Migration

Lampedusa: Endstation oder Neuanfang?

  • 07.05.2015, 22:29

Das Rauschen der Wellen, das Zwitschern der Vögel und das Ticken der Uhren – eine Geräuschkulisse, die nicht sofort erahnen lässt, auf welcher Insel das Publikum sich befindet. Das verrät nur der Filmtitel selbst: Lampedusa. Eine Insel, die von faszinierenden Landschaften und erschütternden Schicksalen gezeichnet ist. Jedoch ist „Lampedusa“, der bei der Diagonale seine Premiere feierte, kein Film über Grenzkontrollen, Kriegsflüchtlinge und Mittelmeersterben. Diese die Medien und Welt bewegenden Themen lässt Peter Schreiner, der für Drehbuch, Regie und Schnitt verantwortlich ist, nur ansatzweise in den Geschichten seiner ProtagonistInnen aufflammen. Vielmehr stellt er in seinem Film essentielle Fragen des Lebens. Es geht um Angst, Sinn und Tod.

„Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Es war nass. Mir war kalt. Drinnen und draußen“, erzählt Giulia, eine ältere Frau aus Norditalien. Sie hat als wohlhabende Touristin die Insel bereist und ist in der ersten Nacht ihres Aufenthaltes ausgeraubt worden. Heute ist sie von einer schweren Krankheit gezeichnet. „Es ist Krieg. Die Stadt ist zerstört. Niemand will dort bleiben“, erzählt ein junger Mann aus Somalia, dem die Flucht vor dem Bürgerkrieg gelungen ist. Heute ist er Filmemacher und Journalist in Rom. Und dann wäre da noch ein Bootsbauer aus Lampedusa, der gemeinsam mit seiner Frau die Touristin Giulia bei sich zu Hause aufgenommen und gepflegt hat. Diese drei Menschen, deren Lebensgeschichten unterschiedlicher nicht sein könnten, begegnen einander in Schreiners Erzählung aus Lampedusa. Sie sind zurückgekehrt, um ihre Geschichte zu erzählen, sie philosophieren über das Leben. Und fragen sich letztendlich: Was kann der Mensch alles ertragen, wie lange und warum?

VOM LEBEN GEZEICHNET. Die detailreichen Nahaufnahmen und tiefgründigen Monologe vermitteln in 130 Minuten das Gefühl, als würde die Zeit auf dieser Insel stillstehen. Dabei ergeben die schwarz-weißen Bilder der Kamera und die bunten Erzählungen der ProtagonistInnen eine Symbiose. Der Schnitt spiegelt die gesamte landschaftliche Schönheit der Insel – der Stacheldrahtzaun mahnend im Hintergrund – wider. Der Film kommt gänzlich ohne Musik aus und setzt stattdessen auf authentische Umweltgeräusche. Die Präsenz des Meeres zieht sich durch den gesamten Film hindurch und steht stellvertretend für die unendlichen Weiten der Möglichkeiten und unerfüllten Wünsche des Lebens. Die schwarz-weiße Kulisse ist unaufdringlich, genauso wie die Geschichten der ProtagonistInnen, die zu keinen Helden avancieren, sondern vom Leben gezeichnete Menschen sind. Die Frage, warum Peter Schreiner ausgerechnet die Insel Lampedusa als Schauplatz für seine Erzählung wählt – ohne darauf einzugehen, wofür sie in den letzten Jahren trauriges Wahrzeichen geworden ist – bleibt unbeantwortet. Vor diesem Hintergrund fällt es nicht leicht, die täglich durch die Medien kursierenden Bilder beiseite zu schieben und sich auf Schreiners Perspektivenwechsel einzulassen.

„Lampedusa“
Regie: Peter Schreiner
130 Minuten
Trailer

 

Sandra Schieder studiert Journalismus und Public Relations an der FH JOANNEUM in Graz.

 

Ohne Papiere, ohne Rechte?

  • 20.08.2014, 09:12

In Wien eröffnet mit UNDOK eine neue gewerkschaftliche Anlaufstelle. Zielgruppe sind jene, die undokumentiert arbeiten und dabei oft ausgebeutet werden.

In Wien eröffnet mit UNDOK eine neue gewerkschaftliche Anlaufstelle. Zielgruppe sind jene, die undokumentiert arbeiten und dabei oft ausgebeutet werden.

Wochenlang hat Zoheir S. undokumentiert am Bau gearbeitet. Dann blieb ihm sein Arbeitgeber seinen Lohn schuldig. Eine prekäre Situation, trotzdem hat Zoheir S. für sein Recht gekämpft. Bei der offiziellen Eröffnung von UNDOK – Anlaufstelle zur gewerkschaftlichen Unterstützung UNDOKumentierter Arbeitender – Anfang Juni im ÖGB-Haus berichtete der ehemalige Asylwerber vor 150 Gästen über seine Erfahrungen.

Als „undokumentierte Arbeit“ wird die Lohnarbeit von Migrant_innen bezeichnet, die über kein Aufenthaltsrecht verfügen oder aufgrund ihres Aufenthaltstitels keinen oder nur beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Im Alltag wird dies oft als „Schwarzarbeit“ bezeichnet. Undokumentierte Arbeit ist häufig unsicher, schlecht bezahlt und gefährlich. Denn Arbeitgeber_innen nutzen die prekäre Situation von Betroffenen immer wieder aus, erpressen sie, beuten sie aus, zahlen Löhne zu spät oder gar nicht und umgehen damit arbeitsrechtliche Standards. Hinzu kommt, dass undokumentiert Arbeitende oftmals nicht über ihre Rechte Bescheid wissen und von Abschiebung bedroht sind.

Bindeglied zwischen Arbeits- und Fremdenrecht. Deswegen lautet das Motto von UNDOK „Arbeit ohne Papiere, aber nicht ohne Rechte!“. Die Botschaft ist klar: Undokumentiert Arbeitende haben Rechte und sollen für diese kämpfen, sie haben beispielsweise Anspruch auf Krankenversicherung und auf eine adäquate Entlohnung. Bestehende Beratungsangebote seien aber oftmals nicht niederschwellig genug. Mit kostenlosen, mehrsprachigen Informationen will UNDOK dem endlich etwas entgegensetzen. „Wir wollen ein Bindeglied zwischen Arbeits- und Aufenthaltsrecht schaffen“, erklärt Karin Jović. Die Mitwirkenden sind sich bewusst, dass ein unsicherer Aufenthaltsstatus allerdings eine Hürde sein kann, sich an Stellen wie UNDOK zu richten. Durch die enge Zusammenarbeit mit antirassistischen Initiativen und NGOs erhofft man sich Know-how im Bereich Fremdenrecht. Außerdem können Betroffene unverbindliche Anfragen per Telefon stellen. Eventuelle Risiken bei rechtlichen Schritten sollen gemeinsam mit den Betroffenen abgeklärt werden. Die Entscheidung, wie es in ihrem konkreten Fall weitergehen soll, treffen die Betroffenen immer selbst.

Wanted: Selbstorganisation. So wichtig die individuelle Betreuung ist, für UNDOK ist gleichzeitig klar, dass der Kampf um Arbeitsrechte nicht vor den Türen des Beratungsbüros aufhört. „Das langfristige Ziel ist eine Selbstorganisation und Vernetzung der undokumentiert arbeitenden Kolleginnen und Kollegen“, so Sandra Stern, die als basisgewerkschaftliche und antirassistische Aktivistin bei UNDOK tätig ist. „Allein durch Einzelklagen ändert sich nichts an der systematischen Überausbeutung von undokumentiert Arbeitenden.“ Seit 2011 schmiedet der UNDOK-Arbeitskreis Bündnisse mit politischen Akteur_innen aus unterschiedlichsten Bereichen und treibt eine Verankerung des Themas in den Gewerkschaften voran. Neben diesen machen sich nun auch Interessensvertretungen wie die ÖH oder die Arbeiterkammer Wien, NGOs, migrantische Selbstorganisationen und antirassistische Aktivist_innen für die Rechte undokumentiert Arbeitender stark. Vorbilder fand man in verschiedenen
europäischen Ländern, in Österreich fehlte ein solches Projekt bisher gänzlich.

Dabei ist die Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit zur Verbesserung der Situation von undokumentiert Beschäftigten dringend notwendig. Noch immer haben Gewerkschaften das Thema „Arbeit ohne Papiere“ nicht auf ihrer Agenda oder arbeiten sogar oft gegen die Interessen von Migrant_innen, wenn sie herrschende Migrationsregime und -gesetze unterstützen. Nationalistische Gewerkschaftspolitik verschleiert, dass eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einzelner Gruppen eine Schwächung der Anliegen aller unselbstständig Beschäftigten bedeutet. Die UNDOK-Anlaufstelle macht deshalb auf Spaltungen in der Arbeitnehmer_innenschaft aufmerksam und will das Thema undokumentierte Arbeit gesellschaftlich sichtbar machen, ganz nach dem Motto: Undokumentierte Arbeit geht uns alle etwas an – ob mit oder ohne Papiere.

Dokumentierter Lohnbetrug. Auch zahlreiche Studierende leisten in Österreich undokumentierte Arbeit. Mit der Verdoppelung der
Studiengebühren für Nicht-EU-Bürger_innen haben sie hautnah die Folgen diskriminierender Politik erlebt. Am Arbeitsmarkt ist es nicht wesentlich anders – auch hier sind Studierende aus „Drittstaaten“ massiven Beschränkungen ausgesetzt. Zwar verfügen Studierende während ihres Studiums über eine Aufenthaltsbewilligung und sind dahingehend abgesichert, allerdings können sich viele mit dem bewilligten Beschäftigungsausmaß (zum Beispiel zehn Stunden pro Woche) ihr Leben nicht finanzieren und müssen somit darüber hinaus undokumentierter Lohnarbeit nachgehen. Ähnlich gestaltet sich die Situation von Asylwerber_innen: Sie verfügen während des Asylverfahrens zwar über ein zeitweiliges Aufenthaltsrecht, dürfen aber nur mit einer Beschäftigungsbewilligung, vor allem in der Saisonarbeit, legal arbeiten. Den meisten Asylwerber_innen bleibt die Möglichkeit, regulär zu arbeiten, somit versperrt.

So ging es auch Zoheir S., der über einen Freund mit UNDOK und der Gewerkschaft in Kontakt gekommen ist. Gemeinsam sollte der ausstehende Lohn erkämpft werden. Die betroffene Sub-Firma von Porr meldete allerdings Konkurs an und bestritt, dass Zoheir S. jemals für sie gearbeitet hätte. Eine außergerichtliche Einigung brachte Zoheir S. schließlich den kollektivvertraglich festgelegten Mindestlohn plus die ihm zustehenden Zuschläge.

In der Vergangenheit setzten österreichische Gewerkschaften bei Fällen wie diesem vor allem auf die Bestrafung von Arbeitgeber_innen. Razzien und Behördenkontrollen sind jedoch nicht immer im Sinne der Beschäftigten, besonders wenn deren Aufenthaltsstatus unsicher ist und ihnen die Abschiebung droht. UNDOK will daher den Fokus auf die Betroffenen und ihre Rechte legen. Dem steht nach der erfolgreichen Eröffnung der UNDOK-Anlaufstelle nicht mehr viel im Weg. Für Sandra Stern ist klar: „Als Gewerkschaft wollen wir nicht vor Konflikten zurückschrecken, sondern diese austragen!“

UNDOK, ÖGB (Catamaran), Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien

Öffnungszeiten: MO, 9.00 Uhr – 12.00 Uhr und MI, 15.00 Uhr – 18.00 Uhr

Termine jenseits der Öffnungszeiten sind nach Vereinbarung
möglich. Tel.: +43/1/534 44 -39040, Email: office@undok.atwww.undok.at

Sonja Luksik studiert Politikwissenschaft an der Uni Wien.

Der geheime Lehrplan

  • 11.08.2014, 15:23

Diskriminierende Darstellungen, einseitige Definitionen, stereotype Repräsentationen – Schulbücher reproduzieren oft Klischees. Anleitungen zum kritischen Umgang mit Begriffen und Konzepten werden selten geboten. Engagierte ForscherInnen und LehrerInnen wollen das ändern.

Diskriminierende Darstellungen, einseitige Definitionen, stereotype Repräsentationen – Schulbücher reproduzieren oft Klischees. Anleitungen zum kritischen Umgang mit Begriffen und Konzepten werden selten geboten. Engagierte ForscherInnen und LehrerInnen wollen das ändern.

Wenn es um Schule ging, war die Zentralmatura in den letzten Monaten das meistdiskutierte Thema. Unfaire Bewertungssysteme, mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse individueller SchülerInnen und der jüngste Skandal um einen Text bei der Deutschmatura, der den Holocaust verharmlost – die Zentralmatura sorgt für heftige Diskussionen. Aber nicht nur sie gibt Anlass zur Kritik. Als elementarer Bestandteil des Unterrichts haben Schulbücher einen großen Einfluss auf SchülerInnen. Die meisten Schulbücher regen aber keineswegs zum kritischen Denken an, wie eine Studie des Historikers Christoph Kühberger zeigt. Im Gegenteil: Sie stellen ihre Inhalte meist so dar, als wären sie objektiv und allgemein gültig. Dass dahinter die subjektiven Perspektiven einer/s oder mehrerer AutorInnen stehen und Begriffsdefinitionen häufig einseitig sind, wird selten deutlich. „Die wenigsten Schulbücher beinhalten eine Anleitung, wie man kritisch mit ihnen umgehen kann“, sagt auch Christa Markom, Ethnologin und Sozialpädagogin. Wenn sich die vermittelten Ansichten mit jenen des/r Lehrers/in decken, akzeptieren die SchülerInnen sie als Wahrheit. „Was LehrerIn und Schulbuch sagen, stimmt für die SchülerInnen und wird meist nicht hinterfragt“, so Markom.

In dem Projekt „Migration(en) im Schulbuch“ hat Christa Markom zusammen mit Heidemarie Weinhäupl und Christiane Hintermann analysiert, wie Migration in Schulbüchern verschiedener Fächer repräsentiert wird. Ziel war auch, SchülerInnen Wissenschaft näherzubringen. Im Rahmen von Workshops wurde deshalb gemeinsam mit Schulklassen erarbeitet, wie man im Unterricht kritischer mit Themen und Begriffen umgehen kann. „Das war ein völlig neuer Zugang für die SchülerInnen“, berichtet Herbert Pichler, Lehrer und selbst Schulbuchautor, der mit einer seiner Klassen am Projekt teilnahm. „Die Schulbücher zerpflücken und kritisieren zu dürfen, das kannten sie vorher nicht“, erzählt er. Dabei sei das von enormer Bedeutung.

Undurchsichtig. Bevor ein Schulbuch tatsächlich in die Hände eines Schülers oder einer Schülerin gelangt, durchläuft es einen Prozess, der zwei bis drei Jahre dauert – weshalb jedes Schulbuch zwangsläufig veraltet ist. Zunächst erhalten AutorInnen (meistens in Teams) den Auftrag, ein Schulbuch zu schreiben. Ist das getan, wird es von GutachterInnen des Ministeriums auf Basis bestimmter Richtlinien überprüft. „Dabei spielen durchaus auch Anti-Diskriminierungsrichtlinien oder zum Beispiel Gender-Richtlinien eine Rolle“, erklärt Christa Markom. Trotz dieser Approbation gelangen aber viele Bücher auf die Schulbuchliste, die diskriminierende Inhalte haben. Zwar sind viele GutachterInnen sehr bemüht, dies zu vermeiden, allerdings fehlt teilweise auch Hintergrundwissen zu verschiedenen Diskriminierungsformen. Laut Herbert Pichler sind die MitarbeiterInnen des Ministeriums auch manchmal selbst Teil jener Teams, die Schulbücher verfassen. Außerdem haben einige der Verlage großes Interesse daran, dass ihre Bücher approbiert werden. „Sie üben einen enormen Druck auf das Ministerium aus“, erklärt Herbert Pichler.

LehrerInnen können sich zwar theoretisch aussuchen, welches Schulbuch sie verwenden wollen. In der Realität sieht das aber oft anders aus. „Der Griff zu einem altbekannten Buch ist häufig naheliegend“, sagt Christa Markom. Es kommt also durchaus vor, dass Schulbücher, die einseitige Darstellungen oder diskriminierende Repräsentationen und Stereotype beinhalten, als Unterrichtsmaterial fungieren. Laut einer Umfrage des Projekts „Migration(en) im Schulbuch“ verwenden 80 Prozent der LehrerInnen Schulbücher, um ihren Unterricht zu strukturieren. Dieser wird durch die oft einseitige Aufbereitung von Themen in den Schulbüchern entsprechend beeinflusst.

Repräsentation von Migration. Am Beispiel der Darstellung von Migration beziehungsweise von MigrantInnen in Schulbüchern zeigt sich, wie Stereotype und Vorurteile reproduziert werden. „Eines unserer wichtigsten Ergebnisse war, dass Migrationsthemen in Schulbüchern noch immer hauptsächlich in einem Problemdiskurs abgehandelt werden“, sagt Christa Markom. Einerseits betrifft das die Positionierung des Themas, das in einem Schulbuch zum Beispiel in der Nähe des Themenkomplexes „Terrorismus“ angesiedelt war. Andererseits spielen Überschriften wie „Migration – eines der zentralen Probleme Europas“ hier eine Rolle. Auch darüber hinaus wird Migration meist in einem negativen Kontext dargestellt. „Dadurch entstehen keine positiven Identifikationsmöglichkeiten für SchülerInnen mit Migrationsbiographien“, erklärt Markom. Wird Migration ausnahmsweise nicht als Problem dargestellt, dann wird sie meist in einem Nützlichkeitsdiskurs behandelt, in dem wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Fragen im Mittelpunkt stehen. Dass Migrationsgeschichten aus der Perspektive von MigrantInnen erzählt werden, kommt hingegen kaum vor.

Auch Begriffe werden im Kontext von Migration in Schulbüchern kaum umfassend erklärt. So fehlt beispielsweise eine Auseinandersetzung damit, welche Bedeutungen hinter dem Begriff „Integration“ stecken können, oder damit, warum eine Bezeichnung wie „ZigeunerIn“ beleidigend und abwertend ist. Und das, obwohl SchülerInnen großes Interesse daran haben, wie Begriffe verwendet werden und wie sie Diskriminierungen in ihrer Sprache vermeiden können: „Natürlich interessiert mich das, ich brauch’ das ja täglich“, meint ein Schüler einer BHS: „Wenn ich die Erklärungen dazu nicht in Schulbüchern finde, wo dann?“ Laut Christa Markom würden sich die SchülerInnen auch historische Ableitungen der Begriffe erwarten. Sie wollen wissen, aus welchem historischen Kontext ein Begriff kommt, um seine Verwendung in der Gegenwart zu verstehen. Als Teil der österreichischen Geschichte wird Migration aber ohnehin kaum dargestellt. Im Gegenteil: Schulbücher behandeln Migration meist als neueres Phänomen, das von der österreichischen Geschichte abzugrenzen ist. „Das führt dazu, dass SchülerInnen Migration nicht in die österreichische Wir-Konstruktion miteinbeziehen“, erklärt Christa Markom.

Die Macht der Bilder. Diese Tendenzen spiegeln sich nicht nur in Texten wider. Auch in Bildern wird stark mit Klischees gearbeitet. Ein Aspekt, dem laut Herbert Pichler besondere Beachtung geschenkt werden sollte. Wenn es um Migration geht, sind in Schulbüchern häufig Bilder von Frauen mit Kopftüchern, mit denen meist die Türkei assoziiert wird, abgedruckt. „Warum ist es eigentlich so, dass wir mit ‚Ausländer’ nur die Türken meinen?“, fragte deshalb eine Schülerin im Projekt „Migration(en) im Schulbuch“. Dass Deutsche die größte Migrationsgruppe in Österreich sind, wird durch diesen Fokus verschleiert.

Wenn es um Flucht und Asyl geht, werden wiederum meist AfrikanerInnen dargestellt, die in die „Festung Europa“ wollen. Sowohl auf Bildern, die AfrikanerInnen in überfüllten Booten zeigen, als auch in Texten. In einem Geographiebuch der Sekundarstufe 2 ist dazu Folgendes zu lesen: „Täglich stehen z.B. in Nordafrika tausende Menschen vor den Toren Europas, um in eine bessere Welt zu gelangen. Bilder von Flüchtlingstragödien, z.B. von überfüllten Flüchtlingsschiffen, gelangen in unsere Medien. Auch wenn das überalterte Europa langfristig Einwanderer benötigt, kann es den globalen Migrationsdruck nicht entschärfen. Wird das Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt nicht eingeschränkt und werden Arbeitslosigkeit und Hunger und Umweltprobleme nicht nachhaltig bekämpft, wird der Migrationsdruck weiter steigen.“ Problematisch ist das einerseits, weil Afrika durch derartige Darstellungen pauschal mit negativen Bildern verbunden wird. Andererseits wird innerafrikanische Migration nicht thematisiert. „Es wird so dargestellt, als würden alle Flüchtenden und Migrierenden nach Europa kommen, was ja überhaupt nicht der Fall ist“, erklärt Markom: „Wie Migrationsströme tatsächlich verlaufen, wird verschleiert.“

Handlungsoptionen. Selbst das schlechteste Schulbuch kann aber im Unterricht das beste Schulbuch werden, wenn die LehrerInnen gut damit umgehen, ergänzt Markom. Ob entsprechende Kompetenzen in der pädagogischen Ausbildung vermittelt werden, ist jedoch fraglich. Das kritische Hinterfragen der Schulbücher werde in der LehrerInnenausbildung kaum thematisiert. Es sei aber wichtig, einen machtkritischen Blick zu entwickeln, Begriffe zu kritisieren und Lehrmedien nicht als objektiv zu betrachten. Auch die Schulbücher selbst sollten laut Markom stärker dazu anregen, sich kritisch mit Begrifflichkeiten und Inhalten auseinanderzusetzen.

Für den Unterricht wäre es wichtig, mehr Diskussionsräume zu schaffen. Sinnvoll sei deshalb auch, verstärkt Vorträge, Ausstellungen oder Workshops und damit auch Leute von außerhalb der Schule in den Unterricht zu integrieren. Dadurch bringe man neue Dynamiken in eine Klasse und schaffe ein Bewusstsein für verschiedene Themen wie Diskriminierung und Rassismus. Dabei können SchülerInnen abseits von Notendruck und Prüfungsangst lernen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. „Durch das Projekt‚ Migration(en) im Schulbuch‘ sind die SchülerInnen jetzt viel kritischer als zuvor“, berichtet auch Herbert Pichler.

Was die Schulbücher betrifft, sieht Christa Markom in der Multiperspektivität großes Potential. „Man sollte möglichst viele Sichtweisen auf ein Thema zeigen. Auch mit lebensgeschichtlichen Zugängen kann man da sehr gut arbeiten.“ Wenn es um Migration geht, hätten sie das Potential, die negativen Konnotationen in Frage zu stellen. Interviews wären zum Beispiel eine Möglichkeit, auch Raum für positive Migrationsgeschichten zu schaffen. Für Herbert Pichler ist vor allem die Positionierung des Schulbuchs im Unterricht wichtig: „Ich selbst verwende Schulbücher als Steinbruch, als eine Sammlung von Materialien, die man in bestimmten Unterrichtssequenzen gezielt verwenden kann.“

Zum Schluss betont Christa Markom auch, dass durchaus eine positive Entwicklung der Schulbücher zu beobachten ist. „Da hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren sehr viel getan. Es gibt noch immer Probleme, das ist keine Frage. Aber das ist keineswegs
eine statische Sache.“

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie und Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.
 

Kongolesin oder Österreicherin? Ich bin beides!

  • 15.05.2014, 09:30

Sie ist Österreicherin und Kongolesin, Flüchtling und Angekommene, eines von zwölf Geschwistern und mit ihrer Geschichte trotzdem alleine. Mireille Ntwa sprach mit progress über Zugehörigkeitsgefühle und Generationenkonflikte.

Die umtriebige Mireille Ntwa trifft man vielerorts in Wien: An der Universität studiert sie Medizin, seit 2010 ist sie bei der Jungen Generation der SPÖ politisch aktiv. Für ihren Lebensunterhalt arbeitet sie im Bürgerservice des Bundeskanzleramtes und im Wiener Gürtelbräu, dessen Pforten sie an einem grauen Winterabend für progress aufsperrt.

Das Licht in dem holzvertäfelten Lokal ist schummrig, abgestandener Rauch vom Vortag liegt in der Luft. Blitzschnell richtet die 33-Jährige Gläser, Aschenbecher und Kerzen für die ersten Gäste her. Bevor Mireille den ersten Tisch bewirtet, hält sie zwischen den Bierzapfhähnen inne und sagt: „Lange Zeit hatte ich mit einer Identitätskrise zu kämpfen, bis ich zu dem Schluss kam, Österreicherin mit kongolesischem Migrationshintergrund zu sein.“ 

Innere Zerrissenheit. Mireille, mit vollem Namen Mireille Adiet Ntwa Ydjumbwiths, beginnt zu erzählen, dass sie jahrelang, während sie sich intensiv mit Fragen der eigenen Identität und Zugehörigkeit beschäftigte, eine innere Zerrissenheit verspürte: Ist sie Kongolesin mit österreichischem Lebensmittelpunkt oder Österreicherin mit kongolesischem Migrationshintergrund? Muss sie gegenüber einem Land loyaler sein oder nicht? Muss sie sich für eine Gesellschaft und somit auch gegen die andere entscheiden oder lassen sich beide Lebenswelten irgendwie miteinander vereinbaren?

Auf der Suche nach Antworten stürzte Mireille zunächst in eine tiefe Krise. Versuche, sich konsequent mit einem aus ihrer Sicht typisch österreichischen FreundInnenkreis zu umgeben oder nur Kontakte mit anderen KongolesInnen beziehungsweise ÖsterreicherInnen mit kongolesischem Migrationshintergrund zu pflegen, halfen wenig bei ihrer Orientierung. Mireille sucht nach Worten: „Je mehr ich versucht habe zu einer Gruppe dazu zu gehören, desto weniger funktionierte das für mich. Erst als ich feststellte, dass ich beides bin, löste sich dieser innere Konflikt auf.“

Totgeschwiegen. Die Geschichte von Mireille nahm ihren Anfang am 16. August 1980, in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, damals Zaire genannt. Mireille wurde als Tochter zweier politischer Aktivisten in eine Diktatur geboren. Ihre Eltern stellten sich aus Überzeugung gegen Joseph-Désiré Mobutus Schreckensregime. Als die Behörden Mireilles Eltern bereits im ganzen Land suchten und Familienmitglieder zum Schutz  ihre Namen änderten, entschlossen sie sich zur Flucht. Die damals vierjährige Mireille hatten sie bereits mit Verwandten ins benachbarte Angola vorausgeschickt.

Dort angekommen, nahmen die Eltern ihre Tochter wieder in ihre Obhut. Monate harter Arbeit folgten, bis Mireilles Eltern das Geld für Flugtickets beisammen hatten. Sie wollten nach Europa, denn auch in Angola fühlten sie sich nicht sicher. In Europa gelandet, kam die dreiköpfige Familie erst nach längerem Hin und Her zwischen Italien, der Schweiz und Österreich zur Ruhe – als Österreich ihnen schließlich politisches Asyl gewährte. Das war 1984, das Jahr ihres Neuanfangs.

An die Monate der Flucht, der Angst und Ungewissheit kann sich Mireille heute kaum erinnern. Auch vom Wiedersehen mit ihren Eltern in Angola hat sie keine Bilder vor Augen. Dieses Kapitel ihrer eigenen Geschichte kennt sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. Details zur damaligen Situation in Zaire und der Fluchtgeschichte musste Mireille ihnen aus der Nase ziehen: „Sie haben nie von selbst darüber gesprochen. Am liebsten hätten sie das Thema totgeschwiegen.“

Ob die Eltern die Flucht miteinander in Gesprächen aufgearbeitet haben, weiß sie nicht. „Ich hörte sie jedenfalls nie darüber sprechen“, sagt sie nachdenklich. Sicher ist nur, dass Mireilles Vater unter dem Verlust seines Heimatlandes leidet. Er spielt nach wie vor mit dem Gedanken, seinen Lebensabend im Kongo zu verbringen. Bis heute ist Mireilles Vater ihrer Erzählung nach ein politischer Mensch geblieben: Aus Zaire wurde mit dem Sturz Mobutus 1997 die Demokratische Republik Kongo, ein Bürgerkrieg folgte. Noch immer kriselt es zwischen zahlreichen bewaffneten Gruppierungen im rohstoffreichen Osten des Landes. „Knallt es dort, leidet mein Vater mit“, sagt Mireille, der es ähnlich geht.

Multiple Zugehörigkeiten, unterschiedliche Erfahrungen. Mireilles Großfamilie zu erfassen, ist kompliziert, aber wichtig, um die ganz unterschiedlichen Zugehörigkeitsgefühle innerhalb einer Familie nachzuvollziehen: Ihre Eltern ließen sich scheiden, als Mireille 16 Jahre alt war und bereits drei jüngere Geschwister hatte. Beide heirateten erneut und die Familie Ntwa bekam weiteren  Zuwachs. Die Geschichte ihrer ersten zehn Lebensjahre teilt Mireille aber mit keinem ihrer elf Geschwister. Sie ist die einzige, die die Erfahrung der Flucht gemacht hat. Mireille ist mit einem Abstand von zehn Jahren die Älteste, sie war lange ein Einzelkind. Darin sieht Mireille auch eine mögliche Erklärung dafür, dass sie sich  bei ihrer Identitätssuche so alleine gefühlt hat. Mireilles jüngster Bruder ist sieben Jahre alt und hat mit seinen elf Geschwistern eine Reihe an Vorbildern, an die er sich bei Bedarf halten kann. Mireille fehlte eine derartige Orientierungshilfe, erklärt sie. Trotzdem schöpft sie Kraft aus dem engen Kontakt zu ihrer mittlerweile so großen Patchwork-Familie und findet darin Stabilität und Geborgenheit.  

Die Antworten, die die zahlreichen Geschwister auf die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit finden, klaffen weit auseinander: Drei von Mireilles Geschwistern sehen sich als SchweizerInnen mit österreichischer Staatsbürgerschaft: „Sie sehen das mit der Identität viel lockerer“, sagt Mireille. Die drei wuchsen gemeinsam in einer internationalen Schule in der Schweiz auf, umgeben von einer Vielzahl von Kindern mit Migrationshintergrund und unterschiedlichen Hautfarben, darunter auch SchülerInnen mit kongolesischen Wurzeln. Bräuchen und Traditionen aus dem Kongo wurde in der Kindheit und Jugend der drei ganz nebenbei Rechnung getragen. Ihre Schwester könne deshalb seit jeher etwa viel besser kongolesisch tanzen als sie, erklärt Mireille.  Sie selbst hingegen fühlte sich mit ihrer Migrationsgeschichte immer alleine: „In Österreich war ich mit meiner dunklen Haut oft die Einzige, zum Beispiel in meiner Schulklasse. Das war hier nichts Normales“, erzählt sie.

Woher kommst du wirklich? In Mireilles Erzählung hallt die Erfahrung vieler Kinder von MigrantInnen wider, die immer wieder mit der Frage konfrontiert werden: „Woher kommst du wirklich?“ Die Dokumentarfilmerin Christina Antonakos-Wallace stellte diesbezüglich im Interview mit progress fest: „Wenn diese Frage, woher du ‚wirklich’ kommst, die erste ist und du sie immer und immer wieder beantworten musst, in deiner eigenen Stadt, wenn im Grunde der einzige Ort, den du nennen kannst, ‚hier’ ist, und dann fragen die Leute ein zweites und ein drittes Mal nach, dann ist das eine sehr problematische Frage. Es ist dann keine Wahl mehr, dich mit deiner Identität auseinander zu setzen, wenn dir konstant auf subtile Art und Weise gesagt wird, dass du nicht dazugehörst“.

Mireilles fünf in Wien aufgewachsene Halbgeschwister, zwischen sieben und 17 Jahre alt, vermischten das Kongolesische und das Österreichische ohne Probleme, erzählt Mireille. Ihr soziales Umfeld ist vielfältig und reicht von den Wiener Sängerknaben über die katholisch-kongolesische Community in Wien bis hin zu bunt durchgemischten Freundeskreisen. Im Gegensatz zu ihrer ältesten Schwester sprechen sie perfekt Lingala, eine im Kongo weit verbreitete Sprache. Überhaupt wird dem Kongolesischen in der Erziehung ihrer Geschwister viel mehr Wert beigemessen, meint Mireille. Damit sind neben Essen und Musik auch soziale Netzwerke und bestimmte Wertvorstellungen gemeint. „Meine Eltern haben auf eine übertriebene Art versucht, mich österreichisch zu erziehen. Wir haben Sissi-Filme geschaut, denn sie hielten das für authentisch. Wir fuhren quer durch das ganze Land und erkundeten jeden Winkel, von Bregenz bis Eisenstadt. Lingala sprachen sie nur miteinander, mit mir bloß Deutsch und Französisch. Deshalb auch mein seltsamer Akzent, wenn ich Lingala spreche“, sagt sie.

Generationenkonflikte? Zurück an den Zapfhähnen der Bar antwortet Mireille auf die Frage, ob es in der Großfamilie auch Generationenkonflikte gäbe, wie aus der Pistole geschossen: „Das traditionelle Frauenbild meines Vaters. Seiner Ansicht nach muss eine ‚gute‘ Frau den Haushalt führen. Sie soll gut kongolesisch Kochen können.“ Figurbetonte, enge Kleidung akzeptiere ihr Vater, abendliches Ausgehen und Feiern sei in seinen Augen aber ein absolutes No-Go. Auch für erwachsene Frauen, auch wenn sie schon über 30 sind, erklärt Mireille. Ob er das gutheißt, wenn sie abends arbeitet oder ausgeht, tangiert sie heute aber wenig. „Aus meiner Sicht bin ich seiner Autorität entwachsen“, sagt sie. An Mireilles politischen Aktivitäten und ihrer Studienwahl findet ihr Vater Gefallen.

Ehe Mireille weitereilt, sagt sie noch etwas, das einen staunend zurücklässt. Sie wird bald heiraten. Und zwar, sie zögert kurz: einen Kongolesen, auch er ein angehender Mediziner. „Ich wollte eigentlich nie einen Kongolesen heiraten, und mein zukünftiger Mann dachte auch nicht im Traum daran, eine Kongolesin zur Frau zu nehmen“, sagt Mireille mit einem Lächeln im Gesicht. „Aber wir sind eine perfekte Ergänzung  für einander.“

Mona El Khalaf hat Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität Wien studiert und arbeitet als freie Journalistin.

Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme

  • 03.02.2014, 12:27
Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.
Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

 

Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

progress: Sie haben die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache an der Uni Wien inne. Die Professur wurde erst 2010 eingeführt – wäre der Bedarf dafür nicht schon früher da gewesen?

İnci Dirim: Das ist die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache bzw. für Deutsch in der Migrationsgesellschaft in ganz Österreich, nicht nur an der Uni Wien. Dass sie erst so spät eingeführt wurde, ist wahrscheinlich eine Frage von Politik und Selbstverständnis – ob man sich als Migrationsgesellschaft versteht oder nicht. Wahrscheinlich hat das auch mit der Distanz zwischen Uni und Gesellschaft zu tun, dass man also gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen nicht unbedingt als Aufgabe der Universität wahrgenommen hat.

Was ist der Unterschied zwischen Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF)?

Bei Deutsch als Fremdsprache geht es um den Deutschunterricht außerhalb von Österreich beziehungsweise außerhalb von amtlich deutschsprachigen Ländern. Das heißt zum Beispiel, wenn jemand in Südafrika in der Schule Deutsch oder wenn jemand in der Türkei zum Goethe-Insitut geht, um einen Deutschlurs zu besuchen, sind das Deutschlernaktivitäten in Umgebungen, in denen i.d.R. sonst nicht Deutsch gesprochen wird und man den Fremdsprachenunterricht Deutsch besucht. So wie wir hier zum Beispiel den Französischunterricht als Fremdsprachenunterricht haben – das ist dann eine Sprache, die man im Alltag und der Umgebung meistens nicht spricht. Deutsch als Zweitsprache wäre dann das Deutsch, das hier in Österreich benutzt wird. Wenn also Kinder, Jugendliche oder Erwachsene als MigrantInnen nach Österreich kommen und hier das Deutsche benutzen – bei ihnen geht man davon aus, dass sie Deutsch im Alltag, in der Bildungsinstitution und im Berufsleben brauchen. Es geht also um den Unterschied zwischen einer Fremdsprache und der Frage des Zurechtkommens mit der deutschen Sprache in der umgebenden Gesellschaft.

Was bringt die Differenzierung zwischen einer Erst- und Zweitsprache?

Da könnte man zunächst die Begriffe selbst kritisch beleuchten. Studierende in meinem Fachbereich haben das beispielsweise kritisiert und gesagt, Zweitsprache ist ein Begriff, der einen eigentlich auf einen bestimmten Status von Zugehörigkeit festlegt. Geht man zum Beispiel davon aus, dass jemand in Tschechien Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und nach Österreich kommt, wird er in zum Zweitsprachler des Deutschen. Aber Sie werden mir zustimmen, dass man niemals vom Deutsch als Zweitsprachler zum Deutsch als Muttersprachler werden würde. Es wird also akzeptiert, dass man eine große Nähe zum Deutschen als Sprache hat, aber man wird nicht wirklich als Deutsch-Sprechender akzeptiert. Und da haben Studierende zu Recht gefragt: Warum ist das eigentlich so? Immerhin empfinde ich die Sprache genauso als meine Sprache und denke, lebe, träume in dieser Sprache. Und wenn ich jetzt einen bosnischen und keinen kärtnerischen Akzent habe, warum ist das ein Problem? Aus einer spracherwerbstheoretischen Perspektive aus lässt sich sagen, dass es Unterschiede im Erwerb des Deutschen als die Erstsprache (bis zum dritten Lebensjahr) und dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache gibt, je nachdem wann der Erwerb des Deutschen einsetzt.

Wohin kann diese Unterscheidung führen?

Die Frage ist, was als Unterschied angesehen wird, jenseits der spracherwerbstheoretischen Erkenntnisse? Wenn es die Herkunft der Eltern sein soll, nach der bestimmt wird, dass man Deutsch als Zweitsprache erwirbt, dann wäre das eine biologistische Interpretation und sehr problematisch – das kann bis hin zu Rassismus gelangen. Ich finde es problematisch, wenn eine Gruppe von Personen konstruiert wird, die nie wirklich akzeptiert werden wird. Aber zu sagen: Ach so, dann brauchen wir ja Deutsch als Zweitsprache gar nicht mehr, ist natürlich auch nicht richtig. An den Schulen gibt es viele Kinder, die nicht das Deutsch sprechen, das die Schule erwartet, die also im Unterricht sitzen und nicht genug verstehen. Diesen Kindern die Förderung zu enthalten wäre eine Katastrophe. Also solange die Schule monolingual deutschsprachig bleibt, muss die Deutschförderung, die gebraucht wird, auch angeboten werden, ohne jedoch Kinder und Jugendliche für immer auf einen Status von nicht-kompetenten SprecherInnen des Deutschen festzulegen.

Ist der derzeitige Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulsystem sinnvoll?

Die Monolingualität der Schule passt nicht zur Mehrsprachigkeit der Gesellschaft. Es ist schon so oft festgestellt worden, dass eine bilinguale oder mehrsprachige Erziehung für die Kinder besser wäre. Aber das hängt davon ab, wie diese Erziehung angeboten wird. Mir geht es darum, Benachteiligung zu reduzieren und Selbstartikulation im Sinne von Agency zu ermöglichen. Nach den gängigen Vorstellungen heißt Mehrsprachigkeit in der Schule leider oft, dass etwa zwei Kinder, die in der Klasse sitzen, gefragt werden: Kannst du das denn mal auf Serbisch sagen? Ihr sprecht ja so schön Serbisch alle! Und dann denkt man sich: Erledigt. So einfach ist das aber nicht. Allerdings gibt es bereits Projekte, die zum Ziel haben, den Einbezug von Mehrsprachigkeit in die Schule zu systematisieren und zu professionalisieren, z.B. das Projekt „MARILLE“.

Werden die LehrerInnen im Bereich Mehrsprachigkeit allein gelassen?

Es geht darum, dass die Kinder die Sprachen als Bildungssprachen lernen, sie benutzen können, und darum, die Benachteiligungen zu reduzieren, die durch die Monolingualität der Schule entsteht. Es wäre eine Qualifizierungsaufgabe für die Universitäten und die Pädagogischen Hochschulen die LehrerInnen so auszubilden, dass sie in den verschiedenen Sprachen auch Unterricht anbieten können. Im Moment sind wir davon meilenweit entfernt. Deshalb muss man unter diesen Umständen vornehmlich auf Deutsch als Zweitsprache-Förderung setzen, sie garantieren. Die Entwicklung von Methoden des Einbezugs von Mehrsprachigkeit würde dann mit gutem Gewissen dem folgen können.

Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit derzeit in der LehrInnenausbildung?

Eine viel zu geringe Rolle. Im Moment sind das nur die Deutsch-Studierenden an der Uni Wien, die verpflichtend ein Modul aus DaZ/DaF besuchen müssen, wobei es hier ja vornehmlich um Deutsch geht und nicht um andere Sprachen als Deutsch. Alle anderen Lehramtsstudierenden kommen aber auch mit DaZ gar nicht in Berührung. An den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen ist DaZ generell nicht systematsich verankert. Aber es gibt viele DozentInnen, die mit großem Eigenengagement die Perspektive DaZ in ihre Lehre integrieren. Mehrsprachigkeit im Sinne von migrationsspezifischer Mehrsprachigkeit kommt dem gegenüber eher weniger vor und hängt auch vom Engagement von Einzelpersonen ab.

Bleiben wir bei der Schule: Sind Maßnahmen wie Deutsch vor Schuleintritt oder Deutschgebote in Pausenhöfen sinnvoll?

Sprache erfüllt mehrere Funktionen, auf der einen Seite spielt Sprache eine Rolle als Kommunikationsmittel, auf der anderen Seite ist Sprache auch ein Phänomen, mit dem Zugehörigkeiten markiert werden. Und diese Frage von Zugehörigkeit spielt auch eine große Rolle in der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Argumente für Deutschgebote und Sprachenverbote. Es wird z.B. behauptet, dass andere gestört würden, wenn die Kinder andere Sprachen als Deutsch sprechen, weil sie nichts verstehen. Ich denke generell, dass die Pause für Erholung und Gespräche zur Verfügung steht. Dafür dass alle alle privaten Gespräche verstehen, besteht keine Notwendigkeit. Wenn ich selber an der Uni bin und Kaffee trinke, dann bin ich auch froh, wenn ich nicht alles verstehen muss, was um mich herum gesagt wird. Auch Lehrkräfte im Unterricht müssen nicht alles verstehen können, das wäre ohnehin auch mit dem alleinigen Gebrauch des Deutschen nicht möglich – man schreibt sich z.B. Zettel und flüstert sich zu. Zudem gibt es viele gute Möglichkeiten, die Mehrsprachigkeit für die Bildung von Schülerinnen und Schülern einzusetzen. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Ausbildung verbessert wird und methodisch in den Sprachen gearbeitet wird, die von den Kindern und Jugendlichen gesprochen werden. Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme.

Was sagen Sie zur Zurückstellung vom Schulbesuch, wenn Kinder nicht ausreichend Deutsch können?

Es ist durchaus möglich, dass ein Vorschuljahr mit guter Deutschförderung sprachliche Zuwächse im Deutschen mit sich bringt. Man kann jedoch Bildung nicht allein aus der Perspektive des Wissenszuwachses beurteilen. Bildung heißt nicht nur, dass man Wissen erwirbt, es heißt auch Subjektivierung. Die Einschulung spielt eine ganz große Rolle in unserem Leben, ist ein wichtiges Ereignis. Wenn man zu einem Kind sagt: Du kommst nicht in die erste Klasse, du musst jetzt erstmal Deutsch lernen, dann ist das ein möglicherweise ein Schock. Das Kind bekommt den Eindruck: Mit mir stimmt etwas nicht. Welches Kind versteht denn, was ausreichende Deutschkompetenz heißt? Abgesehen davon, lässt sich die Schulreife nicht an der Beherrschung der Sprache Deutsch festmachen. Kinder können in anderen Sprachen und Sprachenkombinationen schulreif sein. Es wäre also eine große Ungerechtigkeit, Kinder nicht vom der Einschulung zurückzuhalten, weil die Schule keine Angebote in den von ihnen gesprochenen Sprachen bereithält. Aus vielen Gründen also muss man vom Kindergarten an bis zur Matura ausreichend Lernangebote für die deutsche Bildungssprache schaffen. Ein Qualifizierungs- und Angebotsdefizit von Universität, Hochschule und Schule kann nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.

In der sogenannten Integrationsdebatte wird oft über Sprache gesprochen. Funktioniert Inklusion wirklich in erster Linie über Sprache?

Ich würde eigentlich beide Begriffe nicht verwenden wollen. Integration wird oft als Assimilation verstanden und richtet sich einseitig an MigrantInnen. Ich stehe auch nicht für den Begriff der Inklusion, weil er ein pathologisierendes Element enthält. Ich würde einfach sagen: Beteiligung an der Gesellschaft. Und die wird nicht nur durch Deutsch ermöglicht. Das Problem ist, dass die Mehrheitsgesellschaft dabei „fein aus dem Schneider ist“, Ausgrenzungsmechanismen und institutionelle Diskriminierung aber bestehen bleiben. Auch wenn jemand perfekt Deutsch kann, gibt es Ausgrenzungsprobleme, die wir bewältigen müssen. Ich würde nie sagen, die Menschen sollen kein Deutsch lernen, aber auch nicht: Die Menschen sollen Deutsch lernen, weil ich davon ausgehe – und das ist meine feste Arbeitshypothese – dass sowieso jeder, der nach Österreich kommt, Deutsch lernen möchte. Wer möchte denn schon auf der Straße stehen und einen Busfahrplan nicht verstehen? Oder wenn man angesprochen wird, nicht antworten können? Es soll Angebote geben, aber ich halte nichts von Zwang, der Menschen unterstellt, dass sie kein Deutsch sprechen möchten.

Warum reagieren so viele Leute negativ, wenn sie „Ich geh’ Billa“ hören?

Die Leute haben vielleicht ein Problem damit, dass Deutsch auf eine Weise gesprochen wird, durch die erkennbar wird, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben. Wenn Jugendliche sagen Ich geh Billa, dann wird möglicherweise interpretiert, dass die Jugendlichen nicht mehr richtig Deutsch sprechen können. Da kommt dann eine Vorstellung von sprachlicher Korrektheit ins Spiel und es wird gesagt: Das Deutsch geht kaputt,, die Sprachkompetenz in der Gesellschaft nimmt ab... Das ist ein Rattenschwanz an Argumenten. Aber Sprache verändert sich immer. Die Sprache wird ja von vielen Seiten beeinflusst, aber in diesen Argumentationen kommt dann die Hierarchie ins Spiel: Wird Deutsch vom Französischen beeinflusst, hat niemand damit ein ernsthaftes Problem. Aber mit einem Einfluss des Türkisch zum Beispiel schon, jedenfalls wäre das meine Hypothese. Das Problem ist nicht, dass die Sprache sich verändert, sondern dass manche MigrantInnengruppen als schlechter angesehen werden und ein Einfluss dieser Sprachen auf das Deutsche möglicherweise von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft negativ beurteilt wird.

 

Vanessa Gaigg führte das Interview, sie studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

progress: Sie haben die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache an der Uni Wien inne. Die Professur wurde erst 2010 eingeführt – wäre der Bedarf dafür nicht schon früher da gewesen?

İnci Dirim: Das ist die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache bzw. für Deutsch in der Migrationsgesellschaft in ganz Österreich, nicht nur an der Uni Wien. Dass sie erst so spät eingeführt wurde, ist wahrscheinlich eine Frage von Politik und Selbstverständnis – ob man sich als Migrationsgesellschaft versteht oder nicht. Wahrscheinlich hat das auch mit der Distanz zwischen Uni und Gesellschaft zu tun, dass man also gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen nicht unbedingt als Aufgabe der Universität wahrgenommen hat.

Was ist der Unterschied zwischen Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF)?

Bei Deutsch als Fremdsprache geht es um den Deutschunterricht außerhalb von Österreich beziehungsweise außerhalb von amtlich deutschsprachigen Ländern. Das heißt zum Beispiel, wenn jemand in Südafrika in der Schule Deutsch oder wenn jemand in der Türkei zum Goethe-Insitut geht, um einen Deutschlurs zu besuchen, sind das Deutschlernaktivitäten in Umgebungen, in denen i.d.R. sonst nicht Deutsch gesprochen wird und man den Fremdsprachenunterricht Deutsch besucht. So wie wir hier zum Beispiel den Französischunterricht als Fremdsprachenunterricht haben – das ist dann eine Sprache, die man im Alltag und der Umgebung meistens nicht spricht. Deutsch als Zweitsprache wäre dann das Deutsch, das hier in Österreich benutzt wird. Wenn also Kinder, Jugendliche oder Erwachsene als MigrantInnen nach Österreich kommen und hier das Deutsche benutzen – bei ihnen geht man davon aus, dass sie Deutsch im Alltag, in der Bildungsinstitution und im Berufsleben brauchen. Es geht also um den Unterschied zwischen einer Fremdsprache und der Frage des Zurechtkommens mit der deutschen Sprache in der umgebenden Gesellschaft.

Was bringt die Differenzierung zwischen einer Erst- und Zweitsprache?

Da könnte man zunächst die Begriffe selbst kritisch beleuchten. Studierende in meinem Fachbereich haben das beispielsweise kritisiert und gesagt, Zweitsprache ist ein Begriff, der einen eigentlich auf einen bestimmten Status von Zugehörigkeit festlegt. Geht man zum Beispiel davon aus, dass jemand in Tschechien Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und nach Österreich kommt, wird er in zum Zweitsprachler des Deutschen. Aber Sie werden mir zustimmen, dass man niemals vom Deutsch als Zweitsprachler zum Deutsch als Muttersprachler werden würde. Es wird also akzeptiert, dass man eine große Nähe zum Deutschen als Sprache hat, aber man wird nicht wirklich als Deutsch-Sprechender akzeptiert. Und da haben Studierende zu Recht gefragt: Warum ist das eigentlich so? Immerhin empfinde ich die Sprache genauso als meine Sprache und denke, lebe, träume in dieser Sprache. Und wenn ich jetzt einen bosnischen und keinen kärtnerischen Akzent habe, warum ist das ein Problem? Aus einer spracherwerbstheoretischen Perspektive aus lässt sich sagen, dass es Unterschiede im Erwerb des Deutschen als die Erstsprache (bis zum dritten Lebensjahr) und dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache gibt, je nachdem wann der Erwerb des Deutschen einsetzt.

Wohin kann diese Unterscheidung führen?

Die Frage ist, was als Unterschied angesehen wird, jenseits der spracherwerbstheoretischen Erkenntnisse? Wenn es die Herkunft der Eltern sein soll, nach der bestimmt wird, dass man Deutsch als Zweitsprache erwirbt, dann wäre das eine biologistische Interpretation und sehr problematisch – das kann bis hin zu Rassismus gelangen. Ich finde es problematisch, wenn eine Gruppe von Personen konstruiert wird, die nie wirklich akzeptiert werden wird. Aber zu sagen: Ach so, dann brauchen wir ja Deutsch als Zweitsprache gar nicht mehr, ist natürlich auch nicht richtig. An den Schulen gibt es viele Kinder, die nicht das Deutsch sprechen, das die Schule erwartet, die also im Unterricht sitzen und nicht genug verstehen. Diesen Kindern die Förderung zu enthalten wäre eine Katastrophe. Also solange die Schule monolingual deutschsprachig bleibt, muss die Deutschförderung, die gebraucht wird, auch angeboten werden, ohne jedoch Kinder und Jugendliche für immer auf einen Status von nicht-kompetenten SprecherInnen des Deutschen festzulegen.

Ist der derzeitige Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulsystem sinnvoll?

Die Monolingualität der Schule passt nicht zur Mehrsprachigkeit der Gesellschaft. Es ist schon so oft festgestellt worden, dass eine bilinguale oder mehrsprachige Erziehung für die Kinder besser wäre. Aber das hängt davon ab, wie diese Erziehung angeboten wird. Mir geht es darum, Benachteiligung zu reduzieren und Selbstartikulation im Sinne von Agency zu ermöglichen. Nach den gängigen Vorstellungen heißt Mehrsprachigkeit in der Schule leider oft, dass etwa zwei Kinder, die in der Klasse sitzen, gefragt werden: Kannst du das denn mal auf Serbisch sagen? Ihr sprecht ja so schön Serbisch alle! Und dann denkt man sich: Erledigt. So einfach ist das aber nicht. Allerdings gibt es bereits Projekte, die zum Ziel haben, den Einbezug von Mehrsprachigkeit in die Schule zu systematisieren und zu professionalisieren, z.B. das Projekt „MARILLE“.

Werden die LehrerInnen im Bereich Mehrsprachigkeit allein gelassen?

Es geht darum, dass die Kinder die Sprachen als Bildungssprachen lernen, sie benutzen können, und darum, die Benachteiligungen zu reduzieren, die durch die Monolingualität der Schule entsteht. Es wäre eine Qualifizierungsaufgabe für die Universitäten und die Pädagogischen Hochschulen die LehrerInnen so auszubilden, dass sie in den verschiedenen Sprachen auch Unterricht anbieten können. Im Moment sind wir davon meilenweit entfernt. Deshalb muss man unter diesen Umständen vornehmlich auf Deutsch als Zweitsprache-Förderung setzen, sie garantieren. Die Entwicklung von Methoden des Einbezugs von Mehrsprachigkeit würde dann mit gutem Gewissen dem folgen können.

Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit derzeit in der LehrInnenausbildung?

Eine viel zu geringe Rolle. Im Moment sind das nur die Deutsch-Studierenden an der Uni Wien, die verpflichtend ein Modul aus DaZ/DaF besuchen müssen, wobei es hier ja vornehmlich um Deutsch geht und nicht um andere Sprachen als Deutsch. Alle anderen Lehramtsstudierenden kommen aber auch mit DaZ gar nicht in Berührung. An den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen ist DaZ generell nicht systematsich verankert. Aber es gibt viele DozentInnen, die mit großem Eigenengagement die Perspektive DaZ in ihre Lehre integrieren. Mehrsprachigkeit im Sinne von migrationsspezifischer Mehrsprachigkeit kommt dem gegenüber eher weniger vor und hängt auch vom Engagement von Einzelpersonen ab.

Bleiben wir bei der Schule: Sind Maßnahmen wie Deutsch vor Schuleintritt oder Deutschgebote in Pausenhöfen sinnvoll?

Sprache erfüllt mehrere Funktionen, auf der einen Seite spielt Sprache eine Rolle als Kommunikationsmittel, auf der anderen Seite ist Sprache auch ein Phänomen, mit dem Zugehörigkeiten markiert werden. Und diese Frage von Zugehörigkeit spielt auch eine große Rolle in der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Argumente für Deutschgebote und Sprachenverbote. Es wird z.B. behauptet, dass andere gestört würden, wenn die Kinder andere Sprachen als Deutsch sprechen, weil sie nichts verstehen. Ich denke generell, dass die Pause für Erholung und Gespräche zur Verfügung steht. Dafür dass alle alle privaten Gespräche verstehen, besteht keine Notwendigkeit. Wenn ich selber an der Uni bin und Kaffee trinke, dann bin ich auch froh, wenn ich nicht alles verstehen muss, was um mich herum gesagt wird. Auch Lehrkräfte im Unterricht müssen nicht alles verstehen können, das wäre ohnehin auch mit dem alleinigen Gebrauch des Deutschen nicht möglich – man schreibt sich z.B. Zettel und flüstert sich zu. Zudem gibt es viele gute Möglichkeiten, die Mehrsprachigkeit für die Bildung von Schülerinnen und Schülern einzusetzen. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Ausbildung verbessert wird und methodisch in den Sprachen gearbeitet wird, die von den Kindern und Jugendlichen gesprochen werden. Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme.

Was sagen Sie zur Zurückstellung vom Schulbesuch, wenn Kinder nicht ausreichend Deutsch können?

Es ist durchaus möglich, dass ein Vorschuljahr mit guter Deutschförderung sprachliche Zuwächse im Deutschen mit sich bringt. Man kann jedoch Bildung nicht allein aus der Perspektive des Wissenszuwachses beurteilen. Bildung heißt nicht nur, dass man Wissen erwirbt, es heißt auch Subjektivierung. Die Einschulung spielt eine ganz große Rolle in unserem Leben, ist ein wichtiges Ereignis. Wenn man zu einem Kind sagt: Du kommst nicht in die erste Klasse, du musst jetzt erstmal Deutsch lernen, dann ist das ein möglicherweise ein Schock. Das Kind bekommt den Eindruck: Mit mir stimmt etwas nicht. Welches Kind versteht denn, was ausreichende Deutschkompetenz heißt? Abgesehen davon, lässt sich die Schulreife nicht an der Beherrschung der Sprache Deutsch festmachen. Kinder können in anderen Sprachen und Sprachenkombinationen schulreif sein. Es wäre also eine große Ungerechtigkeit, Kinder nicht vom der Einschulung zurückzuhalten, weil die Schule keine Angebote in den von ihnen gesprochenen Sprachen bereithält. Aus vielen Gründen also muss man vom Kindergarten an bis zur Matura ausreichend Lernangebote für die deutsche Bildungssprache schaffen. Ein Qualifizierungs- und Angebotsdefizit von Universität, Hochschule und Schule kann nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.

In der sogenannten Integrationsdebatte wird oft über Sprache gesprochen. Funktioniert Inklusion wirklich in erster Linie über Sprache?

Ich würde eigentlich beide Begriffe nicht verwenden wollen. Integration wird oft als Assimilation verstanden und richtet sich einseitig an MigrantInnen. Ich stehe auch nicht für den Begriff der Inklusion, weil er ein pathologisierendes Element enthält. Ich würde einfach sagen: Beteiligung an der Gesellschaft. Und die wird nicht nur durch Deutsch ermöglicht. Das Problem ist, dass die Mehrheitsgesellschaft dabei „fein aus dem Schneider ist“, Ausgrenzungsmechanismen und institutionelle Diskriminierung aber bestehen bleiben. Auch wenn jemand perfekt Deutsch kann, gibt es Ausgrenzungsprobleme, die wir bewältigen müssen. Ich würde nie sagen, die Menschen sollen kein Deutsch lernen, aber auch nicht: Die Menschen sollen Deutsch lernen, weil ich davon ausgehe – und das ist meine feste Arbeitshypothese – dass sowieso jeder, der nach Österreich kommt, Deutsch lernen möchte. Wer möchte denn schon auf der Straße stehen und einen Busfahrplan nicht verstehen? Oder wenn man angesprochen wird, nicht antworten können? Es soll Angebote geben, aber ich halte nichts von Zwang, der Menschen unterstellt, dass sie kein Deutsch sprechen möchten.

Warum reagieren so viele Leute negativ, wenn sie „Ich geh’ Billa“ hören?

Die Leute haben vielleicht ein Problem damit, dass Deutsch auf eine Weise gesprochen wird, durch die erkennbar wird, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben. Wenn Jugendliche sagen Ich geh Billa, dann wird möglicherweise interpretiert, dass die Jugendlichen nicht mehr richtig Deutsch sprechen können. Da kommt dann eine Vorstellung von sprachlicher Korrektheit ins Spiel und es wird gesagt: Das Deutsch geht kaputt,, die Sprachkompetenz in der Gesellschaft nimmt ab... Das ist ein Rattenschwanz an Argumenten. Aber Sprache verändert sich immer. Die Sprache wird ja von vielen Seiten beeinflusst, aber in diesen Argumentationen kommt dann die Hierarchie ins Spiel: Wird Deutsch vom Französischen beeinflusst, hat niemand damit ein ernsthaftes Problem. Aber mit einem Einfluss des Türkisch zum Beispiel schon, jedenfalls wäre das meine Hypothese. Das Problem ist nicht, dass die Sprache sich verändert, sondern dass manche MigrantInnengruppen als schlechter angesehen werden und ein Einfluss dieser Sprachen auf das Deutsche möglicherweise von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft negativ beurteilt wird.

 

Vanessa Gaigg führte das Interview, sie studiert Philosophie an der Universität Wien.

Verhärtete Fronten

  • 22.01.2014, 17:01

Die konfliktgeladene Debatte rund um das Verbot von Sexkauf ist in Österreich und Deutschland neu entflammt. Damit verbunden sind komplexe Fragestellungen zu Menschenrechten, Migrationspolitik und sozialer Sicherheit.
Ein Kommentar von Brigitte Theißl.

 

Die konfliktgeladene Debatte rund um das Verbot von Sexkauf ist in Österreich und Deutschland neu entflammt. Damit verbunden sind komplexe Fragestellungen zu Menschenrechten, Migrationspolitik und sozialer Sicherheit.
Ein Kommentar von Brigitte Theißl.

„Wir fordern: Prostitution abschaffen! Ändert endlich das Zuhälter-Gesetz“, ist auf der Titelseite der aktuellen Emma zu lesen. 90 prominente Persönlichkeiten, die ihren „Appell gegen Prostitution“ unterzeichnet haben – unter ihnen etwa Heiner Geißler, Senta Berger und Sarah Wiener –, hat Alice Schwarzer um sich geschart. Der Appell richtet sich an den Deutschen Bundestag, der 2001 ein Prostitutionsgesetz verabschiedete, das im europäischen Ländervergleich zu den liberalsten zählt. Zeitgleich zum Start der Kampagne veröffentlichte Schwarzer ihr neues Buch „Prostitution – Ein deutscher Skandal“. Wer zum Emma-Jahres-Abo greift, erhält als Geschenk das ebenfalls 2013 erschienene „Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf“ – Schwarzer produziert am laufenden Band. Und was Deutschlands berühmteste Feministin sagt, hat Gewicht: Ihre Bestseller werden im Spiegel und in der Bild besprochen, sie ist Dauergast in TV-Talkshows. Feministische Themen, die kaum Eingang in Mainstream-Medien finden, erhalten erst mithilfe von Schwarzer Nachrichtenwert.

Sexkaufverbot. Die in Österreich schon seit einigen Monaten heftig geführte Debatte rund um Prostitution – beziehungsweise Sexarbeit – hingegen wurde bisher vorrangig von feministischen und alternativen Medien abseits des „Malestreams“ aufgegriffen. Auslöser für das erneute Aufflammen der Diskussion war ein Petitionstext: Im April 2013 veröffentlichte der neu gegründete Verein feministischer Diskurs den „Wiener Appell“, der sich am schwedischen Gesetzesmodell orientiert und ein Verbot von Sexkauf fordert. In Schweden ist Sexkauf bereits seit 1999 verboten – unter Strafe gestellt ist dort also nicht das Anbieten der sexuellen Dienstleistung, sondern der Kauf derselben durch die Freier. Was für den Verein feministischer Diskurs und Emma als Vorzeigemodell gilt, wird von vielen Sexarbeiter_innen-Verbänden und NGOs, die sich für die Betroffenen einsetzen, heftig kritisiert. Die feministische Migrantinnen-Organisation LEFÖ pocht etwa auf „eine klare Differenzierung zwischen Frauenhandel, Gewalt in jeglichem Sinn einerseits und (freiwilliger) Sexarbeit andererseits“ und kämpft für die Ausweitung der Rechte von Sexarbeiter_innen in Österreich.

Rund 80 Prozent der Dienstleister_innen, die in Bordellen, Privatwohnungen oder den wenigen erlaubten Zonen am Wiener Straßenstrich, unter zumeist schlechten Bedingungen arbeiten, sind Migrant_innen. Schwarzer und andere Aktivist_innen, die sich für ein Verbot der Prostitution stark machen, sehen Sexarbeiter_innen vorrangig als Opfer von Menschenhandel, als Zwangsprostituierte, die von Zuhältern mit falschen Versprechungen von Ost- nach Westeuropa gelockt wurden. Wie es den zugewanderten Frauen, den wenigen Männern und Transpersonen, die in diesem Sektor arbeiten, tatsächlich geht, darüber gibt es aber – sowohl vonseiten staatlicher Behörden als auch von Wissenschafter_innen – nur wenig aussagekräftiges Datenmaterial. Sexarbeiter_innen sind vielfach von rassistischer und sexistischer Diskriminierung (unter anderem durch Gesetze) betroffen und stehen als eine Art Gegenbild zur bürgerlich-sittsamen Frau im gesellschaftlichen Abseits.

Die Wiener Soziologin Helga Amesberger hat an einer internationalen Studie zu Prostitution mitgear- beitet und dafür mit einer großen Anzahl von Sexar- beiter_innen gesprochen. Amesberger steht Verbots- Modellen äußerst kritisch gegenüber, wie sie unter anderem in einem Interview mit der Tageszeitung Die Presse erzählte. In Schweden etwa sei Prostitution nicht zurückgegangen oder Freier abgeschreckt worden, das Geschäft habe sich vielmehr in die Unsichtbarkeit verlagert. Damit habe sich der Druck auf Sexarbeiter_innen erhöht.

Ausblendungen. Auch wenn sich Sexarbeit als äußerst prekärer Sektor darstellt – der Mythos vom schnell und einfach verdienten Geld entstammt vorrangig Drehbüchern –, kritisieren viele Autor_innen das Ausblenden ermächtigender Aspekte von (migrantischer) Sexarbeit: „Durch die Gleichsetzung von Sexarbeit und Frauenhandel werden Migrant_innen generell als naive Opfer konstruiert und darüber hinaus häufig auf eine sehr sensationalistische Art medial präsentiert. Dass die Migration in die Sexarbeit selbst eine Strategie sein kann, um sich zu wehren, sie eine Möglichkeit sein kann, den patriarchalen Strukturen im Herkunftsland zu entkommen und ökonomische Unabhängigkeit zu erreichen, wird somit völlig ausgeblendet“, schreiben etwa Gergana Mineva, Luzenir Caixeta und Melanie Hamen in der aktuellen Schwerpunkt-Ausgabe des Onlinemagazins Migrazine.at. Die Autorinnen richten ihren Fokus damit auf eine zentrale Perspektive – die ökonomische. Sexarbeit muss vor dem Hintergrund eines wachsenden informellen Dienstleistungssektors und der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen analysiert werden. Es ist die alte feministische Forderung der eigenständigen Existenzsicherung von Frauen, die in Zeiten europäischer Krisenpolitik höchst aktuell ist. Es gilt jedoch auch, sich im Zuge einer berechtigten Abwehr paternalistischer Zuschreibungen nicht im neoliberalen Diskurs der Freiwilligkeit und Selbstbestimmung zu verstricken: Auch Sexarbeiter_innen, die ihren Beruf freiwillig (also ohne Ausübung von Zwang durch andere Personen) gewählt haben, sind in gesellschaftliche Machtverhältnisse, sexistische und rassistische Gewaltstrukturen eingebettet.

Nicht nur in Österreich und Deutschland wird aktuell über Prostitution diskutiert – so wurde etwa auch in Frankreich ein Gesetzesentwurf zum Verbot von Sexkauf vorgelegt. Angesichts der 2014 anstehenden Wahl zum europäischen Parlament könnte sich die Debatte verschärfen. Diese ist derart vielschichtig, dass ihr eine Zuspitzung auf Legalisierung oder Verbot, auf Freiwilligkeit oder patriarchale Ausbeutung keinesfalls gerecht wird. Auch wenn es dringend Öffentlichkeit für feministische Fragestellungen braucht – die Stärke feministischer Wissensproduktion war immer schon die machtkritische Analyse, nicht die medienwirksame Kampagne.

 

Brigitte Theißl ist Redakteurin des feministischen Monatsmagazins an.schläge, betreibt zusammen mit Betina Aumair den Verein Genderraum und bloggt unter www.denkwerkstattblog.net.

 

Integration durch Rassismus

  • 21.06.2013, 16:38

Andreas Peham ist Rechtsextremismusexperte des „Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes“ (DÖW). Seit Jahrzehnten setzt er sich mit den Problemfeldern des Antisemitismus und Rassismus in der österreichischen Gesellschaft auseinander. Claudia Aurednik hat mit ihm für progress über das Problem des Rassismus innerhalb der ex-jugoslawischen und türkischen Community gesprochen.

Andreas Peham ist Rechtsextremismusexperte des „Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes“ (DÖW). Seit Jahrzehnten setzt er sich mit den Problemfeldern des Antisemitismus und Rassismus in der österreichischen Gesellschaft auseinander. Claudia Aurednik hat mit ihm für progress über das Problem des Rassismus innerhalb der ex-jugoslawischen und türkischen Community gesprochen.

progress: Gibt es unter den österreichischen MigrantInnen Rassismus?

Peham: Rassismus funktioniert relativ unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Staatsbürgerschaft und liegt quer über den verschiedenen Differenzen. Insofern können Menschen gleichzeitig Objekte sowie Subjekte des Rassismus sein. Sie können aber auch mit der Umwandlung von einem Objekt des Rassismus zum Subjekt werden und im Zuge dessen ihre rassistischen Erfahrungen verarbeiten. Kurzum: Sie können ihre Erfahrungen der Diskriminierung, Ausgrenzung und des Hasses auch nach unten weitergeben. Innerhalb der österreichischen Gesellschaft gibt es eine Hackordnung, bei der sich Menschen mit schwarzer Hautfarbe und Roma ganz unten befinden. Innerhalb der ex-jugoslawischen und türkischen Community existieren nun genau gegen diese beiden Gruppen starke Vorurteile bis hin zu offenem Hass.

progress: Welche rassistischen Vorurteile existieren in den migrantischen Communities?

Peham: Ich gebe in Schulen Workshops. Dabei werde ich oft mit dem Antiziganismus von MigrantInnen aus der ex-jugoslawischen Community konfrontiert. Dieser ist auch bei UngarInnen sehr verbreitet. Bei TschetschenInnen und TürkInnen habe ich hingegen Vorurteile gegenüber Menschen mit dunkler Hautfarbe mitbekommen. Ich verwehre mich aber dagegen, dass man – wie das die FPÖ gern zu tun pflegt – einem Objekt des Rassismus generell einen Gegenrassismus, der sich gegen ÖsterreicherInnen richte, unterstellt.

progress: Aber ist es nicht geradezu paradox, dass MigrantInnen aus der ex-jugoslawischen und türkischen Community beispielsweise AfrikanerInnen hassen?

Peham: Ein erfolgreicher Antirassismus würde ein vernünftiges oder aufgeklärtes politisches Subjekt voraussetzen. Doch dieses gibt es nicht, auch weil täglich in der Gesellschaft eine bestimmte Rangordnung mit einem bestimmten Machtgefälle produziert wird. Zudem bilden sowohl Rassismus als auch Antisemitismus Gemeinschaften. Insofern kann natürlich die These formuliert werden, dass der Rassismus innerhalb der migrantischen Communities ein Versuch ist, die Seite zu wechseln. Ich möchte das aber nicht den MigrantInnen vorwerfen. Denn es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre. Gerade aus der Warte der Marginalisierung ist es sehr wahrscheinlich, dass man auf alles zurückgreift, das eine Zugehörigkeit vermitteln kann. Und dazu zählen innerhalb der österreichischen Gesellschaft der latente Antisemitismus sowie der Rassismus.

progress: Somit stellt der Rassismus für MigrantInnen eine Integrationsfunktion in die österreichische Mehrheitsgesellschaft dar?

Peham: Ja, denn mit dem Rassismus können sich MigrantInnen in Österreich integrieren. In einer Mehrheitsgesellschaft, in der Rassismus nicht so stark auftritt und in der MigrantInnen anders wahrgenommen werden, wird die Integrationsbereitschaft von diesen anders ausgeprägt sein. Ich denke, dass nicht so sehr die Herkunft der Menschen entscheidend ist, sondern die Gesellschaft in der die Menschen leben. Ich glaube zum Beispiel, dass der Rassismus gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe nicht überall in der türkischen Diaspora gleich stark ist. Es kommt darauf an, wie das jeweilige Migrationsregime organisiert ist.

progress: Inwiefern ist die politische Einstellung der MigrantInnen für deren Rassismus entscheidend?

Peham: Rassismus ist jeweils bei den AnhängerInnen von nationalistischen und rechten Gruppen stark ausgeprägt. In der türkischen Community sind dies die AnhängerInnen der rechtsextremen MHP, die sich selbst als „Graue Wölfe“ bezeichnen. Bei den KroatInnen handelt es sich um AnhängerInnen der rechtsextremen HSP – „Kroatische Partei des Rechts“. Bei den SerbInnen um AnhängerInnen der neofaschistischen „SRS/CPC“ -„Serbische Radikale Partei“. Je weiter jemand sich politisch dem rechten Spektrum zuordnet, desto rassistischer ist er. Und umgekehrt: je rassistischer jemand ist, desto mehr wird er politisch rechts stehen. Im politisch linken Spektrum nimmt der Rassismus ab. Aber ganz links außen nimmt er wieder ein bisschen zu. Das ist sowohl beim Rassismus als auch beim Antisemitismus so. Kurz nach der Wende 1989 habe ich das bei linken autoritär eingestellten Menschen bemerkt, die hetzerische und rassistische Aussagen gegen OsteuropäerInnen äußerten. Obwohl diese Menschen nicht bereit waren in einem osteuropäischen kommunistischen Land zu leben, warfen sie den OsteuropäerInnen vor „den Sozialismus zerstört zu haben“.

progress: Dann wären wir bei Theodor W. Adorno und dessen Theorie der autoritären Persönlichkeit.

Peham: Ja, denn es ein besteht ein Zusammenhang zwischen Dogmatismus und einer Ablehnung von Differenz. Das bedeutet, dass Menschen die politisch autoritär denken und in autoritären Gruppen organisiert sind, eher zu Rassismus und Antisemitismus neigen. Eine autoritäre Grundstruktur des einzelnen Individuums prädestiniert geradezu für Rassismus und Antisemitismus. Und der kommt in rechter und linker Form vor. Entscheidend ist es, inwiefern ein Mensch bereit ist Differenzen auszuhalten und darüber zu diskutieren. Eine Kehrseite des Antisemitismus ist der Philosemitismus, der Juden romantisch verklärt. Beim Rassismus gibt es auch ein Gegenstück, den Exotismus. Dabei wird das Fremde geradezu schwärmerisch verklärt.

progress: Was kann man gegen den Rassismus in der ex-jugoslawischen und türkischen Community tun?

Peham: Man muss Aufklärung an den Schulen betreiben. Ich selbst und auch andere Vereine - wie beispielsweise der Verein „Zara“ - gehen in Schulen und halten dort Workshops ab. In den Workshops kläre ich die Jugendlichen unabhängig von ihrer jeweiligen Herkunft über Rassismus auf. Dabei bringt es beispielsweise wenig türkischen Jugendlichen etwas über Afrika zu erzählen. Denn der Rassismus hat nichts mit unterschiedlichen Hautfarben oder Kulturen zu tun. Vielmehr geht es darum, die unterdrückten Sehnsüchte und Wünsche der Jugendlichen zu erkennen und diese auf einer persönlichen Ebene aufzuklären. Denn der Rassismus hat viel mit der fehlenden Aufklärung über sich selbst und die österreichische Gesellschaft zu tun.

progress: Zu den aktuellen Protesten der Refugees haben sich die migrantischen Vereine und Diaspora-Organisationen kaum geäußert. Nur die „Israelitische Kultusgemeinde“ hat sich in der Vergangenheit deutlich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ausgesprochen. Was sind die Gründe für die mangelnde Solidarität?

Peham: Die Ex-JugoslawInnen und TürkInnen sind in Verbänden organisiert, die nicht wirklich repräsentativ sind. Politisch steht bei diesen die politische Agenda ihrer  Herkunftsländer im Vordergrund. Diese Verbände sind tunlichst drauf bedacht, das offizielle Österreich nicht zu irritieren. Daher mischen sie sich nicht in die Innenpolitik Österreichs ein und üben keine Kritik am Migrationsregime. Dahinter steckt natürlich auch die Angst, sich aus der Deckung zu wagen. Denn man muss sich in einer gesicherten Position befinden, um Österreichs Politik zu kritisieren. In der antirassistischen Bewegung selbst ist es leider zu einer Spaltung in einen eher sozialarbeiterischen und einen politischen Teil von Aktivisten gekommen. Es sollte jedoch eine Bewegung sein, die kurzfristige Hilfe und langfristige Opposition zusammenbringt. Im Unterschied zu früheren Protesten ist es beim Refugee Camp aber zu einer Selbstorganisation der Flüchtlinge gekommen. Das betrachte ich als einen großen Fortschritt.

 

Das zur Schau gestellte Elend

  • 12.02.2013, 13:45

Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel

Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel

Der Artikel erschien in der Zeitschrift der Frauensolidarität Nummer 121 (3/2012) mit dem Schwerpunkt Medien und Demokratie und wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Die Autorin präsentiert einen Artikel von Rutvica Andrijasevic zur plakativen Darstellung von Migrantinnen im Zusammenhang mit internationalen Kampagnen im osteuropäischen Raum Ende der 1990er-Jahre. Im Folgenden eine Zusammenfassung mit Auszügen daraus.

Die Migration aus Osteuropa hat seit den 1990er-Jahren kontinuierlich zugenommen. Ursache dafür ist nicht nur die Unterbeschäftigung der Frauen in den Herkunftsländern, sondern auch die verstärkte Nachfrage nach weiblicher Arbeitskraft für den Niedriglohnsektor in der Europäischen Union. Diese Nachfrage besteht besonders im Bereich der undokumentierten Haus- beziehungsweise Sexarbeit der Schattenökonomie, in der oft sklavenähnliche Bedingungen herrschen. Der Begriff „Feminisierung der Migration“ spricht auf diese überwiegend weibliche Migration an. Aufgrund der wachsenden Migrationszahlen wird die Auswanderung nicht gerade leicht gemacht – zu den hohen Kosten und Gefahren kommen starke Beschränkungen durch Visum- und Arbeitsrechtbestimmungen, welche die Flucht aus patriarchalen und wirtschaftlich ungünstigen Verhältnissen zusätzlich erschweren.

Die Europäische Union schaffte zwar Binnengrenzen ab, verstärkte dafür aber die Außengrenzen im Osten. Beitrittskandidaten müssen ihre Regelungen an die EU-Richtlinien anpassen, das schafft differenzierte Mobilität zwischen den EU-15-Staaten, den Ländern Mittel- und Osteuropas (MOE-Länder), welche seit Mai 2004 Mitglieder wurden, und jenen Ländern, die keine Beitrittskandidaten sind. Aufgrund der rechtlichen Schwierigkeiten und Gefahren ergibt sich der Bedarf Dritter, die die MigrantInnen bei der Flucht unterstützen und damit erheblichen Profit machen. Dies bringt die Frauen nicht immer ans Ziel, gerade in der Sexbranche wird Migration, die von Dritten organisiert wird, oft als Frauenhandel bezeichnet.

Damit ist die „Überführung von Personen in ausbeuterische und an Sklaverei erinnernde Verhältnisse durch Zwang, Täuschung oder Gewalt identifiziert, und allgemein verbindet man damit sexuelle Sklaverei und organisierte Kriminalität. Tatsächlich dreht sich die Rhetorik des Menschen-/Frauenhandels um das diskursive Binärzeichen Opfer – Verbrecher, und Mafia-ähnliche Organisationen gelten als Protagonisten der Versklavung von Frauen in der Prostitution mithilfe von Gewalt und Schuldknechtschaft.“

Der Artikel von Rutvica Andrijasevic behandelt die in den 1990er-Jahren in osteuropäischen Ländern durchgeführten Kampagnen, welche potenzielle MigrantInnen vor dem herrschenden Menschenhandel warnen sollten. Durchgeführt wurden diese Kampagnen von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die eng mit der Europäischen Kommission und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kooperiert. Die Autorin untersuchte die Kampagnen in der Tschechischen Republik und den baltischen Staaten und studiert die Repräsentation von Menschenhandel in Bezug auf den Dualismus von Opfern und Tätern.

Die Kampagnen hatten in erster Linie zum Ziel, vor den Gefahren der Auswanderung zu warnen, doch die Darstellung der weiblichen Körper – gefangen, verwundet und unbelebt – verbindet Migration mit Zwangsprostitution, und deren Rat lautet, „zu Hause“ zu bleiben. Weiters wird in dem Artikel auf die Viktimisierung der verwendeten Bilder eingegangen, die Frauen zu Objekten mache, sowie auf die Stereotype der Darstellungen.

Das Bild der selbstständigen Migration von Frauen

In Tschechien arbeitete die IOM 1999 mit La Strada, einer Nichtregierungsorganisation für Frauen, zusammen. Die Autorin beschreibt die Plakate: Es sind vier Bild-Text-Poster: mit dem Foto einer Frau auf der linken und einem Erlebnisbericht auf der rechten Seite. Die Berichte beschreiben, wie die Frauen von Agenturen oder Einzelpersonen in die Irre geführt und schließlich zur Prostitution gezwungen wurden. Beispielsweise antwortete Monika auf eine Zeitungsanzeige für Modelaufnahmen im Ausland und landete schließlich bei einer Pornoproduktion. Die Erzählungen kommen bei der Zwangsprostitution zum Stillstand, als ob diese die Endstation der Migration wäre.

Die Schwarz-Weiß-Darstellung der Bilder, verstärkt durch die vertikale Streckung, inszeniert den Zustand des Gefangenseins. Die Bilder wirken zerquetscht und die Frauen eingeschlossen. Die erniedrigenden Tätigkeiten geschehen vor schäbigem Hintergrund. Die Autorin erklärt das Problem, dass die Kampagne es versäumt, die verschärften Einwanderungskontrollen und die restriktiven gesetzlichen Regelungen am Arbeitsmarkt aufzuzeigen, welche den Menschenhandel und die Ausbeutung eigentlich fördern.

Die binäre Ordnung von Verbrechern und Opfern

Die Darstellung des Menschenhandels setzt auf den vereinfachenden Dualismus, der unschuldige Opfer von bösen Menschenhändlern unterscheidet. Im Folgenden wird diese binäre Logik anhand von Plakaten erläutert. In der Ukraine zeigte ein Plakat 1998 eine riesige Männergestalt, die in der einen Hand einen Käfig mit einer Frau darin hält, in der anderen ein Bündel Geld. In Moldawien wird eine Frauengestalt von einer offensichtlich männlichen Hand in die andere gereicht – und erhält im Gegenzug ebenfalls ein Geldbündel. Genderneutrale Bilder gab es 2001 in der Ukraine, wobei die allumfassende Gefahr des Menschenhandels mit einem Spinnennetz dargestellt wurde. Die Bilder vermitteln eine Vorstellung der Kriminalisierung der Gesellschaften Osteuropas nach 1989. Weiters wird das Bild der Puppe verwendet, um Missbrauch, Ausbeutung und Unfreiheit auszudrücken.

Andere Motive sind Frauen, die hockend abgebildet sind, oder einfach nur weibliche Körperteile, beispielsweise hängende Füße. „FeministInnen betonen den Unterschied zwischen ,Frau als Repräsentation‘ und ,Frau als Erfahrung‘. Frauen in ihrem geschichtlichen Sein und als Subjekte sozialer Verhältnisse dürfen demnach nicht mit ,FRAU‘ verwechselt werden, die ,bloß eine Repräsentation, eine Positionalität im phallischen Modell des Begehrens und Bezeichnens‘ ist.“Andrijasevic erklärt, dass die Repräsentation von Frauen als Puppen ein Teil des patriarchalen Repertoires abendländischer Kultur ist: „Nacktheit, Schnüre und Haken, wie die IOM-Kampagnen sie verwenden, vermitteln nicht so sehr die Ähnlichkeit zwischen ,Frauen als Erfahrung‘ und ,Frau als Repräsentation‘, sondern zeigen vielmehr“, so die These der Autorin, „den Abstand zwischen beiden; sie verwandeln jedes Mal aufs Neue Frauen in FRAU“.                                                                      

Weiblichkeit, Voyeurismus und Tod

„Ein stummer, bewegungsloser, misshandelter weiblicher Körper – der Körper eines Opfers – wird zum Inbegriff der Objektivierung: ein Körper, der ausgestellt wird, ein Körper, der angestarrt werden soll.“

Die Haut spielt dabei eine wichtige Rolle, sie ist das „Grenzobjekt“, das vom anderen trennt, aber auch die „Schwelle“, die verbindet. „Die misshandelte und beschädigte Haut der menschlichen Marionette zeigt ein Subjekt an, dessen Selbst durch die Begegnung mit anderen Körpern unwiderruflich verwundet wird.“

Für Feministinnen ist (politisches) Empowerment, als Anspruchspraxis, aufs Engste damit verknüpft, stereotype Darstellungen als herrschende Repräsentationspraxis anzugreifen. Die IOM wird dem Anspruch, Empowerment zu fördern, nicht gerecht. „Die Konstruktion viktimisierender Bilder unterstützt die Produktion von FRAU als häuslich, passiv und sexuell. Diese Opferrolle stärkt eine ,Politik des Heils‘, der die Privatsphäre als der sicherste Ort für Frauen gilt.“ Somit wird das Empowerment von Frauen und deren Mobilität gehemmt.

Zur Autorin: Beate Rieger studiert Internationale Entwicklung und ist Volontärin der Frauensolidarität in Wien. Sie lebt in Neulengbach (Niederösterreich).

Anmerkung: Andrijasevic, Rutvica: Das zur Schau gestellte Elend. Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel (S. 123–143). Aus: TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder – Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld 2007.

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