Coverstory

Nicht einsatzbereit

  • 13.07.2012, 18:18

Das Bundesheer kostet die ÖsterreicherInnen Millionen Euro an Steuergeld und trotzdem müssen die SoldatInnen in maroden Kasernen hausen. Die Geschichte eines großen Widerspruchs, der von der Politik achselzuckend hingenommen wird.

Das Bundesheer kostet die ÖsterreicherInnen Millionen Euro an Steuergeld und trotzdem müssen die SoldatInnen in maroden Kasernen hausen. Die Geschichte eines großen Widerspruchs, der von der Politik achselzuckend hingenommen wird.

Ein Skelett ohne Muskeln soll das Bundesheer sein. Ja, sogar ganz ohne Fleisch. Abgemagert bis auf die Knochen und völlig entkräftet. Das Bild stammt von Eduard Paulus, dem Präsidenten der Offiziersgesellschaft. Im Interview mit der Presse prangert er die Missstände im Heer an: Desolate Kasernen, der ungerechtfertigte Assistenzeinsatz an der Grenze, keine Volltruppenübungen für die Miliz. Für ihn sei die Bundesheerreform 2010 tot. Für andere nicht. Vehement bestreitet Verteidigungsminister Norbert Darabos im Standard die Vorwürfe: „Ich halte jene, die da irgendwie uns ans Bein pinkeln wollen, für unpatriotisch und auch populistisch im letztklassigsten Sinn.“ Die Miliz sei einsatzbereit, der Assistenzeinsatz voll und ganz gerechtfertigt. Auch wenn er anscheinend nur dem subjektiven Sicherheitsgefühl der BurgenländerInnen dient.
Kritik und Beschwichtigung. Beschlossene Reformen. Später sollen sie nur halbherzig durchgeführt werden. Darauf folgt abermals Kritik und das Spiel beginnt von vorne. Geändert hat sich seit Jahren kaum etwas. 120 Empfehlungen wurden in den Entwurf der „Heeresreform 2010“ unter der Leitung des verstorbenen AltbürgerInnenmeisters Helmut Zilk geschrieben. Bisher wurden davon 44 zum Teil, zwölf gar nicht umgesetzt. In der Zwischenzeit wird das geringe Militärbudget – 2008 machte es etwa 2,04 Milliarden Euro aus – gedankenlos verschleudert. Beim rechtlich bedenklichen Assistenzeinsatz in Burgenland beispielsweise. Bei den StaatssportlerInnen im Heeressport. Oder in den völlig unterbelegten Militärspitälern.

Die FPÖ und die Blumensamen. Das Bundesheer steckt in der Krise. Anstelle eines konstruktiven Nachdenkens über eine Reform, die finanzierbar ist und funktioniert, ist wie so oft in Österreich die Diskussionsunfähigkeit getreten. Während sich der Offizier Eduard Paulus in offenen Briefen mit dem SPÖ-nahen Chef des Generalstabes Edmund Entacher befetzt, zieht Verteidigungsminister Norbert Darabos eine beleidigte Schnute in Anbetracht der Kritikflut. Auch die Parteien im Parlament suchen nicht nach einem Grundkonsens, sondern vertreten eifrig ihre Position. Die SPÖ ist beispielsweise für den Grenzeinsatz im Burgenland, die ÖVP dagegen. Das BZÖ fordert die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, die Grünen beschweren sich gebetsmühlenartig über die mangelnde Einsatzbereitschaft der Eurofighter. Die skurrilsten Wortmeldungen kamen jedoch von der FPÖ, die die Blumensamen, die Darabos am Valentinstag Soldatinnen schicken ließ, zum Thema machten. Kaum ein Verantwortlicher meldet sich dieser Tage jedoch mit konkreten Vorschlägen zu einer Exit-Strategie in der Bundesheer-Misere.

Duschen wie im Weltkrieg. „Wo Kasernen verfallen, verfällt die Armee!“ steht in Blockbuchstaben auf einem vergilbten Plakat. Es ist an eine baufällige Kaserne angebracht. Die Buchstaben sind ausgebleicht von der Sonne, Putz bröckelt von der Wand. „Wohn- und Hygienestandards in bestehenden Kasernen entsprechen alters- sowie nutzungsbedingt weder den Anforderungen noch den Bedürfnissen von Grundwehrdienern und dem Kaderpersonal“, kritisiert die Volksanwaltschaft in ihrem vor kurzem erschienenen Bericht über den Zustand vieler Bundesheerkasernen. Eine davon ist die Khevenhüller-Kaserne in Klagenfurt. Seit etwa 70 Jahren wurde kaum etwas an der Bausubstanz verbessert. Doch nicht nur das Fundament bröckelte, auch die Einrichtungsgegenstände wirkten antiquiert: „Die Duschen im Keller wirkten so alt, als ob sie vor 1945 gebaut worden wären, und die Matratzen waren so verstaubt, dass wir sie bei Dienstantritt zuerst einmal eine halbe Stunde lang ausklopfen mussten“, erinnert sich Martin B., der die Khevenhüller-Kaserne vor etwa zwei Jahren bezog. Am meisten kritisierte die Volksanwaltschaft jedoch den Spitaltrakt der Kaserne. Den Verletzten würde weder ein Lift noch Krankenbetten zur Verfügung stehen. Verteidigungsminister Darabos versuchte die Vorwürfe ein wenig zu entkräften, indem er darauf hinwies, dass während seiner Amtszeit bisher 311 Millionen Euro in die Infrastruktur investiert wurde. Notwendig wäre dem Verteidigungsministerium zufolge jedoch mehr als eine Milliarde Euro, um die Kaserneninfrastruktur wieder auf Vordermann zu bringen. Woher aber so viel Geld nehmen? Wenn sich die PolitikerInnen schon nicht zu größeren Reformen durchringen können, so könnten sie zumindest in einigen Bereichen sparen.
Darabos’ umstrittenstes Projekt ist wohl der rechtlich fragwürdige Assistenzeinsatz im Burgenland und in Niederösterreich. Als Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Slowenien 2008 dem Schengener Abkommen beitraten, verlor das österreichische Bundesheer eine seiner Hauptkompetenzen – den Grenzschutz. Den wollten sich die SicherheitsfanatikerInnen und taktischen PolitikerInnen jedoch nicht nehmen lassen. Es müsse für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gesorgt sein – seit zwei Jahren schleichen nun 18-jährige Soldaten durchs Landesinnere. Im Notfall dürfen sie lediglich die Polizei rufen. Dafür können sie gebrechlichen PensionistInnen über die Straße helfen oder vergessliche AutobesitzerInnen ans Zusperren erinnern. „Es ist so langweilig, stundenlang immer die gleichen Straßen entlangzulaufen“, klagt der Grundwehrdiener Kevin S., „es passiert einfach nichts.“ Ganze neun illegale EinwandererInnen griffen Soldaten 2009 im Burgenland und in Niederösterreich auf. Kein großer Fisch war darunter. Laut Berechnungen des Rechnungshofes beliefen sich die Kosten des Assistenzeinsatzes Schengen zwischen Ende Dezember 2007 und Ende April 2009 auf 29,3 Millionen Euro. Eine unglaubliche Summe für eine sinnlose Tätigkeit, die das politische Kalkül des Verteidigungsministers zu verraten scheint – wäre es nicht schön, Landeshauptmann vom Bundesland mit den meisten Sonnenstunden zu sein? 
Auf eine andere „Baustelle“ des Bundesheeres hat ebenfalls der Rechnungshof hingewiesen. Kritisiert wurden die teuren Militärspitäler. Geringe Auslastung (25,4 Prozent im Vergleich zu 75 Prozent bei zivilen Spitälern), Nebenjobs der Militärärzte und fehlende Kooperation mit anderen öffentlichen Krankenhäusern sind nur ein paar Punkte. Auch die „Belegstage“ kosten in Militärspitälern rund doppelt so viel. Eine Berechnung aus dem Jahr 2003 ergab, dass ein Tag in einem Militärspital 1.654 € kostet. Trotz der hohen Kosten muss das Heer viele medizinische Leistungen zukaufen. Aus dem Bericht des Rechnungshofes geht hervor, dass sich 2008 die Summe der externen Leistungen auf 5,6 Millionen Euro belaufen hat. Das vernichtende Urteil des Rechnungshofes: „Jegliche Planungsgrundlagen für die militärischen Krankenanstalten fehlen.“
Dass die planerischen Köpfe weder im Verteidigungsministerium noch im Bundesheer zu Hause sind, zeigen auch die fragwürdigen Maßnahmen der Dezentralisierung, die sich durch die Bundesheerreform ergeben haben. Aus einem Artikel des Kurier geht hervor, dass das Wiener Arsenal, wo die meisten Panzer repariert worden sind, aufgelassen werden soll. Nun steht jedoch der Großteil der Panzerverbände rund um Wien. Künftig sollen die Panzer jedoch zur Reparatur nach Graz, Klagenfurt, Salzburg und Wels geliefert werden. Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie unnötigerweise Panzer, Papier oder Fahrzeuge quer durch Österreich transportiert werden.

Österreich und seine Neutralität. Warum ein marodes Bundesheer, das Unsummen an Geld frisst, nicht überhaupt abschaffen? Wer braucht schon ein Heer, das nur bedingt einsatzbereit ist, das zufolge innerster Kreise nur ein Skelett ohne Muskeln und Fleisch ist? Wem würde das Heer fehlen? Österreich liegt nicht mehr im Spannungsfeld von Ost und West, am meisten bedroht ist der Kleinstaat durch Terrorismus und dem kann ohnehin nur mit vereinten Kräften entgegengetreten werden. Naturkatastrophen wie Lawinenabgänge könnte auch der Zivilschutz bewältigen – warum braucht man dazu ein Heer?
Österreich ist nach dem Staatsvertrag zu einer „bewaffneten Neutralität“ verpflichtet, außerdem stellen sich dem Bundesheer auch noch heute ganz konkrete militärische Aufgaben, die seine Existenz legitimieren.
Im Zuge des US-amerikanischen Kriegs gegen den Terror sollen zum Beispiel dutzende Flugzeuge der CIA über Österreich geflogen sein, in denen Gefangene des Geheimdiensts illegal durch Europa transportiert worden sind. Ohne eine funktionierende Staffel an Abfangjägern, ist solchen Überflügen nicht beizukommen.
Aber auch wenn Österreich seine Neutralität eines Tages aufgeben sollte, wird es eine Armee geben. Nach Informationen der Wiener Zeitung arbeitet die rot-schwarze Regierung an einer neuen Sicherheitsdoktrin, die im Wesentlichen auf zwei Ziele ausgerichtet ist: auf die im Lissabon-Vertrag festgemachte EU-Beistandsverpflichtung und auf das Neutralitätsgesetz. Dass sich die beiden Punkte eigentlich widersprechen, darüber schweigt die Regierung bisher. 
Überhaupt stellen die Pläne für eine gemeinsame europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ein immer größeres Problem für das neutrale Österreich dar. Beinahe alle großen EU-Staaten sind Nato-Mitglieder und dementsprechend gibt es unter EU-PolitikerInnen auch zwei dominante Vorstellungen, wie sich Europas militärische Zukunft entwickeln soll. Der eine Teil plädiert für eine stärkere Einbettung der europäischen Truppen in die Nato, der andere Teil drängt auf eine eigenständige europäische Armee. 
Sollten sich die Nato-BefürworterInnen durchsetzen, dann bekommt das neutrale Österreich ein Problem. Denn Österreich wird 2011 erstmalig an einer EU-„Battlegroup“ teilnehmen und laut Empfehlung der Bundesheer-Reformkommission soll künftig sogar die Führung einer „Battlegroup“-Brigade angestrebt werden. Wie das langfristig in einer von der Nato dominierten Armee ohne Nato-Mitgliedschaft möglich sein soll, darüber steht im Empfehlungsschreiben nichts. 

Ich wollte ein Männerleben leben

  • 13.07.2012, 18:18

Der Cowboy Katja Kullmann über weiches Kapital und harte Realität.

Der Cowboy Katja Kullmann über weiches Kapital und harte Realität.

Wir trafen die selbsternannte Weltenbürgerin Katja Kullmann, die schon zwischen Financial Times, dem Freitag, der EMMA als auch der GALA oder für Sie bummelte, an einem windigen Vormittag auf der Prater Hauptallee in Wien. Bei einem Kaffee am dortigen Antifaschismus-Platz erklärt sie uns, wo bei dieser Bandbreite an Medien ihre Loyalität liegt: Bei den linken Feministinnen, auch wenn die nicht mehr so viel EMMA lesen wie früher. In ihrer Erzählung spannt Katja Kullmann große Bögen, baut argumentative Kurven – und steht dabei aber immer auf dem Boden der Realität.

PROGRESS: Du beschäftigst dich in deinen Büchern sehr stark mit dem Generationenwandel. Was unterscheidet dich von der heutigen Studentin?

KULLMANN: Meine Frauengeneration hatte noch ein durchwegs positives Ideal von Freiheit und Autonomie. Das war für uns noch nicht neoliberal besetzt, sondern eine positive Utopie. Ich war eine Nach-68erin, hatte vereinzelt LehrerInnen, die sehr liberal waren. Ich gehöre zur ersten Frauengeneration, die zum Selbstbewusstsein erzogen wurde. Alte Säcke als Lehrer hatte ich zwar schon noch im Gymnasium, aber eine oder zwei junge Kolleginnen waren auch dabei. Zwischen diesen Polen bin ich aufgewachsen. Mein Ziel war es, mein Leben größer zu machen, als das meiner Eltern. Wir hatten das Versprechen vor uns, dass die Kindergeneration ein Stückchen weiter kommen sollte. Das habe ich absolut verinnerlicht. Ich bin dabei nicht der Schrankwand-Typ und ich brauche kein teures Auto, aber ich bin immer viel gereist und das war mir in puncto Freiheit und Autonomie immer wahnsinnig wichtig.

Sollte der Begriff Freiheit aus linker Perspektive zurückerobert werden?

Ich habe den Deal immer als fair empfunden: Ich strenge mich an, schreibe gute Noten und lerne Fremdsprachen, und damit komme ich dann weiter. Das war der Plan: nicht früh zu heiraten, nicht an den Herd gefesselt zu sein und auch was die Berufstätigkeit betrifft, mich nicht über 40 Jahre hochdienen müssen. Vor allem: immer selbstständig sein, von niemandem abhängig, und bloß Staats-Stipendium beantragen oder sowas. Heute reibe ich mich daran, dass es letztlich ein lupenrein neoliberaler Entwurf des Ich ist – ein perfekter Yuppie-, Westerwelle-, FDP-Lebenslauf. Obwohl es ursprünglich widerständig gemeint war. Die jüngere, eure Generation, ist da viel realistischer: Ihr wisst, wie hart es aussieht. Ihr habt den Vorteil, dass sich der Restglaube an Statussicherheit erübrigt hat. Keiner rechnet wahrscheinlich mit einer festen Anstellung oder anderen verlässlichen sozialen Absicherungen.

Wie hat sich diese Vorstellung vom perfekten Lebenslauf verändert?

Die Marge der Leute, die sich heute noch Praktika leisten können, wird immer kleiner: Denn sie werden nicht mehr bezahlt. Damit spielt das Elternhaus eine viel größere Rolle. Bei meinen Praktika war zumindest die Unterkunft gedeckt. Herkunftsfragen werden für Männer wie auch Frauen wichtiger. Denn Ausbildung ist unser neues Gut, unser weiches Kapital. Es ist zunehmend ungerecht verteilt, weil der Zugang schwerer wird.

Wie geht die Generation Praktikum mit den schlechten Rahmenbedingungen um?

Bei den Mittzwanzigern und Jüngeren gibt es aus meiner Sicht einerseits solche, die das, was man in den 80ern Ellenbogengesellschaft nannte, extrem fahren. Das ist die Gruppe, die sich extrem ins Private zurückzieht, eine Affinität zu Psychotherapien und zu einer unglaublichen Innerlichkeit entwickelt hat. Sie wollen sich schützen und besitzen eine kaltschnäuzige Statusangst. Auf der anderen Seite sehe ich eine ganz starke Repolitisierung, gerade bei jungen Frauen, die unbelastet schwere Begriffe, mit denen meine Generation noch Schwierigkeiten hatte, wie Solidarität, auf den Lippen haben. Allein das Wort Feminismus nehmen die Jüngeren viel sportlicher in die Hand und sprechen es aus. Ich glaube, es gibt die Streber und die, die sich politisieren.

Warum fangen trotzdem so wenige etwas mit dem Wort Feminismus an?

Man sollte das nicht zu kleinreden. Ich sehe wirklich viele junge Frauen, die versuchen, den Feminismus neu zu bespielen, ihm neue Inhalte zu geben. Es gibt aber viele Ängste. Wir leben in einem Klima, in dem es einerseits diese starken, politisierten Bewegungen gibt und andererseits aber diese Diskussion, wo unglaublich schnell geschlechtsübergreifend abgewatscht wird. Es gibt viele Leute, die sagen, sie würden lieber hungern, als im Lidl bei den abgeranzten Hartz-IV-Leuten einkaufen zu gehen. Die Angst davor, zur „Gutmenschin“ oder „Wutbürgerin“ erklärt zu werden, ist heutzutage riesig. Denn als solches abgestempelt zu werden, macht dich zum Problemfall, zur Querulantin. Das ist ein Spiegel dieses Funktionieren-Müssens. Erstmals betrifft das beide Geschlechter: Dieser Leistungsdruck, diese fröhlich wirkende Stromlinienförmigkeit, die man erfüllen sollte, und die sehr stark ins Persönliche reicht. Damit hängt auch die Angst zusammen, das Wort Feminismus in den Mund zu nehmen, denn es klingt nach Problemen, nach Haltung. Seit den späten 90ern heißt es: Die Zeit der Ideologien ist vorbei. Genau das ist aber die neue Ideologie.

Inwiefern wirkt sich das neue Prekariat auf die Geschlechterverhältnisse aus?

Es gibt dieses Zitat, dass es in jeder Schicht oder Klasse eine Unterklasse oder Unterschicht gibt, und das sind die Frauen. Seit über 20 Jahren kennen wir dieselben Zahlen: Frauen verdienen im Schnitt, quer durch alle Branchen, noch immer rund ein Viertel weniger als Männer. Und wenn sie zur Alleinerziehenden werden, ist das Armutsrisiko besonders hoch. Gerade in der sogenannten Kreativbranche werden Frauen, denen es beruflich oder finanziell mal nicht so gut geht, schnell pathologisiert – als ob sie ein psychologisches Problem hätten. Da heißt es dann: Die trinkt, die nimmt Drogen, die ist depressiv. Typen können genauso abgebrannt sein, aber potentiell gibt es immer das Bild vom Cowboy oder dem Lonely Wolf, wo gesagt wird, der hat einfach eine schwierige Phase. Genau dieses Bild – der lonesome rider, immer unterwegs, die Welt entdecken – war übrigens eine Art Leitbild für mich, als ganz junges Mädchen. Das hat wieder mit dem unbedingten Willen zur Autonomie zu tun: Es gab fast nur männliche Vorbilder dafür. Im Grunde wollte ich immer eher ein Männerleben führen, denke ich. In Teilen ist mir das auch gelungen.

Nach dem Erfolg deines Buches „Generation Ally“ und deiner Zeit als selbständige Journalistin folgte bei dir eine sehr prekäre Phase als Hartz-IV-Empfängerin. Wie hast du die erlebt?

Das ist eine schizophrene Erfahrung, die viele in den Nullerjahren gemacht haben. Als ich beim Amt als künftige Hartz-IV-Empfängerin vorsprechen musste, war das eine Mischung aus Arzt- und Vorstellungsgespräch. Ich hatte mir einen Businessplan zurechtgelegt, der natürlich nicht funktioniert hat. Denn du darfst dann im Grunde nicht mehr freiberuflich tätig sein. Es blieb dabei: Ich hatte 13 Euro am Tag, ich durfte nicht aus der Stadt weg, das war vollkommen irre. Ich dachte mir: Aha, jetzt bin ich also auch eine Verliererin – und so sieht das also aus: Sie lassen dich nicht mehr mitspielen.

Hat diese Erfahrung mit Hartz-IV deine Sicht auf die Welt verändert?

Meine Repolitisierung ist auf diesem Amtsflur passiert, weil ich gesehen habe, dass ich als Medienarbeiterin Teil einer Avantgarde bin, die systemisch freigesetzt ist. Das ist eine neurotische Branche, die mitforciert hat, dass der Fensterputzer und die Pflegekraft mit immer niedrigeren Löhnen in die Knie gezwungen werden. Und ich bin Teil derer, die den Quatsch auch noch erzählt haben: Jeder sei seines Glückes Schmied.

Würdest du sagen, du hast erlebt, was Armut ist?

Man darf so ein elitenartiges Prekariat, wie ich es erlebt habe, nicht verkitschen und vergleichen mit echter Armut. Damit meine ich, wenn du in der dritten oder vierten Generation SozialhilfeempfängerIn bist und es nicht zum Abitur geschafft hast, fehlt dir ein ganz wichtiges Kapital, das Kulturkapital. Das unterscheidet dann doch die akademisch Prekarisierten von dem Kollegen mit dem Hauptschulabschluss. In Bezug auf Status und Codes kann man sich dann trotzdem noch verkaufen, kann sich seinen Blog so einrichten, dass man so wirkt, als sei man beschäftigt und kann sich augenzwinkernd im abgefransten Kaffeehaus treffen. Das hilft erstens, vor sich selber viel zu verschleiern, und zweitens, diesen Shabby Chic zur Schau zu stellen. Jemand, der wirklich arm ist, kann das gar nicht so veräußern.

Wie ist denn das Frauenbild unter diesen Bobohipstern? Gibt’s da einen Backlash?

Das Abziehbild ist tendenziell männlich, wir denken ja sofort an die Typen mit den Jesusbärten und den Baumwollbeuteln. Den Hipster aber gab’s schon immer, der ist nicht neu. Das ist sozusagen eine urbane Avantgarde. Es gab schon den Yuppie, den Bobo, das taucht alle fünf Jahre auf. Was eigentlich damit gemeint ist, ist diese bunte Bildungselite, die sehr urban, intellektuell, gut vernetzt ist, die diese Codes kennt und die reiche Symbolsprache, an die auch Statusfragen gehängt werden. Auch wenn sie im Second Hand Shop um drei Euro ihre Karohemden kaufen, kann das statusmäßig ein total wertvolles Karohemd sein. Du musst nur wissen, wie das gerade zu tragen ist, und ab wann nicht mehr. Sobald das Elitenwissen dann im Mainstream angelangt ist und die BerlintouristInnen das auch tragen, suchst du dir was Neues.

Ist das Hipstertum so männlich, weil es so Ich-bezogen ist?

Ja, damit hat das sicher zu tun – was ich interessant finde, gerade weil der Begriff do it yourself stark verbreitet ist. Das ist ja auch ein Teil dieser Bewegung: Sehr viele der modischen und hippen Frauen stricken oder craften. Auch auf queerfeministischen Webseiten spielt das eine Rolle. Ich habe nichts gegen Stricken, ich kann aber die bildhafte Logik überhaupt nicht verstehen, und sehe nicht, was daran zum Beispiel widerständig oder feministisch ist. Der Hipster ist jedenfalls keine politische Figur, er demonstriert nicht, er beschäftigt sich mit sich selbst, seinen Gefühlen, seinen Style-Ängsten, und sieht dabei veträumt aus.

Gibt es denn heute positive feministische Rolemodels?

Es gibt heute ein unglaubliches Prinzessinnenwesen. In den 70er-Jahren waren es vor allem im Kinderfernsehen Figuren wie die Rote Zora, Ronja Räubertochter. Das waren aggressive, mutige, aufmüpfige Figuren und Namen. Heute haben wir Lillifee und die Manga-Ästhetik, also diese Verniedlichung. Schwierig finde ich auch, dass jüngere Frauen sich wieder so „girliehaft“ benennen, wie wir es vor 20 Jahren schon mal hatten: Sie nennen sich „Mädchen“ oder „Missys“. Ich kann nur sagen: Dieses Augenzwinkern hat der Feminismus schon einmal versucht – es funktioniert nicht. Ich glaube nicht, dass es die eine gibt, die saisonal das Rolemodel schlechthin ist. Das entspricht auch nicht der Vielfalt und Diversität der Frauen. Für mich ist es Le Tigre Kathleen Hanna. Ich glaub auch, dass Anke Engelke eine Breitenfunktion besitzt, die ganz anders ist, als eine klassische fernseh-feminine Frau. Es ist grundsätzlich erst mal gut, dass es heute mehr interessante Frauen in der Öffentlichkeit gibt, glücklicherweise nicht nur verzweifelte Schlauchboot-Lippen-Trägerinnen.

Warum ist es heute überhaupt so kompliziert, Feministin zu sein?

Die Welt ist ganz schön unübersichtlich. Und ich denke, der Feminismus leidet wie auch andere politische Inhalte und Strömungen darunter, dass die Leute vereinzelt sind. Darüber hinaus ist es vor allem der Leistungsdruck, unter dem wir leiden, und die Angst davor, zu nervig und zu kompliziert zu sein, in dem Moment, in dem man Prinzipienfragen stellt. Ich glaube, dass Feminismus ganz oft mit innerem Unmut anfängt. Man muss den Mut finden, Dinge auszusprechen, dazu muss man stark sein. Und viele Leute fühlen sich gerade nicht stark, haben Angst, sich verwundbar zu machen. Aber ich habe den positiven Eindruck, dass es eine neue Sehnsucht gibt, sich mit anderen zusammenzutun und dass das, erst mal im Kleinen, auch gerade wieder passiert. Niemand kann alleine Verhältnisse umstoßen.

 

Klassenkampf reloaded

  • 13.07.2012, 18:18

In Nordafrika stürzen die Regime, in London herrscht Ausnahmezustand, in den USA bringen DemonstrantInnen eine Stadt unter ihre Kontrolle. Drei Schauplätze, ein Kampf: Der Mittelstand ringt um die Macht.

In Nordafrika stürzen die Regime, in London herrscht Ausnahmezustand, in den USA bringen DemonstrantInnen eine Stadt unter ihre Kontrolle. Drei Schauplätze, ein Kampf: Der Mittelstand ringt um die Macht.

Wer hätte das zu Jahresbeginn gedacht? 2011 wird in die Chroniken der Menschheitsgeschichte eingehen als großes Revolutionsjahr, vergleichbar mit epochalen Daten wie 1848, als Europas BürgerInnen gegen die Restauration auf die Barrikaden stiegen.
Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten sind Ereignisse von weltbewegender Dimension, weil sie eine neue Ära verheißen für den gesamten arabischen Raum, dem eine Schlüsselrolle in der Weltpolitik zukommt. Was die Umwälzungen in Ägypten, der traditionellen Vormacht der arabischen Staaten, noch auslösen werden, kann niemand wissen. Sicher ist: Für jede arabische Regierung wird es in Zukunft viel schwieriger werden, als Statthalterin westlicher Interessen aufzutreten und Politik gegen das eigene Volk zu machen. PolitikerInnen aus der EU und den USA mögen sich im Nachhinein noch so sehr auf die Seite der RevolutionärInnen stellen und sich echauffieren, Mubarak und Ben Ali seien Bastarde gewesen. Die NordafrikanerInnen werden nicht vergessen: Sie waren „unsere“ Bastarde, Mafiabosse im Dienst des Westens.

Pharaonen und Mafiabosse. Ihre Gangster-Regime sind gefallen, weil sie den jungen Menschen keine Chancen, keine glaubhaften Versprechen mehr anbieten konnten. Es waren nicht die verarmten Massen und die alten Seilschaften der Muslimbrüder, die die Diktatoren verjagten. Das Rückgrat des Aufstands bildete eine junge Generation von IngenieurInnen, IT-Fachleuten, FreiberuflerInnen, Fußballfans und auch Nachwuchsmitgliedern der Muslimbrüder, die damit gegen die Linie der Führungsgarde der Islamisten handelten. Gemeinsam war ihnen allen die Angst, durch die globale Finanzkrise aus der Mittelschicht in die Armut gestoßen zu werden.
Rechte ApologetInnen predigen, die Umwälzungen in Nordafrika seien ein Beweis für den Siegeszug der neoliberalen Demokratie. Aber die MarktschreierInnen sollten sich mal anhören, an wen die protestierende Masse am Tahrir-Platz in Kairo ihre Solidaritätsadressen richtet. Sie unterstützen die protestierenden StudentInnen in London und die linken ParlamentsbesetzerInnen in Wisconsin in den USA. Die einen wie die anderen betrachten sich als Verbündete im Kampf gegen eine neoliberale Politik, die schließlich der Grund war, warum die Pharaonen vulgo Mafiabosse in Ägypten und Tunesien vom Thron kippten.

Schlägertrupps gegen DissidentInnen. In unseren Tagen zeigt sich der subversive Weltgeist als Globalisierungsgewinnler. Mit Argusaugen mussten die Herrschenden der Welt sehen: Nicht nur Geld und Kapital jagen per Mausklick um den Erdball, sondern auch Aufstand und Umsturz eilen per Breitband und Satellit um die immer flacher werdende Welt. Wenn in Tunesien und Ägypten die Diktatoren stürzen, müssen die verbleibenden Autokraten in Europa, Asien und Afrika vor dem Funkenschlag der Revolution zittern. Sogar die mächtigen Bonzen im Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas zeigen dann Nerven, versetzen den Geheimdienst in höchste Alarmbereitschaft und hetzen zivile Schlägertrupps auf DissidentInnen.
Auch im Westen spürt man den Wind of Change. In London gingen hunderttausend Studierende auf die Straße, um gegen die Bildungspolitik der konservativen Regierung zu protestieren. Die Stadt befand sich über eine Woche in einer Art Ausnahmezustand. Polizeihubschrauber patrouillierten über den Dächern der Finanzmetropole, Panzerfahrzeuge und hochgerüstete Robocops, ausgestattet mit ungesicherten Automatikwaffen, bewachten die Regierungsviertel und riegelten die City ab.
In Griechenland, dessen Hauptstadt Athen die höchste Porsche-Cayenne-Dichte aller europäischen Metropolen haben soll, ist es in den vergangenen Wochen einmal mehr zu schweren Ausschreitungen gekommen. Kleine Geschäftslokale wurden geplündert und danach ausgebrannt, es gab Dutzende Verletzte. Unseren Medien waren die anarchischen Tumulte – wenn überhaupt – nur noch eine Randnotiz wert, so sehr haben wir uns schon gewöhnt an das hellenische Chaos, das frustrierte Jugendliche anrichten. 

Streiken verboten. Im Vergleich dazu sind die Ereignisse, die sich derweil auf der anderen Seite des Atlantiks zutragen, weit ungewohnter. Im US-Bundesstaat Wisconsin führten die radikalen Sparpläne des republikanischen Gouverneurs Scott Walker zu Protesten von hunderttausend Menschen, die das Zentrum von Madison, der Hauptstadt Wisconsins, zeitweise unter ihre Kontrolle brachten. Tausende BürgerInnen belagerten das State Capitol und verbarrikadierten die Zufahrtsstraßen. Es war eine der größten Widerstandsbewegungen in den USA seit den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg.
Was in den großen Medien anfänglich als Provinzposse abgetan wurde, offenbarte sich alsbald als Eskalation des Machtkampfs zwischen den zwei Amerikas – den sich immer fremder werdenden linksliberalen und reaktionären Teilen des Landes.
Anlass für den Konflikt war, dass die republikanische Partei das horrende Budgetloch auf Kosten der Mittelschicht und der sozial Schwachen stopfen will, während den MillionärInnen und MilliardärInnen Steuersenkungen winken.

Endstation Taka-Tuka-Land. Im US-Bundesstaat Ohio wurde jüngst ein Gesetz gebilligt, das es BeamtInnen unmöglich macht, Lohnforderungen mit Hilfe von Gewerkschaften durchzusetzen. Streiks werden künftig ein strafwürdiges Vergehen sein. Angestellten soll sogar untersagt werden, bei Lohnverhandlungen Abgeordnete zur Unterstützung einzuschalten. Und auch die republikanische Mehrheit im Senat in Wisconsin beschloss am 9. März trotz allen Widerstands, die Gewerkschaften radikal zu entmachten. „In 30 Minuten haben 18 Republikaner 50 Jahre Arbeitnehmerrechte in Wisconsin abgeschafft“, fasste der demokratische Senator Mark Miller die Niederlage zusammen. Um die Bedeutung der globalen Unruhen richtig einzuschätzen, sollten wir nicht vergessen, dass uns hoch angesehene PolitologInnen noch vor wenigen Jahren glauben machen wollten, der Zug der Geschichte sei angekommen in seinem Endbahnhof, dem Taka-Tuka-Land der neoliberalen Marktwirtschaft. Eingetreten ist aber das Gegenteil: Die Geschichte bricht sich gleich einem Hochgeschwindigkeitszug mit voller Wucht ihre Bahn, und niemand kann mehr wissen, wer die WeichenstellerInnen sind, die die Zukunft steuern werden.
 
Es herrscht Klassenkampf. Gemeinsam ist fast allen sozialen Kämpfen der Gegenwart, dass sie keine Klassenkämpfe mehr sind im Sinne von Proletariat gegen Bürgertum. Es sind Konflikte der Angehörigen des Mittelstands, die ihren Status zu verlieren drohen oder sich diesen erkämpfen wollen. Egal ob China, Indien, Europa oder die USA: Die besitzende Elite braucht die Mittelschicht nicht mehr als politischeTrägerin des Staates. Nur als gut qualifizierte, aber unpolitische Angestellte sind ihre Mitglieder dem Kapital von Nutzen.
Dass aber auch die Auseinandersetzungen zwischen den Superreichen und dem Mittelstand eine Art von Klassenkampf darstellen, darauf machte ausgerechnet der US-Milliardär Warren Buffet aufmerksam. Das Gebaren der US-Finanzbranche im Visier stellte er lakonisch fest: „Es herrscht Klassenkampf, meine Klasse gewinnt.“ Und setzte nach: „Aber das sollte sie nicht.“

Endstation Mundtot

  • 13.07.2012, 18:18

Die Regierung feilt an einem Terrorismuspräventionsgesetz, das eine lebendige Protestkultur gefährden könnte. Schuld daran sind vor allem unpräzise Formulierungen.

Die Regierung feilt an einem Terrorismuspräventionsgesetz, das eine lebendige Protestkultur gefährden könnte. Schuld daran sind vor allem unpräzise Formulierungen.

„Der Glaube an eine größere und bessere Zukunft ist einer der mächtigsten Feinde gegenwärtiger Freiheit.“ (Aldous Huxley)

Angst zu haben, das kennen wir. Mal sind es Banalitäten des Lebens, wie eine bevorstehende Prüfung, ein Zahnarztbesuch oder das Leben in  einer fremden Stadt. Mal geht es tiefer, wird existenzieller, wenn einem die Angst vor dem Tod die Nächte zum Tag macht. Angst besteht meist vor etwas Unbestimmtem, etwas, das vor uns liegt oder vor uns liegen könnte.
Seit 9/11 hat man mehr denn je Angst vor Terrorismus. Seit dem TierschützerInnenprozess Angst vor dem Mafiaparagraphen. Und nachdem vier AktivistInnen, die Mistkübel angezündet haben, nun die Anklage nach dem Terrorismusparagraphen droht, muss sich nun gänzlich vor dem Staat gefürchtet werden. Plant die politische Elite gegenwärtig unter dem Deckmantel Terrorismus die Zivilgesellschaft mundtot zu machen?

Terrorcamp. Am 26. April stellte Innenministerin Maria Fekter gemeinsam mit dem Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Peter Gridling den neuen Verfassungsschutzbericht 2010 vor. Sie plauderten ein wenig über die Zunahme linksextremer Delikte, die Teilnahme von etwa 20 ÖsterreicherInnen an ausländischen Terrorcamps und den Rückgang von Strafrechtshandlungen von militanten Tierrechtsgruppen auf ganze drei Fälle.
Alles in allem wurde festgestellt, dass keine größere Bedrohungen der Sicherheit Österreichs bestehe. Damit das so bleibt, verwies Fekter stolz auf das im April im Ministerrat durchgewinkte Terrorismuspräventionsgesetz: „Radikalisierung und Extremismus haben keinen Platz in unserem Land. Daher ist das Terrorismuspräventionsgesetz ein unverzichtbarer Baustein für die Grundwerte unseres Rechtsstaates.“
Was zur Vollendung dieses Terrorismuspräventionsgesetzes noch fehlt, sind die Paragraphen 278e (Ausbildung für terroristische Zwecke), 278f (Anleitung zur Begehung einer terroristischen Straftat) und 282a (Aufforderung zu terroristischen Straftaten und Gutheißung terroristischer Straftaten), über die in einem Justizausschuss im November wohl noch heftig debattiert werden wird.
Schon im Jänner hagelte es Kritik aus der Zivilgesellschaft, nicht nur in Bezug auf die oben genannten Paragraphen, sondern auch hinsichtlich der Paragraphen 278a (Bildung einer kriminellen Organisation), 278b (Bildung einer terroristischen Vereinigung), 278c (Terroristische Straftaten), 278d (Terrorfinanzierung), die bereits in Kraft getreten sind.
Die Mehrheit jener, die sich in den Stellungnahmen auf der Parlamentsseite äußerten, forderte eine komplette Abschaffung der Entwürfe. Das Gesetz sei „absurd“, bestenfalls in der „Müllverbrennungsanlage“ aufgehoben, hier würde man unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung BürgerInnenrechte, ja sogar Meinungs- und Pressefreiheit untergraben. Sämtliche JuristInnen sprechen von zu unpräzisen Formulierungen und einer völlig überzogenen Erweiterung des Strafrechts.
Auffallend war der Verweis der PolitikerInnen, internationale Abkommen einhalten zu müssen. Seit 9/11 hat sich in der westlichen Welt ein regelrechter Sicherheitswahn entwickelt. Rahmenbeschlüsse wie der europäische Haftbefehl, die davor jahrelang auf Eis gelegt waren, wurden in nur wenigen Monaten durchgepeitscht. Plötzlich waren polizeiliche und justizielle Sonderbefugnisse – Stichwort Überwachung und Lauschangriff – zum Wohle der „braven BürgerInnen“ besser argumentierbar. Nach und nach verschoben sich die Verdachtslogik der Nachrichtendienste und die Beweislogik der Justiz.

Online Durchsuchungen. Sämtliche Antiterrorgesetze und Rahmenbeschlüsse zur Prävention von Terrorismus zeichneten den Weg vor, dass bereits der bloße Verdacht der Begehung einer terroristischen Tat genügt, um eine Person strafrechtlich zu verurteilen. „Österreichs Kampf gegen den Terrorismus ist im internationalen Vergleich noch recht zögerlich. Onlinedurchsuchungen, die in Deutschland bereits angewendet werden, sind bei uns noch nicht genehmigt. Auch ist es im Moment unvorstellbar, Personen, die als TerroristInnen verdächtigt werden, zu inhaftieren – wie es in Großbritannien der Fall ist", sagt Ingeborg Zerbes vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien.
Kann man nun aufatmen, weil Österreich nicht die Speerspitze der Terrorismusgesetzgebung ist? Nein – sind sich unter anderen der Österreichische Rechtsanwaltskammertag, das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte oder Amnesty International (Österreich) einig. Der Hund liegt nämlich im Detail begraben: In der Formulierung der Gesetze, die äußerst unpräzise und weit gefasst ist. Hier ein kleiner Auszug:

§ 282a. (1) Wer in einem Druckwerk, im Rundfunk oder in einem anderen Medium oder sonst öffentlich auf eine Weise, dass es vielen Menschen zugänglich wird […].
(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer auf die im Abs. 1 bezeichnete Weise eine terroristische Straftat (§ 278c Abs. 1 Z 1 bis 9 oder 10) in einer Art gutheißt, die geeignet ist, das allgemeine Rechtsempfinden zu empören oder zur Begehung einer solchen Handlung aufzureizen.

Allein dieser Gesetzestext wirft dutzende Fragen auf: Ist es strafbar, wenn man die Vorgehensweise der Attentäter auf das World Trade Center detailliert in einem stark frequentierten Blog zu beschreiben? Was geschieht, wenn das Stauffenberg-Attentat gutgeheißen wird? Wie weit darf gegangen werden, um das Rechtsempfinden zu empören? Gerhard Benn-Ibler vom Österreichischen Rechtsanwaltskammertag äußert sich dazu mit den Worten: „Diese Straftaten zu potentiell terroristischen zu machen, verlässt endgültig den Bereich des Vertretbaren.“

Unibrennt-Bewegung. Je nach Auslegung könnte auch die jüngste Audimax-Besetzung Elemente einer terroristischen Straftat erfüllen. Konkret heißt es im Paragraph 273c, dass folgendes unter eine terroristische Straftat fällt: Wenn die Tat dazu geeignet ist, „eine schwere oder längere Zeit anhaltende Störung des öffentlichen Lebens […] herbeizuführen“. Nun ist die Unibrennt-Bewegung logischerweise darauf ausgerichtet, durch eine langhaltende Besetzung das öffentliche Leben zu stören, um die Behörden zum Handeln zu zwingen.
Das wohl aktuellste Beispiel dafür, wie das neue Terrorismuspräventionsgesetz missbraucht werden könnte, ist die mögliche Anklage nach Paragraph 278b (Bildung einer terroristischen Vereinigung) der vier Wiener Studierenden, die. in der Nacht von 26. auf 27. Juni zwei Mistkübel vor der Filiale des Arbeitsmarkservice in der Wiener Redergasse im fünften Bezirk angezündet haben sollen. Im Moment wird wegen verbrecherischem Komplott, Brandstiftung und Sachbeschädigung gegen sie ermittelt und geprüft, ob der Paragraph 278b auf sie anwendbar ist.
Würden die vier, die auch an der Unibrennt-Bewegung mitwirkten, nach dem Paragraph 278b angeklagt werden, so könnte auch die studentische Protestbewegung ins Visier der Behörden geraten.
Es scheint nicht gut zu stehen um die politische Kultur in diesem Land. Anstatt die Zivilgesellschaft zu schützen, werden ihre Freiheiten beschnitten. Anstatt sie zum Reden und Handeln zu ermuntern, wird Angst geschürt. Angst vor dem Staat zu haben ist fatal für eine Demokratie.

Der akademische Adel

  • 13.07.2012, 18:18

Das Elternhaus spielt eine entscheidende Rolle dafür, wer ein Hochschulstudium absolvieren kann. Bildungsstand und ökonomische Situation der Eltern beeinflussen uns alle weit mehr, als wir uns das oft eingestehen wollen.

Das Elternhaus spielt eine entscheidende Rolle dafür, wer ein Hochschulstudium absolvieren kann. Bildungsstand und ökonomische Situation der Eltern beeinflussen uns alle weit mehr, als wir uns das oft eingestehen wollen.

Deine Eltern haben keinen akademischen Abschluss? Pech gehabt. Noch immer bestimmt in Österreich die soziale Herkunft der Eltern entscheidend über den Bildungsgrad ihrer Kinder. So besuchen mehr als achtzig Prozent der AkademikerInnenkinder das Gymnasium, aber nur jedes zehnte Kind von Eltern mit einem Pflichtschulabschluss. Die aktuellste Studierenden- Sozialerhebung des Wissenschaftsministeriums untersuchte die soziale Herkunft von Erstsemestern auf der Hochschule. Fast die Hälfte hatte einen Elternteil mit Matura, ein Fünftel kommt aus einem AkademikerInnenhaushalt (berücksichtigt wurde der Bildungsstand des Vaters). Vor allem an Universitäten sind überproportional wenige Studierende aus bildungsfernen Schichten zu finden.

Stadt-Land-Gefälle. Besonders signifikant ist der Unterschied bei jungen Frauen. Eine AkademikerInnen- Tochter, die in der Stadt aufgewachsen ist, wird mit einer Wahrscheinlichkeit von über sechzig Prozent einen Hochschulabschluss erhalten. Umgekehrt schließen nur zwei von hundert Mädchen vom Land, deren Eltern lediglich eine Pflichtschule beendet haben, ein Studium ab. Daraus lässt sich schließen, dass soziale Selektion eben nicht erst auf der Universität beginnt, sondern bereits in frühen Kinderjahren. Und dass Schulerfolg bei weitem nicht nur von Intelligenz und Fleiß abhängt, sondern auch vom Bildungsbewusstsein der Eltern, von Sprachkenntnissen, der finanziellen Situation der Familie oder vielleicht auch nur von einem eigenen ungestörten Raum zum Lernen. Oft sind es überhaupt die „weichen“ Faktoren, die am Ende den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg in der Schule ausmachen. Wird „Kopfarbeit“ von meinem Umfeld als anstrengende Arbeit akzeptiert? Überblicken meine Eltern meinen Schulstoff, um ihn mit mir zu Hause zu wiederholen? Widersprechen sie mir, wenn ich aus einer Laune heraus beschließe, die Schule abzubrechen? Oder sind sie froh, wenn ich möglichst früh mein eigenes Geld verdiene?

Schule als Ausgleich. Ein Raum, in dem diese Ungleichheiten ausgeglichen werden könnten, wäre die Schule. In Österreich passiert zur Zeit aber das Gegenteil: soziale Ungleichheit wird in der Schule verfestigt. Österreichs SchülerInnen werden bereits im Alter von zehn Jahren aufgeteilt zwischen Hauptschule und Gymnasium. Eine Differenzierung, die in Europa beinahe einzigartig ist. Barabara Ischinger, Bildungsdirektorin der OECD, sagte zu einer österreichischen Tageszeitung: „Unsere Studien, aber auch die von fast allen anderen Fachleuten kommen zu dem Schluss, dass diese frühe Trennung soziale Ungleichheit zementiert und dabei keine besseren Ergebnisse produziert.“ Niemand könne zuverlässig über Talent und Potential eines zehnjährigen Kindes urteilen. Diese Bildungspolitik führt dazu, dass Österreich derzeit mit einer AkademikerInnenquote von 18 Prozent noch neun Prozentpunkte unter dem Schnitt der OECD-Länder liegt. Noch schlechter sieht es mit den Zahlen bei jenen aus, die ihr Studium auch abschließen. Laut der aktuellen OECD-Studie „Education at a Glance“ erwerben in Österreich nur knapp zwanzig Prozent eines Jahrgangs einen akademischen Abschluss. Damit liegt Österreich unter den 24 verglichenen Ländern auf Platz 22, nur Slowenien und Griechenland haben noch schlechtere Abschlussraten. Warum beenden so viele Studierende ihr Studium nicht? Die aktuellste Studierenden-Sozialerhebung legt eine Antwort nahe. Auf die Frage, was den Studienerfolg behindere, nannten die Meisten, sie könnten ihr Studium nicht mit ihrem Job vereinbaren. Und die erwerbstätigen StudentInnen stellen in Österreich keine Minderheit dar. Sechzig Prozent arbeiten neben dem Studium, vierzig Prozent davon während des gesamten Semesters. Ein Großteil der Befragten gab als Grund dafür finanzielle Schwierigkeiten an, nur wenigen ging es darum, Berufspraxis zu sammeln.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Studierende aus finanziell schlecht gestellten Familien werden in Österreich von der Volksschule bis zum Studienabschluss strukturell benachteiligt. Dass Menschen aus einkommensschwächeren Schichten im Durchschnitt nur eine niedrigere Bildung erhalten, ist kein Naturgesetz – sondern zu einem gewichtigen Teil eine politische Entscheidung. Laut „Education at a Glance“ bringen AkademikerInnen dem Staat Österreich durch Steuern und weniger Ausgaben im Gesundheitssystem rund 40.000 Dollar mehr, als sie ihn kosten. Alleine das sollte eigentlich Anreiz genug sein, den Zugang zum Studium nicht zu beschränken – sondern auszuweiten.

 

Der Fluch der Medien

  • 13.07.2012, 18:18

Die Hochschulproteste 2009 werden in die Geschichte Österreichs eingehen, das lässt sich sagen, obwohl sie noch gar nicht zu Ende sind. Nun besteht aber die Gefahr, dass die Studierenden den Aufstand zu sehr ins Audimax verlagern und die Hörsäle leer bleiben.

Die Hochschulproteste 2009 werden in die Geschichte Österreichs eingehen, das lässt sich sagen, obwohl sie noch gar nicht zu Ende sind. Nun besteht aber die Gefahr, dass die Studierenden den Aufstand zu sehr ins verlagern und die Hörsäle leer bleiben.

Als sich am 22. Oktober ein paar hundert Studierende neben dem Hauptgebäude der Universität Wien unangemeldet zu einer Demonstration versammelten, erhielt ein Mitarbeiter der Wochenzeitung Falter einen Anruf eines Aktivisten, der schon Tage zuvor daran gearbeitet hatte, den Protest zu schüren. „Bitte komm her! Ruf Kollegen an! Wir brauchen die Medien, sie sind der einzige Grund, warum wir das hier machen“, sagte der junge Mann dem Journalisten.
Wenige Minuten später vertreibt die Polizei die Studierenden mit Megaphonen. Die Sache scheint erledigt. Ein Teil der Demonstrierenden zieht sich ins benachbarte Gebäude der Uni Wien zurück. Einzelne Stimmen werden laut, im Auditorium Maximum, dem größten Hörsaal des Gebäudes, sei gerade Vorlesungspause. Kurz diskutieren die FührerInnen an der Spitze des Zuges: Sollen wir da wirklich rein? „Los geht’s“, brüllt da die Kleinste unter ihnen. Gesagt, getan – das Audimax ist besetzt.
Niemand kann recht fassen, wie einfach alles vonstattengeht. Immer mehr Studierende strömen in den Raum und alle versichern sich, bleiben zu wollen, was immer auch passiere. Eine Studentin, die darauf insistiert, ein Recht auf ihre Biologie-Vorlesung zu haben, erntet Spott, Gelächter und vereinzelte Buh-Rufe. Die junge Frau muss bald erkennen, dass ihr Versuch, die Studierenden zum Abziehen zu bewegen, chancenlos ist. Sie ist die Erste von vielen, die zu spüren bekommt, dass es den Besetzerinnen und Besetzern ernst ist.  

Große Egos auf der Bühne. Schnell teilt sich der Raum in zwei Gruppen. Die große Mehrheit bleibt passiv und setzt sich auf die HörerInnen-Bänke, der Rest schaltet und waltet rund um den Katheder und versucht, der Besetzung eine Struktur zu geben. Nicht, dass irgendwer davon abgehalten wird, auf dem Podium zu stehen, aber eine Bühne zieht immer die Art von Egos an, denen die bloße ZuschauerInnenrolle zu wenig ist. Die Menschen hinter dem Katheder heizen mit ihren Reden die Menge an und sonnen sich ergriffen im Applaus, der fast immer auf ihre Worte folgt. Die Stimmung ist gut und aufregend.
Nach drei Stunden Besetzung stellt sich der Student, der zuvor den Mitarbeiter vom Falter angerufen hat, hinter das RednerInnen-Pult, hebt triumphierend die zur Faust geballte linke Hand und schreit ins Mikrophon: „Ich habe eine gute Nachricht, wir sind beim Online-Standard ganz oben.“ Frenetisches Triumphgebrüll schallt ihm entgegen, der Raum verwandelt sich für Minuten in ein Fußballstadion, in dem ein Tor bejubelt wird. 
Gleichzeitig sammeln sich die ersten Freiwilligen, um die Pressearbeit der Besetzung zu koordinieren. Bald werden sie nur noch „Arbeitsgruppe Presse“ genannt, weil im besetzten Audimax jedeR und alles eine Arbeitsgruppe (AG) ist. Als eine ihrer ersten Taten klebt die AG Presse ausgedruckte Artikel verschiedener Online-Medien an die dunklen Holzwände des Hörsaals. Die Studierenden stehen nun vor den Artikeln und lesen, was sie gerade machen. „Echt flashig“, findet das eine junge Studentin.  

Freundliche Medien. Flashig ist das Wort, das oft gebraucht wird, um die ersten Tage im besetzten Audimax zu beschreiben. Da treffen sich zwei-, dreihundert verärgerte Studierende im Park neben der Universität und nur wenige Stunden später dominieren sie die Schlagzeilen in Österreich und finden letztlich NachahmerInnen in ganz Europa. Das fast noch größere Kuriosum: Den BesetzerInnen schlägt seitens der Medien kaum Ablehnung entgegen, sie ernten größtenteils Zuspruch. Außer in besonders einschlägigen Produkten war nichts zu lesen, zu hören oder zu sehen von „faulen linken Krawallmachern“, die die Hörsäle schleunigst wieder freigeben sollten. Sogar die populär-reaktionäre Kronen Zeitung wusste zwischenzeitlich nicht genau, ob sie die Besetzung dulden oder niederschreiben sollte. (Im Zweifel entschied sie sich doch für das Zweite.) Die Zeit im Bild 2, in der Marie-Claire Zimmermann Ex-Wissenschaftsminister Johannes Hahn verbal abwatschte, ist längst legendär. Am weitesten ging aber die Wiener U-Bahn-Zeitung Heute, die eigentlich ein ähnliches Klientel bedient wie die Krone und auch ihrem Einflussbereich zuzurechnen ist: Sie las sich zeitweise wie das offizielle Presseorgan des Protests. Mehrere MitarbeiterInnen der AG Presse versichern, Heute-Chefredakteur Richard Schmitt habe bei ihnen mehrmals angerufen, um logistische Hilfe anzubieten. Die BesetzerInnen und die Medien – sie gingen eine eigenartige Symbiose ein. Was ist passiert?

Ungleiches Echo. Das Audimax der Uni Wien war schon oft besetzt, daran kann es nicht gelegen haben. Im März und April 1996 harrten BesetzerInnen eineinhalb Monate darin aus, um gegen eine Verschärfung des Beihilfensystems zu protestieren. Das mediale Echo von damals steht in keinem Vergleich zu dem von heute. Wer Ende November in die Suchmaske der österreichischen Presseagentur APA in der Rubrik „Alle Quellen“ die Wortkombination „Audimax“ und „Besetzt“ eingab, erhielt für das Jahr 1996 vier Treffer, für das Jahr 2009 aber ganze 1085. Der Vergleich hinkt, die APA und die Medien haben seitdem aufgerüstet, dennoch bleibt ein Anstieg um mehr als 25.000 Prozent. Was hat sich verändert?
Auf diese Frage kann es natürlich nicht nur eine Antwort geben. Eine mögliche Erklärung ist die ausgezeichnete Öffentlichkeitsarbeit, welche die AG Presse geleistet hat. Martina Kraft (Name von der Redaktion geändert) aus Deutschland gehört gemeinsam mit acht anderen Personen zum harten Kern der AG. Sie war schon dabei, als das Team, wie sie sagt, „nur aus dreieinhalb Leuten“ bestand und noch nicht im schicken Prominentenzimmer untergebracht war.

Kommandozentrale. Die AG Presse koordinierte den Aufbau der Homepage, beantwortet täglich dreihundert Mails und dutzende Anrufe, twittert, facebooked, bloggt und streamt. Die Informationen über die Arbeit aller AGs laufen bei ihr zusammen, sie ist der Server des Protests. Zeitweise ist ihre Macht so groß, dass sie aus einer Liste von Freiwilligen diejenigen Personen aussucht, die als SprecherInnen gegenüber Fernsehen, Radio und Zeitungen fungieren. Wer am Abend in der Zeit im Bild oder im Club 2 als Gesicht der Bewegung auftritt, wurde von der AG Presse dorthin geschickt. „Viele bezeichnen uns als Kommandozentrale des Aufstands“, sagt Martina nicht ohne Stolz.
So viel Macht erfährt auch Widerspruch: „the revolution will not be facebooked. nor streamed or twittered” und „Seit wann ist Plenum wie Fernsehen?” stand auf Zetteln, die Studierende schon während der ersten Tage an den Wänden im Audimax anbrachten. Was meinen sie damit?
Thomas Hauptmann will seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen, trägt Bücher von Gilles Deleuze und Michel Foucault in den Taschen seiner weiten Strickweste und arbeitet in drei AGs mit. Er sagt: „Wenn alle über uns reden und schreiben, dann lähmt das die Bewegung. Ich kam mir am Anfang wegen der breiten Berichterstattung wie hypnotisiert vor. Jeder achtet nur auf die Außenwirkung der Proteste, aber die Außenwirkung wird das neoliberale Bologna-Programm nicht verändern. Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig, aber sie kann nicht das Wichtigste sein, sonst müssen wir von PR und nicht von Politik sprechen“

Inszenierung des Scheins. Hauptmann spricht ein Problem an, das weit über die Studierenden-Proteste hinausgeht. Das politische System richtet seine Arbeit immer stärker an den Medien und immer weniger an den wirklichen Problemen der Gesellschaft aus. Die „Inszenierung des Scheins“ anstelle der „Inszenierung der Wirklichkeit“ nennt das der deutsche Politologe Thomas Meyer, laut dem wir längst in einer Mediendemokratie leben. Was bedeutet das?
Traditionellerweise sollten die Medien die Politik beobachten, damit sich die StaatsbürgerInnen eine vernünftige Meinung von dieser bilden können. „In der Mediendemokratie aber beobachten die politischen Akteure das Mediensystem, um zu lernen, was sie und wie sie sich präsentieren müssen, um auf der Medienbühne einen sicheren Platz zu gewinnen“, schreibt Meyer in der Neuen Zürcher Zeitung. Die Politik unterwerfe sich den Regeln der Medien, um auf diesem Wege die Herrschaft über die Öffentlichkeit zu gewinnen. 

Der Protest verlagert sich. Ende November erschien im Standard ein Artikel, der das Dilemma der Mediendemokratie auf die Uni-Proteste ummünzte: „Generell sind die Medien für die Besetzer Segen und Fluch zugleich. Einerseits wurde durch die große mediale Aufmerksamkeit bisher eine Räumung erschwert, andererseits birgt die positive Berichterstattung die Gefahr, die Proteste zu schlucken. (…) Die Studierenden befinden sich in einem Dilemma: Sie wollen den positiven Rückhalt nicht verlieren, da ihnen die Medienpräsenz hilft. Doch deswegen bleiben sie zu brav, um negative Schlagzeilen zu vermeiden.“ Ob die Studierenden wirklich „zu brav“ sind, sei dahingestellt. Wahr ist, dass sich der Protest in seiner ganzen Form zunehmend von den Hörsälen in die Medien und das Internet verlagert hat.
Nach wie vor twittern, bloggen und streamen die BesetzerInnen. Die Qualität der Homepage wird immer besser, selbst IT-Profis zeigen sich angetan. Aber wer sich Ende November ins Audimax begab, fand meist leere Bankreihen vor. Nicht ohne Chuzpe zu beweisen, schlug Georg Winckler, Rektor der Universität Wien, deshalb sogar eine Teilzeit-Besetzung vor. Eine Stunde pro Tag dürften die Studierenden Aufstand spielen.
Es ist bizarr, der mediale Erfolg der Protestierenden ist so groß, dass er sich nun gegen sie zu wenden droht. Deshalb gehört es bereits jetzt zur wichtigsten Erkenntnis der ruhmreichen Studierenden-Proteste 2009, dass die Politik zwar Blogs und Homepages ignorieren kann, einen bummvollen, besetzten Hörsaal aber nicht.
 

Das Kreuz mit den Formulierungen

  • 13.07.2012, 18:18

Ingeborg Zerbes forscht am Institut für Strafrecht und Kriminologie unter anderem über österreichisches und europäisches Strafrecht. Mit PROGRESS sprach sie über das Terrorismuspräventionsgesetz, die Unwissenheit der Gesetzes-Schreiberlinge und die Absurdität des TierschützerInnenprozesses.

Ingeborg Zerbes forscht am Institut für Strafrecht und Kriminologie unter anderem über österreichisches und europäisches Strafrecht. Mit PROGRESS sprach sie über das Terrorismuspräventionsgesetz, die Unwissenheit der Gesetzes-Schreiberlinge und die Absurdität des TierschützerInnenprozesses.

PROGRESS: Frau Zerbes, haben Sie Angst vor Terrorismus?

Ingeborg Zerbes: Nein, nicht vor einem konkreten Anschlag in Österreich. Natürlich ist mir bewusst, dass es weltweit ein Problem ist.

Im österreichischen Strafgesetzbuch ist der Begriff Terrorismus nicht definiert. Es wird lediglich ein Typ von Straftaten beschrieben, die unter Terrorismus fallen. Warum ist das so?

Terrorismus ist schwer fassbar. In einem frühen UN-Übereinkommen wird Terrorismus so beschrieben, dass es dabei nicht darum geht, gezielt einer Person Schaden zuzufügen, sondern es sollen so viele Personen wie möglich getroffen werden. Das Ziel von Terrorismus ist es, in der Gesellschaft eine besonders nachhaltige Verunsicherung zu schaffen.

Laut Verfassungsschutzbericht stellt der Terrorismus für Österreich keine größere Bedrohung dar. Dennoch feilt man an einem Terrorismuspräventionsgesetz. Ist die Verhältnismäßigkeit für so ein Gesetz überhaupt gegeben?

Verhältnismäßigkeit ist ein unglaublich dehnbarer Begriff. Wenn es letzten Endes um Leib und Leben geht, dann ist die Verhältnismäßigkeit auf dieser Ebene durchaus gegeben, aber in Hinblick auf die Effizienz und Notwendigkeit eines solchen Gesetzes möglicherweise nicht.

Viele Formulierungen im Terrorismuspräventionsgesetz sind dermaßen unbestimmt, dass ein großer Interpretationsspielraum bleibt. Warum kann man das nicht klarer definieren?

Es ist schwierig – auch für die Autoren von Gesetzestexten – mit Sprache umzugehen. Die Schwierigkeit wird umso größer, wenn bereits der Tatbestand eines Delikts nicht klar umrissen ist. Woraus soll sich ein Verdacht ergeben? Welche Handlungen machen denn verdächtig, wenn man in irgendeiner Vereinigung ein Mitglied ist? Bei dem Tatbestand, die sich gegen gefährliche Gruppen richten, weiß niemand, wann denn eigentlich ein Verdacht vorliegt und damit strafrechtliche Ermittlungen beginnen dürfen.

Wie hoch sehen Sie die Chancen, dass das Terrorismuspräventionsgesetz überarbeitet wird? Beziehungsweise: Glauben Sie, dass die Paragraphen, die noch verhandelt werden, ganz verworfen werden?

Ich denke, die Gesetze werden ohne wesentliche Veränderung durchgesetzt werden. Die Strafdrohung als solche ist nicht das Problem. Ich glaube nicht, dass viele Personen aus Österreich zu Ausbildungslagern fahren und deshalb verurteilt werden. Das Problem ist die Verdachtsrecherche. Bei so einem Gesetz kann es theoretisch passieren, dass Menschen mit muslimischen Wurzeln verdächtigt werden, zu einem Terrorcamp zu fahren, wenn sie ihre Angehörigen in arabischen Ländern besuchen.

Woher kommt der Glaube, dass man mit solchen Gesetzen Terrorismus verhindern kann?

Wenn man naiv ist, könnte man sagen, dass von jenen, die in einem Ausbildungslager waren und deshalb verhaftet worden sind, keine Gefahr mehr ausgeht. Außerdem können Strafdrohungen eine abschreckende Wirkung haben – das ist schließlich der Sinn, eben solche einzuführen.

Ich bezweifle, dass TerroristInnen sich von einer härteren Gesetzgebung abschrecken lassen.

Ich kann mir das auch nicht vorstellen. Im Gegenteil! Ich denke, dass die Wut auf die staatliche Autorität nur noch größer wird. Die Gruppe, vor der man am meisten Angst hat, sind Muslime. Vorbehalte gegen diese Menschen und Strafgesetze, die auf diese Menschen zugeschnitten sind, verursachen noch tiefere Gräben. Ein Kopftuchverbot beispielsweise – das ist jetzt zwar kein Straftatbestand – geht letzten Endes in die gleiche Richtung.

Der §278 wurde nicht nur in Bezug auf das Terrorismuspräventionsgesetz heiß diskutiert, sondern vor allem in Bezug auf den §278a. Er war der Auslöser für den größten TierschützerInnenprozess, der je in der Zweiten Republik stattgefunden hat. Sind die TierschützerInnen eine kriminelle Organisation?

Nein. Nur weil die Tierschützer Wertkartenhandys und einen EDVSpezialisten haben, sind sie noch lange nicht unternehmensähnlich organisiert. Ein Unternehmen hat eine glasklare Weisungshierarchie. Dort kann man sich nicht aussuchen, bei welcher Aktion man teilnimmt oder nicht. Die Tierschützer können das.

Wann hätten Sie den Prozess beendet?

Schon nach der Anklageschrift. Ich hätte die meisten Beweise gar nicht aufgenommen. Wenn es sich um konkrete Delikte handelt, die die Angeklagten begangen haben, dann müssen sie dafür bestraft werden und nicht wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation. Mir kommt es so vor, als würde sich die Richterin verpflichtet dazu fühlen, nachträglich all diese Ermittlungsmaßnahmen zu rechtfertigen. Es wurden Beweisaufnahmen bei Dingen geführt, die mit der Sache gar nichts zu tun haben.

Glauben Sie, dass der Prozess mit einem Freispruch endet?

Ich hoffe es.

In der Diskussion rund um den § 278a fordern nun viele, dass man den Paragraphen mit der Bereicherungsabsicht einer kriminelle Organisation einschränkt. Mit diesem Zusatz wäre eine Überwachung der TierschützerInnen nicht möglich gewesen. Warum wird das nicht geändert?
 
Es ist im Moment ein Gesetzesvorhaben in Arbeit. Man muss sich jedoch bewusst sein, dass so eine Veränderung auch verhindern würde, dass zum Beispiel eine rechtsradikale Organisation über den Paragraph 278a bekämpft werden kann. Wenn Rechtsradikale sich organisieren, etwa um Kebap-Stände zu zerstören oder Ausländer zu nötigen, dann können sie auch nur mehr wegen des konkreten Straftatbestandes zur Verantwortung gezogen werden und nicht bereits wegen ihres Zusammenschlusses.

Bereit, den Kampfanzug anzuziehen

  • 13.07.2012, 18:18

Oslo war vorhersehbar, die Gesellschaft rückt nach rechts und kritische Öffentlichkeit stumpft ab. welcher widerstand macht jetzt Sinn? Ein Licht aufs Meer des Antifaschismus.

Oslo war vorhersehbar, die Gesellschaft rückt nach rechts und kritische Öffentlichkeit stumpft ab. welcher widerstand macht jetzt Sinn? Ein Licht aufs Meer des Antifaschismus.

Unfassbar und pietätlos“, empörte sich FPÖ-Chef Heinz- Christian Strache drei Tage nach dem Attentat von Oslo, sei es, die Politik seiner Partei in irgendeinen Zusammenhang mit diesem Ereignis zu stellen. Denn plötzlich wurde öffentlich thematisiert, was ohnehin offensichtlich ist – und schon drei Monate danach in Vergessenheit zu geraten scheint: Dass die FPÖ und ihre Verbündeten in ganz Europa den Boden für „Einzeltäter“ wie Anders Behring Breivik bereitet haben. Die inhaltlichen Parallelen finden sich schwarz auf weiß in Breiviks Manifest: Dort zitiert er die aus Vorträgen am FPÖ-Bildungsinstitut bekannte „Islamexpertin“ Elisabeth Sabaditsch-Wolff genauso wie die freiheitliche Wahlkampflüge vom Verbot des Nikolos in Wiener Kindergärten. Umgekehrt ruft die FPÖ mittels Schüttelreimen, Comics und Computerspielen immer wieder wörtlich und symbolisch zu Gewalt auf. Ganz direkt wird Strache, wenn es „um unsere Heimat“ geht: „Da muss man auch bereit sein, den Kampfanzug anzuziehen“, wetterte er, der einige Jahre davor noch selbst im Kampfanzug durch den Wald robbte, beim FPÖ-Parteitag 2006.
Heribert Schiedel, Rechtsextremismus-Experte im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), schrieb in den Tagen rund um die Osloer Attentate gerade am letzten Kapitel seines neuen Buches „Extreme Rechte in Europa“, das im Oktober in der Edition Steinbauer erscheinen wird. Er sei damals nicht besonders überrascht gewesen und meint sogar, die Anschläge waren angekündigt: „Das war nur eine Frage der Zeit. Das Bekennerschreiben zur Tat war schon da, dessen Inhalte weitgehend akzeptiert.“ Breiviks Ansichten fände man fast wörtlich in „Texten, Aufsätzen, Reden von europäischen Rechten verschiedener Fraktionen. Je weiter man nach rechts außen geht, desto unmittelbarer werden die Vernichtungsphantasien, die Drohungen, die Paranoia.“

Buckeln und Treten. Basis für Rechtsextremismus sind nicht allein die Skins von nebenan im Thor- Steinar-Style oder rechtsextreme Internetseiten. Vielmehr entspringt all das einer Gesellschaft, in der es schnell einmal hart auf hart gehen kann. Von klein an lernen wir, unsere Wünsche nicht zu hoch zu schrauben, oder gleich zu unterdrücken. Nach den engen Schlingen der Kleinfamilie folgen Kindergarten, Schule und manchmal auch Militär – Institutionen, die patriarchal- autoritär geprägt sind und auf ein hartes Konkurrenzverhältnis in der Arbeitswelt, einen soziallöchrigen Staat und ein hierarchisches politisches System vorbereiten. Die Verletzungen und Demütigungen können dabei immens sein, die Handlungsspielräume, am eigenen Leben etwas zu ändern, minimal. Das führt häufig zu aggressiver Resignation: Nach oben buckeln, nach unten treten. Erklärungen werden gesucht, Verschwörungstheorien entstehen. Angst, Neid und Hass liegen eng beieinander – und werden auf „die Anderen“ projiziert. Rechtsextremismus ist die idealtypische Äußerung davon.

Mit dem zunehmenden antimuslimischen Ressentiment in der Gesellschaft hingegen tun sich klassische Rechtsextremist_innen oft schwer – werden doch die Muslim_innen von Vielen als Verbündete gegen „die Juden“ betrachtet. Eine elegante inhaltliche Klammer zwischen klassischem Rechtsextremismus und antimuslimischem Alltagsrassismus bietet aber der Mythos der „Türkenbelagerung“. Bereits im Austrofaschismus wurde dieser als „Kampf um das Abendland“ hochstilisiert. Der FPÖ gibt er nicht nur eine Möglichkeit, die „rein“ gehaltene Nation zu feiern und damit die Kernklientel zu bedienen, sondern auch, um mit dem verstärkten Ressentiment gegen Muslim_innen Stimmen zu fangen. Der antimuslimische Konsens verbreite sich also „auf Basis der ‚Verteidigung europäischer Werte‘ gepaart mit paranoiden Vorstellungen einer ‚linkslinken Multi-Kulti-Verschwörung‘“, sagt Schiedel.

Verschiebung der Normalität. Martina Wurzer, Grüne Gemeinderatsabgeordnete mit antifaschistischem Schwerpunkt, konstatiert Österreich ein tiefsitzendes Problem mit antisemitischen und rassistischen Ressentiments. Die FPÖ spiele auf dieser Klaviatur: „Durch das Erstarken der FPÖ fühlt sich nicht nur die neonazistische Szene bekräftigt, es wirkt auch als Legitimation für latente Fremdenfeindlichkeit. Die Politik und Parolen der FPÖ führen dazu, dass das an den Stammtischen viel besser verbreitbar ist.“ Dies spiegle sich im Verfassungsschutzbericht wider, wobei dieser sehr zurückhaltend mit der Thematisierung rechtsextremer Straftaten sei. Eine eklatante Zunahme von Delikten mit rechtem Hintergrund ist jedoch kaum zu verbergen. Der Ende September veröffentlichte Sicherheitsbericht spricht gar von einem Anstieg um 28 Prozent im Jahr 2010.

Lichtermeer und schwarzblau. Diesem neuerlichen Erstarken des Rechtsextremismus gilt es etwas entgegen zusetzen. Die Frage ist nur, was. Die großen Kundgebungen des „anderen Österreich“ scheinen gescheitert. Die Forderungen des Anti- Ausländer_innen-Volksbegehrens der FPÖ 1993, gegen das damals 300.000 Menschen im Zuge des Lichtermeers auf die Straße gingen, sind heute weitgehend umgesetzt – großteils von SP-Innenministern. Sibylle Summer, linke Sozialdemokratin und Vorstandsmitglied im Republikanischen Club, sieht einen Normalisierungsprozess, der in den letzten Jahren in Bezug auf autoritäre Tendenzen, Rassismus und den Wunsch nach einem „starken Mann“ stattgefunden habe. Dennoch betrachtet sie die klassischen antifaschistischen Kundgebungen, wie sie 1986 gegen Waldheim, 1993 gegen das FPÖ-Volksbegehren und 2000 gegen Schwarz-Blau stattgefunden haben, nicht als sinnlos: „Da war jeweils eine neue Generation engagiert, es sind NGOs entstanden. Solche Bewegungen sind generationsprägend. Daraus erwächst kritischeres Bewusstsein.“ Außerdem sei es wichtig, nicht abzustumpfen und der Empörung Ausdruck zu verleihen: „Eine Demonstration ist eine Verortung der Emotion und kann Ausgangspunkt für politische Organisierung und Aufklärungsarbeit sein.“

Kein Spielplatz für die FPÖ. Auch durch die Vernetzung der Rechten im Internet tun sich hier neue Aktionsformen auf. „Wir sehen unsere Arbeit als Teil einer antifaschistischen Protestbewegung“, sagen die Aktivist_innen von Bawekoll, dem Basisdemokratischen Webkollektikv. Sie beobachten seit Mitte Juni die Tätigkeiten der FPÖ im Internet, sammeln und kontextualisieren diese auf ihrer Website. Den Facebook- Auftritten von FPÖ-Politiker_innen wird dabei genauso nachgegangen wie ihren Verbindungen im Real Life. Denn „Social Media-Plattformen sind kein Spielplatz, auf dem ich, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, tun kann was ich will“, meinen sie. Bawekoll übernehmen gemeinsam mit anderen Blogs und Internetleser_innen einen wichtigen Teil der Recherchearbeit über rechtsextreme Netzwerke. Diese Archive seien ein wertvoller Bestandteil antifaschistischen Engagements, sagt auch Martina Wurzer: „Es ist dramatisch, wie abgestumpft wir von den ständigen Vorfällen und Aussagen von FPÖ-Politiker_innen, Burschenschaftern und Neonazis sind. Diese Blogs helfen, sich daran zu erinnern. Denn der österreichische Staat zeigt extreme Lücken auf, wenn es darum geht, Rechtsextremismus zu beobachten und zu ahnden.“ Schiedel setzt weniger beim Staat als bei der Arbeit mit Jugendlichen an, beim Auslösen von Reflexionsprozessen vor einem historischen Hintergrund: „Warum sollte das nicht auch gesamtgesellschaftlich funktionieren?“ Skandalisierungen und Demonstrationen könnten es schaffen, mehr Zustimmung für antifaschistische Positionen zu erreichen. Doch, so Schiedel nachdrücklich, die Frage sei: „Was mach ich dann mit der Zustimmung? Feiere ich den Sieg der Massen gegen die Nazis? Oder gehe ich einen Schritt weiter, freue mich zwar über Zustimmung, aber frage auch, wie es mit mir selbst, der eigenen Partei, dem eigenen Umfeld, der eigenen Gesellschaft aussieht.“

Die AutorInnen studieren Politik und Geschichte

Elend, das uns anturnt

  • 13.07.2012, 18:18

Billige Sozialporno-Dokus bringen den Sendern höchsten Quotenerfolg – warum schauen wir uns das an?

Billige Sozialporno-Dokus bringen den Sendern höchsten Quotenerfolg – warum schauen wir uns das an?

Vom Arbeitsalltag des WEGA-Chefs bis zur 13-jährigen werdenden Mutter - das alles gibt es auf ATV zu sehen. In den so genannten „Eigenproduktionen“ werden Menschen des „echten, einfachen Lebens“ portraitiert. Denn es ist für ATV offensichtlich, was das ZuschauerInnenherz heutzutage begehrt. Sendungen wie Das Geschäft mit der Liebe oder das jüngere Format Saturday Night Fever erfreuen sich großer Beliebtheit beim österreichischen Publikum. Letztgenannte Sendung erreichte im Vorjahr sogar zwischenzeitlich einen Marktanteil von 25 Prozent bei den 12 – 29 Jährigen und erkämpfte Platz drei unter den meistgesuchten Filmen bzw. Serien, die im Jahr 2010 über die österreichische Seite von Google gesucht wurden. Schon beeindruckend, wie aus ein paar Jugendlichen, die das Trinken für das Publikum nach vier Staffeln maximal professionalisiert haben, die TV-HeldInnen der jungen Fernsehgeneration wurden. Aber auch die Bauern auf der Suche nach der großen Liebe, gehen im Jahr 2011 bereits in die neunte Staffel und auch von jenem Format, das junge Schwangere begleitet – Teenager werden Mütter – ist in diesem Jahr schon die vierte Staffel zu sehen.

Haben wir noch immer nicht genug? Offensichtlich nicht. Neben ATV ist auch PULS4 auf diesen Zug aufgesprungen und bedient mit der Sendung Die Puffbrüder – Alltag im Edelbordell das Voyeursherz des österreichischen Publikums. „PULS4 ist mittendrin und zeigt, was es heißt, ein Freudenhaus als Familienbetrieb zu führen“, so soll den potentiellen ZuseherInnen auf der Homepage des Senders das fragwürdige Format schmackhaft gemacht werden. Aber nicht nur die Privaten setzen auf „mittendrin im echten Leben“. Auch der ORF sieht sich mittlerweile gezwungen, eigene Doku-Soaps ins Programm aufzunehmen. Entsprechend seiner Funktion als öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt wird der Schauplatz kein Puff sein und die ProtagonistInnen nicht ausschließlich in den tiefsten Beisln rekrutiert werden. Dennoch hat der enorme Erfolg der Privatsender auf diesem Gebiet dem öffentlich-rechtlichen Sender weis gemacht, dass funktionierende Unterhaltung genau so aussieht und der ORF dackelt hinterher – 2011 starten dort gleich zwei Doku-Soaps durch. Die eine wird JungunternehmerInnen auf dem Weg zum großen Geld begleiten und die andere wird eine Kuppel-Show. Elisabeth T. Spira, wenn man so will, das Urgestein des österreichischen „Sozial-Pornos“, Erfinderin der beliebten Alltags- und Liebesg’schichten (davon gibt es schon bald die 15. Staffel), vermutet in einem Interview mit derstandard.at, dass das neueste Vorhaben des ORF „wohl so etwas ähnliches werden soll wie auf ATV, aber sicher wesentlich besser“. Ob das gelingt? Beim ORF wird betont, dass man sich eben durch einen respektvollen Umgang mit den ProtagonistInnen in diesem Genre auszeichnen wolle. Nun rührt der Erfolg des Genres aber daher, Menschen in einem sehr privaten und intimen Kontext darzustellen und dabei ihre Unfähigkeit Die unterhaltenden Elemente dieser Sendungen basieren eben darauf, die Schwächen, Krisen und Blößen der gezeigten Personen zu stilisieren.
Andreas Mannsberger, Regisseur von Das Geschäft mit der Liebe – Frauen aus dem Osten erklärte die Auswahl jener Männer, ddie auf ihrer Jagd nach der perfekten Frau von der Kamera begleitet wurden, mit folgendem Motiv: „Wir haben bewusst Männer genommen, die sehr von sich selbst überzeugt sind, und so zu sagen die Spitze der Klischee- Gesellschaft darstellen“. Dass bei solchen Typen die „richtigen“ Sager, die „richtigen“ Aktionen und die damit einhergehende Belustigung des Publikums inklusive sind, verspricht hohe Einschaltquoten, aber auch die mediale Rezeption solcher Formate. Dass diese im Fall von Das Geschäft mit der Liebe aber auch für Saturday Night Fever zumeist nicht gerade wohlwollend ausfiel, ändert nichts an der Popularität der Sendungen und das Ziel ist in jedem Fall erreicht.

HeldInnen von Unten. Wer sind nun diese Leute, die freiwillig so tiefe Einblicke in ihre Privatsphäre gewähren? „Die heutige Generation ist viel ungenierter als frühere“, sagt der RTL-Chef Gerhard Zeiler in der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT. „Es gibt eine Veränderung in der Beziehung des Einzelnen zur Privatheit.“ Betrachtet man nun die Dar stellerInnem der so genannten Doku-Soaps, besteht wenig Grund an Zeilers Analyse zu zweifeln. Das immer stärkere Verschwimmen von Privatem und Öffentlichem ist nicht erst aktuell seitdem Begriffe wie Web 2.0 und Social-Networks den medialen Alltagsdiskurs dominieren. Auch auf einer wissenschaftlichen Ebene gibt es die Beschäftigung mit Formen der Selbstdarstellung und Kommunikation der jungen Generation im 21. Jahrhundert, die diesen Trend bestätigt.
Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier erklärt das große Interesse junger Menschen, bei derartigen Sendungen mitzuwirken, damit, dass es sich dabei um Leute handelt, „die sonst überall ausgegrenzt werden – auf dem Arbeitsmarkt, in teuren Geschäften, außerhalb ihrer Peer Group will sie niemand haben.“ Und jetzt sind sie richtige Stars, mit Facebook Fan-Seiten, eigener Single, Foto-Shooting, Party-Tour, und und und. Ein Auftritt im Fernsehen – die Prominenz wird zum Maßstab des persönlichen Erfolgs. Aber nicht etwa herausragende Verdienste oder Leistungen am Bildschirm führen zu diesem (vermeintlich) persönlichen Erfolg, sondern die schamlose Bereitschaft das Innerste nach außen zu kehren. Dass dieser Erfolg in so gut wie allen Fällen nur von kurzer Dauer ist, zieht für die DarstellerInnen von Doku-Soaps nicht selten auch psychische Konsequenzen nach sich. Von der aktuellen Bekanntheit beflügelt, stürzen sie danach oft in ein umso tieferes Loch.

Fans von überall. Die interessantere Frage ist aber: Warum erzielen diese Sendungen so große Erfolge beim Publikum? Die Mediensoziologin Eva Flicker ortet den Erfolg von Produktionen wie Saturday Night Fever darin, dass diese Formate gleich zwei Zielgruppen bedienen: „Die einen sehen sich die Sendung an, weil sie sich mit ihr identifizieren. Die anderen, weil sie ihnen hilft, sich abzugrenzen." Welche Gruppe größer ist, lässt sich schwer sagen. Nach jeder Ausstrahlung von Saturday Night Fever erreichen ATV die Bewerbungen von 80 – 100 Jugendlichen, die sich auch gerne mal beim Partymachen zeigen wollen und die Online- Fangruppen wachsen stetig. Aktuell spricht ATV von ca. 60.000 Personen. Durchstöbert man hingegen heimische TV-Foren bestätigt sich zwar der Eindruck der enormen Beliebtheit dieses Formates. Die Motive, die hier für das Schauen der Sendung genannt werden, unterscheiden sich aber von jenen der „echten Fans“.
Fremdschämen zum Hauptabendprogramm, so lautet das Credo. Die meisten, die sich hier zu Sendungen äußern, sind der Meinung, dass das alles unglaublich „tief“, „primitiv“, „peinlich“ und vor allem zum „Fremdschämen“ sei. Aber trotzdem, oder besser: genau aus diesem Grund schauen sie sich diese Sendungen Woche für Woche an. Weil die Menschen gerne Menschen sehen, die noch ein bisschen ärmer, peinlicher, ungebildeter, erfolgloser, einsamer und hässlicher sind als sieselbst, denn das hilft dabei sich abzugrenzen und sich eben ein kleines Stück besser zu fühlen. Aber auch das Eintauchen in fremde, „intime“ Lebensbereiche an sich hat seinen Reiz für die ZuseherInnen. Sabine Prokop, Kultur- und Medienwissenschaftlerinerkennt in diesem Voyeurismus eine „relativ menschliche Regung“. So scheint es nicht verwunderlich, dass diese „menschliche Regung“ vor keiner gesellschaftlichen Gruppe Halt macht.

Sind wir tatsächlich so anspruchslos? Unterhaltungmuss nicht grundsätzlich niveaulos sein, um auch tatsächlich zu unterhalten. Betrachtet man die Programm-Schemata der deutschsprachigen Privatsender, wird der Eindruck aber stark erhärtet. So ist das deutsche Privat- TV sogar schon einen Schritt weiter – oder tiefer wenn man so will – und bleibt nicht bei einfachen Doku-Soaps. Nicht mehr echte Menschen mit ihren echten Lebensrealitäten werden gezeigt, sondern LaienschauspielerInnen mimen die Probleme der „echten Menschen“ nach Drehbuch. Das nennt sich dann Scripted Reality. Diese Neudefinition von Doku-Soaps beschert dem Sender RTL Traumquoten am Nachmittag, vor allem in der Gruppe der 19 – 49 Jährigen, sprich der relevantesten Zielgruppe. Was in diesen Sendungen gezeigt wird, ist aber noch eine Schublade unter den Doku-Soaps. Episoden tragen Titel wie „Unzufriedene Mutter ist mega-aggressiv“ und zeigen kaputte Einzelschicksale sowie familiäre Albträume und imitieren dabei stilistisch das Format der Dokumentation. Dass durch solch eine überspitzte, aber „realistische“ Darstellung der Eindruck einer noch viel dramatischeren und brutaleren Realität als diese in Wirklichkeit ist, entsteht, versteht sich von selbst. Grautöne in der gesellschaftlichen Wahrnehmung werden zurückgedrängt, was interessiert, ist das Extrem. In Deutschland hüten sich öffentlich-rechtliche Sendeanstalten noch, auf diesen Zug aufzuspringen. Carl Bergengruen vom Südwestrundfunk konstatiert, dass diese Formate den Publikumsgeschmack verändern und zu einer „Hinrichtung“ bestehender Formate führen. Dass auch Doku-Soaps schon Potential dazu besitzen, zeigt nichts eindeutiger, als die Anbiederung des ORF an das Unterhaltungsformat Nummer Eins.
Bei Scripted Reality sind die österreichischen Privatsender zwar noch nicht angelangt, dennoch stellt sich die Frage, wie lange die echten Menschen mit ihren echten Realitäten noch extrem genug für das Publikum sind – bei den deutschen Sendern funktionieren die echten Menschen bestenfalls noch in der Haustiergeschichte am Nachmittag.

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