Elend, das uns anturnt

  • 13.07.2012, 18:18

Billige Sozialporno-Dokus bringen den Sendern höchsten Quotenerfolg – warum schauen wir uns das an?

Billige Sozialporno-Dokus bringen den Sendern höchsten Quotenerfolg – warum schauen wir uns das an?

Vom Arbeitsalltag des WEGA-Chefs bis zur 13-jährigen werdenden Mutter - das alles gibt es auf ATV zu sehen. In den so genannten „Eigenproduktionen“ werden Menschen des „echten, einfachen Lebens“ portraitiert. Denn es ist für ATV offensichtlich, was das ZuschauerInnenherz heutzutage begehrt. Sendungen wie Das Geschäft mit der Liebe oder das jüngere Format Saturday Night Fever erfreuen sich großer Beliebtheit beim österreichischen Publikum. Letztgenannte Sendung erreichte im Vorjahr sogar zwischenzeitlich einen Marktanteil von 25 Prozent bei den 12 – 29 Jährigen und erkämpfte Platz drei unter den meistgesuchten Filmen bzw. Serien, die im Jahr 2010 über die österreichische Seite von Google gesucht wurden. Schon beeindruckend, wie aus ein paar Jugendlichen, die das Trinken für das Publikum nach vier Staffeln maximal professionalisiert haben, die TV-HeldInnen der jungen Fernsehgeneration wurden. Aber auch die Bauern auf der Suche nach der großen Liebe, gehen im Jahr 2011 bereits in die neunte Staffel und auch von jenem Format, das junge Schwangere begleitet – Teenager werden Mütter – ist in diesem Jahr schon die vierte Staffel zu sehen.

Haben wir noch immer nicht genug? Offensichtlich nicht. Neben ATV ist auch PULS4 auf diesen Zug aufgesprungen und bedient mit der Sendung Die Puffbrüder – Alltag im Edelbordell das Voyeursherz des österreichischen Publikums. „PULS4 ist mittendrin und zeigt, was es heißt, ein Freudenhaus als Familienbetrieb zu führen“, so soll den potentiellen ZuseherInnen auf der Homepage des Senders das fragwürdige Format schmackhaft gemacht werden. Aber nicht nur die Privaten setzen auf „mittendrin im echten Leben“. Auch der ORF sieht sich mittlerweile gezwungen, eigene Doku-Soaps ins Programm aufzunehmen. Entsprechend seiner Funktion als öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt wird der Schauplatz kein Puff sein und die ProtagonistInnen nicht ausschließlich in den tiefsten Beisln rekrutiert werden. Dennoch hat der enorme Erfolg der Privatsender auf diesem Gebiet dem öffentlich-rechtlichen Sender weis gemacht, dass funktionierende Unterhaltung genau so aussieht und der ORF dackelt hinterher – 2011 starten dort gleich zwei Doku-Soaps durch. Die eine wird JungunternehmerInnen auf dem Weg zum großen Geld begleiten und die andere wird eine Kuppel-Show. Elisabeth T. Spira, wenn man so will, das Urgestein des österreichischen „Sozial-Pornos“, Erfinderin der beliebten Alltags- und Liebesg’schichten (davon gibt es schon bald die 15. Staffel), vermutet in einem Interview mit derstandard.at, dass das neueste Vorhaben des ORF „wohl so etwas ähnliches werden soll wie auf ATV, aber sicher wesentlich besser“. Ob das gelingt? Beim ORF wird betont, dass man sich eben durch einen respektvollen Umgang mit den ProtagonistInnen in diesem Genre auszeichnen wolle. Nun rührt der Erfolg des Genres aber daher, Menschen in einem sehr privaten und intimen Kontext darzustellen und dabei ihre Unfähigkeit Die unterhaltenden Elemente dieser Sendungen basieren eben darauf, die Schwächen, Krisen und Blößen der gezeigten Personen zu stilisieren.
Andreas Mannsberger, Regisseur von Das Geschäft mit der Liebe – Frauen aus dem Osten erklärte die Auswahl jener Männer, ddie auf ihrer Jagd nach der perfekten Frau von der Kamera begleitet wurden, mit folgendem Motiv: „Wir haben bewusst Männer genommen, die sehr von sich selbst überzeugt sind, und so zu sagen die Spitze der Klischee- Gesellschaft darstellen“. Dass bei solchen Typen die „richtigen“ Sager, die „richtigen“ Aktionen und die damit einhergehende Belustigung des Publikums inklusive sind, verspricht hohe Einschaltquoten, aber auch die mediale Rezeption solcher Formate. Dass diese im Fall von Das Geschäft mit der Liebe aber auch für Saturday Night Fever zumeist nicht gerade wohlwollend ausfiel, ändert nichts an der Popularität der Sendungen und das Ziel ist in jedem Fall erreicht.

HeldInnen von Unten. Wer sind nun diese Leute, die freiwillig so tiefe Einblicke in ihre Privatsphäre gewähren? „Die heutige Generation ist viel ungenierter als frühere“, sagt der RTL-Chef Gerhard Zeiler in der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT. „Es gibt eine Veränderung in der Beziehung des Einzelnen zur Privatheit.“ Betrachtet man nun die Dar stellerInnem der so genannten Doku-Soaps, besteht wenig Grund an Zeilers Analyse zu zweifeln. Das immer stärkere Verschwimmen von Privatem und Öffentlichem ist nicht erst aktuell seitdem Begriffe wie Web 2.0 und Social-Networks den medialen Alltagsdiskurs dominieren. Auch auf einer wissenschaftlichen Ebene gibt es die Beschäftigung mit Formen der Selbstdarstellung und Kommunikation der jungen Generation im 21. Jahrhundert, die diesen Trend bestätigt.
Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier erklärt das große Interesse junger Menschen, bei derartigen Sendungen mitzuwirken, damit, dass es sich dabei um Leute handelt, „die sonst überall ausgegrenzt werden – auf dem Arbeitsmarkt, in teuren Geschäften, außerhalb ihrer Peer Group will sie niemand haben.“ Und jetzt sind sie richtige Stars, mit Facebook Fan-Seiten, eigener Single, Foto-Shooting, Party-Tour, und und und. Ein Auftritt im Fernsehen – die Prominenz wird zum Maßstab des persönlichen Erfolgs. Aber nicht etwa herausragende Verdienste oder Leistungen am Bildschirm führen zu diesem (vermeintlich) persönlichen Erfolg, sondern die schamlose Bereitschaft das Innerste nach außen zu kehren. Dass dieser Erfolg in so gut wie allen Fällen nur von kurzer Dauer ist, zieht für die DarstellerInnen von Doku-Soaps nicht selten auch psychische Konsequenzen nach sich. Von der aktuellen Bekanntheit beflügelt, stürzen sie danach oft in ein umso tieferes Loch.

Fans von überall. Die interessantere Frage ist aber: Warum erzielen diese Sendungen so große Erfolge beim Publikum? Die Mediensoziologin Eva Flicker ortet den Erfolg von Produktionen wie Saturday Night Fever darin, dass diese Formate gleich zwei Zielgruppen bedienen: „Die einen sehen sich die Sendung an, weil sie sich mit ihr identifizieren. Die anderen, weil sie ihnen hilft, sich abzugrenzen." Welche Gruppe größer ist, lässt sich schwer sagen. Nach jeder Ausstrahlung von Saturday Night Fever erreichen ATV die Bewerbungen von 80 – 100 Jugendlichen, die sich auch gerne mal beim Partymachen zeigen wollen und die Online- Fangruppen wachsen stetig. Aktuell spricht ATV von ca. 60.000 Personen. Durchstöbert man hingegen heimische TV-Foren bestätigt sich zwar der Eindruck der enormen Beliebtheit dieses Formates. Die Motive, die hier für das Schauen der Sendung genannt werden, unterscheiden sich aber von jenen der „echten Fans“.
Fremdschämen zum Hauptabendprogramm, so lautet das Credo. Die meisten, die sich hier zu Sendungen äußern, sind der Meinung, dass das alles unglaublich „tief“, „primitiv“, „peinlich“ und vor allem zum „Fremdschämen“ sei. Aber trotzdem, oder besser: genau aus diesem Grund schauen sie sich diese Sendungen Woche für Woche an. Weil die Menschen gerne Menschen sehen, die noch ein bisschen ärmer, peinlicher, ungebildeter, erfolgloser, einsamer und hässlicher sind als sieselbst, denn das hilft dabei sich abzugrenzen und sich eben ein kleines Stück besser zu fühlen. Aber auch das Eintauchen in fremde, „intime“ Lebensbereiche an sich hat seinen Reiz für die ZuseherInnen. Sabine Prokop, Kultur- und Medienwissenschaftlerinerkennt in diesem Voyeurismus eine „relativ menschliche Regung“. So scheint es nicht verwunderlich, dass diese „menschliche Regung“ vor keiner gesellschaftlichen Gruppe Halt macht.

Sind wir tatsächlich so anspruchslos? Unterhaltungmuss nicht grundsätzlich niveaulos sein, um auch tatsächlich zu unterhalten. Betrachtet man die Programm-Schemata der deutschsprachigen Privatsender, wird der Eindruck aber stark erhärtet. So ist das deutsche Privat- TV sogar schon einen Schritt weiter – oder tiefer wenn man so will – und bleibt nicht bei einfachen Doku-Soaps. Nicht mehr echte Menschen mit ihren echten Lebensrealitäten werden gezeigt, sondern LaienschauspielerInnen mimen die Probleme der „echten Menschen“ nach Drehbuch. Das nennt sich dann Scripted Reality. Diese Neudefinition von Doku-Soaps beschert dem Sender RTL Traumquoten am Nachmittag, vor allem in der Gruppe der 19 – 49 Jährigen, sprich der relevantesten Zielgruppe. Was in diesen Sendungen gezeigt wird, ist aber noch eine Schublade unter den Doku-Soaps. Episoden tragen Titel wie „Unzufriedene Mutter ist mega-aggressiv“ und zeigen kaputte Einzelschicksale sowie familiäre Albträume und imitieren dabei stilistisch das Format der Dokumentation. Dass durch solch eine überspitzte, aber „realistische“ Darstellung der Eindruck einer noch viel dramatischeren und brutaleren Realität als diese in Wirklichkeit ist, entsteht, versteht sich von selbst. Grautöne in der gesellschaftlichen Wahrnehmung werden zurückgedrängt, was interessiert, ist das Extrem. In Deutschland hüten sich öffentlich-rechtliche Sendeanstalten noch, auf diesen Zug aufzuspringen. Carl Bergengruen vom Südwestrundfunk konstatiert, dass diese Formate den Publikumsgeschmack verändern und zu einer „Hinrichtung“ bestehender Formate führen. Dass auch Doku-Soaps schon Potential dazu besitzen, zeigt nichts eindeutiger, als die Anbiederung des ORF an das Unterhaltungsformat Nummer Eins.
Bei Scripted Reality sind die österreichischen Privatsender zwar noch nicht angelangt, dennoch stellt sich die Frage, wie lange die echten Menschen mit ihren echten Realitäten noch extrem genug für das Publikum sind – bei den deutschen Sendern funktionieren die echten Menschen bestenfalls noch in der Haustiergeschichte am Nachmittag.

AutorInnen: Theresa Aigner