Coverstory

Die Kunststücke des Lebens

  • 18.12.2012, 18:55

Ruth Klüger über ihre Beziehung zu Österreich, Vertrauen und Eitelkeit.

Ruth Klüger über ihre Beziehung zu Österreich, Vertrauen und Eitelkeit.

Zur Linzer Premiere ihres Films kommt Ruth Klüger mit dem ICE von ihrem Zweitwohnsitz in Göttingen angereist, auf ihrem Kindle hat sie eine ganze Bibliothek gespeichert und kurz vor dem Treffen über die Situation der Frauen in Ägypten gelesen. Auf die Frage, ob sie das Interview autorisieren möchte, winkt sie ab: ,,Schicken Sie mir einfach das pdf – nicht die Printausgabe. Bücher sterben sowieso aus.’’ Dass progress-Redakteurin Vanessa Gaigg das nicht so sieht, findet sie konservativ.

progress: Am Anfang Ihres Filmes Das Weiterleben der Ruth Klüger steht das Zitat „Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar“ – wie fühlt sich das jetzt für Sie an, nach Österreich, nach Linz, zu kommen?

Klüger: Ich komm’ ganz gern her und rede mit Leuten wie Ihnen. Sie sind ja nicht mal mehr meine Kindergeneration, vielleicht meine Enkelgeneration. Linz kenne ich nicht so gut, abgesehen davon, dass es diese entsetzliche Euthanasieanstalt hier gab, die ich des Langen und Breiten besucht habe.

Sie meinen Hartheim?

Ja, dieses schöne Schloss, wo die ersten Gaskammern waren. Der Rest von Österreich ist mir überhaupt fremd, ich konnte den Dialekt auch nicht verstehen im Zug. Ich komm’ eigentlich aus Wien, ich komm nicht in dem Sinn aus Österreich.

Wie hat sich die Beziehung zu Wien verändert über die Jahre?

Das hat sich insofern verändert, als ich da jetzt Freunde habe. Das ist eine Gruppe von Frauen – es sind vor allem Frauen – die sich um die Zeitschrift AUF gebildet hat, die ja leider eingegangen ist. Aber wenn ich in Wien bin, gehe ich über gewisse Plätze und durch gewisse Straßen und man wird erinnert, dass man hier mit dem Judenstern herumgelaufen ist und ganz unsicher war, nicht  hergehört hat. Das geht nicht weg.

Im Film sieht man auch, wie Sie Ihre alte Wohnung besichtigen.

Ja, weil mein Sohn darauf bestanden hat. Aber wir konnten nicht rein, Gott sei Dank.

Der Kontrast, der Sie vor allem interessiert, ist der zwischen Opfer und Freiheit und nicht der zwischen Opfer und Täter. Wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben das Gefühl erreicht, frei zu sein?

Zum ersten Mal in meinem Leben ... Das war, als wir weggelaufen sind, von diesem Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Das war ein großes Gefühl von Freiheit. Man beherrscht dann eine Situation, nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch geistig – dass man sich über die Dinge erheben kann. So, dass man nicht gebunden ist an die Täter.

Ist es wichtig, sich nicht als Opfer fühlen zu müssen?

Naja, das Opfer wird bemitleidet und als minderwertig angesehen. Und das will man natürlich nicht sein. Aber wenn Opfer einfach bedeutet, dass einem was angetan wurde, dann kommt man nicht hinweg über diesen Begriff. Aber: Man ist noch was anders. Man ist vor allem was anderes. Ich sag ja: Ich stamm’ nicht aus Auschwitz, ich stamm’ aus Wien. Wien bedeutet mir etwas, aus Wien hab ich was gemacht. Wien ist ein Teil meiner Eigenständigkeit. Aber Auschwitz nicht. Das ist der Opferteil. Und den lehn ich ab, als mir nicht zugehörig.

Als Sie und Ihre Mutter nach Amerika emigriert sind, da gab es keine Anlaufstelle oder Möglichkeit, das Erlebte mit Hilfe zu  verarbeiten.

Ja, das war eine schwere Zeit. Ich hatte das weggeschoben, was in Europa passiert ist. Und wollte einfach nur weiter, neu anfangen. Es ist alles auf mich zugekommen, Erinnerungen, Schuldgefühle, außerdem hab ich mich mit meiner Mutter nicht gut verstanden.

Ihre Mutter hat ja bis zu ihrem Tod Angst gehabt, wenn sie amerikanische PolizistInnen sah, weil sie glaubte, dass sie sie deportieren.

Sie ist paranoid geblieben bis zum Tod, aber hat ganz gut damit gelebt. Das weiß man auch oft nicht, dass die Leute, die so halb verrückt sind, ganz gut auskommen mit ihrer Verrücktheit. Meine Mutter hat New York gehasst.

Sie haben bereits als Kind Gedichte auswendig gelernt ...

Und verfasst!

... wie kam der Zugang zur Literatur so früh, wurde der familiär gefördert?

Das hat dazugehört. Ich hab angefangen mit Kinderversen. Wissen Sie, in so einem mittelständischen jüdischen Haushalt waren die Bücher einfach da.

Können Sie sich noch an Kinderbücher erinnern, die Sie gelesen haben?

Ja klar, Biene Maja und Bambi und Hatschi Bratschi – wie hieß das nur?

Luftballon?

Ja siehst du wohl – da fliegt er schon! Das war ein Nazi, der das geschrieben hat. Das hab’ ich vor einigen Jahren herausgefunden, sehr zu meinem Betrübnis. Das war so ein lustiges Buch, der konnte das. Und dann hab ich immer klassische Gedichte oder  Antologien von klassischen Gedichten gelesen. Wörter zu lernen, die man nicht versteht, das hat mich überhaupt nicht gestört. So wie man ja auch Unsinnwörter als Kind ganz gern hat.

Warum glauben Sie, dass die Kindheit so eine große Bedeutung hat?

Naja, weil ich eine Freudianerin bin. Das hat Freud entdeckt, und vorher hat man es nicht so richtig gewusst. Das ist die Wurzel von allem, man kommt nicht darüber hinweg. Freud hat gedacht, bis zum Alter von sechs, aber das geht noch weiter. Ich glaub’, da hat er die Grenze zu eng gezogen. Man hat ja früher gedacht, alles was vorgeht, bevor man so ein richtiges Verständnis hat, ist  unwichtig.

Sie beschreiben Ihre unterschiedlichen Wohnorte zwar oft als vertraut, so auch ihren Zweitwohnsitz in Göttingen, aber trotzdem schreiben Sie in ,,unterwegs verloren’’, dass man sich nirgendwo ganz wohlfühlen sollte. Wieso?

Schreib ich das?

Ja, ich habe es so interpretiert, dass man nie allen Menschen völlig vertrauen sollte, egal, wie wohl man sich fühlt.

Einerseits muss man vertrauen, wenn man überhaupt nicht vertraut, dann ist man verrückt. Das war das Problem meiner Mutter, sie hat nicht genug Vertrauen gehabt. Ich will das nicht überkandidln, aber wenn man einem Menschen gegenüber steht, musst du ihm glauben, außer, du hast einen Grund dazu, es nicht zu tun. Alles andere ist abwegig. Das steckt auch dahinter, wenn Kant so absolut gegen die Lüge  ist. Das ist das Verbrechen schlechthin. Weil die Gesellschaft nur zusammenhält, wenn man einander vetraut. Und andererseits besteht eben die Notwendigkeit, Zweifel zu hegen und zu hinterfragen. Und das auszubalancieren ist eines der großen Kunststücke des Lebens.

Für jede Person?

Für jede Person! Aber wenn man zu einer Minderheit gehört, die verfolgt wurde, dann steckt natürlich ein Misstrauen in einem, zu Recht.

Sehen Sie Feminismus immer noch als Notwendigkeit an?

Ja sicher, das ist ganz klar. Die meisten Studierenden der Geisteswissenschaften sind Frauen und die Professoren sind Männer. Bei der Belletristik ist das haaresträubend: Die meisten Leser sind Leserinnen, die meisten Rezensenten – jedenfalls für wichtige Bücher –  und Herausgeber von Zeitschriften sind natürlich Männer. Aber das weltweite Problem ist weibliche Versklavung. Damit meine ich  diese Massen von Mädchen, Kindern, aber auch erwachsenen Frauen, die Sklavenarbeit verrichten müssen oder sexuell  missbraucht werden. Das ist ein Problem, das in diesem Ausmaß früher nicht bestanden hat. Das geht uns was an. Und ich meine  eben, dass jede Missachtung von Frauen, jeder sexistische Witz und jede Form von Missachtung schon die Wurzel und die Grundlage bildet für die massivere Ausbeutung von Frauen auf anderen Gebieten. Und darum ist es wichtig, dass man auch Sprache kontrolliert. Ich bin immer schon für political correctnes. Das bedeutet ja eigentlich nur, dass man die Leute nicht beleidigt.

In Österreich ist political correctness ganz verpönt.

Ja ich weiß, aber verpönt sein sollte die political incorrectness.

Sie haben im Film angesprochen, dass sie mit dem sozialistischen Bewusstsein aufgewachsen sind, dass Schönheit bei einer Frau keine große Rolle spielen sollte. Welche Rolle spielt das jetzt mit 81?

(lacht) Dass ich meinen Lippenstift nicht finden kann und ihn auch nie verwende. Ja, mit 81 spielt das natürlich keine Rolle mehr. Warum sollte man sich schön machen wollen mit 81?

Warum vorher?

Auch nicht besonders. Das hat bei mir nie so eine Rolle gespielt, so dass ich meistens als verschlampt galt. Oder unrichtig angezogen. Ich frag’ lieber meine Freundinnen, was man sich anziehen soll. Das hat sicher auch was mit diesem frühen sozialistischen Bewusstsein zu tun, dass von den Menschen ausging, die ich auch im Lager, besonders in Theresienstadt, gekannt hab. Das waren Sozialisten und Zionisten. Dieses Jagen nach Schönheitsidealen ist etwas Bürgerliches, das abgeschafft werden soll,weil es sich nicht lohnt.

Das heißt, Sie haben ein sozialistisches Umfeld gehabt?

Ja, wenn Sie so wollen, hab ich dort irgendwie eine Grundlage für ein politisches Denken aufgegabelt, die weitergewirkt hat. Aber das war schwer zu sagen, weil wir sind nach Amerika gekommen und der Umkreis dort war liberal-demokratisch und jüdische Emigranten waren doch alle Roosevelt-Bewunderer.

Was stört Sie eigentlich an ,,Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“?

Weil’s wieder geschehen ist. Man sagt „Nie wieder“ und dann schauen Sie sich mal all die Massaker an, die inzwischen passiert sind. Es ist absurd zu sagen, es soll nicht wieder passieren. Und das andere ist, dass das Gedenken abschrecken soll von  Wiederholungen. Aber das kann auch das Gegenteil sein, nämlich dass die Erinnerung an das, was geschen ist, auch die Neonazis inspiriert. Die sagen: Diese SS-Leute waren doch fesch! Sie schauen mich entsetzt an, das ist aber schon passiert. Der Leiter der Buchenwald-Gedenkstätte hat mir mal gesagt, dass die Neonazis nach Buchenwald gekommen sind, um ihre Versammlungen dort zu haben. Und man konnte sie nicht rausschmeißen, denn man kann ja nicht die Öffentlichkeit aussperren. Das war zumindest kurze Zeit lang ein Problem.

Das heißt, man muss der Gedenkkultur kritisch gegenüberstehen?

Mir geht das Getue an den Gedenkstätten ein bisschen auf die Nerven. Ich sehe die Heroisierung der Opfer, der Helden und Märtyrer irgendwie als falsch und verlogen an. Ich habe schon Leute empört, wenn ich sowas gesagt habe. Ein KZ war ein Saustall, eine Jauche. Das ist weder heroisch noch märtyrer-artig. Und das will man nicht hören, aber so ist meine Erinnerung.

Sie finden ja auch die Glorifizierung des Widerstands oft verlogen.

Über den Widerstand ist einiges zu sagen. Dort, wo Widerständler die Oberhand hatten, zum Beispiel in Buchenwald, hatten sie oft Gelegenheit, die Listen zu verändern, die in Vernichtungslager geschickt wurden. Und da haben sie natürlich ihre eigenen Leute geschützt und lieber Juden geschickt. Außerdem ist es ihnen überall besser gegangen, außer natürlich, wenn sie erschossen oder zu Tode gequält wurden. Aber wenn man sich Filme ansieht von der Befreiung von gewissen Konzentrationslagern, einschließlich Buchenwald, natürlich waren da alle Häftlinge verhungert, aber die Juden waren wirklich am Rande des Todes. Das andere, das ideelle daran ist, dass die Veherrlichung des Widerstands dazu führt, dass das Ausmaß des Widerstands übertrieben wird.

Es ist also auch gefährlich, wenn man sich dann im Nachhinein Schuld abladen kann, indem man daran glaubt, dass es genug oder viel Widerstand gab.

Ja. Dachau war das erste Lager, das erste KZ in Deutschland, und da war eine ganze Reihe von Politischen, aber später auch eine ganze Menge Juden. Und die werden irgendwie beiseite geschoben. Bei einem Treffen des Vorstands (Anm.: der Gedenkstätte Dachau) wurde darüber gesprochen, dass man sich hüten muss vor der ,,Auschwitzisierung’’ von Dachau. Also bitte dieses Wort ,,Auschwitzisierung’’, das heißt, dass Dachau als jüdisches Lager betrachtet wird. Was sind das für Konflikte, die da aufkommen?
Von wegen: Wer waren die ärgeren Opfer oder die bewundernswerteren Opfer? Das Ganze ist ja eine Frage, wie sowas zustande kommen kann und konnte, und was das über uns als Menschen aussagt, dass es geschehen ist.

Wie fühlt sich das an, wenn Zivildiener für die Instandhaltung der ehemaligen KZs verantwortlichsind?

Ich hab jetzt nichts mehr mit ihnen zu tun. Früher hab ich mit verschiedenen gesprochen, die das wahnsinnig ernst genommen haben. Aber ich konnte es nicht recht ernst nehmen. Aber ich respektiere das, dass sich so viele junge Leute damit auseinandersetzen wollen. Wenn sie es ernst meinen und darüber nachdenken wollen, wird vielleicht doch eine bessere Welt entstehen.

Viele Leute unserer Generation haben Angst davor, dass es in absehbarer Zeit keine Möglichkeit mehr gibt, mit ZeitzeugInnen zu reden.

Ja ich weiß, das wird fortwährend gesagt. Darum bin ich auf einmal so beliebt geworden, weil niemand weiß – ich bin 81 –, ob ich noch 82 sein werde. Das ist mit uns allen so. Aber ist es wirklich derartig wichtig? Die Vergangenheit wird in das Bewusstsein der nächsten Generation eingearbeitet, und was diese Generation damit macht, ist nicht vorauszusagen. Die Überlebenden der KZs haben weiß Gott genug gesagt und geschrieben. Nicht gleich – nicht in den ersten Jahren, aber danach. Und wenn es darauf ankommt, das Zeugnis derjenigen, die es mitgemacht haben, zu bewahren: Das haben sie. Aber es ist ein Problem, über das man natürlich nicht aufhören sollte, sich den Kopf zu zerbrechen.
Das, was mich nach wie vor immer umtreibt, ist, warum gerade in Deutschland und Österreich? Das waren doch Länder, die ganz hoch gebildet waren. Als hätte man nichts gelernt in der Kindheit. Das war nicht Unwissenheit. Das ist übrigens eines der Dinge, die mich stören an diesem beliebten Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink. Da ist das Problem, dass die Verkörperung des Nazismus durch eine Analphabetin erfolgt. Und Analphabetismus hat es praktisch nicht gegeben in Deutschland. Das heißt, die Implikation ist irgendwie, dass Unwissenheit ein Grund war. Aber das war nicht der Fall. Warum ist Antisemitismus in dieser Mordsucht ausgeartet, gerade in Deutschland? Wenn Sie das herausfinden können, philosophisch oder historisch, das wär’ was.

Es gibt ja HistorikerInnen, die behaupten, die Shoah hätte in jedem Land stattfinden können.

Ja, aber sie hat nicht. Das ist der Punkt. Sie hätte können in dem Sinne, dass es überall Antisemitismus gab und zwar oft virulenten, schäumenden Antisemitismus, aber Tatsache ist, dass er nicht ausgeartet ist in Massenmord.

In Israel gibt es viele junge Menschen, die sich die KZ-Nummern von ihren Großeltern eintätowieren lassen.

Ich hab das gehört, das ist irre. Das ist eine Mode, die ich ablehne.

Die Anschrift der Universität Wien hat ja bis vor kurzem noch Karl Lueger im Namen getragen.

Ich habe mich vor langer Zeit aufgeregt über diese fortwährende Bewunderung für den Lueger. Er hat ja noch immer dieses blöde Denkmal am Karl Lueger Platz, nicht? Zumindest eines weniger!

Im Film gibt es eine Szene, wo Sie mit einem langjährigen Freund, Herbert Lehnert, diskutieren. Der war Wehrmachts-Soldat.

Ja, und ein Nazi, sagt er selber. Wie kann man da befreundet sein? Er ist es ja schon längst nicht mehr. Der ist durch die amerikanische Re-education völlig bekehrt und kein Faschist. Das ist ein guter Demokrat, aber es steckt eben noch immer  irgendwas in ihm – das diese Vergangenheit nicht vertuschen will – aber ein bisschen leichter machen will. Und darüber sprachen wir eben in der Filmszene, wie wir herumgelaufen sind am Strand. Um diese Stelle noch einmal zu rekapitulieren: Er sagt: ,,Die Nazizeit war nur eine Epoche von zwölf Jahren in einer Geschichte, die 1200 Jahre alt ist.“ Meine Antwort darauf wäre: Wenn ein 40Jähriger vor Gericht steht und sagt: Ich habe nur einen Nachmittag gebraucht, um meine Familie und die Nachbarn umzubringen, und der Rest meiner vierzig Jahre war ich unschuldig, so ist das eigentlich kein Alibi. Das hängt von der Tat ab und nicht von der Länge. Die Nazizeit ist ein gewaltiger Einschnitt in die deutsche Geschichte und es ist nicht eine Frage, wieviele Jahre sie angedauert hat. Wir haben verschiedene Perspektiven. Aber: Haben Sie nicht schon genug? Ich glaub’ ich bestell jetzt diese Grünkernknödel mit rotem Rübengemüse.

Das war wirklich meine letzte Frage. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Vanessa Gaigg.

Auf der Uni verprügelt

  • 05.11.2012, 20:38

Österreichs Hochschulen pflegen das Image, Orte kritischer Reflexion und Toleranz zu sein. Im 20. Jahrhundert allerdings waren sie jahrzehntelang Hochburgen des Antisemitismus und der Deutschtümelei. Ein Blick auf eine verdrängte Geschichte, die nach 1945 keineswegs zu Ende war.

Österreichs Hochschulen pflegen das Image, Orte kritischer Reflexion und Toleranz zu sein. Im 20. Jahrhundert allerdings waren sie jahrzehntelang Hochburgen des Antisemitismus und der Deutschtümelei. Ein Blick auf eine verdrängte Geschichte, die nach 1945 keineswegs zu Ende war.

„Ich weiß nicht, ob ich da die richtige Ansprechpartnerin bin. Denn es war ja so, dass ich mich nur in der Jüdischen Hochschülerschaft bewegt habe. In den anderen Studierenden habe ich ja mutmaßliche Nazis oder Mitläufer gesehen“, erklärt Lucia Heilman (83) am Telefon. Zwei Stunden später öffnet sie trotzdem die Tür zu ihrer Wohnung. Sie ist eine lebhafte und aufgeschlossene Frau mit warmen Augen und einem lebenslustigen Lachen und auf dem Coverfoto dieser progress-Ausgabe zu sehen. Ihr sommersprossiges Gesicht spiegelt ihre Emotionen wider. Die Kindheit und Jugend der pensionierten Ärztin war vom Terror der Nazis gekennzeichnet. Nach der Volksschule durfte sie als Tochter einer Jüdin nicht mehr zur Schule gehen, die Wohnung ihrer Eltern wurde „arisiert“. Ihr Vater befand sich während dieser Zeit aus beruflichen Gründen in Persien und bemühte sich vergeblich, seine Frau Regina und Tochter Lucia nachzuholen. Als Lucia mit ihrer Mutter aus Wien deportiert werden sollte, hat Reinhold Duschka, ein Bergsteigerfreund des Vaters, den beiden das Leben gerettet. Er versteckte Lucia und ihre Mutter von 1939 bis zum Bombardement 1944 in seiner Werkstätte für Kunstgewerbe in Wien-Mariahilf. Nach dem Bombardement brachte er die beiden in einem kleinen Sommerhaus in Wien-Hütteldorf unter. Heilman erinnert sich daran, dass Duschka ihr Lehrbücher mitbrachte und wie wissbegierig sie war. Nach der Befreiung Österreichs holte sie die Matura nach und begann 1948 an der Universität Wien Medizin zu studieren. Dort bemerkte sie auch die antisemitische Kontinuität: „Ich erinnere mich an die Anatomievorlesungen während der Jahre 1948 bis 1950. Der damalige Professor unterrichtete die Inhalte der nationalsozialistischen ‚Rassenkunde‘ ohne diese als solche zu bezeichnen“, erzählt Lucia Heilman entrüstet. „Niemand hat das in Frage gestellt. Und auch die Bücher waren aus der Nazizeit.“ Lucia und ihre jüdischen StudienkollegInnen haben sich darüber geärgert; sie waren wütend. Auch die medizinischen Lehrbücher, wie beispielsweise der Pernkopf-Atlas, stammten noch aus der Nazizeit. Am meisten verärgert Lucia Heilman aber bis heute die Scheinheiligkeit der Bevölkerung: „Denn nach 1945 ist ja niemand mehr ein Nazi gewesen“, sagt sie stirnrunzelnd.

Gewalt an Universitäten. Linda Erker vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien erzählt, dass in den universitären Quellen der Nachkriegszeit die Zeit des Nationalsozialismus nur als „dunkle Zeit, die über uns hereingebrochen ist“ beschrieben wird. Schuldeingeständnisse seitens der Universität und Politik gab es damals keine. Dabei hatten die Deutschtümelei und der Antisemitismus an den Universitäten eine lange und überaus gewalttätige Vorgeschichte. Linda Erker und ihr Kollege Herbert Posch kramen Fotos aus den Jahren 1931 und 1933 hervor. Eines davon zeigt deutschnationale Studenten vor dem Haupteingang der Universität Wien, die die rechte Hand zum Hitlergruß heben. Dazwischen hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Juden raus“. Auf einem anderen Bild fliehen StudentInnen über Leitern aus dem ersten Stock des Anatomischen Instituts der Universität Wien. In ihren Gesichtern sind Angst und Panik zu erkennen. Posch erläutert den Kontext: „Hier müssen Studierende die Hörsäle über Leitern verlassen, weil die deutschnationalen Studierenden vor dem Ausgang rechts und links sogenannte ‚Salzergassen‘ gebildet haben. Sie haben auf die jüdischen Studierenden gewartet, um sie mit Prügelstöcken zu verdreschen.“ Der Anteil der jüdischen Studierenden lag zu dieser Zeit österreichweit bei etwa 13 Prozent. 75 Prozent davon studierten an der Universität Wien, nur zwei Prozent an der Universität Graz und nur ein Prozent an der Universität Innsbruck. Der Antisemitismus an den Universitäten Graz und Innsbruck war jedoch genauso stark wie an der Universität Wien und der Technischen Hochschule, der heutigen TU Wien. „Während der Studienzeit der 1920er- und 1930er- Jahre herrschte eine Gewalt an den Universitäten, die wir uns heute gar nicht vorstellen können“, erzählen Posch und Erker. „Schädelbasisbrüche, Knochenbrüche und existenzielle Gewalt gegenüber jüdischen und linken Studierenden standen damals an der Tagesordnung. Diese Gewalt hat sich auch im öffentlichen Raum an der Universitätsrampe zugetragen. Die Polizei hat zugeschaut und sich auf das Hausrecht des Rektors berufen. Die Universität Wien musste während dieser Zeit aufgrund der gewalttätigen Ausschreitungen sogar mehrmals im Jahr geschlossen werden.“ Manche jüdische Studierende, wie der spätere israelische Diplomat und Schriftsteller Benno Weiser Varon, erwarben in der zionistischen Selbstverteidigungsgruppe Haganah Selbstverteidigungskenntnisse, die sich an der Universität als überlebenswichtig erwiesen.

TechnikerInnen. Die Leiterin des Universitätsarchivs an der TU Wien, Juliane Mikoletzky, erzählt, dass auch an der Technischen Hochschule bis zur Zeit des Austrofaschismus wöchentlich Prügelorgien stattfanden. „Die Techniker hatten eine gewisse Affinität zu dem von den Nazis propagierten Fortschritt. Sie hofften, durch die Nazis viele technische Arbeitsplätze zu bekommen.“ An der Technischen Hochschule hatte es zunächst aber durchaus einen hohen Anteil an jüdischen Studierenden gegeben. Ihre Zahl sank jedoch im Sommersemester 1938 von 230 auf 16. Denn an allen Hochschulen und Universitäten wurden ab dem Sommersemester 1938 in der NS-Terminologie als „Volljuden“ bezeichnete Personen nicht mehr zum Studium zugelassen. Mikoletzky erwähnt, dass der Übergang von Austrofaschismus zum Nationalsozialismus an der Technischen Hochschule gesetzesmäßiger und „ziviler“ als an der Universität Wien vor sich ging. Sie vermutet, dass dieser schon länger vorbereitet worden war. Nach dem Novemberpogrom 1938 durften die sogenannten „VolljüdInnen“ die Universitäten nicht mehr betreten. Selbst der Besuch der Bibliothek wurde ihnen untersagt. Nur noch sogenannten „Mischlingen“ war bis in die 1940er- Jahre das Studium erlaubt. „Auch an der damaligen Hochschule für Bodenkultur (BOKU) hatte es nie über fünf Prozent jüdische HörerInnen gegeben. Dennoch war der Antisemitismus sehr stark und es gab auch gewalttätige Ausschreitungen“, berichtet Paulus Ebner, der im Archiv der TU arbeitet. In seiner Dissertation hat er sich mit der Hochschule für Bodenkultur als Ort der Politik von 1914 bis 1955 auseinandergesetzt. Eine Besonderheit stellte in diesem Kontext das Handeln Franz Sekeras dar, streicht er hervor. Dieser hatte sich eigenmächtig nach dem sogenannten „Anschluss“ zum „kommissarischen Leiter“ der Hochschule ernannt und verfügt, dass keine jüdischen HörerInnen mehr an der BOKU zugelassen wurden. Sekera galt als Hardliner und war bereits vor 1938 am Aufbau einer illegalen NSZelle an der Hochschule beteiligt. Nach 1945 wurde er zu zweieinhalb Jahren Kerker verurteilt und durfte nicht mehr an der BOKU unterrichten. „Die nationalsozialistischen Hardliner wurden sowohl auf der heutigen BOKU als auch der TU 1945 entlassen. Sie sind auch nicht mehr zurückgekehrt“, resümieren Ebner und Mikoletzky.

Robert Rosner. „Ich hatte in England neben der Arbeit eine Abendschulmatura absolviert und große Lücken im naturwissenschaftlichen Wissen. Aber mir haben meine Kollegen während des Chemiestudiums sehr geholfen“, erzählt Robert Rosner (88). „Bobby“ Rosner ist ein sehr aufgeschlossener Mensch, der gerne über seine Lebenserfahrungen berichtet. In seinem Arbeitszimmer befindet sich eine gut sortierte Heimbibliothek. In seiner Pension hat der Intellektuelle Politikwissenschaft studiert. Seither hat er mehrere Publikationen zur Wissenschaftsgeschichte veröffentlicht. In seiner Jugend musste Rosner mit seiner Familie vor den Nazis nach England fliehen. Dort kam er mit der EmigrantInnenorganisation Young Austria in Kontakt, die ihn stark geprägt hat. Als er mit seiner Frau nach dem Ende des Krieges nach Wien zurückkehrte, engagierte er sich in der Kommunistischen Partei und der Kommunistischen StudentInnenorganisation. 1968 trat er im Zuge des Prager Frühlings allerdings aus der KPÖ aus. Von 1947 bis 1955 studierte er Chemie an der Universität Wien. „Meine Studienkollegen wussten von meiner Lebensgeschichte als jüdischer Flüchtling und meiner politischen Einstellung. Dennoch hatte ich auch mit meinen linkskatholischen Studienkollegen ein gutes Verhältnis. Das lag daran, dass wir bei den stundenlangen Laborübungen enge Beziehungen aufgebaut haben“, resümiert er. „Ein bis zwei Studienkollegen waren gesinnungsmäßig braun geblieben. Aber sonst hatte ich das Gefühl, dass ich als gleichwertiger Studienkollege wahrgenommen wurde. Vielleicht lag das auch daran, dass ich mit den Jahrgängen 1928 und 1929 zu studieren begonnen hatte. Meine ältere Schwester hat als Lehrerin den Antisemitismus viel stärker gespürt als ich.“ Rosner erzählt, dass auch die Nazi-Professoren am Chemischen Institut 1945 entlassen wurden. „Im Keller des Chemischen Instituts hatte es bereits während der Nazizeit Widerstand gegeben. Unter anderem wurden auch jüdische Menschen versteckt. An der Physik hat es aber wesentlich schlechter ausgeschaut.“

Späte Auseinandersetzung. Im Zuge des NS-Verbotsgesetzes wurden die meisten nationalsozialistischen Professoren aus ihren Ämtern enthoben. Die Geschichte der vertriebenen Studierenden und Lehrenden wurde jedoch erst spät thematisiert. Denn nach 1945 wurde über Politik an den Universitäten nicht mehr gesprochen. Und mit der Lockerung der Gesetze kehrten nationalsozialistische Professoren im Laufe der 1950er-Jahre wieder an die Universitäten zurück. Herbert Posch war 1998 Teil des Projektes „Bildungsbiographien und Wissenstransfer, Studierende der Universität Wien vor und nach 1938“, das sich auf die Suche nach vertriebenen Studierenden und Lehrenden machte. Insgesamt 150 Personen haben sich bereit erklärt, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Unter anderem hat er auch in New York Interviews geführt. „Es wurde viel zu spät damit begonnen. Aber ich bin froh, dass wir damals dennoch angefangen und soviel Resonanz erhalten haben.“ 2009 wurde in Form eines Gedenkbuches der Universität Wien an die vorwiegend jüdischen Vertriebenen erinnert. Das Buch befindet sich im Denkmal Marpe Lanefesh am Universitätscampus Wien. Posch betreut die Online- Version des Gedenkbuchs, das laufend ergänzt wird. „Durch das Online-Gedenkbuch melden sich jene, die ihre Geschichte beisteuern wollen. Es sind Menschen wie du und ich, die von der Forschung unbeachtet geblieben sind. Und es sind nicht nur erfolgreiche Wissenschafter darunter. Auch diese Menschen dürfen nicht vergessen werden.“
 

Das Projekt der ÖH ,,Hochschulen in der NS-Zeit‘‘ startet in diesem Herbst. An mehreren Universitäten finden Lehrveranstaltungen zum Thema statt, Studierende werden wissenschaftliche Beiträge verfassen, die als Publikation veröffentlicht werden.

Mehr Infos: zeitgeschichte.oeh.ac.at

Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen

  • 28.09.2012, 23:20

Dr.in Ingrid Schacherl ist eine der AutorInnen der vom BMWF beauftragten Studie „Gender und Exzellenz“. Gegenstand war die Bedeutung des Exzellenzparadigmas für die Offenheit des österreichischen Wissenschaftsbetriebs. Sie forscht bei Joanneum Research zu „Gender in Wissenschaft und Technik“ und „Gender Mainstreaming“.

Dr.in Ingrid Schacherl ist eine der AutorInnen der vom BMWF beauftragten Studie „Gender und Exzellenz“. Gegenstand war die Bedeutung des Exzellenzparadigmas für die Offenheit des österreichischen Wissenschaftsbetriebs. Sie forscht bei Joanneum Research zu „Gender in Wissenschaft und Technik“ und „Gender Mainstreaming“.

PROGRESS: Sie unterscheiden in der Studie gründlich zwischen „Elite“ und „Exzellenz“. Warum war diese begriffliche Trennung wichtig?
Ingrid Schacherl: Der Exzellenzbegriff war in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit sehr präsent. Dabei war immer von Exzellenz die Rede – manchmal steckten dahinter aber Elitekonzepte. Uns war wichtig, herauszufiltern, wie der Begriff definiert wird und wo er herkommt – im Gegensatz zu Elite, denn das sind zwei verschiedene Dinge. Der Elite-Begriff kommt aus Militär, Kirche, Wissenschaft, aus Organisationen die traditionell männlich konnotiert und hierarchisch strukturiert sind. Eliten agieren selektiv und arbeiten mit normativen Konzepten. Die Elite entscheidet, wer gefördert wird. Dieser Kreis ist sehr klein und bleibt unter sich. Der Exzellenzbegriff dagegen ist breiter angelegt. Die Leistungsorientierung steht im Vordergrund. Insofern ist er auch offener, weil niemand per se ausgeschlossen ist.

Sehen Sie im Exzellenzbegriff die Chance, dass er geschlechterneutral wirkt?
Ja. Der Begriff ist leistungsorientiert, und wenn es um Leistung geht, ist Geschlecht kein Ausschlusskriterium. Nachdem aber Leistung in sozialen Prozessen hergestellt wird, ist das nicht automatisch geschlechtsneutral. Im Wissenschaftsbetrieb wird darüber, was als beste Leistung zählt, in männlich dominierten Gruppen entschieden. Deshalb ist es wichtig, Leistungsbeurteilung und Auswahlverfahren möglichst transparent zu gestalten, damit Diskriminierung nicht wirksam werden kann.

Sie erwähnen, dass Österreich im EU-Vergleich bei den Frauenanteilen in der Forschung relativ weit hinten liegt. Warum ist Österreich schlechter als andere Länder?
Es gibt erstens eine historische Begründung. Frauen sind sehr spät an Unis zugelassen worden und hatten zur Zeit des Nationalsozialismus nur begrenzt Zugang. Die zweite Begründung ist, dass hier eine Hochschulkarriere mit einem hohen Statusgewinn verbunden ist. Und da sind wir wieder beim Elitekonzept. Wenn eine männliche Elite ihren Nachwuchs rekrutiert, dann ist es so, dass Männer traditionell Männer wählen. Auch wenn Geschlecht formal kein Kriterium ist – auch wenn alle sagen, es ist objektiv – in den Entscheidungen spielt es immer eine Rolle.

Ist das akademische System im deutschsprachigen Raum elitärer als das in anderen europäischen Ländern?
Ja, das könnte man schon sagen.

Beim Thema Exzellenz drängt sich die Frage des freien Hochschulzugangs förmlich auf. Ist das ein Widerspruch? Ist ein Massenstudium mit Exzellenzförderung vereinbar?
Exzellenz ist ein leistungsorientiertes Konzept. Rein vom Konzept her würde ich sagen, das ist kein Widerspruch. Der Exzellenzbegriff schließt das nicht aus, das sind eher bildungspolitische Entscheidungen.

Das Interview führte Anna Schiller.

Weiterführende Links:
http://www.joanneum.at/uploads/tx_publicationlibrary/rr66_gender_Exzelle...
http://www.advancingwomen.org/files/7/127.pdf

Heimische Exzellenzstrategien

  • 28.09.2012, 23:11

Im internationalen Wettbewerb mitzumischen ist trendy. Das wichtigste Mittel um Österreich als internationalen Wissenschaftsstandort zu etablieren, sind innovative Höchstleistungen. Über das Schmuckstück Spitzenforschung und dessen Schattenseiten.

Im internationalen Wettbewerb mitzumischen ist trendy. Das wichtigste Mittel um Österreich als internationalen Wissenschaftsstandort zu etablieren, sind innovative Höchstleistungen. Über das Schmuckstück Spitzenforschung und dessen Schattenseiten.

Zeit ist der entscheidende Faktor bei wissenschaftlichem Arbeiten. Denn wer forscht muss so schnell wie möglich die Ideen im eigenen, vergänglichen Kopf bündeln und ein Ergebnis erbringen. Sei es im Interesse der Wissenschaft oder der Wirtschaft. Fest steht: Forschung ist wichtig, aber teuer. Deshalb versuchen in der internationalen Wissenschaftslandschaft immer mehr Institutionen WissenschafterInnen zu fördern, indem ihnen Zeit in Form von finanzieller Unterstützung zur Verfügung gestellt wird. Aber nach welchen Maßstäben wird die Forschung vorangetrieben? Und von wem?

Alpbach 07. Im Rahmen der Technologiegespräche des jährlich stattfindenden Europäischen Forums Alpbach hat diesen Sommer der Rat für Forschung und Technologieentwicklung seine neue Exzellenzstrategie präsentiert. Der Rat, der im Jahr 2000 als Beratungsinstrument für Forschung, Technologie und Innovation von der Bundesregierung ins Leben gerufen wurde, definiert als Ziel der Strategie „(…) die Qualität und Attraktivität des Forschungs- und Technologiestandorts Österreich zu heben und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.“ Die Voraussetzungen für dieses Vorhaben sind „(…) die Qualität im gesamten österreichischen Innovationssystem zu steigern und zugleich mehr Forschungsthemen, -projekte und -teams in weltweite Spitzenpositionen zu bringen. Gleichzeitig darf aber keinesfalls die Bedeutung eines breiten Fundaments vernachlässigt werden – eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Spitzenleistungen.“

Wissenschaftsförderung in Österreich. Der Bund fördert Forschung und Technologieentwicklung hierzulande in drei verschiedenen Sektoren: der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Schnittstelle beider Kräfte. Im Bereich der Wissenschaft bilden die Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) – kurz Wissenschaftsfonds – das Fundament, im wirtschaftlichen Bereich ist die Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH (FFG) die führende Einrichtung. Und als Schnittstelle zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung dienen „Brückenschlagprogramme“ wie das Kompetenzzentrenprogramm COMET, die in Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft getragen werden.

Die Kehrseite der Medaille. Trotz eines breiten Bekenntnisses zu Wissenschaftsförderung von Seiten der Politik, bleibt die Kritik an der Art der Auswahl der SpitzenforscherInnen aufrecht. Bleibt die Kritik am selektiven Bildungssystem im Vorfeld der Wissenschaft und bleibt die Kritik an der chronischen Unterfinanzierung des tertiären Bildungssektors im Bereich der Lehre.

Lisa Fuchs studiert Lehramt Deutsch, Psychologie/Philosophie in Wien.

Ihre Exzellenz

  • 28.09.2012, 23:03

Im Sog der Wettbewerbsfähigkeit nationaler Forschungsräume erhalten Frauen im österreichischen Wissenschaftsbetrieb neue Aufmerksamkeit: Es gilt ihr brachliegendes Humankapital entsprechend zu nutzen. Zumindest in der Theorie, die Praxis ist weitaus veränderungsresistenter.

Im Sog der Wettbewerbsfähigkeit nationaler Forschungsräume erhalten Frauen im österreichischen Wissenschaftsbetrieb neue Aufmerksamkeit: Es gilt ihr brachliegendes Humankapital entsprechend zu nutzen. Zumindest in der Theorie, die Praxis ist weitaus veränderungsresistenter.

Im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung führte die steirische Forschungsgesellschaft Joanneum Research eine Studie zum Thema „Gender und Exzellenz” durch. Ziel des Forschungsvorhabens war es „[...] institutionalisierte Bewertungs- und Auswahlverfahren, die eine gleichberechtigte Chance auf eine erfolgreiche Teilnahme von Frauen und Männer im Wissenschaftsbetrieb verhindern oder erschweren, nach Möglichkeiten zu identifizieren”. Die Präsentation der Ergebnisse erfolgte Mitte November und ergab ein durchaus ambivalentes Bild: Zwar fänden Verbesserungen im Bezug auf Gleichstellungsfragen im tertiären Bildungssektor statt, diese gingen jedoch nur schleppend und mangelhaft voran. Ebenso bergen die Exzellenz-Strategien auf europäischer wie nationaler Ebene Chancen für ein Mehr an Geschlechtergerechtigkeit, könnten jedoch auch für eine Vertiefung des gender-bias sorgen.

Unterrepräsentierte Gruppe. Inhaltlich bearbeitet die Studie drei Themenfelder: eine diskursanalytische Annäherung an den Begriff „Exzellenz” an sich und dessen ideologiegeschichtliche Einbettung, die Analyse des Status Quo der Universitäten im Bezug auf Umsetzung sowie Zukunftspläne von Exzellenz- bzw. Gleichstellungsstrategien und letztlich eine kritische Darstellung der österreichischen Forschungslandschaft. Hauptmotivation hinter der bereitwilligen Auseinandersetzung des Ministeriums mit der Thematik „Gender und Exzellenz“ ist dabei die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des österreichischen Forschungsstandorts, für die das Potenzial „der bislang unterrepräsentierten Gruppe der Frauen“ innerhalb der Scientific Community vermehrt genutzt werden soll.

Enormer Aufholbedarf. Der Aufholbedarf ist jedenfalls enorm: Mit einer Forscherinnenquote von 21 Prozent liegt Österreich im letzten Drittel der EU-25, der Durchschnitt beträgt 29 Prozent. Die Professorinnenquote beträgt 14,2 Prozent, jene der Assistentinnen 33,4 Prozent, wobei der Absolventinnenanteil fast 54 Prozent ausmacht. Nicole Schaffer, Co-Autorin der Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Joanneum Research zieht ihre Ableitungen aus den statistischen Daten: „Die bisherige Annahme, dass sich das Geschlechtergefälle von alleine auswachsen werde, stimmt nicht. Zum Beispiel hat sich die hohe Absolventinnenzahl in den Geisteswissenschaften nicht in der Beschäftigungsstruktur niedergeschlagen.“ Zentral ist demnach, dass etwaige Exzellenzstrategien die Geschlechterdichotomie nicht weiter verstärken, sondern dieser im besten Falle entgegenwirken.

Keine objektiven Kriterien. Dies beginnt bereits bei der Definition von Exzellenz. Die Studien-AutorInnen stellen nämlich fest, „dass zwar keine einheitlichen Definitionen oder Vorgaben für wissenschaftliche Exzellenz existieren, aber ein Konsens darüber zu bestehen scheint, sich in der Entscheidungsfindung darauf berufen zu können”. Kommt es tatsächlich zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der oftmaligen Worthülse „Exzellenz”, kann eine Orientierung an naturwissenschaftlich-geprägten Bewertungssystemen festgestellt werden. Im Vordergrund steht die Leistung, die letztlich geschlechtsneutral erbracht und auch bewertet werden kann. Hier setzt Gabriele Michalitsch, Lehrbeauftragte für Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien, mit ihrer Kritik an: „Die Bezugnahme auf Leistung suggeriert, dass es hier um objektive Kriterien geht. Aber viel mehr geht es um die Anerkennung als Leistung. Und hier muss die Frage nach den Bedingungen der Leistungserbringung gestellt werden. Hier muss auch das gesamte der Universität vorläufige Bildungssystem sowie die Sozialisation betrachtet werden.“ Ein anschauliches Beispiel für einen gendersensiblen Umgang mit Leistungserbringung wäre eine Abkehr vom herkömmlichen Forscher(Innen)ideal: 100prozentiger Zeiteinsatz, schneller Aufstieg, linearer Karriereverlauf etc. Auch sollen nicht nur Forschung an sich, sondern Tätigkeiten wie Lehre und Organisation in die Beurteilung von wissenschaftlicher Kompetenz einbezogen werden. Denn es sind gerade Frauen, deren Lebensläufe Diskontinuitäten aufweisen oder die jene unterbewertete und unsichtbare Arbeit in den Lehrveranstaltungen und Instituten leisten.

Fehlendes Know-How. Auch die Joanneum-Studie verabschiedet sich von monokausalen Erklärungsmodellen für die Hartnäckigkeit der Geschlechtersegregation im tertiären Bildungssektor. Konkrete Ansatzpunkte etwa beim wissenschaftlichen Personal sind ein Maximum an Transparenz bei den Auswahlverfahren: Explizite Bewertungsstandards, erhöhte Rechenschaftspflicht von GutachterInnen und eine permanente Reflexion der Bewertungsindikatoren. Großen Veränderungsbedarf gibt es außerdem beim vorhandenen Know-How: Aus ExpertInnen-Interviews und Inhaltsanalysen geht beispielsweise hervor, dass ein Verwechseln der völlig unterschiedlichen Steuerungsinstrumente wie Frauenförderung und Gender Mainstreaming gang und gäbe ist. Außerdem werden Chancengleichheit und Gender Mainstreaming in den Entwicklungsplänen meist getrennt voneinander behandelt. Keine Universität versteht Gender Mainstreaming als Querschnittsmaterie, die in sämtlichen universitären Bereichen zum Tragen kommen soll. Über die Beschaffenheit und den sinnvollen Einsatz von geschlechtsbezogenen Steuerungsmechanismen herrscht Unklarheit.

Fundamentale Redefinition. Des Weiteren stellt Julia Neissl, feministische Wissenschafterin aus Salzburg, im Zuge der Studie große Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis fest: „[...] eine Verankerung von Gendersensibilität oder Bewusstsein um Chancengleichheit auf der Ebene der Basisannahmen wäre kulturstiftend notwendig, kann aber derzeit nicht beobachtet werden.” Die Folge sind Unterschiede in der Akzeptanz von und der Sensibilisierung für geschlechtsbezogene Maßnahmen und auch das Fehlen von gemeinsamen Zielvorstellungen. Begriffe wie Gender Mainstreaming oder Chancengleichheit bleiben Schlagworte, weil ihnen einerseits die inhaltliche Substanz und andererseits das ehrliche Commitment der EntscheidungsträgerInnen fehlt. Um in der Universitätslandschaft das hehre Ziel der Gleichstellung zu erreichen, wird es kaum reichen unsystematisch an einzelnen Rädchen des schwerfälligen Getriebes zu drehen. Es geht um eine fundamentale Redefinition von Begriffen wie Leistung, Wissenschaftlickeit und Exzellenz sowie ihres tatsächlichen strukturellen Niederschlags.

Laura Dobusch studiert Gender Studies an der Uni Wien.

Der Ausverkauf der Studierendenwohnheime

  • 20.09.2012, 17:17

Das Leben in Studierendenwohnheimen gilt als sozial und günstig. Doch diese Zeiten könnten bald vorüber sein. Die Streichung der Förderung für Heime zwingt die BetreiberInnen zu gravierenden Maßnahmen.

Das Leben in Studierendenwohnheimen gilt als sozial und günstig. Doch diese Zeiten könnten bald vorüber sein. Die Streichung der Förderung für Heime zwingt die BetreiberInnen zu gravierenden Maßnahmen.

Ein langer Gang führt in den Gemeinschaftsraum des vierten Stocks im Studierendenheim Haus Döbling im 19. Wiener Gemeindebezirk. Farbe blättert von den Wänden, der Boden ist abgenutzt und fleckig. Drei Sofas stehen um einen Tisch gruppiert, die Bezüge sind aufgeplatzt, das Futter quillt heraus. In einem Kobel in der Mitte des Gangs befindet sich die Gemeinschaftsküche. Vier Kochplatten, ein Kühlschrank für den gesamten Stockbereich. Eine bunte Fotowand zeigt ehemalige und aktuelle BewohnerInnen. Auf beiden Seiten des Gangs liegen die Einzelzimmer der Studierenden, zehn Quadratmeter groß und mit dem Notwendigsten ausgestattet. Zur Mittagszeit öffnen sich die ersten Türen, man trifft sich auf Kaffee und Kipferl. „Die wahren Werte des Haus Döbling liegen im Inneren. Es schaut zwar schirch aus, aber die Gemeinschaft ist das Wertvolle“, sagt Lisa, die seit 2009 hier wohnt. Die Vorsitzende des Heimausschusses setzt sich zusammen mit einigen anderen BewohnerInnen für ihr Haus Döbling ein. Denn Teilen des Hauses aus den 1970er-Jahren droht der Abriss. Vierzig Jahre lang wurde das Gebäude nicht renoviert, jetzt ist es nicht mehr renovierfähig. „Die haben das Haus mutwillig heruntergewirtschaftet“, sagt Michael, der stellvertretende Vorsitzende des Heimausschusses. Zwar sei die Renovierung im Gemeinderat bereits beschlossen gewesen, 2009 hob die SPÖ den Beschluss jedoch wieder auf. Die alten Gebäudeteile sollen abgerissen werden, an ihrer Stelle plant die Stadt den Bau von Genossenschaftswohnungen.

REGIERUNGSKLAUSUR LOIPERSDORF. Grund dafür könnte die Streichung der Sanierungsförderung für Studierendenwohnheime bei der Regierungsklausur in Loipersdorf im Oktober 2010 sein. Aufgrund dieses Beschlusses fällt die Unterstützung des Bundes bei Sanierungsvorhaben und Neubauten von Wohnheimen weg. Problematisch ist das vor allem, weil es den Heimen, die als gemeinnützige Organisationen agieren, bisher nicht erlaubt war, Rücklagen für allfällige Sanierungen zu bilden. Jetzt bleibt vielen Trägerorganisationen von Studierendenwohnheimen nichts anderes übrig, als die Heime zuzusperren oder die Preise drastisch zu erhöhen. Insgesamt wohnen in Österreich laut Studierendensozialerhebung 2009 32.000 Studierende in Wohnheimen, etwa zehn Prozent aller Studierenden in Österreich. Sie zahlen dafür durchschnittlich 245 Euro monatlich, ein Viertel weniger, als sie für Wohnungen ausgeben müssten.

Das Haus Döbling gehört der Wien Holding, einem Tochterunternehmen der Stadt Wien. Als das Haus als nicht mehr renovierungsfähig eingestuft wurde - im Büro des Stadtrates Ludwig spricht man von Baufälligkeit und Ungeziefer, wurde beschlossen, das Baurecht an die Gesiba, ebenfalls eine Tochtergesellschaft der Stadt Wien, zu verkaufen. Laut den Studierenden im Haus Döbling zu einem Preis von 152 Euro pro Quadratmeter. Kein schlechtes Geschäft mitten im Nobelbezirk Döbling. Zwar sehe das Baurecht vor, dass wieder ein Studierendenheim errichtet werden muss, die Stadt Wien als Eigentümer konnte das Grundstück jedoch mit Zustimmung der Heimleitung des Haus Döbling umwidmen, erzählen die engagierten HeimvertreterInnen. Die Studierenden befürchten Konflikte mit den zukünftigen BewohnerInnen der geplanten Genossenschaftswohnungen. Denn die Gebäude teilen sich einen Innenhof, den die Studierenden vor allem in der warmen Jahreszeit gerne nutzen.

Die Geschäftsführerin der base 19, die das Haus Döbling betreibt, Michaela Lindenbauer, erklärt die Situation so: „Die Streichung ist ein großer Einschnitt in die Planung von Sanierungs- oder Bauvorhaben. Wir bekommen für die Sanierung überhaupt keine Bundesförderung oder sonstige Förderungen mehr. Das Geld für die Sanierung müssen wir über ein Wohnbaudarlehen der Stadt Wien aufbringen.“ Ein Teil der Sanierungskosten komme außerdem vom Verkauf des Teilgrundstücks, auf dem die alten Gebäude stehen. Bis Sommer 2013 sollen die verbleibenden Wohneinheiten fertig renoviert sein, erst dann werden die alten Gebäude abgerissen.

EIN DORF IN WIEN. Aber die BewohnerInnen hängen an dem alten Heim, vor allem aufgrund der guten Gemeinschaft. „Das Heim ist wirklich was Besonderes. Vor allem das soziale Zusammenleben“, sagt Lisa. Michael stimmt zu: „Wir sind ein Dorf in Wien.“ Aber auch die günstigen Preise machen das Wohnheim beliebt: 200 Euro Zimmerpreis für zehn Quadratmeter, Betriebskosten und Internet inklusive, machen das Haus Döbling zu einem der günstigsten Studierendenwohnheime in Wien. Da nimmt man gerne ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf. Mit diesen billigen Preisen wäre es nach dem Abriss vorbei. Momentan kostet ein bereits renoviertes Zimmer im Gebäudeteil D schon 299 Euro. Als Alternative für die Studierenden in den abrissreifen Teilen bietet das Heim eine Ausweichmöglichkeit in den neuen Gebäudeteil - diese Variante können aber nur langjährige HeimbewohnerInnen beanspruchen, denn um das Heim zu leeren, vergebe die Heimverwaltung nur noch befristete Plätze, so die Studierenden. Zusätzlich werden Erasmus-Studierende eingemietet. „Seit einiger Zeit kommen hauptsächlich Erasmus-Studierende ins Heim. Das ist zwar gut für die Internationalität, aber schlecht für das soziale Leben, weil die lieber feiern, als sich für das Heim zu engagieren“, erzählt Lisa. Noch ist ungeklärt, ob die Preise für die alteingesessenen BewohnerInnen bei einer Umsiedlung in den neuen Trakt steigen werden.

DIE PREISE WERDEN STEIGEN. Lindenbauer rechnet mit einem Anstieg der Preise, denn das Sanierungsdarlehen müsse auch wieder zurückgezahlt werden. Zusätzlich fallen Kosten für die Möblierung an, die bisher der Bund getragen hat. „Das Haus Döbling ist momentan deshalb so günstig, weil ein enormer Sanierungsbedarf besteht. Eine Preiserhöhung wird kommen müssen. Mehr als 300 Euro wird ein Zimmer aber auch zukünftig nicht kosten.“ Aber nicht nur das Haus Döbling wird teurer. Da Sanierungen in Zukunft durch Kredite finanziert werden müssen, werden die Preise zeitversetzt steigen, erklärt Bernhard Tschrepitsch, Generalsekretär der Akademikerhilfe, die rund 20 Wohnheime betreibt. Die ÖH rechnet damit, dass das Benützungsentgelt mittelfristig um rund zehn bis 20 Prozent teurer wird.

In den Studierendenheimen der WIHAST steht die Preiserhöhung schon fest. Um fünf bis acht Prozent werden die Zimmer ab Herbst teurer, erklärt Martin Strobl, stellvertretender Generalsekretär der WIHAST-Heime. Auf lange Sicht schätzt er die Lage jedoch dramatischer ein: „Damit können wir die Häuser schwer sanieren, beziehungsweise Neubauten finanzieren.“ Strobl hält es für möglich, dass Zimmer in Studierendenheimen in Zukunft sogar über 400 Euro kosten könnten. Wenn dann die Studierenden auf den Wohnungsmarkt drängen, würden auch dort die Preise drastisch ansteigen.

In Salzburg hat das Studentenwerk kreativ kalkuliert: Aufgrund einer Vorausplanung über 40 Jahre, die alle anstehenden Sanierungen berücksichtigt, müssen die Studierenden jetzt nur eine Preiserhöhung von 23 Euro statt den geplanten 60 Euro in Kauf nehmen. Die Erleichterung bei den BewohnerInnen sei groß, erzählt Georg Leitinger, Geschäftsführer des Salzburger Studentenwerks. „Unser Ziel war es, günstigen Wohnraum für Studierende zu erhalten. Wir holen das Geld von den Banken, nicht von den Studierenden. Denn die 23 Euro wandern als Rücklage auf ein separates Konto, das jederzeit von den BewohnerInnen einsehbar ist.“ Weil über 40 Jahre geplant wurde, muss der Betrag nicht an den Index angepasst werden und bleibt somit gleich, da die Bank eine Verzinsung garantiert. Das sei in der Stadt Salzburg besonders wichtig, da es kaum leistbaren Wohnraum für Studierende gebe, sagt Leitinger. Denn einerseits fehlen die großen WG-geeigneten Altbauten, andererseits sind kleinere Wohnungen unerschwinglich. Das hat zur Folge, dass Salzburg den zweitgrößten Anteil an Studierendenheimen hat. 18 Prozent wohnen hier in Heimen, viele andere müssen pendeln.

ZURÜCK NACH DÖBLING. Im Haus Döbling leben im Moment 860 Studierende. 360 von ihnen müssen sich nach einer anderen Wohngelegenheit umsehen. Das Büro des Wohnbaustadtrats Michael Ludwig weist auf Ausweichmöglichkeiten hin: In der Gasgasse im 15. Wiener Gemeindebezirk, in der Kandlgasse im Siebten oder in dem geplanten Heim in der im Bau befindlichen Seestadt Aspern. Aber die Studierenden schätzen vor allem die gute Lage des Hauses Döbling. Fünf Minuten sind es von hier zur Wirtschaftsuniversität, zur Universität für Bodenkultur und auch die Hauptuniversität ist nicht weit. Von den Ausweichmöglichkeiten im 22. Bezirk sind die Studierenden nicht begeistert: „Wer will denn dort hin? Da fährst du ja überall ewig hin.“ Ähnlich sieht das auch Tschrepitsch von der Akademikerhilfe. Seiner Meinung nach fehle das Commitment, das Studierende dazu berechtigt, sozialverträglich und zentrumsnah zu wohnen. „Nur weil der Grund an der Stadtgrenze billig ist, ist das noch lange kein Grund, Studierende in die Peripherie abzuschieben.“ Seit etwa zwei Jahren bietet die Stadt Wien auch die Wohnungsaktion für Studierende an. Wer unter 26 Jahren ist und mindestens ein Jahr in einem Studierendenwohnheim gewohnt hat, kann sich von der Stadt Wien ein einmaliges Wohnungsangebot für eine Kleinwohnung von bis zu 35 Quadratmetern unterbreiten lassen. Der Haken an der Sache: Es gibt Wartezeiten von ein bis eineinhalb Jahren. Ähnlich sieht es vermutlich bei den oben genannten Ausweichheimen aus. Zwar schätzt das Sozialreferat der Österreichischen HochschülerInnenschaft, dass alle Studierenden, die in Wien einen Heimplatz suchen, auch einen bekommen. Jedoch sind vor allem Heime in Universitätsnähe oder Innenbezirkslage begehrt. Hier gibt es ebenfalls Wartelisten.

LOKALAUGENSCHEIN KLAGENFURT. Das Haus Döbling ist kein Einzelfall. Während die großen Heimträgerorganisationen wie zum Beispiel die STUWO, die sich durch Genossenschaftswohnungen querfinanziert, größere Überlebenschancen haben, sieht die Lage bei kleinen Heimen düster aus. So auch im Mozartheim in Klagenfurt. Dort sollen bis August 2012 die 145 HeimbewohnerInnen ihre Zimmer räumen, das günstigste Heim in Klagenfurt muss seine Türen schließen. Ähnlich wie im Haus Döbling wurde auch hier seit den 1970er-Jahren nicht mehr renoviert. Eigentlich wäre hier die Sanierung bereits geplant gewesen. Der Bund hätte von den Gesamtkosten von rund 1,5 Millionen Euro 900.000 übernommen, erzählt Hermann Riepl, der Geschäftsführer der Volkshilfe Kärnten, die das Heim betreibt. Doch mit dem Sparpaket Loipersdorf fiel dieses Vorhaben ins Wasser. Das Land war nicht bereit, die Kosten zu übernehmen. Am Faschingsdienstag 2012 bekam Riepl daher völlig überraschend ein E-Mail: Das Land Kärnten kündigt den Vertrag mit der Volkshilfe. Ein Grund dafür ist auch der enorme Verlust, den das Land mit dem Heim erwirtschaftet. Die jährliche Miete von 265.000 Euro, die das Land dem Eigentümer des Gebäudes, der Landesimmobiliengesellschaft (LIG) bezahlen muss, ist zu teuer. So viel kann die Volkshilfe mit den Benützungsgebühren der Studierenden nicht einnehmen. Das Heim steht vor dem Aus. Geschäftsführer Riepl hält diese Kündigung weder für frist- noch formgerecht. Laut Studentenheimgesetz haben Erstsemestrige das Recht, zwei Jahre lang im Heim zu wohnen. Die letzten Studierenden wären somit erst im Herbst 2013 kündbar, noch gibt es keine Alternativlösung. Das Land Kärnten sucht derzeit einen neuen Heimbetreiber, der auch die Sanierungskosten trägt. Ob sich dieser finden lässt, bleibt offen, genauso wie die rechtliche Situation der HeimbewohnerInnen. Diese Suche läuft noch bis Juni 2012, findet sich dann kein Betreiber, wird das Gebäude zum öffentlichen Verkauf ausgeschrieben. Das könnte bedeuten, dass aus einem Studierendenwohnheim private Wohnungen werden. Der Geschäftsführer des momentanen Hausbesitzers LIG, Rene Oberleitner, hält diese Variante durchaus für möglich. Bisher hatte der Bund durch die Förderung der Heime ein Mitspracherecht bei der Platzvergabe, die vor allem nach sozialen und örtlichen Gesichtspunkten, wie zum Beispiel dem Einkommen der Eltern, erfolgte. Da diese Förderung nun weggefallen ist, können die Heime nach eigenen Kriterien Plätze vergeben und müssen, um auch in Zukunft kostendeckend arbeiten zu können, privatwirtschaftlicher agieren. Das könnte eine Verlagerung von Benützungsverträgen zu klassischen Mieten bedeuten. Schon jetzt fällt bei manchen Neubauten der soziale Gesichtspunkt weg.

„WIR BLEIBEN.“ Um ihr Sozialleben fürchten auch die Studierenden im Haus Döbling. Für die neuen Zimmer ist jeweils eine Kochnische vorgesehen. Gemeinsames Kochen im Stockwerk wird es dann nicht mehr geben. „Wir merken schon jetzt, dass es im neu renovierten Gebäudeteil kein aktives Stockleben mehr gibt. Die Leute lernen sich erst auf den Heimpartys kennen. Viele sieht man gar nicht“, sagt Lisa. Die Studierenden wehren sich: Protestfeste, Flyerverteilen oder ein Herbergsgesang für zukünftig obdachlose Studierende. Neben den öffentlichen Protesten in Wien und Klagenfurt versuchen die Studierenden des Haus Döbling auch auf rechtlichem Weg, gegen den Abriss ihres Heimes vorzugehen. Denn die Heimverwaltung hätte mit ihrem Beschluss die Informationsrechte der BewohnerInnen verletzt, die von dem Abriss aus der Zeitung erfahren haben. In Paragraph acht des Studentenheimgesetzes heißt es: „(2) Der Heimträger hat die Heimvertretung über alle wesentlichen Angelegenheiten, die das Studentenheim betreffen, zu informieren bzw. über Verlangen umfassend Auskunft zu geben.“ In den Heimstatuten des Haus Döbling sei laut Heimvertretung zusätzlich ein Mitspracherecht der Studierenden verankert. Soeben ist die Bildung eines Schlichtungsausschusses nach dem Studentenheimgesetz abgeblitzt, der sich in dieser Sache für nicht zuständig erklärt hat. Jetzt bleibt nur noch der zivilgerichtliche Weg, der teuer und aufwändig wäre - ohne Garantie auf Erfolg. Denn im Studentenheimgesetz sind keine Konsequenzen für einen Verstoß gegen dasselbe angeführt. Der Abriss im Sommer 2013 scheint nicht mehr abzuwenden.

Inzwischen ist der Mitbewohner Lauschi zur Kaffeerunde im Haus Döbling dazugestoßen: „Die müssen uns schon wegtragen“, sagt er: „Wir haben uns für den Sommer 2013 auf jeden Fall nichts vorgenommen.“

Das ist blanker Zynismus

  • 13.07.2012, 18:18

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch über verblüffende Einsparungen im Budget, die Strategie der Regierung und die Erfolgsaussichten von Studierendenprotesten.

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch über verblüffende Einsparungen im Budget, die Strategie der Regierung und die Erfolgsaussichten von Studierendenprotesten.

PROGRESS: Herr Liessmann, was bedeuten die Budgetkürzungen für die Wissenschaft in Österreich?

Liessmann: Die Diskrepanz zwischen dem, was ständig lauthals proklamiert wird – „Wissensgesellschaft, Forschung und Bildung sind unsere Zukunft, et cetera“ – und der Realität wird immer größer. Nehmen wir das Beispiel Bachelor-Abschluss: Auf der einen Seite wird er von der Regierung nicht als akademischer Abschluss gewertet, gleichzeitig sagt man bei der Beihilfenkürzung: „Aber die Studierenden sind eh nach drei Jahren fertig, was brauchen sie danach noch weiter Unterstützung?“ Das ist blanker Zynismus. Auch die Schließung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen hat uns internationalgeschadet. Wenn man die Berichte der deutschen Feuilletons dazu gelesen hat, sieht man, wie peinlich das eigentlich ist. Das wiegt das bisschen Geld, das hier eingespart werden kann, wirklich nicht auf.

Wo im Budget hätten Sie gespart?

Nur weil die dafür Verantwortlichen inkonsistente Dinge machen, muss nicht jeder interessierte Bürger bessere Rezepte vorlegen. Da bräuchten wir keine „politischen Eliten“, wenn das jeder nachdenkende Mensch auch machen könnte. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass es sich genau so verhält.
In diesem Budget hat man weder größere Strukturreformen ins Auge gefasst, noch eine Neuorientierung des Steuersystems in Angriff genommen. Ein richtiger Schritt und wichtiges Signal wäre gewesen, die Besteuerung von Arbeit zu senken und die von Vermögen zu erhöhen. Passiert ist nichts.

Was ist von dieser Regierung noch zu erwarten?

Ich glaube nicht, dass wir von dieser Regierung noch irgendwelche strategischen Entscheidungen erwarten können. Man wird halt auf dieser Ebene weitertun, wird da und dort auch bei den nächsten Budgets Einschnitte vornehmen, und dann mit den Betroffenen reden. Das ist ja auch so eine seltsame Strategie – man verkündet zuerst ein Spar-Budget ohne vorher mit den Betroffenen zu diskutieren, und lädt sie nachher, wenn ohnehin schon alles entschieden ist, zu Gesprächen ein. Kollegen, die in außeruniversitären Forschungseinrichtungen arbeiten, haben zuerst den Brief bekommen, dass die Basisförderung gestrichen wird, und dann wurden sie zu Gesprächen gebeten. Das ist kommunikationstechnisch ein ganz schlechter Stil. Ich möcht‘ wirklich wissen, was eigentlich diese hochbezahlten und vollkommen überbewerteten Kommunikationsberater machen, die ja überall herumschwirren, und wohl auch unsere Regierung beraten? Da sehe ich wirklich Sparpotential, auf die könnte man leicht verzichten.

Die Studierenden versuchen jetzt vehement, sich gegen das Sparpaket zu wehren. Meinen Sie, das macht Sinn?

Das Einzige, bei dem die Regierung Intelligenz zeigt, ist, dass sie dort spart, wo keine großen Widerstände erwartet werden. Die Regierung hält den Bildungssektor für gesellschaftlich unwichtig, sowohl der Sache nach als auch in Hinblick auf mögliche Protestaktionen. So gesehen muss man nüchtern sein. Chancen sehe ich nur, wenn es hier zu einer breiten Koordination von Protestmaßnahmen zwischen Universitäten, Rektoren, Studierenden, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Schulen und Lehrern kommt. Aber man merkt, wie schwer das ist. Kaum werden die außeruniversitären Forschungseinrichtungen zugesperrt, finden sich schon Rektoren, die das ganz toll finden, weil sie glauben, ein paar Hunderttausend von diesen eingesparten Euros werden auf ihre Universität abfallen. Mit diesem Prinzip des Sich-spalten-Lassens kann die Regierung natürlich rechnen, und wahrscheinlich werden auch Rektoren und Studenten auf keine gemeinsame Basis kommen. Dann werden die Protestaktionen in Einzelaktion verpuffen, und das hält die Regierung schon aus.

Waren Sie von den Sparmaßnahmen im Bildungssektor eigentlich überrascht?

Nein, eigentlich nicht. Budgets über Einsparungen bei Bildung und Sozialem zu sanieren, liegt ja europaweit im Trend. Überrascht war man vielleicht über Details. Auf bestimmte Ideen, wie die Familienbeihilfe zu kürzen und gleichzeitig die Studienbedingungen zu verschlechtern oder außeruniversitäre Forschungsinstitute zu schließen, muss man erst kommen, das war zum Teil echt verblüffend.

Der Protest lebt

  • 13.07.2012, 18:18

Das Armutsbudget der Regierung bedroht die Existenz vieler Studierender. Der Protest dagegen ist kämpferisch.

Das Armutsbudget der Regierung bedroht die Existenz vieler Studierender. Der Protest dagegen ist kämpferisch.

Damit haben sie nicht gerechnet. Noch am Tag zuvor verkündeten sie in entspannter Übereinkunft ihre Einigung über das neue Budget. Tags darauf sollte der Bevölkerung der Weg in die budgetäre Zukunft gewiesen werden. Dann kam es doch anders. Am 24. Oktober hatten Vertreter von SPÖ und ÖVP eigentlich vor, den Entwurf zum kommenden Armutspaket im Haas-Haus vor laufenden ORF-Kameras zu zelebrieren. Nicht gerechnet haben sie allerdings mit den rund 2000 Studierenden, die bei strömenden Regen ein paar Stockwerke tiefer, auf dem Stephansplatz, ihrem Zorn Ausdruck verliehen. Sichtlich um Beherrschung bemüht versuchten die Frontmänner der Regierung ihre Pläne als Erfolg für Österreich zu vermarkten. Wer die Diskussion live mitverfolgte, merkte schnell, wie der lärmende Protest von der Straße die DiskutantInnen ins Wanken brachte. Zeitweise schienen ihre Argumente im Groll der Studierenden unterzugehen. Oben sozialpartnerInnenschaftlicher Konsens in österreichischer Tradition. Unten auf der Straße die Betroffenen, die nnicht gefragt wurden. Ein Sinnbild für die Politkultur in Österreich.

Armutszeugnis. Das Armutsbudget, gegen das nicht einmal 24 Stunden nach der Verkündung in Loipersdorf bereits heftig angekämpft wurde, schlägt tiefe Kerben in das Leben vieler Studierender. Noch im vergangen Jahr waren zentrale Forderungen der Audimax-Besetzung eine bessere finanzielle Absicherung der Studierenden sowie eine angemessene finanzielle Ausstattung der Hochschulen. Jetzt muss gegen herbe Einschnitte gekämpft werden. Die Bezugsdauer der Familienbeihilfe wird ab dem ersten Juli 2011 von 26 auf 24 Jahre herabgesetzt. 27.000 Studierende verlieren damit 2.700 Euro jährlich. Anders gesagt: Ab nächstem Jahr werden 27.000 neue Studijobs gebraucht. Viele, die auch jetzt schon gerade mal über die Runden kamen, werden sich nun ernsthaft mit der Frage eines Studienabbruchs beschäftigen müssen. Die Hochschulen und damit jene, die in ihnen forschen, lehren und lernen, werden missachtet. Schlimmer noch: als politischer Pokereinsatz missbraucht. Dies ist nun einmal mehr deutlich geworden. Der heftige Protest, nicht nur von Studierenden, bewegte die Regierung nun aber zumindest zu einer Medieninszenierung. Zur Beschwichtigung des Protests wurden am 27. November so genannte Nachbesserungen verkündet. Wesentliches wurde aber nicht geändert. Im Gegenteil, über weite Strecken verbergen sich hinter dieser Ankündigung eklatante Mogelpackungen. Eine dieser „Nachbesserungen“ sieht etwa vor, dass Studierende mit Kindern oder jene, die Präsenzdienst geleistet haben, auf Grund des verspäteten Studieneintritts die Familienbeihilfe ein Jahr länger beziehen können sollen. Nichts Neues, bereits zuvor war dies gesetzlich gesichert. An den drastischen Einschnitten hat sich jedenfalls gar nichts geändert. So auch bei der Förderung der studentischen Selbstversicherung. Wer bisher nicht die Möglichkeit hatte, sich bei den Eltern mitzuversichern, der/die konnte für gut 300 Euro im Jahr eine, vom Staat geförderte, Krankenversicherung abschließen. Diese Förderung soll nun ersatzlos gestrichen werden. Künftige Kosten für die Betroffenen: 600 Euro jährlich. In den Radius des finanziellen Kahlschlags gelangen auch die Studierendenheime. Für viele Studierende stellten diese bisher eine leistbare Alternative dar. In Zukunft werden Neuerrichtungen aber nicht mehr vom Wissenschaftsministerium gefördert. Dieses übernahm bisher rund ein Drittel der Gesamtkosten. Dass die Mietpreise in den Studiheimen folglich steigen werden, wird erwartet. Schließlich hat die Regierung auch Pläne für all jene, die vorhaben ein Studium ab dem Wintersemester 2011 zu beginnen: Zusätzliche Zugangsbeschränkungen. Wie diese konkret aussehen werden, ist bisher noch nicht geklärt.

Manöver. Die Strategie der Regierung ist nicht ganz ungeschickt. Auf der einen Seite schmücken sich die Verantwortlichen der Koalition mit schönklingenden wie holen Phrasen über die profunde Bedeutung von Bildung. Anderseits wird an den Zusammenhalt appelliert, wenn gespart werden soll. Zusammenhalt ist hier selbstverständlich ein trügerisches Wort. Es wird nicht etwa bei jenen Vermögenden gespart, die auch bisher kaum einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten, oder höhere Beiträge von diesen verlangt. Nein. Zur „Verantwortung“ gezogen werden jene, deren soziale und ökonomische Position ohnehin am prekärsten ist. Widerstand wird es von Seiten der Studierenden und der Zivilgesellschaft gegen diese Ungerechtigkeiten auch weiterhin geben. Am 27. November haben wieder mehrere Tausend Menschen gegen das Armutspaket demonstriert. Aufgerufen hatte eine Allianz von 113 Organisationen (www.zukunftsbudget.at). Die ÖH-Bundesvertretung plant, vor den Verfassungsgerichtshof zu ziehen, sollte das Budget in seiner jetzigen For m beschlossen werden. Einstweilen geht der Protest der Studierenden weiter, er ist lebendig und kämpferisch.
 

Show essen Politik auf

  • 13.07.2012, 18:18

Politik wird immer öfter zur geschickten medialen Inszenierung. Doch dort, wo sich Politik und Unterhaltungskultur treffen, lauert auch die Gefahr, dass die Show für bare Münze genommen wird.

Politik wird immer öfter zur geschickten medialen Inszenierung. Doch dort, wo sich Politik und Unterhaltungskultur treffen, lauert auch die Gefahr, dass die Show für bare Münze genommen wird.

Ende Jänner, im Uniqua Tower in Wien. Das große Finale. Josef Pröll, Vizekanzler und Finanzminister Österreichs, veranstaltet eine Castingshow: Er sucht einen Superpraktikanten. Unter lautem Johlen aus dem Saal wird eingezählt, dann geht’s los: Über zehn Wochen haben sich die Kandidat-Innen im Onlinevoting durchgesetzt, jetzt müssen sie so schnell wie möglich im Publikum ein Ersatz-Sakko für Pröll suchen. Eine Spaßaufgabe, quasi als Einstimmung auf die kommende Woche Praktikum, falls der Chef sich beim Essen einmal anpatzen sollte.
„Das ist aber ein Damensakko.“ Pröll steckt lachend in einem viel zu kleinen Jackett, rot bis zu den Ohren, gut gelaunt. Er verzieht auch keine Miene, als ihm die anderen Sakkos nicht wirklich passen. Pröll sitzt lässig auf einem silbernen Fauteuil, einem Quasi-Thron, in der Mitte des Saals. Es kommt das Gefühl auf, der Vizekanzler genießt das bunte Treiben, wie um ihn herumscharwenzelt wird. Er gibt sich selbstironisch, scherzt herum. Das ist sein Abend. Durch den Raum dröhnen Popmusik und Videozuspielungen, die Menge jubelt. Als am Ende Reez Wollner, die 26-jährige Medientechnikerin in rosa Strumpfhosen, das Rennen um den Posten des Superpraktikanten gewinnt, folgt noch eine kleine Pyro-Einlage. Entertainment pur. Die politischen Einstellungen der KandidatInnen? Nebensächlich.
Neu ist dieser Ansatz nicht. Schon Franz Vranitzky war bei Wetten, dass..., so wie auch der deutsche Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und Karl-Heinz Grasser nach ihm. Guido Westerwelle, heute deutscher Außenminister, damals FDP-Generalsekretär, besuchte im Jahr 2000 gar den Big Brother-Container, brachte Whiskey mit und berichtete ganz volksnah, die Spritpreise stünden draußen „beschissen“. 

Politik macht Show. Diesen Trend zur politischen Selbstdarstellung bezeichnet der deutsche Politologe Andreas Dörner als „Politainment“. Dieses entsteht dort, wo Politik und Entertainment sich treffen. Dabei gibt es zwei Spielarten von Politainment: unterhaltende Politik und politische Unterhaltung. Bei ersterer greifen PolitikerInnen immer häufiger auf Mittel der Unterhaltungskultur zurück, um erfolgreich mit potentiellen UnterstützerInnen zu kommunizieren, frei nach dem Motto: „Supershow macht WählerInnen froh.“ Inszenierungen treten in den Vordergrund. Christina Stürmer singt für eine Kampagne der SPÖ-Bildungsministerin die Nationalhymne neu. HC Strache rappt und inszeniert sich selbst als Comic-Held im Kampf gegen die EU. Pröll sucht den Superpraktikanten und greift dabei auf das bei Jugendlichen beliebte Genre der Castingshow zurück. In Deutschland lief letztes Jahr auf ZDF die JungpolitikerInnen-Suchshow Ich kann Kanzler, vielleicht haben sich die ParteistrategInnen da etwas abgeschaut.
Bewusst suchen PolitikerInnen in Unterhaltungsformaten Kontakt zu politikferneren Bevölkerungsgruppen, um auch hier für sich zu mobilisieren. Menschen, die an Politik entweder kaum interessiert sind oder sich frustriert abgewendet haben, kann man über die Entertainment-Schiene erreichen. Politainment hat das Potential, Menschen wenigstens ansatzweise zu politisieren und für Politik zu interessieren. Nur: Die reale Botschaft tritt dabei oft in den Hintergrund, stattdessen gilt es Feel-Good-Nachrichten zu verbreiten. Politik kann verkürzt oder im schlechtesten Fall gar nicht beim Publikum ankommen.
Auf der anderen Seite wird das Thema Politik aber auch von der Medien- und Kulturindustrie gerne zu Unterhaltungszwecken verwendet. Fernsehserien, Talkshows, aber auch Filme werden zunehmend mit politischen Inhalten aufgefettet. Ziel ist dabei aber nicht Meinungsbildung und Überzeugung, sondern Quote und Erfolg am massenmedialen Markt, so Andreas Dörner. Diese beiden Ebenen des Politainment sind oft eng miteinander verflochten. ATV bringt eine Reportage über die SuperpraktikantInnen, die Gratiszeitung Heute bringt die Superpraktikantin Reez Wollner auf ihr Titelblatt, die KroneHit Morgenshow-Moderatorin darf die Castingshow präsentieren. Das schafft Öffentlichkeit für Pröll, der sich als lustiger Onkel inszenieren kann, und Quote für die Medien. Eine in der Sprache von StrategInnen so genannte Win-Win-Situation. Denn ohne dass Medien kooperieren, können PolitikerInnen heute kaum noch öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Doch weil diese die Politik brauchen, um Seiten und Sendeplätze zu füllen, funktioniert das Gegengeschäft.

Die Unterhaltungsfalle. Wie ist es dazu gekommen? Und seit wann folgt Politik so stark der Logik der Medien? Thomas Hofer, Politikberater in Wien, erklärt diese Tendenz durch Internationalisierung und die zunehmende Medienvielfalt. „Heute muss man eine Geschichte erzählen, um durchzukommen.“ Aufgrund eines immer breiteren Angebots sei es nämlich gar nicht mehr so leicht für die Politik, ihre Botschaften durch den „Wust an Informationen“ an das potentielle WählerInnenvolk zu bringen. „Ein österreichischer Bundeskanzler oder auch ein oppositioneller Politiker in den Sechzigern hatte es bedeutend leichter, seine Wählerschaft zu erreichen, als es heute der Fall ist. Sie mussten nämlich nur irgendwie in der Zeit im Bild vorkommen oder haben überhaupt Belangsendungen geschalten und damit war sichergestellt, dass sie durchgeschaltet werden.“
Seit den Neunziger Jahren folgt politische Kommunikation in Österreich immer stärker dem internationalen Trend zur Mediatisierung und Personalisierung. Prominente PolitikerInnen begannen bei unpolitischen Unterhaltungsshows wie Wetten, dass... aus und ein zu gehen und dabei über Privates zu plaudern, SPÖ-Bundeskanzler Viktor Klima tauchte bei einer Überschwemmungskatastrophe in Gummistiefeln unter den Helfenden auf. Doch Letzterer scheiterte schließlich als Spitzenkandidat bei der Nationalratswahl 1998, als die positive Inszenierung letztlich ins Gegenteil umkippte, da zu wenig politische Substanz zu erkennen war. Denn „sprichwörtlich in die Hose“ geht Politainment laut Politik-Experte Thomas Hofer dann, „wenn das im Wort steckende Entertainment im Vordergrund steht und zum eigentlichen Inhalt wird.“ So tappte auch Andrea Kdolsky in die Unterhaltungsfalle, als sie mehr durch Schweinsbraten-Rezepte auffiel als durch ihre Kompetenz als Gesundheitsministerin. Und so musste sich auch Guido Westerwelle für seinen Big Brother Besuch den Vorwurf des Populismus gefallen lassen; ebenso wie der ehemalige SPD-Politiker Gerhard Schröder, als er in seinem ersten Kanzler-Wahlkampf bei der deutschen Seifenoper Gute Zeiten, Schlechte Zeiten mitspielte und damit Rekord-Einschaltquoten erzielte, aber damit alles andere als Politik machte.

Inszenierungen vereinnahmen. Immer öfter werden politische Inszenierungen von BürgerInnen hinterfragt. Auch die ÖVP-Aktion Superpraktikant musste einiges an Kritik einstecken. Schon allein, dass man in Zeiten prekärer Arbeitsverhältnisse und unbezahlter Praktika mit einem ebensolchen wirbt, stieß vielen jungen Menschen, aber auch dem österreichischen Gewerkschaftsbund oder den Grünen sauer auf und wurde als Respektlosigkeit wahrgenommen. Dass die „Stellenausschreibung“ zusätzlich nicht geschlechtergerecht (sowie grammatikalisch etwas holprig) nur einen männlichen „Superpraktikant“ suchte, tat sein Übriges zu einer (teils auch belustigten) Entrüstung. Mit deplorablen Shows zur Ermittlung eines Supermodels verglich Armin Thurnher, Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung Falter, den Superpraktikanten in einem Leitartikel. Passend zu einer Castingshow wurde die SuperkandidatInnenwahl in Hi Society, der – mittlerweile ehemaligen – Promi-Fernsehsendung von Dominic Heinzl, mit einem ausführlichen Interview mit dem Vizekanzler lanciert. Da sprach Josef Pröll über den Jojo-Effekt seiner letzten Diät und wünschte sich einen Kandidaten, der ihn „schon stärkt und nicht schwächt“.
Doch auch trotz (oder wegen) seiner zweifelhaften Form und Botschaft, hatte die PR-Aktion bereits in den ersten Tagen nicht zuletzt auf Twitter und Facebook eine immense mediale Aufmerksamkeit. Auch kritische KandidatInnen wie Falter-Journalistin Barbara Tóth, Globalisierungsgegner Klaus Werner-Lobo oder Niko Alm, der laizistisch veranlagte Herausgeber des Lifestyle-Magazins Vice, bewarben sich. Damit hätte die ÖVP anfangs nicht gerechnet, sagt Barbara Tóth, die die Kampagne gerne als Kandidatin journalistisch begleitet hätte – hätte sich nicht die Jugendorganisation der Volkspartei, die JVP, in der zweiten Runde so stark mobilisiert, dass sie schließlich aufgab. „Gleich zu Beginn, als ich mich beworben habe, gab es Kontakte von führenden Parteimanagern der ÖVP und die Nachfrage, warum ich mitmache. Das waren Bemerkungen, so als ob sie nicht wüssten, wie sie damit umgehen sollen.“
ÖVP-Generalsekretär Fritz Kaltenegger betonte dennoch beim Finale, dass die Tatsache, dass die Aktion polarisiert habe und nicht unumstritten war, die Partei nicht gestört habe. Politikberater Thomas Hofer sieht darin – auch wenn er einräumt, dass die Kampagne vielleicht nicht bis zum Ende durchdacht war – auch ein Kernvorhaben solcher Aktionen verwirklicht: „Das ist schon mal die halbe Miete, wenn man Aufmerksamkeit erreicht.“ Denn das Hauptziel von Superpraktikant sei sicherlich gewesen, „Heinz Christian Strache etwas entgegenzusetzen, wenn es um unter Anführungszeichen ‚junge Kommunikation‘ geht.“  In den vergangenen Jahren sei dieses Feld von den anderen Parteien eher der FPÖ überlassen worden, die mittels Comic und Rap geschickt jugendliche Zielgruppen adressiert haben. Und diese werden eben stark mit Inszenierungen erreicht, die versuchen, die Sprache und Lebensrealität (Praktika!) von Jugendlichen einzufangen und Aufmerksamkeit zu erregen.

Die bessere Show. Letzteres tut auch Klaus Werner-Lobo. Der Autor des Schwarzbuchs Markenfirmen, freiberuflicher Clown und Globalisierungsgegner, ist neuerdings Kandidat der Wiener Grünen bei der Wiener Gemeinderatswahl. Werner-Lobo schwört auf die Methode der Kommunikationsguerilla. Deshalb hatte auch er sich bei Prölls Superpraktikant beworben, als „trojanisches Pferd der Zivilgesellschaft“, wie er sagt. Aber irgendwie auch als Wahlkandidat einer anderen Partei. Trotzdem ging es ihm vor allem darum, die ÖVP zu entlarven. „Wenn die ÖVP Politik als reine Show betreibt, dann sehe ich es als meine Aufgabe, das transparent zu machen.“ Mittels der Kommunikationsguerilla-Methode der subversiven Affirmation, der übertriebenen Bestätigung der Botschaften des politischen Gegners, bewarb Werner-Lobo sich gleich einmal öffentlichkeitswirksam als Hofnarr Prölls. Also Show, um die Show der ÖVP zu kritisieren. Aber nicht der Show willen, wie er betont: „Es gibt halt schlechte Shows und gute Shows. Ich erhebe den Anspruch, die bessere Show zu machen als die ÖVP, aber mit dem Ziel, tatsächliche politische Veränderung zu bewirken."
Reez Wollner ist seit 21. Jänner Prölls Superpraktikantin und darf ihn eine Woche lang bei seiner Arbeit begleiten, von der ÖVP verordnete Twitter- und Facebook-pflicht am geschenkten PC inklusive. Die 26-jährige Medientechnikerin mit Hello Kitty Wohnungseinrichtung interessierte sich die letzten 26 Jahre nicht für Politik wie sie zugibt. Beim Superpraktikant-Casting hätte sie auch mitgemacht, wäre es von der SPÖ oder den Grünen veranstaltet worden. „Weil ich keine politischen Inhalte präsentieren kann, kann ich mich zumindest selbst präsentieren“, sagt sie und lacht. Wir glauben es ihr. Reez Wollner hat die Pröll-Aktion genutzt, um sich selbst in Szene zu setzen und so die Inszenierung irgendwie auch ein bisschen für sich vereinnahmt. Sie hat auf YouTube eine Neujahrsansprache hochgeladen und eine eigene pinke Partei gegründet. Nach ihrer Meinung gefragt, gibt sie zum Vizekanzler medienversiert und diplomatisch Antworten wie diese: „Josef und ich sind beide Sternzeichen Jungfrau und Aszendent Waage. Außerdem hat er am selben Tag Geburtstag wie meine Mutter. Das macht ihn natürlich sympathisch.“
Wenn Menschen wie Reez Wollner Politainment betreiben, dann ist das harmlos, charmant und witzig und mehr politische Unterhaltung als unterhaltende Politik. Doch bei Politainment besteht immer die Gefahr, diese beiden Ebenen nicht mehr unterscheiden zu können. Symbolische Politik triumphiert über den Inhalt. Was ist Show, was ist real? Wo politische Unterhaltung mit unterhaltender Politik verschmilzt, spricht Andreas Dörner von einer „neuen, fiktionalisierten Realität des Politischen“. So sollen Filme wie Independence Day und Airforce One, in denen der – gespielte – US-Präsident eine Heldenrolle ausfüllte, in den Neunziger Jahren nachweislich zu einem realen Popularitätsgewinn für den Präsidenten Bill Clinton in den USA geführt haben.

Die Linken haben das nicht geschafft

  • 13.07.2012, 18:18

Christine Nöstlinger, 73, zählt zu den bedeutendsten KinderbuchautorInnen des deutschen Sprachraums. Mit ihren Büchern hat sie die Zukunft tausender Kinder beeinflusst. Im Interview mit dem PROGRESS spricht sie über Geld, Fußball, junge TürkInnen und die Leiden der SPÖ.

Christine Nöstlinger, 73, zählt zu den bedeutendsten KinderbuchautorInnen des deutschen Sprachraums. Mit ihren Büchern hat sie die Zukunft tausender Kinder beeinflusst. Im Interview mit dem PROGRESS spricht sie über Geld, Fußball, junge TürkInnen und die Leiden der SPÖ.

Christine Nöstlinger sitzt am Esstisch in der hellen Wohnküche ihrer Dachgeschosswohnung. Vor ihr ein Glas Weißwein, an dem sie nur nippt. Daneben liegt eine schwarze Packung John Player, aus der sie während des Gesprächs zwei Zigaretten ziehen wird. Ab und zu schenkt sie ihren Gesprächspartnern Wolfgang Zwander und Alexander Fanta ein neckisches Lächeln.

PROGRESS: Sie sind eine der bekanntesten AutorInnen Österreichs. Werden Sie auf der Straße erkannt?

Nöstlinger: Hier im Bezirk (Brigittenau, Anm.) leben ja vor allem Migranten, da passiert das nicht sehr oft. Im Ersten Bezirk aber schon.

Wie finden Sie das Zusammenleben mit Ihren türkischen und ex-jugoslawischen NachbarInnen?

Mir macht das nichts. Die hiesigen Ureinwohner finden aber, dass alles furchtbar geworden ist.

Was finden sie daran furchtbar?

Ich rede mit diesen Leuten nicht so viel. Aber es ist nicht immer leicht, mit Leuten eng zusammenzuleben, die einem anderen Kulturkreis angehören. Ich habe es da leicht, ich sitze auf meinem Dach oben, fahre mit dem Lift auf und ab und brauch mich um nix zu scheren. Wenn aber sechs Leute auf Zimmerkuchl-Kabinett wohnen, dann gibt’s halt viel Dreck, und wenn das Scheißhaus am Gang ist, und das von sieben Leuten öfter benutzt wird und die Musik laut ist, da entstehen halt Animositäten. Es ist nicht lustig, wenn man dünne Mauern hat und dahinter läuft eine Musik, die einem nicht einmal gefällt. Und wenn ich gegen die Mauer pumper und „Aufhören“ schrei, der andere irgendetwas in einer fremden Sprache zurückschreit und nicht aufhört. Es ist überhaupt die Frage, wie viel Fremdes hält ein Mensch aus? Wann ist meine Frustgrenze erreicht?

War Ihre Frustgrenze schon einmal erreicht?

Wie gesagt, ich bekomme das nicht so mit. Was ich aber traurig finde: Die jungen Türken können oft weder Deutsch noch Türkisch.

Ihre Bücher werden auch ins Türkische übersetzt. Denken Sie, dass sie von den Kindern und Jugendlichen hier im Bezirk gelesen werden?

In unserem Haus und in der Gegend gibt es eine Regel: Was man nicht braucht, stellt man in einem Karton vor die Haustür. Die Sachen sind blitzschnell weg, binnen einer Stunde, ob das Heferln sind, oder Reindln (Töpfe, Anm.), oder ganze Sessel, das holen sich die Leut'. Ich hab einmal ein paar Heferln rausgestellt und türkische Übersetzungen meiner Bücher dazugegeben.Die sind vier Tage da unten gestanden. Dann habe ich sie wieder mitgenommen, weil ich mich geniert habe, es steht ja mein Name drauf. Bücher sind hier nicht sehr begehrt.

Man sagt über Sie, früher hätten Sie sehr viel Idealismus in ihre Kinderbücher gepackt, heute sei das aber nicht mehr so.

Das stimmt nicht, ich wähle nur einen anderen Zugang. Vielleicht kommt aber ein bisschen die Abgeklärtheit des Alters dazu, wenn ich mir denke, Kinder soll man nicht mit Sachen indoktrinieren, die sie eh nicht selber ändern können. Ich will die Kinder dann trösten und ihnen zeigen, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht allein sind, dass andere das auch haben. Das halte ich heute für wichtiger, als ihnen irgendwelche gesellschaftlichen Utopien vorzumachen.

Kann man Kindern bei der Erziehung überhaupt was vormachen?

Der Karl Valentin hat einmal gesagt, es bringt gar nichts, die Kinder zu erziehen, die machen einem eh alles nach. Dem stimme ich zu.

Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Bücher?

Ich kann nur über das Schreiben, was ich kenne. Oft ist es mühsam. Da habe ich zwanzig verschiedene Ideen und bei neunzehn denke ich mir, das wird ein Schmarrn. Und die zwanzigste haut dann doch irgendwie hin. Ich ändere die Texte aber hinterher sehr oft. Wenn ich einen duftigen lockeren Text will, dann muss er duftig und locker werden. Manchmal gelingt das aber einfach nicht.

Werden Sie dann wütend?

Nein, das nicht. Ich war aber angeblich ein sehr wütendes Kind, aber seit ich erwachsen bin, werde ich eigentlich überhaupt nicht mehr wütend. Traurig kann ich werden, und wenn mir was nicht gelingt, dann kann es schon sein, dass ich so elegisch vor mich hin dumpfe und mir denke: Kannst auch nichts mehr.

Erleben Sie manchmal Schreibblockaden?

Ja, das gibt es schon, aber da muss man darüber hinweg, und zwar schreibend. Wird´s nix, schmeißt man´s halt in den virtuellen Papierkorb. Aber nur sitzen und warten, dass es wieder wird, das geht nicht.

Versuchen Sie manchmal, Ihrer Kreativität mit Alkohol auf die Sprünge zu helfen?

Beim richtigen Arbeiten eigentlich nicht. Aber wenn ich mich am Abend hinsetze und Mails beantworte, dann kann man sich schon ein Glas Wein nehmen. Das tue ich ohnehin nicht gerne. Ich muss immer lachen, weil die Leut´ ja glauben, dass man ein Mail sofort beantworten muss. Die rufen dann am nächsten Tag an, und fragen: Hast du meine Mail nicht bekommen? Wenn ich dann sage, ich habe meine Mails schon eine Woche lang nicht angeschaut, dann glauben sie, ich bin nicht von dieser Welt.

Unter welchen Bedingungen schreiben Sie?

Unter allen Bedingungen.

Sie haben keine spezielle Schreibstimmung?

Nein, das geht ja nicht. Dann würde ich ja zu gar nichts kommen, wenn ich warten müsste, bis ich in Stimmung komm'. Aber mit zunehmendem Alter leiste ich es mir, weniger zu arbeiten. Manchmal umschleiche ich den Computer, wie wenn er mein Feind wär', und stell ihn nicht an.

Haben Sie manchmal auch im Kaffeehaus geschrieben, wie es dem Klischee-Bild einer Wiener Schriftstellerin entsprechen würde?

Nein, das ist ja lächerlich, warum soll ich im Kaffeehaus schreiben?

Wie viel arbeiten Sie im Schnitt?

Heute an die dreißig, vierzig Stunden in der Woche.

Wird Ihnen das nicht zu viel?

Ich hab früher achtzig Stunden in der Woche gearbeitet, so gesehen ist es heute viel weniger.

Das hat Sie nie gestört?

Naja, es hat sich halt so ergeben. Ich bin ein arbeitsamer Mensch und viel anderes habe ich eigentlich nie zu tun gehabt außer. Kinder großziehen und halt sonst noch so Notwendigkeiten. Aber ich bin unsportlich, ich habe außer Lesen keine Hobbys, also bleibt mir ja nur das Arbeiten.

Wie gut lebt es sich mittlerweile von Ihrer Arbeit?

Als Schriftstellerin bekomme ich ja keine Pension, aber ich lebe ganz gut. Die genauen Zahlen weiß ich nicht so genau, aber ich glaube, im letzten Jahr betrug mein Einkommen vor Abzug der Steuern € 140.000. Früher, als ich noch für Zeitungen gearbeitet habe und eine Achtzig-Stunden-Woche hatte, habe ich aber sicher doppelt so viel verdient.

Was bedeutet Geld für Sie?

Geld macht das Leben einfacher.

Was ist das für ein Gefühl, dass viele Menschen sehr viel weniger verdienen als Sie?

Also ich hätte gar nichts dagegen, wenn es allen so gut ginge wie mir selbst. Oder sogar besser. Aus dem Unterschied ziehe ich keinen psychischen Gewinn, eher im Gegenteil. Wenn ich mir was Teures kaufe, dann versuche ich hinterher für andere Leute etwas Positives zu tun. Manche Ausgaben kommen mir auch frivol vor.

Welche denn?

Eine Handtasche um 2000 Euro kommt mir frivol vor, das kaufe ich nicht.

Wo ist für Sie der Unterschied zwischen einem guten Leben und luxuriöser Dekadenz?

Der Übergang ist natürlich fließend. Luxus ist ja nur das, was man sich schwer leisten kann, also ist Luxus für jeden etwas anderes.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie beim Einkaufen ungerne auf den Preis schauen.

Als Kind und als junger Mensch hatte ich nichts. Da freut man sich einfach, wenn man ein Geld hat, wenn du auf Kleinigkeiten nicht schauen musst. Das ist eine gewaltige Lebenserleichterung. Aber ich bin echt kein Luxusmensch. Das Angenehmste am Geld ist eine gewisse Sicherheit. Die man aber als Freischaffender sowieso nicht hat, vor allem in den heutigen Zeiten.

Ihre Kollegin Astrid Lindgren schickte einmal einen Brief an den schwedischen Finanzminister und beklagte sich über die vielen Steuern, die sie als Autorin zahlen müsse. Haben Sie sich auch schon einmal beim Finanzminister beschwert?

Nein, ich zahle gerne Steuern, ich finde das richtig. Ich betrüge auch die Steuer nicht. Wenn man bei deutschen Verlagen verlegt, könnte man das auch gar nicht. Man muss sich ja an das Doppelbesteuerungsabkommen halten.

Denken Sie, dass der Mensch immer mehr will, egal wie viel er hat?

Mein Enkelsohn wird sicher sagen: Wenn ich groß bin, brauche ich einen Ferrari. Er hat auch nicht verstanden, warum ich keinen Ferrari habe.

Einen Ferrari könnten Sie sich leisten?

Nein, aber mein Enkelsohn wurde zum besten Fußballer von Belgien gewählt, er wird sich später einmal wahrscheinlich einen leisten können.

Was halten Sie von Fußball?

Das Fußballspielen ist ja etwas Schreckliches, das ist eine faschistoide Geschichte. Wenn mein Enkelsohn zu spät zum Training kommt, wofür er gar nichts kann, weil ihn ja die Mama oder Papa hinführen, müssen alle anderen derweil Liegestützen machen oder im Kreis rennen. So will man ihm das Zuspätkommen abgewöhnen. Das erinnert mich an die Hitlerjugend.

Sie haben sich selbst immer wieder als politisch links bezeichnet. Was bedeutet das für Sie?

Links sein ist heute ja nicht mehr so leicht zu bestimmen. Ich merke, je älter ich werde, dass ich trotz allem ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat bin. Ich nehme mir manchmal vor ich wähle was anderes, Grün, oder ..., naja, viel anderes haben wir ja eh nicht. Ich steh dann aber in der Wahlzelle und mach wieder brav mein Kreuzerl bei der SPÖ. In meinen Jugendjahren wollte ich eigentlich wesentlich linker sein, aber das gelang mir nicht ganz.

Sie wollten in Ihrer Jugend radikaler sein, haben das aber nicht geschafft?

Was heißt, ich habe es nicht geschafft? Die Linken haben das nicht geschafft.

Was haben die Linken nicht geschafft?

Gesellschaftsveränderung. Es ist ja alles schief gegangen.

Sie meinen den so genannten Realsozialismus?

Nein, ein Anhänger der Sowjetunion war ich nie, aber ich hatte Sympathien für die Außerparlamentarische Opposition in Deutschland.

Auch für die RAF?

Für die RAF nicht, aber für gewisse Menschen, die in der RAF waren.

Was hätte die Außerparlamentarische Opposition erreichen sollen?

Das, was ich mir unter Sozialismus vorstelle.

Was stellen Sie sich darunter vor?

Na, da muss ich jetzt aber lang reden.

Wir bitten darum, wir haben Zeit.

Was soll ich alles aufzählen. Chancengleichheit, gerechte Entlohnung, also all das, was Sozialismus bewirken will. Aber ich habe ja im Laufe meines langen Lebens gesehen, dass die Systemveränderung einfach nicht funktioniert. Das ist todtraurig, aber es ist so: Immer wenn die Zeiten schlechter werden, tendieren die Menschen nach rechts und nicht nach links. Kann ich nicht ändern, aber so ist es.

Was denken Sie, warum ist es so?

Weil das Leben ziemlich kompliziert ist und für viele Menschen nicht sehr durchschaubar. Und weil man dann immer zu den simpelsten und einfachsten Schlagworten und Lösungen greift. Ich habe eine Freundin, die ist Bewährungshelferin, die betreut Inländer, die in ihrem Leben überhaupt noch keinen Strich gearbeitet haben. Und die schimpfen auf Ausländer und sagen: „Die nehmen uns die Arbeit weg“. Wenn sie dann sagt: Du Trottel, hast du schon einmal was gearbeitet, dann sagt der: Nein, aber wenn die nicht wären, dann tät ich.

Können Sie es irgendwie nachvollziehen, wenn jemand politisch in Richtung rechts tendiert?

Mein Gehirn kann nachvollziehen, dass man zu den simpelsten Lösungen greift, und nicht selber nachdenken will, aber emotional kann ich es nicht nachvollziehen. Je älter ich werde, desto mehr komme ich zum Urteil: Okay, Erziehung, Bildung, das haben manche Leut' nicht. Aber dann denkt man wieder: Verdammt, so deppert müssten's nicht sein. Das ist immer noch mein letzter Schluss, leider. Gerade bei den Jungen.

Denken Sie, junge Menschen wählen die destruktiven rechten Parteien, weil sie ihr eigenes Leben zum Kotzen finden?

Ich kenne mich mit den heutigen jungen Leuten nicht aus, aber wenn mir Lehrerinnen von Gymnasien erzählen, dass die in der Maturaklasse zur Hälfte den Strache wählen, und bei jeder Diskussion, die man mit ihnen deswegen eingehen will, sagen sie nur, der ist cool. Mehr kommt nicht. Das wird mir von mehreren Lehrerinnen glaubwürdig versichert. Da weiß ich auch nicht weiter.

Können Sie in Anbetracht dessen noch an politische Utopien glauben?

Früher haben mein Mann und ich immer gesagt: Unsere Ideen müssen überwintern, die kommen wieder. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Ich sehe keine Anzeichen dafür.

Das Oben und Unten, die sozialen Klassen, die wird es immer geben?

Dass sich die Zustände zum Positiven ändern werden, glaube ich nicht. Ich werde das sicher nicht mehr erleben, vielleicht meine Enkel.

Wie halten Sie es mit der Religion?

Nichts, überhaupt nichts.

Glauben Sie an Gott?

Nein.

Der Mensch muss sich also selbst helfen.

Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn die Leute sich die ganzen Ungerechtigkeiten nicht mehr gefallen lassen. Wir haben ja alle keine Vorstellungen, was die Wirtschaftskrise noch alles auslösen wird. Würden Sie nicht sagen, dass sich die Menschen seit Jahrtausenden die ganzen Ungerechtigkeiten gefallen lassen?

Mittlerweile ist ja nicht mehr allein die Unterschicht von Sozialabbau betroffen, sondern auch die Mittelschicht. Was werden die Griechen tun? Fünf Mal demonstrieren gehen, und dann resignieren? Oder kommt dann was anderes? Ich weiß es nicht.

Sehen Sie sich als Teil der Mittelschicht?

Die löst sich ja auf. Es gibt Leute, die sich selbst als Teil der Mittelschicht sehen, wo ich mir dann denken muss, naja, bitte, was soll bei denen Mitte sein? Die Menschen sehen sich alle als Bürger, haben aber keinen Besitz und sind daher in Wirklichkeit Proletarier. Und dieselben Menschen verwenden das Wort Prolet als Schimpfwort.

Ist das nicht genau das große Problem der SPÖ, dass die Mittelschicht wegzubrechen droht und die Unterschicht nach rechts rückt?

Naja, der durchschnittliche Strache-Wähler in Wien ist vom durchschnittlichen SPÖ-Wähler nicht so weit entfernt. Darum verhalten sich die Roten ja wie sie sich verhalten. Nur ist das auch keine Lösung. Am ärgsten wird es, wenn die Serben Strache wählen, nur weil er ein blau-weißes Bandl am Arm hat. Meine serbische Putzfrau sagt: „Kann nicht mehr wohnen in Veronikagasse, ist schon alles verturkt.“

Finden Sie, dass die SPÖ den Rechtsruck ihrer Wähler zu weit mitgemacht hat?

Es gibt auch in der SPÖ Leute, mit denen ich ziemlich d'accord bin, nur haben die halt nichts zu sagen. Wo ist denn der Caspar Einem (ehemaliger SP-Minister, Anm.) hin verschwunden? Wo ist der Ferdinand Lacina (ehemaliger SP-Finanzminister, Anm.) hingekommen? Sind ja alles Leute, die überhaupt keine Machtpositionen mehr haben.

Bringen Sie Verständnis für die heutigen sozialdemokratischen Führungsfiguren auf, wenn sie mit den rechten Wölfen heulen?

Nein, dafür bringe ich kein Verständnis auf. Ich meine, es ist ja lächerlich, da gibt es den alten Satz: Man geht nicht zum Schmiedl, wenn man zum Schmied gehen kann. Das alles, wo sich die SPÖ anpasst, kann die FPÖ wesentlich besser.

Kurzum, die SPÖ sollte nach Links rücken?

 Ja, das wäre nett.

Bestünde da nicht die Gefahr, dass sich eine linkere SPÖ selbst marginalisieren würde, weil der Großteil ihrer WählerInnen nicht dabei wäre?

Ich gebe ja gerne zu, dass es die SPÖ nicht leicht hat.

Wenn Werner Faymann an Ihrem Tisch säße, was würden Sie ihm raten?

Nix, er macht was er kann, mehr kann er nicht. Soll ich sagen, lieber Werner, entwickle Utopien, entwickle Visionen? Der hat es ja auch nicht leicht, was soll er denn tun?

Das Interview führten Wolfgang Zwander und Alexander Fanta.

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