektoren geben. Die Lehrer_innenbildung müsste in einer einzigen School of Education zusammengefasst werden“, schlägt Goldinger vor. Wenn alle Lehrer_innen denselben Studienplan durchlaufen, macht die Einteilung in Universitäten und PHs ja keinen Sinn. In so einem Gesamtkonzept müsste dann auch die Ausbildung von Elementarpädagog_innen enthalten sein, so Goldinger. Das ist allerdings Zukunftsmusik. Wie sich Studienanfänger_innen im aktuell eingeführten System zurechtfinden, ist noch schwer abzuschätzen. Die Inskriptionszahlen haben sich im Vergleich zu früheren Jahren kaum verändert. Die PBN dürfte für Studienanfänger_innen also weder besonders anziehend noch abschreckend wirken. Die Beratungsstellen der ÖH an Pädagogischen Hochschulen verzeichnen allerdings vermehrte Anfragen von Studieninteressierten, die wissen wollen, ob es tatsächlich nicht mehr möglich sei, sich nur für das NMS-Studium zu inskribieren. „Möglicherweise sind sich die Studienanfänger_innen des neuen Systems noch nicht bewusst“, sagt Goldinger. Für ein Fazit sei es dennoch viel zu früh, meint sie, die selbst an einer PH Lehramt studiert: „Wie die PBN dann tatsächlich funktioniert, sehen wir erst später an den Drop-out- Raten, also daran, wie viele derer, die sich jetzt für Lehramt inskribieren, das Studium tatsächlich abschließen.“ Studienanfänger_ innen rät sie, den jeweiligen Hochschulen und Studierendenvertretungen aktiv Feedback zu geben und darauf hinzuweisen, wenn es in einem bestimmten Bereich Probleme gibt. „Wir können noch gar nicht sagen, wie das alles genau funktionieren wird, also können wir auch keine Tipps geben. Die meisten Hochschulen sagen: Wir sind einmal gestartet, die Umsetzung ist jetzt ein laufender Prozess und dafür müssen wir versuchen, Feedback einzuholen.“ Fraglich ist die Art und Weise, wie das Schul- beziehungsweise Bildungssystem als Ganzes in dieser Reform mitbedacht wurde. Und ebenso ungelöst ist, wie die geforderte gesellschaftliche Aufwertung der Lehrer_innen passieren soll.

Magdalena Liedl studiert Zeitgeschichte an der Universität Wien.
Katharina Harrer studiert politische Bildung an der Johannes Kepler Universität in Linz.

Die ,,Volksgemeinschaft‘‘ bröckelt

  • 05.12.2015, 18:25
Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ versucht theoretische Überlegungen zum Zusammenspiel von Neonazismus, Pädagogik und Geschlecht mit pädagogischen Praxen in Beziehung zu setzen.

Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ versucht theoretische Überlegungen zum Zusammenspiel von Neonazismus, Pädagogik und Geschlecht mit pädagogischen Praxen in Beziehung zu setzen. Mitherausgeber Andreas Hechler spricht mit Judith Goetz über rechte Wortergreifungen gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und den fehlenden Blick auf Opferperspektiven und Alternativen.

progress: Ihr schreibt in eurem Buch, dass „Neonazismus nur mit ganz bestimmten Männlichkeiten und Weiblichkeiten“ funktioniert. Was ist damit gemeint?
Andreas Hechler: N(eon)azistische Männlichkeiten und Weiblichkeiten sind exklusiv; sie sind idealtypisch weiß, (seit vielen Generationen) deutsch, christlich oder verwurzelt in der germanisch- nordischen Mythologie, gesund, heterosexuell etc. Was also de facto hyperprivilegiert und nur auf eine kleine Minderheit überhaupt zutreffen kann, ist nach neonazistischer Lesart „normal“.

Darüber hinaus stehen diese Konstruktionen im Dienst einer größeren Sache. Hier greift unter anderem eine vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, die Frauen und Männern innerhalb der „Volksgemeinschaft“ klar definierte Aufgaben und Orte zuteilt. Zu all dem gesellen sich autoritäre und diktatorische Züge, sowohl als strategisches Element zum Erreichen der politischen Ziele als auch ganz prinzipiell in der Vision, wie Gesellschaft organisiert sein soll. Das Zusammenspiel der genannten gesellschaftlichen Positionierungen, Verhaltensweisen und Einstellungsmuster produziert ganz bestimmte Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Anders formuliert: Es werden all diejenigen ausgeschlossen, die davon abweichen.

Stärker denn je machen sich Rechte gegen vermeintliche „Frühsexualisierung“ stark. Warum ist sie bedrohlich für den Rechtsextremismus und was kann eine Sexualerziehung im frühen Kindesalter zu einer geschlechterreflektierten Pädagogik gegen Rechts beisteuern?
„Frühsexualisierung“ ist ein schillernder Kampfbegriff, der nicht näher definiert wird. Eine altersangemessene Sexualerziehung trägt ganz maßgeblich dazu bei, Kinder in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zu unterstützen und zu einer selbstbestimmten, verantwortlichen und gewaltfreien Sexualität zu befähigen. In dieser Hinsicht wirkt Sexualerziehung gegen Scham bzw. Beschämung, für Kinderrechte und für die freie Entscheidung, wen Menschen lieben wollen und mit wem und wie sie Sex haben möchten. Dagegen läuft das rechte Spektrum Sturm, mit den immer gleichen „Argumenten“ einer angeblich „natürlichen Scham“ und des „Elternrechts“. Zudem stören sie sich ganz maßgeblich daran, dass Kinder sich frei entwickeln können sollen, da das eben auch die Möglichkeit beinhaltet, schwul, lesbisch, bi-/pansexuell, queer, trans*geschlechtlich, nicht-binär, nicht-verheiratet, polyamourös oder was auch immer zu leben oder auch abzutreiben. Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als Möglichkeiten gleichberechtigt neben viele andere zu stellen, ist ein fundamentaler Angriff auf ein Verständnis, das Sexualität als „natürlich“ fasst und es darüber hinaus auf Fortpflanzung (der „Volksgemeinschaft“) verengt. Der Wunsch nach Klarheit und Eindeutigkeit löst sich durch das Offenlassen von allen geschlechtlichen und sexuellen Möglichkeiten im Nichts auf – die „Volksgemeinschaft“ beginnt zu bröckeln. Ein Beitrag behandelt die Modernisierung homofeindlicher Argumentationen. Was hat sich in aktuellen rechten Debatten gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt geändert? Der angesprochene Artikel argumentiert, dass Homosexualität nicht mehr als Akt „wider die Natur“ diffamiert und die Existenz der anderen (homosexuellen usw.) Kulturen toleriert wird, solange keine „unethischen“ Vermischungen stattfinden – etwa in dem Sinne, dass Heterosexuelle mit Homosexualität „angesteckt“ werden könnten. Gesellschaftlich marginalisierten Gruppen wird so zwar offiziell eine Daseinsberechtigung zugesprochen, jedoch nur dann, wenn sie sich in die etablierte „Kultur“ integrieren, inklusive dem faktischen Verbot, ihre Interessen auch wirksam auszudrücken.

In Anlehnung an die analytischen Perspektiven eines „Postfeminismus“ können wir vielleicht für bestimmte Spektren von einer „Post-Homofeindlichkeit“ sprechen. Diese bejaht Gleichstellung, hält sie aber für erreicht und warnt vor einer angeblichen Umkehrung ins Gegenteil. Diese gesellschaftlichen Akteur_innen kämpfen gegen ihren Macht- und Privilegienverlust.

Ihr betont, dass sich insbesondere die Sozialpädagogik bis heute an einer verengten Vorstellung deklassierter (männlicher) Jugendlicher orientiert. Welche Probleme ergeben sich durch die Vernachlässigung der Erwachsenen in geschlechterreflektierten pädagogischen Auseinandersetzungen mit Neonazismus?
Die Verengung betrifft nicht nur die Sozialpädagogik, sondern auch mediale Diskurse, institutionelles Handeln etc. Große Teile der Gesellschaft bleiben durch die Projektion des Neonazis als „jungmännlichdeklassiertgewalttätigausm Osten“ unberücksichtigt. Dabei weisen gegenwärtig europaweit Menschen ab dem sechzigsten Lebensjahr – und nicht etwa Jugendliche – die höchsten Zustimmungswerte zu neonazistischen Einstellungsmustern auf. Somit wird die zurzeit zahlenmäßig größte problematische Gruppe von vornherein aus dem Aufmerksamkeitsfeld ausgeblendet.

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Kinder in aller Regel viel offener und weniger stereotypisierend als Erwachsene sind, wenn es um Geschlecht geht. Erwachsene geben Kindern und Jugendlichen – häufig unbewusst – ihre Vorstellungen von Geschlecht mit. Das trifft in besonderer Weise diejenigen, die sich nicht geschlechtskonform verhalten. Daher muss auch für Pädagog_innen eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen geschlechtlichen Sozialisation und daran gekoppelten Vorstellungen von Geschlecht gefördert werden.

Was ist eurer Meinung nach an täter_innenfokussierten Ansätzen in der Neonazismuspräventionsarbeit zu kritisieren?
In der Neonazismusprävention findet sich fast durchgehend ein Täter_innenfokus. Es ist zwar naheliegend, sich ,,den Neonazis“ – ihren Taten, Strukturen und Ideologien – zuzuwenden. Verloren gehen hingegen zwei andere Ebenen, die für eine Präventionsarbeit von großer Bedeutung sind: Einerseits fehlt der Blick auf Menschen, die von Neonazis real oder potenziell angegriffen werden, in täglicher Angst vor Bedrohungen leben und in ihrem Aktions- und Handlungsradius stark eingeschränkt sind. Wird ihre Perspektive nicht wahrgenommen, werden ihre Verletzungen unsichtbar gemacht mit der Folge, dass Diskriminierungen reproduziert und Gewöhnungseffekte in Kauf genommen werden. In einer solchen Neonazismusprävention ändert sich für die Diskriminierten überhaupt nichts. Ein erfolgreicher Kampf muss aber daran gemessen werden, ob sich real etwas für diskriminierte Gruppen verbessert hat. Andererseits fehlt der notwendige Blick auf Alternativen.

Wie könnten und sollten derartige Alternativen aussehen?
Hierzu gehört insbesondere die Stärkung nicht-neonazistischer, antifaschistischer, nicht- und antirassistischer sowie queerer Lebenswelten und Jugendkulturen. Auch das Einüben nicht-diskriminierender Verhaltensweisen, demokratischer Interessenvertretungen und Konfliktlösungsstrategien zählen dazu. Ohne diese bringt auch die beste Präventionsarbeit nichts. Neonazismusprävention ist kein Selbstzweck, sondern Teil eines gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses.

Zu einer erfolgreichen Neonazismusprävention gehören drei Ebenen und eine Fokusverschiebung: An erster Stelle stehen der Schutz, die Unterstützung und das Empowerment derjenigen, die von Neonazis real oder potenziell bedroht werden. An zweiter Stelle stehen der Aufbau und die Unterstützung von Alternativen zum Neonazismus. An dritter Stelle steht die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Neonazis und rechts orientierten Kindern und Jugendlichen.

Für die Pädagogik gilt es, für diese drei Ebenen zielgruppenspezifische Angebote bereitzustellen. Da die Arbeit mit Täter_innen sowohl der Schutzverpflichtung gegenüber Opfern und Diskriminierten als auch einer Stärkung von Alternativen zuwiderläuft, sollten nicht die selben Personen und Institutionen alle drei Ebenen gleichzeitig bespielen.

Pädagog_innen stecken in dem Dilemma, einerseits Ansprüche pädagogischer Unterstützung in der Arbeit mit rechtsaffinen Jugendlichen zu verfolgen und andererseits wirkungsvolle Arbeit gegen rechtsextreme Orientierungen zu leisten. Wie könnte das gelöst werden?
Ich finde, dass Michaela Köttig in ihrem Buchbeitrag auf der Grundlage ihrer eigenen pädagogischen Arbeit in einer rechten Mädchenclique viele wertvolle Impulse liefert. Das Dilemma lässt sich meines Erachtens nicht auflösen, aber es können Rahmenbedingungen für einen guten Umgang geschaffen werden. Dazu gehören unter anderem ein guter Personalschlüssel, zeitlich fest eingeplante und bezahlte Reflexionsräume (Reflexion, Intervision, fachkundige Supervision), realistisch erfüllbare Anforderungen, finanzielle und räumliche Ressourcen, eine Ausbildung, in der die kritische Auseinandersetzung mit Geschlecht und Neonazismus Teil des Curriculums ist, regelmäßige Fort- und Weiterbildungen, die Möglichkeit, bei Bedarf Hilfe von außen zu holen und angemessene Erholungszeiten.

Eine geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts kann derzeit nicht gut gemacht werden, wenn Ressourcen dafür schlicht nicht vorhanden sind. Das hat nichts mit persönlichem Scheitern zu tun; die Haltung mag noch so toll, das Wissen um Geschlecht und Neonazismus noch so profund, die Methodik ausgefeilt sein – wenn man* drei Jugendclubs parallel als einzige_r Sozialarbeiter_in betreuen muss, wie es in mehreren Bundesländern der Fall ist, wird all das nicht viel helfen. Es braucht bessere Arbeitsbedingungen für eine erfolgreiche Arbeit.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

Alles neu im Lehramt?

  • 21.03.2014, 12:33

Rund vier Stunden mehr pro Woche in der Klasse, weniger Geld, Berufseinstieg schon nach dem Bachelor – die Regierung hält das neue LehrerInnendienstrecht für einen Geniestreich, die Gewerkschaft ist sauer. Passend dazu wird auch die Ausbildung für angehende LehrerInnen komplett neu konzipiert. Was bedeutet das alles konkret für Lehramtsstudierende?

Rund vier Stunden mehr pro Woche in der Klasse, weniger Geld, Berufseinstieg schon nach dem Bachelor – die Regierung hält das neue LehrerInnendienstrecht für einen Geniestreich, die Gewerkschaft ist sauer. Passend dazu wird auch die Ausbildung für angehende LehrerInnen komplett neu konzipiert. Was bedeutet das alles konkret für Lehramtsstudierende?

Demonstrationen, ein scheinbar unendlicher Koalitionskrieg zwischen SPÖ und ÖVP, innerparteiliche Flügelkämpfe und ein zähes Ringen zwischen Gewerkschaft und Regierung prägten die insgesamt über ein Jahrzehnt dauernden Verhandlungen über das neue LehrerInnendienstrecht. Am 17. Dezember des vergangenen Jahres wurde das Gesetz dann im Parlament beschlossen. Ab dem Schuljahr 2019/20 tritt es voll in Kraft – bis dahin können neu in den Dienst eintretende LehrerInnen zwischen dem neuen und dem alten Dienstrecht wählen. Das neue Modell betrifft in erster Linie das Gehalt der LehrerInnen: Statt zweijährigen Gehaltssprüngen gibt es nun nur noch sieben Gehaltsstufen. Außerdem werden erstmals alle LehrerInnen gleich bezahlt, egal an welchem Schultyp sie unterrichten. Das Einstiegsgehalt der AHS- und BHS-LehrerInnen steigt dabei um rund 200 Euro, das der Volks-, Haupt- oder SonderschullehrerInnen um rund 400 Euro. In Bezug auf die Anzahl der Unterrichtsstunden bringt das neue Dienstrecht mit sich, dass LehrerInnen zwei bis vier Stunden pro Woche länger in der Klasse stehen müssen. Eine Zulage von bis zu 679 Euro pro Monat gibt es in allen Schultypen für Fächer, die mit einem höheren Vor- oder Nachbereitungsaufwand verbunden sind. Auch für Leitungs- oder Beratungsfunktionen sind zusätzliche Vergütungen vorgesehen.

Mehr Arbeit für weniger Geld. Kritik an dem neuen Dienstrecht übt unter anderem die Initiative für ein faires Dienstrecht für LehrerInnen (IFDL), eine unabhängige und überparteiliche Gruppe von JunglehrerInnen sowie LehramtsstudentInnen. Sie hat sich über soziale Netzwerke organisiert und tritt vehement gegen das neue Dienstrecht auf. Der IFDL ist vor allem die Ausweitung der Lehrverpflichtung ein Dorn im Auge: Sie würde sich vor allem in den Sprachfächern, aufgrund der hohen Vor- und Nachbereitungszeit potenzieren, so das Argument. PH-Studentin Anna Rauch schließt sich dieser Kritik an: „Vier Stunden mehr aktiv zu unterrichten, das fällt ins Gewicht. Da bleibt auf jeden Fall weniger Zeit für Vor- und Nachbereitung.“ Auch die individuelle Betreuung der SchülerInnen würde darunter leiden. Außerdem entsteht durch die erhöhte Arbeitszeit und die geringere Bezahlung auf lange Sicht eine erhebliche Gehaltseinbuße.

Des Weiteren bemängelt die IFDL, dass bei der Kalkulation der Arbeitszeit von LehrerInnen nur die reine Unterrichtszeit miteinbezogen wird. Auch Vor- und Nachbereitung, Gangaufsichten, Gespräche, Vertretungsstunden, Organisationsarbeit, Konferenzen, Fortbildungen (welche nunmehr außerhalb der Unterrichtszeit stattfinden müssen) etc. müssten berücksichtigt werden. Kritisiert wird auch die neue Regelung, dass LehrerInnen in Fächern eingesetzt werden können, für die sie nicht ausgebildet sind. Darf man als DeutschlehrerIn also künftig Physik unterrichten? Das Unterrichtsministerium erklärte in einem Telefonat: „Nein! Hier wurde die Bestimmung vom alten Gesetz übernommen. Dass LehrerInnen vermehrt fachfremd eingesetzt werden sollen, ist ein Gerücht, das sich hartnäckig hält.“ Wenn LehrerInnen länger als ein Semester ein Fach unterrichten sollen, für das sie nicht ausgebildet sind, bedarf dies laut dem neuen Dienstrecht ihrer Zustimmung, sonst kann das nur vorübergehend und „aus wichtigen dienstlichen Gründen“ passieren.

Anne-Sophie Zechmeister, die an der Uni Wien Lehramt Englisch und Deutsch studiert, fühlt sich durch die ständigen Änderungen zunehmend entmutigt: „Durch laufende Erneuerungen – neues LehrerInnendienstrecht, Zentralmatura, Bildungsstandards etc. – fühlt man sich als angehende/r JunglehrerIn doch etwas überfordert. Von Transparenz ist keine Spur. Es scheinen sich jede Menge Herausforderungen anzuhäufen, die man nach dem Studium bewältigen soll.“

Die Vorsitzende der neuen Studienprogrammleitung Lehrer/innenbildung, Universitätsprofessorin Barbara Schneider-Taylor, sieht ebenfalls noch viel Klärungsund Aufklärungsbedarf, was das neue Dienstrecht angeht: „Ich sehe mich selbst dafür verantwortlich, dass die Studierenden der Universität Wien noch mehr als bisher auf diese Problematik aufmerksam gemacht werden.“ Sie will die Studierenden aber auch anregen, sich selbst im Zuge ihrer Ausbildung stärker mit der Thematik zu befassen: „Studierende des Lehramts müssen, ebenso wie andere Studierende, während ihres Studiums ein Bewusstsein entwickeln, in welchem rechtlichen Raum sie sich künftig bewegen werden.“

Bologna-System und mehr Pädagogik. Nicht nur das Dienstrecht, auch die LehrerInnenausbildung wird sich verändern. Glaubt man dem Ministerium, soll mit der Pädagog/innenbildung NEU die Qualität der Ausbildung gesteigert werden. Mit dem Studienjahr 2014/15 müssen alle Lehramtsstudien an der Uni Wien vom Diplomstudium auf das Bachelor-Master-System umgestellt werden. Dadurch sollen die Lehramtsausbildungen vereinheitlicht werden. Unabhängig vom Schultyp müssen alle LehramtsstudentInnen an Uni und PH dann ein vierjähriges Bachelorstudium absolvieren. Danach ist, eventuell berufsbegleitend, ein ein- bis eineinhalbjähriges Masterstudium anzuhängen, das für eine Fixanstellung nötig ist. Vorgesehen ist dabei eine stärkere Kooperation der PHs mit den Universitäten. „Die Idee ist, dass PH und Unis keine Konkurrenten mehr sind“, heißt es aus dem Ministerium. Die Zusammenarbeit soll auch im Bereich der Weiterbildung intensiviert werden. Hehres Ziel des Ministeriums ist eine stärkere Durchlässigkeit zwischen Unis und Pädagogischen Hochschulen, sie sollen gleichwertig werden, Ministerium und Gewerkschaften wollen die Pädagogischen Hochschulen „akademisieren“: Ab 2029 sollen nur noch Master-AbsolventInnen in den Klassen stehen. Für künftige PflichtschullehrerInnen dauert die Ausbildung somit fast doppelt so lange wie bisher.

Auf das Studium folgt, anstatt des bisherigen Unterrichtspraktikums, eine ein- bis zweijährige Berufseinführungsphase bei bereits bestehendem Dienstverhältnis. In dieser Zeit werden die jungen LehrerInnen von speziell ausgebildeten MentorInnen begleitet. Außerdem kann währenddessen das Masterstudium absolviert werden. Lisa Strasser, seit zwei Jahren Volksschullehrerin in Wien, ist skeptisch: „Mir fehlt jetzt schon die Zeit, um mich mehr vorzubereiten. Bei einem zusätzlichen Master leidet die Qualität hundertprozentig.“ Auch Maria Wörister, die an der Uni Wien Deutsch und Geschichte auf Lehramt studiert, ist davon überzeugt, dass die Qualität des Unterrichts durch die neue Ausbildung eher sinkt als steigt: „Die Erhöhung der Arbeitszeit bringt mit Sicherheit Verschlechterungen im Betreuungsverhältnis mit sich.“

Aufnahmeverfahren. Ab nächstem Wintersemester gibt es laut dem neuen Universitätsgesetz auch für das universitäre Lehramtsstudium ein Aufnahmeverfahren. Bisher war das nur an den Pädagogischen Hochschulen der Fall. Für das Wintersemester 2014/15 ist an der Uni Wien ein dreistufiges Prozedere vorgesehen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Selektion. Alle, die das ganze Verfahren durchlaufen, bekommen einen Studienplatz. Zuerst findet ein Online-Assessment statt, in dem die persönlichen Erwartungen und Interessen geklärt werden können, der Informationsstand zum Lehramt vertieft wird und die AnwärterInnen sich anhand psychologischer Tests mit ihrer persönlichen Eignung auseinandersetzen. Weiters wird es am 1. September einen schriftlichen Test über logisch schlussfolgerndes Denken, verbale und analytische Grundkompetenzen sowie Wissen über eine Sammlung einführender bildungswissenschaftlicher Texte geben. Alle BewerberInnen, die 30 Prozent der Punkte erreichen, werden automatisch zugelassen, die anderen werden zu einem Informations- und Beratungsgespräch eingeladen und erhalten eine Analyse ihrer Testergebnisse und Empfehlungen zum Studieneinstieg. Laut einem Newsletter des Rektorats der Uni Wien erwartet man sich davon, „dass die strukturierte Auseinandersetzung mit dem Studienwunsch und dem Berufsbild LehrerIn zu einer fundierten Studienwahl und einem besseren Studieneinstieg führt“. Das Vorsitzteam der ÖHBundesvertretung sieht das anders: „Die geplanten Aufnahmeprüfungen für alle PädagogInnen lehnen wir aufs Schärfste ab. Aufnahmeverfahren hindern vor allem finanziell schlechter gestellte Studierende am Studium. Die Universität Innsbruck plant sogar, rechtswidrige Gebühren für den Aufnahmetest zu verlangen. Zudem ist die Überprüfung der scheinbaren Eignung bereits vor Antritt des Studiums mehr als fragwürdig.“ Wie andere Universitäten das Aufnahmeverfahren im Detail gestalten wollen, ist noch nicht bekannt.

An den Studienplänen für das Lehramt NEU bastelt das Ministerium noch. Bis zum Wintersemester 2015/16 sollen sie fertig sein. Fachdidaktik, pädagogische Inhalte und Wahlfächer sollen ausgebaut werden, ebenso sollen mehr Praxisstunden an Schulen absolviert werden. Außerdem sind im Lehramt NEU Zeitfenster vorgesehen, die LehramtsstudentInnen anregen sollen, ins Ausland zu gehen und Erfahrungen für den Umgang mit immer multikulturelleren Klassen zu sammeln.

Lehramt neu denken. Eine Änderung des Curriculums wird von den Lehramtsstudierenden aber durchwegs positiv aufgenommen: „Pädagogik sollte viel praxisbezogener sein. Wie man mit SchülerInnen im Unterricht umgeht, muss viel ausführlicher besprochen werden. Und nicht zuletzt müsste man als StudentIn viel öfter und früher Unterrichtsstunden halten, um herauszufinden, ob der Beruf überhaupt für einen geeignet ist“, sagt Ulli Grill, die in Wien Mathematik und Darstellende Geometrie auf Lehramt studiert. Auch die PH-Studentin Julia Schmidt stimmt dem zu: „Das Wichtigste ist die Praxis. Davon haben wir auf der PH schon viel, aber es kann ruhig noch mehr sein. Vor allem in der AHS fehlt die Praxis.“ In ihrem bildungspolitischen Positionspapier Forum Hochschule sieht die ÖH-Bundesvertretung es als künftige Herausforderung der LehrerInnenausbildungen, die Stärken der praxisbezogenen PH- und der fachlich-wissenschaftlichen Uni-Ausbildung in einem gemeinsamen System zu vereinen.

Simon Weinberger ist Lehramtsstudent an der KFU Graz für die Fächer Physik und Geographie und kritisiert vor allem die inadäquate Behandlung der LehramtsstudentInnen an den Universitäten: „Oft sind die Lehrveranstaltungen für LehramtsstudentInnen nicht an ihren späteren Berufsweg angepasst. Aufgrund von Sparmaßnahmen haben wir oft die selben Lehrveranstaltungen wie jene Studierenden, die das Fach nicht auf Lehramt studieren. Das ist nicht förderlich.“

Während die Kritik am Dienstrecht überwiegt und sich kaum zustimmende Positionen unter den angehenden LehrerInnen finden, wird die neue Ausbildung differenzierter beurteilt: Moritz Deininger, der an der KFU Graz Englisch und Geschichte auf Lehramt studiert und sich auch in der Studienvertretung engagiert, spricht abschließend noch einen wichtigen Punkt an: das allgegenwärtige LehrerInnen-Bashing. „Was mich besonders nervt, ist der Reflex mich bereits jetzt für meinen zukünftigen Beruf rechtfertigen zu müssen. Die dienstrechtliche Debatte, zusammen mit der fragwürdigen Berichterstattung, hat da viel böses Blut gemacht und ich finde es unfair, dass wir angehenden Lehrenden das nun ausbaden können!“

 

Fragen und Antworten zum neuen Dienstrecht: http://bit.ly/1dSgbcu

Blog der Initiative für ein faires Dienstrecht für LehrerInnen: http://ifld-blog.at

 

Lisa Breit studiert Publizistik, Margot Landl Lehramt Deutsch und Geschichte sowie Politikwissenschaften an der Universität Wien.

Kritisch sozial arbeiten

  • 25.02.2013, 17:12

In der täglichen Arbeit, aber auch schon während des Studiums wollen sich angehende und fertig ausgebildete SozialarbeiterInnen einen kritischen Zugang zu ihrer Arbeit bewahren. Das ist in der Praxis nicht immer einfach.

In der täglichen Arbeit, aber auch schon während des Studiums wollen sich angehende und fertig ausgebildete SozialarbeiterInnen einen kritischen Zugang zu ihrer Arbeit bewahren. Das ist in der Praxis nicht immer einfach.

In der Zahnarztpraxis im neunerhaus im fünften Wiener Gemeindebezirk sitzen heute drei Personen im Wartezimmer. Aus dem Raum nebenan hört man das leise Rascheln eines Saugers, der wohl einem der beiden die Zahnbehandlung ausharrenden Patienten aus dem Mundwinkel hängt. Auch als die Tür aufgeht und sich eine grüngewandete Assistentin Unterlagen vom Empfang holt, unterscheidet sich weder der etwas angespannte Gesichtsausdruck des Patienten, an dem auf dem Stuhl gerade gewerkt wird, noch der leichte und doch eindringliche Geruch nach Desinfektionsmittel, der aus dem Behandlungsraum strömt, vom typischen, erwartbaren Szenario. Und doch ist es hier anders. Heute im Speziellen: „Es ist ein ganz ruhiger Tag“, sagt die Frau am Empfang, Susanne Schremser. Meistens sei das Wartezimmer voll, manchmal sogar überfüllt.

Aber auch generell: In der Praxis werden obdachund wohnungslose Menschen kostenlos versorgt – und zwar von ehrenamtlich tätigen ZahnärztInnen. Auch Schremsers Arbeit unterscheidet sich von jener am Empfangstresen in anderen Praxen. Hier geht es nicht nur um Terminvereinbarungen, e-Card oder Sozialversicherungsdaten. Letztere spielen überhaupt keine so große Rolle, weil hier Menschen mit, aber auch Menschen ohne Versicherung behandelt werden. Die 43jährige Susanne Schremser ist hier als Sozialarbeiterin tätig, bis zum kommenden Juni noch in berufsbegleitender Ausbildung – mit einem kritischen Ansatz. Das bedeutet hier in der Praxis: Sie ist nicht nur erste Ansprechpartnerin und versucht, den Leuten die Angst vor der Behandlung zu nehmen. Sie nimmt sich – falls gewünscht – Zeit für längere Gespräche: „Viele haben sehr schlechte Erfahrungen mit dem regulären Gesundheitswesen gemacht“, sagtSchremser. Oft geht es deshalb darum, dass KlientInnen überhaupt erst wieder Vertrauen zu ÄrztInnen und ins System gewinnen, um solche Leistungen wieder in Anspruch nehmen zu wollen. Bei der kritischen Sozialarbeit wird den KlientInnen nichts aufgedrängt. Man ist nicht verlängerter Arm des Staates. Die Entscheidung, wobei, inwieweit undwann Unterstützung benötigt wird, liegt bei den wohnungs- und obdachlosen Menschen selbst.

Niederschwellige Angebote. Schremser und ihre KollegInnen gehen während der Wartezeit direkt auf die PatientInnen zu. Sie klärt über rechtliche oder finanzielle Ansprüche auf, die jeder habe, aber von denen nicht jeder wisse – sofern das Gegenüber daran Interesse hat. Sie unterhält sich zum Beispiel mit Christian, der wegen eines ausgebrochenen Zahns in die Praxis gekommen ist. Angst hat er heute keine mehr, man hat ihm bereits angekündigt, dass bei der Behandlung an diesem Tag nichts Schmerzhaftes mehr ansteht. Bei Christian gehe es außerhalb der Zahnarztpraxis nun um die „aktive Jobsuche“, sagt er. Eine Gemeindewohnung hat er seit Kurzem. Die Zeit, als er im Männerwohnheim, später bei Freunden gewohnt hat, ist nun vorbei. Die PatientInnen können solche Gespräche aber auch ablehnen: „Ich sage eben, was ich kann, und wenn du willst, kann ich was für dich tun. Es geht auch ums Zuhören“, meint Schremser – wenn jemand aus der Vergangenheit erzählt, Ungewöhnliches, Normales, Lustiges oder auch von Depressionen. Wenn jemand will, vermittelt Schremser auch PsychologInnen. Das Du wird hier immer angeboten – und man kann auch das ablehnen. Es ist ein niederschwelliger Zugang: Kritische SozialarbeiterInnen bevormunden oder erziehen nicht. Im Gegenteil, sie versuchen Schwellen kleinzuhalten und Barrieren abzubauen – also den Zugang zu Leistungen zu erleichtern. Sie zeigen Möglichkeiten auf und unterstützen – falls notwendig.

Das sei bei allen Angeboten des neunerhauses so, erklärt Elisabeth Hammer, die fachliche Leiterin der sozialen Arbeit: in den drei Häusern mit Wohneinheiten für 250 Menschen, in den zehn betreuten Startwohnungen, bei der tiermedizinischen Versorgung genauso wie in der Zahnarzt- und der Arztpraxis. Insgesamt arbeiten rund 60 Personen im neunerhaus. Sie werden von etwa 70 Ehrenamtlichen und mehreren Zivildienern unterstützt. Die Grundsätze einer kritischen sozialen Arbeit fließen überall mit ein. „Es geht dabei um die Grundhaltung gegenüber den Klienten und Klientinnen“, erklärt Hammer, die sich neben ihrer Arbeit im neunerhaus auch beim Verein Kritische Soziale Arbeit, kurz kriSo, engagiert: „Wir sehen unsere Gegenüber nicht als EmpfängerInnen von mildtätigen Leistungen, sondern als Menschen, die über ihre Lebensgestaltung autonom entscheiden.“ Ein Ziel oder ein allgemeingültiger Weg wird von kritischen SozialarbeiterInnen dabei bewusst nicht vorgegeben.

Normen durchbrechen. Die Entscheidungen der Menschen müssen nicht mit gesellschaftlichen Normen konform gehen. Solche Normen seien schließlich nicht naturwüchsig gegeben, sondern von Menschen gemacht. Die kritische Sozialarbeit und ihre KlientInnen dürfen, können und wollen sie verändern: „Wir erarbeiten mit den Wohnungslosen gemeinsam Perspektiven, damit sie ihre Kompetenzen dazu nutzen können, sich selbst Gehör zu verschaffen.“ Darüber hinaus seien die MitarbeiterInnen auch anwaltschaftlich tätig, damit die KlientInnen zu ihren Rechten kommen.

In der praktischen Arbeit gibt es dabei aber Grenzen. Diese werden durch den rechtlichen, finanziellen und bürokratischen Rahmen gesetzt. Beispielsweise erhalten nicht alle vom Staat die sozialen Leistungen, die sie brauchen würden. Neue EUBürgerInnen haben zum Beispiel keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Ein Teil der Arbeit besteht deshalb auch darin, diesen Rahmen, wo es möglich ist, zu erweitern und auf politische wie gesellschaftliche Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Auch die zeitlich und finanziell beschränkten Ressourcen setzen der kritischen Sozialarbeit Grenzen. „Gerade dann ist es wichtig, darauf zu achten, dass man ein Creaming the poor vermeidet“, meint Hammer. In der kritischen Sozialarbeit geht es nicht darum, den „Rahm“ mit einfacher zu betreuenden KlientInnen abzuschöpfen, um so rasche Erfolge oder eine sogenannte Resozialisierung möglichst Vieler feiern zu können. Die Mittel und die Arbeit der SozialarbeiterInnen sollen allen, die sich an das neunerhaus wenden, zugutekommen, auch Personen, die mehr und länger Unterstützung brauchen als andere.

Kritik beim Studieren. Von solchen Grundsätzen, aber auch von begrenzten Möglichkeiten in der Praxis hört man auch in der Ausbildung an den Fachhochschulen. Rica Ehrhardt und Franz Widhalm studieren Soziale Arbeit am Fachhochschul-Campus Wien im zehnten Bezirk. Sie sind zwei von insgesamt 120 in Vollzeit und 40 berufsbegleitend Studierenden, die erst im letzten Herbst begonnen haben. Ihr erstes Semester geht nun bald zu Ende, die letzte Prüfung haben sie bereits absolviert. Im Wintersemester steht nur noch das erste zweiwöchige Praktikum an. Ein Modul, das sie noch im Zuge ihres Studiums absolvieren werden, setzt sich explizit mit der Sozialen Arbeit in Zwangs- und Normierungskontexten auseinander. Ein kritischer Zugang zur Sozialarbeit spielt aber auch in vielen anderen Lehrveranstaltungen eine Rolle. Bis zum Abschluss mit einem Bachelor sind jedenfalls sechs Semester Studium und 20 Wochen Lernen in der Praxis vorgesehen. Am Campus, auf dem es in der Mittagszeit von Studierenden, auch aus anderen Fachbereichen, nur so wuselt, erzählen Ehrhardt und Widhalm nun, wie der kritische Ansatz von Beginn an in die Ausbildung miteinfließt: „Die Vortragenden haben uns gleich in der Einführungswoche dazu aufgefordert, kritisch mit den Studieninhalten umzugehen und diese zu hinterfragen“, erklärt die 22jährige Ehrhardt.

Es ginge nicht nur um das Erlernen der Inhalte, unterstreicht auch Franz Widhalm und vergleicht das Studieren hier mit seiner Arbeit vor dem Studium, wo er die Produktion neuer Entwicklungen vorbereitet hat: „In der Industrie gibt es Hierarchien, die hin und wieder mit dem Gefälle zwischen Knecht und Herrscher vergleichbar sind.“ Er wurde wegrationalisiert, als ein Teil des Unternehmens in die Slowakei ausgelagert wurde. Er wollte beruflich aber ohnehin wechseln, „was Sinnvolleres machen“, sagt er. Beim Studium wird nun auf ein Miteinander-Arbeiten großen Wert gelegt. Die Vortragenden sind ein Teil des Teams, leiten an, erklären. Widhalm möchte das auch später in der Arbeit mit den KlientInnen ähnlich halten.

Selbstbestimmt statt kontrolliert. Bislang habe man sich vor allem mit den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit auseinandergesetzt. Dabei sei zum Beispiel auch das doppelte Mandat Thema gewesen. In vielen Bereichen wird von SozialarbeiterInnen verlangt, zugleich im Sinne des Staates und der KlientInnen zu handeln. Die SozialarbeiterInnen unterstützen dabei zwar, können und sollen zugleich aber auch Sanktionen setzen, wenn die betreuten Personen  entweder gar nicht oder nicht in der Geschwindigkeit jenen Weg beschreiten, der ihnen vorgegeben wird. Auf die Arbeit mit Wohnungslosen umgemünzt könnte das zum Beispiel bedeuten, Druck auf die Menschen auszuüben, damit sie möglichst rasch wieder ohne Unterstützung auskommen und sich selbst eine Wohnung finanzieren. Ein doppeltes Mandat haben auch MitarbeiterInnen beim Jugendamt. Ähnlich wird oft mit Arbeitslosen in Beschäftigungsmaßnahmen verfahren. Unterstützung, Kontrolle und Sanktionen gehen dabei miteinander Hand in Hand.

Ehrhardt weiß bereits jetzt, dass sie nicht mit doppeltem Mandat arbeiten möchte: „Ich werde mir einen Bereich suchen, wo die Vorgaben nicht so strikt sind, oder wo man sie im Sinne der Klienten zumindest im eigenen Arbeitsfeld beeinflussen kann“, meint sie. Nach dem Wochenende geht es bei ihr zum Praktikum in ein Frauenhaus in Eisenstadt. Da heißt es bereits auf der Homepage: „Wir fördern die Selbstbestimmung und Eigenständigkeit der Frauen in der inhaltlichen sowie alltäglichen Arbeit mit den Bewohnerinnen.“ Ein Ansatz, der den Grundsätzen der kritischen Sozialarbeit entspricht: Es wird mit und nicht über den Kopf der Klientinnen hinweg gearbeitet. Wohin der Weg geht, entscheiden diese selbst. Die Mitarbeiterinnen unterstützen sie beim Erlangen ihrer Rechte nur da, wo diese auch tatsächlich Hilfe wollen und benötigen. Ehrhardt hat nun zwei Wochen Zeit herauszufinden, ob dieses Umfeld für ihren  künftigen Berufsalltag möglicherweise das passende ist.

Schön, schöner, Lillifee

  • 26.12.2012, 14:32

Schönheit spielt schon für die Kleinsten eine große Rolle. Ein Kindergartenbesuch zeigt den richtigen Umgang mit einem sensiblen Thema.

Schönheit spielt schon für die Kleinsten eine große Rolle. Ein Kindergartenbesuch zeigt den richtigen Umgang mit einem sensiblen Thema.

Wer sich in diesem Jahrhundert mit einem vierjährigen Mädchen unterhält, wird kaum etwas verstehen, wenn er oder sie  grundlegende Begriffe wie Tinker Bell, Hello Kitty und Prinzessin Lillifee nicht kennt. Nomingoa, Maija und Amina – alle vier Jahre alt – malen im Kindergarten und besprechen dabei wichtige Themen: „Ich schau Tinker Bell im Kino“, erzählt Nomingoa. Amina lässt sich davon nicht beeindrucken,denn sie mag lieber „die Lillifee“. Unter ihrem rosafarbenen Pulli trägt sie ein Unterhemdchen mit einem großen Bild von ihr. „Das ist meine Lieblingspuppe“, sagt sie. Im Fasching wollen sich die drei Mädchen als Prinzessinnen verkleiden. Weil Prinzessinnen schön sind.

Bin ich schön? Schönheit bedeutet in unserer Gesellschaft viel mehr als ein ansprechendes Äußeres: Wer schön ist, verlangt sich selbst etwas ab und ist diszipliniert. Wer schön sein will, leidet. Und wird auch Erfolg haben: Studien zeigen, dass schöne Menschen  mehr verdienen und schneller Karrieremachen. Wer aber schön ist, liegt gar nicht so sehr im Auge des einzelnen Betrachters – oder der Betrachterin. Schönheitsideale gibt zu einem großen Teil die Gesellschaft vor, in der wir leben. Und die färbt schon die Blicke von jungen Mädchen wie Nomingoa, Maija und Amina. „Diese Werthaltungen – was ist schön, was ist nicht schön –, da haben Kinder oft wenig Chancen, das aus sich heraus zu entwickeln. Da kommt sehr viel von der Erwachsenenwelt“, sagt Daniela  Cochlár, Leiterin der MA 10, der Abteilung für die Wiener Kindergärten.

Zur Frage, woher Schönheitsideale kommen, scheint es ebenso viele Theorien wie Wissenschaften zu geben. Evolutionspsychologisch betrachtet wird uns das Streben nach Schönheit angeblich schon in die Wiege gelegt: Ein Experiment zeigte, dass Babys attraktive Menschen länger ansehen als solche, die als weniger attraktiv gelten. Das soll damit zu tun haben, dass schöne Menschen körperlich robuster, also gesünder und damit fortpflanzungsfähiger sind. Auch unterschiedliche Ideale für Männer und Frauen werden damit auf zweifelhafte Weise erklärt: Während Männer zwecks Reproduktion und Fruchtbarkeit schöne Frauen suchen, ginge es den Frauen eher darum, einen ökonomischen „Erhalter“ für ihre Kinder zu finden. Der muss nicht zwangsläufig gut aussehen. „Diese Theorien erklären aber nur den Ist-Zustand. Und wenn der genau umgekehrt wäre, würden sie   ihn eben andersrum erklären“, sagt Elisabeth Ponocny-Seliger, Psychologin und Lehrbeauftragte für Gender Research an der Uni Wien.

Foto: Linnea Jänen

Bewusster Umgang mit Unterschieden. Die vermeintlich evolutionspsychologisch vorgegebene Rollenteilung bemerkt auch Sandra Haas. Sie leitet den Bildungskindergarten Fun&Care im 15. Wiener Gemeindebezirk, den Nomingoa, Maija und Amina besuchen.  „Mädchen werden dafür gelobt, dass sie schön sind. So lernen sie, dass es ihre wichtigste Kompetenz ist, süß zu sein. Buben lobt man hingegen für ihre Fähigkeiten“, sagt sie. Der Fun&Care Kindergarten wurde 1999 eröffnet und war damals der erste  geschlechtssensible Kindergarten Wiens. Zentrales Anliegen der geschlechtssensiblen Pädagogik ist es, den Kindern Raum für  Entwicklung abseits von gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern zu geben. Buben und Mädchen soll Chancengleichheit in allen Lebensbereichen ermöglicht werden: Mädchen können Pilotinnen werden und Buben Stewards, wenn sie das wollen. „Das Besondere  an Fun&Care war, dass wir ein Gesamtkonzept gemacht haben. Wir haben es auf vier Säulen gestellt: das Raumkonzept, die  Bildungsarbeit, die Elternarbeit und das Personalkonzept“, erklärt Daniela Cochlár. Sie war die erste Leiterin des Fun&Care  Kindergartens. 2008 wurde das Konzept der geschlechtssensiblen Pädagogik erstmals in einem öffentlichen Kindergarten der Stadt Wien eingeführt und dann allmählich in allen Kindergärten der Stadt Wien übernommen. „Schönheitsideale spielen im Kindergarten eine sehr große Rolle“, sagt Cochlár. „Ab drei, vier Jahren oder spätestens im Vorschulalter ist das ein sehr großes Thema. Das ist auch nachvollziehbar: Wer von uns möchte denn nicht hübsch sein? Das hat ja auch viel mit Wertschätzung, Anerkennung und  Akzeptanz zu tun.“

Im Fun&Care Kindergarten wirkt auf den ersten Blick alles wie in jedem anderen Kindergarten. Wer die kleinen Unterschiede erkennen will, muss genauer hinsehen – und auch hinhören: Wenn Pädagogin Katharina ihrer Gruppe etwas vorliest, sucht nicht nur der Tiger nach Futter, sondern auch die Tigerin. Wenn die Kinder Fußball spielen und Katharina im Tor steht, ist sie automatisch füralle die Torfrau, und nicht der Tormann. Wird im Kindergarten etwas kaputt, versucht Leiterin Sandra Haas es zuerst selbst zu reparieren, damit die Kinder sehen, dass auch Frauen handwerkliche Aufgabenmeistern können. In jeder Gruppe sollte es einen
Kindergartenpädagogen mit einer Assistentin oder eine Kindergartenpädagogin mit einem Assistenten als Rollenvorbilder geben. Ein weiteres wichtiges Element im geschlechtssensiblen Kindergarten ist die Raumteilung. Im Unterschied zum herkömmlichen Kindergarten findet man bei Fun&Care weder eine rosarote Puppenecke noch eine traditionelle Bauecke. Das Spielzeug soll für alle Kinder gleichermaßen bereitstehen. Dazu gehört auch die bewusste Auswahl von Spielmaterialien. Aus durchsichtigen Plastikcontainern können sich die Kinder bunte Soft-Bausteine, Puppen oder Spielfiguren holen. In jeder Gruppe steht auch ein Kosmetikkorb bereit: Mit Schminkpinseln, Haarbürsten und leeren Haarshampooflaschen, die beim Öffnen noch nach Seife duften.

Auch dieses Spielzeug ist für Buben und für Mädchen. Und tatsächlich ist es ein Bub, der als erstes zur Bürste greift. Fest  entschlossen fährt David progress- Autorin Julia durch ihr langes, rot-braunes Haar: „Wenn ich fertig bin, werden deine Haare so lang und schön sein, wie die von der Rapunzel“, sagt er. Sekunden später ist Julia von vier Kindern umringt. Ihre Haare werden in Bereiche eingeteilt, sodass man sich beim Frisieren nicht allzu sehr in die Quere kommt. Ein anderer kleiner Junge beginnt ihr  Gesicht mit dem Schminkpinsel zu pudern. Zwei Mädchen leeren fiktives Shampoo auf ihren Kopf – die Kinder machen Julia schön. Vielleicht wolle er selbst irgendwann so lange Haare haben, überlegt David; da verwirft er den Gedanken auch schon wieder: Bei Mädchen sind lange Haare ja schön. Aber bei einem Buben? Da geht das nicht, stellt David fest.

Foto: Linnea Jänen

Verschiedene Einflüsse. Selbst wenn Eltern darauf achten, ihre Kinder fernab von Rollenklischees zu erziehen, werden sie spätestens im Kindergarten davon eingeholt. „Auch bei uns sind 90 Prozent der Mädchen rosa gekleidet. Das wollen wir den Kindern auch nicht wegnehmen – sie sollen sich aber nicht über die Farbe definieren“, sagt Kindergartenleiterin Haas. Bis zum Kindergartenalter  wird fast jedes Kind sagen, dass „die Mama“ die schönste Frau sei. „Das ist wirklich lieb und da antworten fast alle gleich“, erklärt Psychologin Ponocny-Seliger. Dann sind plötzlich Prinzessin Lillifee und Barbie schön und bei Buben ist vor allem Superman cool. Plötzlich gibt es eine Reihe von Einflussfaktoren: die Eltern, die KindergartenpädagogInnen oder andere Kinder, die ein Vorbild sein können. Wenn ein Mädchen dann ein rosafarbenes Röckchen anhat, wollen es die anderen auch. Und sie fordern es zu Hause auch ein. „Die Kinder dürfen hübsch sein, Prinzessin sein, ein Röckchen anhaben; es gibt aber adäquate Kleidung für bestimmte Zwecke. Wenn man in die Sandkiste spielen geht, ist eine Gatschhose wesentlich hilfreicher als einRock“,  sagt Cochlár.

In der Praxis des Kindergartens ist es nicht immer einfach, das Konzept der geschlechtssensiblen Pädagogik umzusetzen. „Natürlich wird niemand gezwungen. Wenn ein Mädchen rosa tragen will, ist das vollkommen in Ordnung. Die Farbe an sich ist ja nicht das Problem. Man muss den Kindern nur aufzeigen, dass es auch anders geht“, sagt Fun&Care- Leiterin Haas. Im Fasching versucht sie das Klischeeproblem geschickt zu umgehen: Damit es nicht nur Prinzessinnen und Cowboys gibt, werden immer wieder andere  Themen ausgewählt. Nicht nur Personen im direkten Umfeld beeinflussen die Kinder – im Fernsehen oder online sehen sie täglich, was schön ist: Barbies für Mädchen, Roboter für Jungen. „Kinder im Kindergartenalter wissen unterbewusst, welche Eigenschaften und Fähigkeiten sie ausbilden sollen, damit sie für ihr Geschlecht passend wahrgenommen werden“, sagt Claudia Schneider. Sie ist Leiterin des Vereins Efeu, der sich mit geschlechtssensibler Pädagogik beschäftigt. Kürzlich ist sogar eine neue Lego-Edition für Mädchen herausgekommen: Sie ist rosa, enthält fünf „Freundinnen“ als Spielfiguren, die ihre Zeit im Schönheitssalon, im Kaffeehaus und auf dem Reithof verbringen; bauen kann man damit kaum mehr etwas. „Begriffe wie ‚schön‘ oder ‚stark‘ sind sogenannte ‚Gender Codes‘, Eigenschaften, durch die eine von den zwei in unserer Gesellschaft verfügbaren Kategorien, nämlich männlich oder weiblich, ausgedrückt werden. Wir können diese Begriffe schnell einordnen, weil wir in diesem dualen Zweigeschlechtersystem  denken“, erklärt Schneider. Freiräume, in denen Kinder vieles ausprobieren können, hält sie für besonders wichtig. Sie erzählt von einem Kindergarten, wo ein männlicher Pädagoge mit den Buben der Gruppe Schönheitssalon spielte. „Das sind Erfahrungen, die Kinder oft so nicht machen können. Dafür einen geschützten Rahmen anzubieten, kann sehr produktiv sein.“

Zurück im Kindergarten wird ein Bub von den Mädchen zum Mutter-Vater-Kind-Spielen in die obere Etage eines einstöckigen Spielhauses  beordert. Er erhält Anweisungen, wie er das Puppenbaby richtig pflegen muss. Seit der eigenen Kindergartenzeit hat sich ja doch nicht alles geändert; nur wird heute viel bewusster mit den Kindern und den Rollen, in die sie gedrängt werden, umgegangen. Das tut den künftigen Astrophysikerinnen und Hausmännern gut.