Frauen

Roma-Frauen: „Wir wissen, was das Beste für sie ist“

  • 06.03.2014, 19:35

Roma sind die größte Minderheit innerhalb der Europäischen Union und werden aufgrund ihres Nomadendaseins als „gesamteuropäisches Problem“ angesehen. Frauen haben es aufgrund der paternalistischen Tradition und Diskriminierung besonders schwer, ein Leben nach ihren Wünschen zu führen.

Roma sind die größte Minderheit innerhalb der Europäischen Union und werden aufgrund ihres Nomadendaseins als „gesamteuropäisches Problem“ angesehen. Frauen haben es aufgrund der paternalistischen Tradition und Diskriminierung besonders schwer, ein Leben nach ihren Wünschen zu führen.

Etwa 12 Millionen Roma leben heute auf unserem Kontinent, die meisten davon in Südost-Europa. Da die Volksgruppe der Roma mit keiner Nationalität verbunden wird, werden nur jene Menschen als Roma bezeichnet, die sich selbst als solche definieren. Viele leben heute in Ländern mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Das größte Problem ist die schlechte Bildungssituation der Roma. Es gibt eine überdurchschnittlich hohe Rate an Analphabetismus, was oft ein Grund für spätere Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Exklusion ist. Roma-Kinder werden, beispielsweise in Bulgarien, immer noch zu einem Großteil vom Staat in Schulen gesteckt, in denen das Niveau deutlich niedriger ist als der Durchschnitt, da die Drop-Out-Quote von Romakindern in regulären Schulen überdurchschnittlich hoch ist. Oft können die Kinder der Roma auch gar nicht zur Schule gehen, da der Weg zu weit oder das Geld für Schulmaterial nicht vorhanden ist. Meist sind auch die Eltern nicht zur Schule gegangen oder haben dort schlechte Erfahrungen gemacht. Denn Bildung wird auch bei den Roma vererbt.

Ebenso problematisch ist die Wohnungslage. Roma haben oft keine Urkunden oder Verträge über ihre Behausungen, deshalb können sie einfach in schlechtere Wohngebiete, umgesiedelt werden, wobei oft Menschenrechte und Gesetze verletzt werden. Vielerorts wird ihnen das Recht, sich niederzulassen, verweigert. In Cluj-Napoca in Rumänien wurde im vorigen Jahr eine Roma-Siedlung in der zentralen Coastei Straße zwangsgeräumt und die BewohnerInnen neben einer Müllhalde neu angesiedelt. Nach einem heftigen Protest, vor allem durch Amnesty International, wurde die Vertreibung der etwa 300 Roma vom Landesgericht Cluj-Napoca als rechtswidrig und diskriminierend eingestuft.[1]

Durch solche Praktiken kommt es zu einer Ghettoisierung, welche die Roma zusätzlich vom sozialen Leben ausschließt. Denn diese Siedlungen liegen weit entfernt von Schulen oder anderen Ausbildungsmöglichkeiten, und weisen gravierende Mängel auf. Die Roma-Siedlungen sind verkehrsmäßig schlecht erschlossen und verfügen kaum über Strom, Telefon, Wasseranschluss oder Kanalisation. Durch diese Situation werden jene Vorurteile, die Roma als „dreckig“ bezeichnen, noch  bestärkt.

Mädchen sind eine unrentable Investition

In der Diskussion um Roma muss besonders die Situation der Frauen berücksichtigt werden. Denn der Tradition nach sind Roma-Frauen den Roma-Männern untergeordnet. Ihre Rolle ist jene der Hausfrau und Mutter in einer paternalistischen Gesellschaft. Sie kümmern sich um die Kinder, kochen und helfen manchmal auch bei der Arbeit. Von den Eltern wird es oft als nicht sinnvoll erachtet, Mädchen in die Schule zu schicken, da sie sowieso jung verheiratet werden. Bereits mit etwa 16 Jahren werden in traditionellen Romagemeinschaften die Mädchen aus der Schule genommen und ihrem Mann übergeben. Manche heiraten sogar bereits mit elf oder zwölf. Ein Viertel der 16-Jährigen lebt in einer eheähnlichen Beziehung. Deshalb sind viele Roma-Frauen schlecht ausgebildet und stark armutsgefährdet. Eine Studie der „European Union Agency for Fundamental Rights“ (FRA) zeigt jedoch, dass das Bildungsniveau der Roma-Frauen innerhalb der EU- Mitgliedsstaaten insgesamt zunimmt. Während die durchschnittliche Alphabetisierungsrate bei Roma-Frauen mit 77 Prozent niedriger liegt als bei deren Männern (85 Prozent), weisen junge Roma (der Alterskategorie 16 bis 24 Jahre) eine geschlechtsunabhängige Alphabetisierungsrate von 89 Prozent auf.

Luiza Puiu studiert Soziologie an der Universität Wien. Sie stammt selbst aus Timisoara (Rumänien) und besucht seit vielen Jahren immer wieder eine traditionelle Roma-Wandergemeinschaft, die sich einmal jährlich in der Nähe ihrer Heimatstadt niederlässt.  Sie erzählt von der ökonomischen Dimension der Ehe in traditionellen Roma-Gemeinschaften, welche ein Abkommen von Zusammenleben und Zusammenarbeiten darstellt: „Für die Mädchen ist Liebe entweder fremd oder von der Ehe getrennt. Woher soll ich wissen wer zu mir passt?, sagte mir eine junge Frau, die ich fragte, ob es sie nicht stört, wenn ihre Eltern den Ehemann aussuchen.“ Und Luiza Puiu erzählt weiter, dass die Eltern der jungen Roma-Frau dazu meinten: „Wir wissen, was das Beste für sie ist. Nur hoffentlich läuft sie nicht mit einem Anderen davon.“

Foto: Luiza Puiu

In der traditionell paternalistischen Gesellschaft der Roma ist es eine schlechte Nachricht für die Familie, wenn ein Mädchen geboren wird. „Mädchen sind eine sogenannte „Investition“, die später inklusive Mitgift weitergegeben wird. Ein Junge hingegen bringt seine Braut mit ihrer Arbeitskraft und Mitgift in seine Großfamilie.“, erklärt Luiza. Aufgrund der paternalistischen Tradition ist das Recht von Roma-Frauen und –Mädchen auf freie Entscheidungen oder Bewegungsfreiheit nicht gegeben.  Viele leiden auch unter häuslicher Gewalt.

Der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist für Roma aufgrund von Diskriminierung durch die Mehrheitsbevölkerung oft beschränkt, was ein weiterer Grund für den überdurchschnittlich schlechten Gesundheitszustand unter Romas ist, die Kindersterblichkeit liegt in den meisten Ländern weit über dem Durchschnitt. Die Lebenserwartung der Roma im östlichen Europa beträgt im Schnitt zehn Jahre weniger als die der Mehrheitsbevölkerung. Die medizinische Versorgung der Frauen ist besonders prekär. Roma-Frauen ab 50 bezeichnen ihren Gesundheitszustand doppelt so oft wie Nicht-Roma-Frauen als „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Schwangere Frauen sind dabei am schlechtesten gestellt: Sie gelten in der rituellen Tradition als „unrein“ und gehen während der Schwangerschaft auch nicht zum Frauenarzt. Den Geburtstermin erfahren sie erst, wenn die Wehen einsetzen. Auch sind sie unverhältnismäßig stark von den schlechten Wohnbedingungen betroffen, da sie traditionellerweise die meiste Zeit zuhause verbringen.

Diskriminierung und gesellschaftliche Exklusion
Die Roma werden seit Jahrhunderten mit Diskriminierung und Vorurteilen konfrontiert: Man sagt ihnen nach, dass sie faul, kriminell, verlogen wären. Zudem würden sie jede Verantwortung und Arbeit verweigern. Auch die Gewalt gegen Roma wird in vielen Ländern gesellschaftlich akzeptiert. In Rumänien betreiben politische Parteien von rechts bis links Stimmenfang auf Kosten der Roma. Teilweise werden Ressourcen wie Bildung und Arbeit von den Roma bewusst aus traditionellen und kulturellen Motiven nicht in Anspruch genommen, weshalb diese als „undeserving poor“ gelten: Menschen, die arbeiten könnten, dies aber nicht tun und deshalb von der staatlichen Wohlfahrt weniger berücksichtigt werden. Die traditionellen Berufe der Roma werden dabei als nicht produktiv für die Gesellschaft angesehen.[2]

Es muss ebenso bedacht werden, dass viele Roma durch Diskriminierung einen erschwerten Zugang zu Bildung und Arbeit haben und dies Kettenreaktionen auslöst. Diskriminierung erschwert eine gute Schulbildung und gesellschaftliche Integration. Eine schlechte Schulbildung und der Ausschluss von der Gesellschaft erschweren die Arbeitssuche. Und Arbeitslosigkeit wiederum erschwert gesellschaftliche Integration.

In der Sowjetunion wurde noch versucht, die Roma zu assimilieren. Danach wurde immer mehr das andere Extrem beobachtbar: eine systematische Exklusion der Roma von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Im Jahr 1999 wurde in Usti-Nestemice (Tschechische Republik) eine Mauer zwischen der Roma-Siedlung und den Häusern der anderen BewohnerInnen der Straße gebaut, um die „Lärmbelästigung“ durch die Roma einzudämmen. Zwar musste die Mauer nach sechs Wochen wieder abgebaut werden, dennoch zeigt sich hier deutlich die „Wir wollen nichts mit euch zu tun haben“-Attitüde der Bevölkerung gegenüber der Roma. Das wohl erschreckendste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die erzwungene Sterilisation von Roma-Frauen in der Tschechischen Republik in den 1970er Jahren, welche teilweise bis in die 1990er Jahre andauerte, um die Geburtenrate der Roma zu senken. Erst in den 2000er Jahren gab das „United Nation’s Committee against Torture“ (UNCAT) den Anstoß für die Aufarbeitung solcher Fälle.[3]

Foto: Luiza Puiu

„Die Roma“ gibt es nicht

Es wäre falsch, von „den Roma“ als homogene Gemeinschaft zu sprechen und ihnen gewisse Eigenschaften zuzuschreiben. Die Ethnie besteht aus vielen verschiedenen Gruppen und Personen, welche oft höchst unterschiedlich gebildet oder integriert sind. Die Integration ist dabei oft von verschiedenen Faktoren abhängig.  Es kommt darauf an, wie lange sich eine bestimmte Gruppe schon in ihrem Umfeld aufhält  Am wenigsten integriert sind jene, die in separaten Siedlungen wohnen. In diesen leben die Roma mit der höchsten Arbeitslosenquote. Viel wichtiger als die Solidarität innerhalb der Ethnie ist die Solidarität innerhalb von Sippen und Familien. Romagemeinschaften unterscheiden sich meist durch deren Berufe. Die Hauptgruppen sind hier Handwerker wie Kesselschmiede oder Löffelschnitzer, Händlerberufe wie beispielsweise Pferdehändler, oder Unterhaltungsberufe  wie Musiker oder Schauspieler.

Die Jahrzehnte sozialistischer Assimilationspolitik ermöglichten die Herausbildung einer Roma-Elite aus RechtsanwältInnen und anderen AkademikerInnen. Die 33-jährige Jane Simon, heute Bildungsreferentin sowie Mediatorin für Roma-Frauen in Deutschland, kommt selbst aus einer bildungsfernen Familie. Ihre Eltern haben nie die Schule besucht, doch sie selbst beschloss mit Anfang 20, auf der Abendschule ihr Abitur und danach Karriere zu machen. Jetzt kämpft sie aus ihrer etablierten Position für mehr Bildung für Roma, wobei sie auch schon vor dem deutschen Bundesrat Vorträge hielt.[4]

Dennoch sind solche Karrieren, gemessen an der Gesamtzahl aller Roma, deutlich seltener als in der Mehrheitsbevölkerung. Etwa 80 Prozent der Roma leben immer noch in Armut.

Selbst sprechen lassen

Den Roma ist es bisher nur in geringem Maß gelungen, sich politisch zu organisieren, da sie sich eher aus der Politik heraushalten. Die Wahlbeteiligung wird auf unter 15 Prozent geschätzt, da sie sich nicht von der Politik angesprochen fühlen. Zudem wurde durch die fehlende Ausbildung über Generationen hinweg  die Entwicklung eines politischen Bewusstseins unterbunden. Einem großen Anteil der Roma ist die Existenz ihrer Organisationen gar nicht bewusst.

Mit Blick auf die paternalistische Struktur der meisten Roma-Familien wurde von der EU ein Projekt entwickelt, welches ausgewählte Roma-Frauen für den Einstieg in Politik, Verwaltung oder NGOs schulen sollte. Sie benötigen dabei Unterstützung von außen, da in ihrer Tradition Berufstätigkeit bedeutet ledig zu bleiben und ihnen auch  - aufgrund meist ungenügender Ausbildung - Kenntnisse in bestimmten Themenbereichen fehlen. Gegenüber 40 Prozent der Roma-Männer gehen nur 24 Prozent der Roma-Frauen einer bezahlten Arbeit nach. Allerdings sind von den arbeitenden Frauen 61 Prozent in Vollzeit beschäftigt, während der entsprechende Anteil bei Männern lediglich 38 Prozent beträgt. Da die Frauen tendenziell überdurchschnittlich viel Hausarbeit verrichten und die Kinderbetreuungsmöglichkeiten schlecht sind, entscheiden sich die meisten Frauen nur dann für einen Job, wenn sich dieser wirklich für sie rentiert.

Insgesamt hat sich die Situation der Roma jedoch in den letzten Jahren stetig verbessert. Dies zeigt sich vor allem an der steigenden Bildungsrate. Dennoch sind noch viele Hilfestellungen von außen nötig, um besonders Roma-Frauen die gleichen Chancen und Auswahlmöglichkeiten zu bieten, die die Frauen der Mehrheitsgesellschaft haben. Wichtig ist auch der Umgang mit der Minderheit. Denn: Es geht weder um Exklusion noch Assimilation, sondern darum, gleiche Chancen  für Roma und Nicht-Roma wie für Männer und Frauen zu schaffen.

Die Autorin Margot Landl studiert Lehramt Deutsch und Geschichte sowie Politikwissenschaften an der Universität Wien.

Links:

http://fra.europa.eu/de/news/2013/die-situation-von-roma-frauen-fra-datenanalyse

http://romaniprojekt.uni-graz.at//

Referenzen:

1 http://www.amnesty.at/service_links/presse/pressemitteilungen/zwangsraeumung_von_roma_in_cluj_napoca_war_illegal/

2 Konzept des Soziologen Stephan Lessenich: “neosozialer Staat"

3 vgl. CROWE, David M.: The Roma in Post-Communist Eastern Europe: Questions of Ethnic Conflict and Ethnic Peace. Nationalities Papers, Vol. 36, No. 3, July 2008, Routledge, London

4 http://www.bild.de/news/inland/integration/ich-bin-roma-bild-report-teil-2-29370174.bild.html

 

"Das nennen wir konkrete Politik"

  • 03.07.2014, 14:16

Zulema Quispe und Julieta Ojeda sind Aktivistinnen des feministischen und anarchistischen Kollektivs Mujeres Creando in La Paz, Bolivien. Im Interview sprechen sie über ihre Arbeit und den Kampf um das Recht auf Abtreibung.

Zulema Quispe und Julieta Ojeda sind Aktivistinnen des feministischen und anarchistischen Kollektivs Mujeres Creando in La Paz, Bolivien. Im Interview sprechen sie über ihre Arbeit und den Kampf um das Recht auf Abtreibung.

Seit 2005 wird Bolivien unter Präsident Evo Morales sozialistisch regiert. Neben Agrarreformen und der Verbesserung der Situation von Kokabauern und -bäuerinnen stehen vor allem die Rechte der indigenen Bevölkerung im Mittelpunkt der politischen Debatte. Trotz einzelner Gesetzesänderungen zur Stärkung der Rechte von Frauen sehen die Feministinnen von Mujeres Creando darin ein Problem, dass Abtreibung in Bolivien nach wie vor ein strafrechtliches Delikt ist.

progress: Wie hat das Projekt Mujeres Creando begonnen?

Julieta: Mujeres Creando wurde vor ungefähr 21 Jahren von María, Julieta und Mónica gegründet - unter anderem auf Grund der Erfahrungen, die sie in traditionellen linken Gruppen gemacht hatten, wo Frauen in der politischen Agenda einen zweitrangigen Platz einnehmen, weil das politische und revolutionäre Subjekt das Proletariat ist. Das politische Subjekt „Frau“, Indigenas oder Jugendliche haben dort keine eigene Stimme.

Deshalb beschlossen sie, eine eigene, heterogene Bewegung zu starten: eine feministisch-anarchistische und autonome Bewegung, unabhängig von politischen Parteien und NGOs und ohne sich der jeweiligen Regierung unterzuordnen. Wir wollten nicht Erfahrungen wiederholen, wie sie an anderen Orten oder auf internationaler Ebene gemacht wurden, wo viele Feministinnen elitäre Gruppen bilden, oder solche, denen nur eine bestimmte soziale Schicht,  eine indigene oder kulturelle Gruppe oder Frauen einer bestimmten Altersgruppe angehören. Das spiegelt sich im gesamten Prozess von Mujeres Creando wider: Hier beteiligen sich Frauen aus indigenen Sektoren, Frauen aus Verbänden und Gewerkschaften, Sexarbeiterinnen, lesbische Gruppen, Haushaltsarbeiterinnen und Frauen, die Schuldnerinnen von Mikrokrediten sind.

Zu welchen Themen arbeitet ihr?

Julieta: Es gibt sehr konkrete Thematiken, die zum Beispiel mit Abtreibung, feministischer Selbstverteidigung oder Gewalt zu tun haben. Ein Arbeitsbereich ist etwa die Beratung zum Thema Abtreibung. Wir sind der Meinung, dass Information Frauen Sicherheit gibt, weil sie erlaubt, Entscheidungen zu treffen, die sicherer sind für den eigenen Körper und die eigene physische Integrität. Wir organisieren auch Selbstverteidigungskurse . Ein eigenes Büro beschäftigt sich mit Anzeigen in Zusammenhang mit männlicher Gewalt. Betroffene Frauen werden rechtlich beraten und bekommen Unterstützung , zum Beispiel auch bei Scheidungen. Das nennen wir konkrete Politik.

In der Einleitung eurer Broschüre zum Thema Abtreibung heißt es, „Pachamama, du weißt, dass Abtreibung Jahrtausende alt ist”. Könnt ihr etwas über die Geschichte der Abtreibung in Bolivien erzählen?

Julieta: Eine Compañera, Carina Aranda, hat viel zu Abtreibung in der vorkolumbianischen Zeit gearbeitet. Sie schreibt in der Broschüre, dass Abtreibung eine Praxis ist, die es in verschiedenen Kulturen der Welt gibt. In Bolivien wurde sie sowohl vor der Kolonialisierung sowie danach angewandt. Sie wirft auch auf, dass in den indigenen Kulturen und in ländlichen Gesellschaften Abtreibung praktiziert wird. Das erscheint uns besonders  wichtig, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der der Diskurs vorherrscht, dass gewisse Praktiken, wie Homosexualität, Abtreibung oder sogar Prostitution und Sexismus, erst mit der Kolonialisierung zu uns gekommen seien. Es gibt eine ganze Reihe von Mythen und Vorstellungen, die keine, unter Anführungszeichen, wissenschaftliche Basis haben.

Carina Aranda führt außerdem das Thema Infantizid ein und behandelt es ohne Moralismen und Vorurteile. Feministinnen sollten sich mit Infantizid auseinandersetzen, weil dadurch aufgezeigt wird, dass Muttersein nichts Angeborenes oder Natürliches in uns Frauen ist. Es ist nicht so, dass wir, das neue Wesen, den Embryo, lieben, kaum haben wir ihn empfangen. Auf gewisse Weise wird dadurch das ganze Thema des Mutterinstinktes entmythisiert.

Unter welchen Bedingungen und mit welchen Methoden wird in Bolivien heute abgetrieben?

Zulema: Das ist von der finanziellen Situation abhängig. Der Großteil der Frauen, die keine finanziellen Mittel haben, führt unsichere Abtreibungen durch. Wenn du eine sichere Abtreibung haben willst, musst du um die 3.000 Bolivianos zahlen. Wenn du kein Geld hast, kannst du sogar um 160 Bolivianos mit Tabletten abtreiben, was aber wahrscheinlich nicht funktionieren wird. Im Falle eines chirurgischen Eingriffs in einem der Spitäler, die nicht die notwendigen Voraussetzungen erfüllen, glaube ich, machen sie dir den Eingriff auch um 600 oder 400 Bolivianos. Sie bieten dort auch Tabletten an.

Julieta: Natürlich, ist das von deinen finanziellen Mitteln abhängig. Wir verlangen die Straffreistellung, weil sie einen demokratischen Zugang zu Gesundheit und bessere Bedingungen für alle Frauen bedeuten würde.

In Zusammenhang mit dem Kampf um die Straffreistellung von Abtreibung fordert ihr, dass der Staat einen kostenlosen Zugang ermöglicht?

Julieta: Es gibt mehrere Optionen. Abtreibung könnte legalisiert werden oder sie könnte straffrei gestellt werden. Wenn wir von Straffreistellung sprechen, sprechen wir auch davon, dass sie ein Thema des öffentlichen Gesundheitswesens sein muss. Der Staat soll sehr wohl Verantwortung übernehmen, aber nicht notwendigerweise durch eine Legalisierung der Abtreibung und indem er die Bedingungen festschreibt, unter denen Frauen abtreiben. Die Frauenbewegung selbst sollte das erarbeiten.

Ihr setzt euch also für die Straffreistellung und nicht für die Legalisierung ein, weil ihr nicht wollt, dass sich der Staat zu viel in die Angelegenheiten von Frauen einmischt?

Julieta: Ja. Für uns geht es nicht nur darum, Rechte zu erkämpfen. Das ist ein wichtiger Teil, aber von einer feministischen Perspektive aus wollen wir klarmachen, dass wir das Recht haben, als Frauen selbst über unsere Körper zu entscheiden, egal ob es um Mutterschaft oder Abtreibung geht. Es geht darum, sich dieses Recht, das uns in der Geschichte weggenommen wurde, wieder anzueignen.

Wie ist die rechtliche Situation im Moment? Gibt es Fälle, in denen abgetrieben werden darf?

Zulema: Das Strafgesetzbuch stellt Abtreibung unter Strafe, aber sie ist straffrei bei Vergewaltigung, wenn eine Fehlbildung des Fötus besteht, bei Inzest, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist und im Falle von Entführung mit Vergewaltigung, auf die keine Eheschließung folgt. In allen anderen Fällen stehen darauf zwei Jahre Gefängnis.

Was ist die Position der Regierung und Evo Morales gegenüber Abtreibung?

Zulema: Dieses Jahr gab es eine interessante Debatte zum Thema. Eine Abgeordnete thematisierte die Straffreistellung von Abtreibung, einige andere Abgeordnete schlossen sich ihr an. Aber der Präsident meinte sinngemäß, er könne keine Meinung zu dem Thema abgeben, weil er nicht Bescheid wisse, gleichzeitig denke er, abzutreiben bedeute, jemanden zu töten.

Julieta: Das Thema Abtreibung wird oft nur sehr oberflächlich behandelt. Häufig dient es dazu, andere Debatten unter den Teppich zu kehren. In diesem Fall erscheint es mir so, als hätten sie ausprobieren wollen, was passiert, wenn man Abtreibung thematisiert. Aber es ist nach hinten losgegangen, weil es eine sehr starke Reaktion seitens der katholischen Kirche und seitens konservativer Sektoren gab, inklusive einiger Sektoren, die der Regierung nahestehen. Es gab aber eine viel positivere Reaktion seitens der Gesellschaft; zumindest die Bevölkerung von La Paz hat meines Erachtens auf offenere Weise reagiert. So wurde auch Raum für Diskussion und Mobilisierung geschaffen.

Die Regierung nutzt den identitären indigenen Diskurs stark aus. Was haltet ihr von diesem Diskurs?

Zulema: In erster Linie ist die Regierung meiner Meinung nach einem Obskurantismus desUrsprünglichen“ verfallen:  Alles Ursprüngliche ist gut, vor der Kolonialisierung gab es keine Abtreibung und keinen Sexismus – vor der Kolonialisierung war das hier angeblich ein Paradies. Die Regierung versucht diesen Zustand wieder herzustellen. Es kommt mir nicht so vor, als würde sie diesen Diskurs ausnutzen. Vielmehr hat sie ihn selbst immer geführt. Jene Frauen, wie die Bartolina Sisas (Anm. d. Red.: Zusammenschluss bolivianischer Bäuerinnen, benannt nach der Freiheitskämpferin), die gegen Abtreibung sind, wissen sehr wohl, dass es sich dabei um eine Praxis handelt, die es immer schon gegeben hat. Trotzdem sind alle diesem Diskurs verfallen, dass früher nicht abgetrieben wurde.

Julieta: Das Thema der Verteidigung des Lebens, also die Vorstellung, dass alles Leben ist, dass alles von der Pachamama (Anm. d. Red.: zentrale Gottheit in der mittleren Andenregion) kommt, das ist eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise dessen, was Leben und die Verteidigung der Natur oder der Umwelt ist. Ich glaube, das sind Fundamentalismen, die vor allem indigenistische Theoretiker_innen mit der Zeit begründet haben. Es gibt jedoch Untersuchungen, die aufzeigen, dass zum Beispiel die Aimara-Frauen, wenn sie abtreiben, keine Schuld fühlen, weil ihre Beziehung zur katholischen Kirche und zu Gott eine andere ist. Sie können viel offener und viel eher ohne Vorurteile über Abtreibung sprechen. Sie betrachten sie als Teil des Kreislaufs des Lebens. Das Thema Schuld wurde ihnen nicht so eingeimpft, wie anderen Frauen.

 

Mehr Informationen zur Arbeit und den Veröffentlichungen von Mujeres Creando sind auf http://www.mujerescreando.org/ zu finden.

 

Das Interview führten Carmen Aliaga und Isabel Rodríguez.

 

 

Verhärtete Fronten

  • 22.01.2014, 17:01

Die konfliktgeladene Debatte rund um das Verbot von Sexkauf ist in Österreich und Deutschland neu entflammt. Damit verbunden sind komplexe Fragestellungen zu Menschenrechten, Migrationspolitik und sozialer Sicherheit.
Ein Kommentar von Brigitte Theißl.

 

Die konfliktgeladene Debatte rund um das Verbot von Sexkauf ist in Österreich und Deutschland neu entflammt. Damit verbunden sind komplexe Fragestellungen zu Menschenrechten, Migrationspolitik und sozialer Sicherheit.
Ein Kommentar von Brigitte Theißl.

„Wir fordern: Prostitution abschaffen! Ändert endlich das Zuhälter-Gesetz“, ist auf der Titelseite der aktuellen Emma zu lesen. 90 prominente Persönlichkeiten, die ihren „Appell gegen Prostitution“ unterzeichnet haben – unter ihnen etwa Heiner Geißler, Senta Berger und Sarah Wiener –, hat Alice Schwarzer um sich geschart. Der Appell richtet sich an den Deutschen Bundestag, der 2001 ein Prostitutionsgesetz verabschiedete, das im europäischen Ländervergleich zu den liberalsten zählt. Zeitgleich zum Start der Kampagne veröffentlichte Schwarzer ihr neues Buch „Prostitution – Ein deutscher Skandal“. Wer zum Emma-Jahres-Abo greift, erhält als Geschenk das ebenfalls 2013 erschienene „Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf“ – Schwarzer produziert am laufenden Band. Und was Deutschlands berühmteste Feministin sagt, hat Gewicht: Ihre Bestseller werden im Spiegel und in der Bild besprochen, sie ist Dauergast in TV-Talkshows. Feministische Themen, die kaum Eingang in Mainstream-Medien finden, erhalten erst mithilfe von Schwarzer Nachrichtenwert.

Sexkaufverbot. Die in Österreich schon seit einigen Monaten heftig geführte Debatte rund um Prostitution – beziehungsweise Sexarbeit – hingegen wurde bisher vorrangig von feministischen und alternativen Medien abseits des „Malestreams“ aufgegriffen. Auslöser für das erneute Aufflammen der Diskussion war ein Petitionstext: Im April 2013 veröffentlichte der neu gegründete Verein feministischer Diskurs den „Wiener Appell“, der sich am schwedischen Gesetzesmodell orientiert und ein Verbot von Sexkauf fordert. In Schweden ist Sexkauf bereits seit 1999 verboten – unter Strafe gestellt ist dort also nicht das Anbieten der sexuellen Dienstleistung, sondern der Kauf derselben durch die Freier. Was für den Verein feministischer Diskurs und Emma als Vorzeigemodell gilt, wird von vielen Sexarbeiter_innen-Verbänden und NGOs, die sich für die Betroffenen einsetzen, heftig kritisiert. Die feministische Migrantinnen-Organisation LEFÖ pocht etwa auf „eine klare Differenzierung zwischen Frauenhandel, Gewalt in jeglichem Sinn einerseits und (freiwilliger) Sexarbeit andererseits“ und kämpft für die Ausweitung der Rechte von Sexarbeiter_innen in Österreich.

Rund 80 Prozent der Dienstleister_innen, die in Bordellen, Privatwohnungen oder den wenigen erlaubten Zonen am Wiener Straßenstrich, unter zumeist schlechten Bedingungen arbeiten, sind Migrant_innen. Schwarzer und andere Aktivist_innen, die sich für ein Verbot der Prostitution stark machen, sehen Sexarbeiter_innen vorrangig als Opfer von Menschenhandel, als Zwangsprostituierte, die von Zuhältern mit falschen Versprechungen von Ost- nach Westeuropa gelockt wurden. Wie es den zugewanderten Frauen, den wenigen Männern und Transpersonen, die in diesem Sektor arbeiten, tatsächlich geht, darüber gibt es aber – sowohl vonseiten staatlicher Behörden als auch von Wissenschafter_innen – nur wenig aussagekräftiges Datenmaterial. Sexarbeiter_innen sind vielfach von rassistischer und sexistischer Diskriminierung (unter anderem durch Gesetze) betroffen und stehen als eine Art Gegenbild zur bürgerlich-sittsamen Frau im gesellschaftlichen Abseits.

Die Wiener Soziologin Helga Amesberger hat an einer internationalen Studie zu Prostitution mitgear- beitet und dafür mit einer großen Anzahl von Sexar- beiter_innen gesprochen. Amesberger steht Verbots- Modellen äußerst kritisch gegenüber, wie sie unter anderem in einem Interview mit der Tageszeitung Die Presse erzählte. In Schweden etwa sei Prostitution nicht zurückgegangen oder Freier abgeschreckt worden, das Geschäft habe sich vielmehr in die Unsichtbarkeit verlagert. Damit habe sich der Druck auf Sexarbeiter_innen erhöht.

Ausblendungen. Auch wenn sich Sexarbeit als äußerst prekärer Sektor darstellt – der Mythos vom schnell und einfach verdienten Geld entstammt vorrangig Drehbüchern –, kritisieren viele Autor_innen das Ausblenden ermächtigender Aspekte von (migrantischer) Sexarbeit: „Durch die Gleichsetzung von Sexarbeit und Frauenhandel werden Migrant_innen generell als naive Opfer konstruiert und darüber hinaus häufig auf eine sehr sensationalistische Art medial präsentiert. Dass die Migration in die Sexarbeit selbst eine Strategie sein kann, um sich zu wehren, sie eine Möglichkeit sein kann, den patriarchalen Strukturen im Herkunftsland zu entkommen und ökonomische Unabhängigkeit zu erreichen, wird somit völlig ausgeblendet“, schreiben etwa Gergana Mineva, Luzenir Caixeta und Melanie Hamen in der aktuellen Schwerpunkt-Ausgabe des Onlinemagazins Migrazine.at. Die Autorinnen richten ihren Fokus damit auf eine zentrale Perspektive – die ökonomische. Sexarbeit muss vor dem Hintergrund eines wachsenden informellen Dienstleistungssektors und der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen analysiert werden. Es ist die alte feministische Forderung der eigenständigen Existenzsicherung von Frauen, die in Zeiten europäischer Krisenpolitik höchst aktuell ist. Es gilt jedoch auch, sich im Zuge einer berechtigten Abwehr paternalistischer Zuschreibungen nicht im neoliberalen Diskurs der Freiwilligkeit und Selbstbestimmung zu verstricken: Auch Sexarbeiter_innen, die ihren Beruf freiwillig (also ohne Ausübung von Zwang durch andere Personen) gewählt haben, sind in gesellschaftliche Machtverhältnisse, sexistische und rassistische Gewaltstrukturen eingebettet.

Nicht nur in Österreich und Deutschland wird aktuell über Prostitution diskutiert – so wurde etwa auch in Frankreich ein Gesetzesentwurf zum Verbot von Sexkauf vorgelegt. Angesichts der 2014 anstehenden Wahl zum europäischen Parlament könnte sich die Debatte verschärfen. Diese ist derart vielschichtig, dass ihr eine Zuspitzung auf Legalisierung oder Verbot, auf Freiwilligkeit oder patriarchale Ausbeutung keinesfalls gerecht wird. Auch wenn es dringend Öffentlichkeit für feministische Fragestellungen braucht – die Stärke feministischer Wissensproduktion war immer schon die machtkritische Analyse, nicht die medienwirksame Kampagne.

 

Brigitte Theißl ist Redakteurin des feministischen Monatsmagazins an.schläge, betreibt zusammen mit Betina Aumair den Verein Genderraum und bloggt unter www.denkwerkstattblog.net.

 

Wiens „Shooting Girls“

  • 24.02.2013, 09:41

Jüdische Fotografinnen dominierten die begehrtesten und erfolgreichsten Foto­studios. Das Jüdische Museum Wien zeigt ihre Geschichte und Arbeiten.

Jüdische Fotografinnen dominierten die begehrtesten und erfolgreichsten Foto­studios. Das Jüdische Museum Wien zeigt ihre Geschichte und Arbeiten.

Auf der Treppe zum zweiten Stock des Jüdischen Museums Wien in der Dorotheergasse blickt den BesucherInnen eine Gestalt entgegen: Um den Hals eine große, schwarze Kamera aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein schweres Stativ und eine Lampe geschultert, in der Hand eine Tasche mit weiterem Zubehör: Eine professionelle Fotografin am Weg zur Arbeit. Es handelt sich um Lilly Joss Reich, eines jener „Vienna Shooting Girls“, denen das Museum derzeit eine zweistöckige Ausstellung widmet. Denn die Fotostudios in Wien vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren fest in weiblicher, jüdischer Hand.

Von Trude Fleischmann bis Alice Schalek nutzten jüdische Frauen eine der wenigen Nischen in der bildenden Kunst, die ihnen die Männer gelassen hatten, und betrieben bald die erfolgreichsten und renommiertesten Ateliers der Stadt. 1907 eröffnete Dora Kallmus, später besser bekannt als Madame d’Ora, als erste Frau ein Fotostudio in Wien. An der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt durfte sie nur als Gasthörerin anwesend sein, ihr Atelier wure später zu einer Lehr- und Lernstätte für den Fotografinnennachwuchs. Gleich zu Beginn der Ausstellung begegnen BesucherInnen ihr und ihren rund vierzig Kolleginnen: Ein Selbstporträt zeigt sie halb hinter einer schwarzen Katze versteckt, ein wenig skeptisch in die Kamera blickend. Mit ihrem ganz eigenen Stil der Mode- und Porträtfotografie prägte Kallmus viele jüngere Kolleginnen und wurde selbst in der Metropole Paris berühmt und geschätzt.

Berufsfotografinnen. Schon im 19. Jahrhundert waren in Wiens Fotostudios zahlreiche Frauen zugange, allerdings meist als namenlose Helferinnen oder Ehefrauen. Als eine der ersten selbstständigen Berufsfotografinnen expandierte Bertha Wehnert-Beckmann von Leipzig aus nach Wien und New York. Die Fotografie war jedoch bereits vor ihrer Ankunft in Österreich durchaus auch in weiblichen Händen. In der 1861 gegründeten Photographischen Gesellschaft tummelten sich auch weibliche Mitglieder wie etwa Julie Haftner, Wien konnte zudem drei weibliche k.u.k. Hoffotografinnen verzeichnen. Mit der Entwicklung der handlicheren Klein- und Mittelformatkameras sowie der Öffnung der „Graphischen“ für  Frauen 1908 boomte das Fotografinnenwesen in Wien.

Besonders Frauen des liberalen jüdischen Bürgertums wählten den Beruf der Fotografin. Sie stammten aus Elternhäusern, in denen auch Mädchenbildung ein Thema war. Der Anteil jüdischer Schülerinnen in den Mädchenlyzeen des späten 19. Jahrhunderts war etwa achtmal so hoch wie der Anteil jüdischer BürgerInnen an der Gesamtbevölkerung. Die wachsende Zahl jüdischer Fotografinnen illustrieren sowohl eine Projektion des Wiener Stadt plans in der Mitte des ersten Raumes, auf der immer mehr Punkte für den Zuwachs an Studios stehen, als auch die Porträts erfolgreicher jüdischer Frauen, die sich wiederum von Frauen fotografieren ließen. So finden sich Porträts von Berta Zuckerkandl, Bertha von Suttner, aber auch Rosa Mayreder.

Aber nicht nur Frauen, alles, was Rang und Namen hatte, kam in die Studios der Fotografinnen: Kaiser Karl I. von Österreich samt Thronfolger Otto, Admirale und Fürsten. SchauspielerInnen ließen sich in ihren Rollenkleidern ablichten, Adelige etwa beim „Caroussel“ oder bei feierlichen Umzügen. Später finden sich berühmte und gedruckte Porträts von Karl Kraus, Max Reinhardt oder Stefan Zweig. Die Arbeit beschränkte sich jedoch nicht nur auf Studiofotografien: Auch in der Kunst- und Amateurfotografie fassten Frauen zunehmend Fuß. Mit bewusst eingesetzten Unschärfen und Glanzlichtern machten die Fotografinnen ihre Studioaufnahmen zu Kunstwerken. Neben klassischen Porträts waren aber auch Landschaften, Großstädte und Architektur begehrte Motive. Mit Mode- und Produktfotografie verdienten die Fotografinnen zusätzlich. Trude Fleischmanns Blumenstillleben Schneeglöckchen im Glas ist hier ebenso zu sehen wie ein Modefoto von Pepa Feldscharek, das eine Dame mit fein ondulierten Haarwellen in einem teuren Blumenrankenkleid zeigt. Vor allem die neu aufkommenden Illustrierten der 1920er-Jahre waren bei solchen Aufnahmen gute Kunden, auch das Aufkommen der Autogramm- und Starpostkarten beflügelte das Geschäft.

Wandelbares Frauenbild. Die Ausstellung zeigt aber nicht nur das Leben erfolgreicher Fotografinnen, in den Werken selbst spiegelt sich das dynamische Frauenbild der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Es sind teils sehr unkonventionelle, moderne und frische Bilder, die an den starren Normen der Gesellschaft rütteln und freche Flapper Girls (ein Trend der 1920er aus den USA, der kurze Röcke und kurzes Haar, Zigaretten und Alkohol durch Provokation für Frauen salonfähig machte), androgyne Garconnes, aber auch Intellektuelle, Akademikerinnen und Anhängerinnen der Frauenbewegung, sogenannte „Blaustrümpfe“, porträtierten.

Für Aufsehen sorgten auch Trude Fleischmanns heute weltberühmte Abbildungen nackter Tänzerinnen, die ebenfalls Ausdruck eines sportlicheren und natürlicheren Körperbilds waren sowie die gesellschaftliche Befreiung zum Ausdruck brachten. Auch Madame d’Ora widmete sich dem Tanz und fotografierte den deutschen Skandaltänzer Sebastian Droste zusammen mit seiner Ehefrau Anita Berber in verschiedenen Tanzszenen. Eine ganz andere Form der Fotografie prägte dagegen Alice Schalek: Als einzige weibliche Kriegsberichterstatterin des k.u.k. Kriegspressequartieres hielt sie den Ersten Weltkrieg dokumentarisch fest, reiste aber auch durch Indien, Sumatra oder Japan und veröffentlichte ihre Werke in Bildbänden.

Emigration, Flucht, Exil. Mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 war die Wiener Sternstunde der jüdischen Fotografinnen schlagartig vorbei. Die roten Punkte der Studios am Wiener Stadtplan nahmen radikal ab und verstreuten sich in Richtung London, Paris und Vereinigte Staaten. Madame d’Ora, jetzt wieder Dora Kallmus, überlebte wie auch Erna Adler-Rabus in der Illegalität in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Noch aus ihrem Versteck in Amsterdam fotografierte Maria Austria (eigentlich Maria Caroline Östreicher) 1943 Deutsche Soldaten marschieren durch die Vondelstraat, nach dem Ende des Krieges besuchte und dokumentierte sie das Versteck der Anne Frank. Jedoch nicht alle konnten sich retten: Eugenie Goldstern, Edith Barakovich oder Hilde Zipper-Strnad wurden zusammen mit vielen weiteren Fotografinnen ermordet oder in den Freitod getrieben. Während sich Trude Fleischmann in New York als Fotografin für Illustrierte eine neue Existenz aufbauen konnte, und etwa Albert Einstein oder Oskar Kokoschka ablichtete, und Camilla Koffler als Ylla mit ihren Tierreportagen weltberühmt wurde, zwang der Krieg andere, ihren Traumberuf für immer aufzugeben. Ein  einschneidendes Erlebnis und Trauma blieb aber bei allen Geretteten zurück: Elly Nieblar dokumentierte in nüchternen schwarz-weißen Aufnahmen den Wiederaufbau des Stephansdoms, Sowjetpanzer am Stalinplatz (heute Schwarzenbergplatz) und zerbombte Häuser in Wien. Auch Dora Kallmus, früher als Madame d’Ora für ihre Mode-, Star- und Glamourporträts bekannt, wandte sich nach dem Krieg realistischeren Sujets zu und fotografierte unter anderem eine Serie in den Schlachthöfen von Paris.

 

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