Behinderung

Behinderung* ist sexy und hip!

  • 23.02.2017, 19:31
Braucht es ein spezielles Begehren? Behinderte(s)* Begehren ist Begehren für alle!

Braucht es ein spezielles Begehren? Behinderte(s)* Begehren ist Begehren für alle!

Ist Sex wirklich nur etwas für nichtbehinderte* Lebensweisen? Behinderung* ist eine vielfältige Variante menschlicher Lebensrealität, jedoch wird sie in vielen Kontexten noch immer nicht als solche betrachtet. Besonders die Thematik Sex und Dis_ability scheint unangebracht, abnormal und unerwünscht zu sein. Wir haben es also mit der „Compulsory Ableness“ zu tun, der zwanghaften Unversertheit sexualisierter Körperlichkeit(en).

Sex ist etwas für nicht-behinderte Körperlichkeit(en).Alles, was nicht normative Sexualität ist, wird unterdrückt und tabuisiert, denn Sexualität ist eine Angelegenheit der Ablebodied People; Disabledness ist unsexy. „Sexualität ist oft der Punkt unserer tiefsten Unterdrückung und jener unseres tiefsten Schmerzes. Denn es ist einfacher, über Arbeit, Bildung und Wohnen zu sprechen und Strategien gegen diesbezügliche Diskriminierung zu formulieren als es über unsere Exklusion von Sexualität und Reproduktion ist“, konstatierte die DisAbility- Aktivistin Anne Finger schon vor mehr als 10 Jahren in einem Erklärungsmanifest.

Dis_abled Sex ist queer. „Was genau machst du beim Sex?“ ist eine an Menschen mit Dis_ability häufig gestellte Frage. Eine Frage, die auch an viele Queers gerichtet wurde. Die Situation von Queeren Personen und Communitys wie auch Cripped People und Communitys weisen in vielen Bereichen eine große Ähnlichkeit auf. Sie werden jedoch noch immer nicht zusammen gedacht und in intersektionelle, das heißt Diskriminierungskategorien übergreifende Verwobenheiten, einbezogen. Diese Verknüpfungen und Verwobenheiten sollten erkannt und für Austausch und Vernetzung genutzt werden.

Plural gedacht bezieht queer als (politisch- strategischer) Überbegriff auch alle Menschen und Handlungen mit ein, die nicht den gesellschaftlich konstruierten Normen entsprechen können oder wollen. Aus dieser Perspektive kann Dis/ability als queer betrachtet werden. Unterschiedliche Begehren sind vielfältige Varianten menschlichen Daseins! Doch noch immer wird Sex in Zusammenhang mit Behinderung als pervers betrachtet: Ihm wird Unnatürlichkeit, Unfähigkeit, Zeugungsunfähigkeit etcetera zugeschrieben und er wird als Abnormalität tituliert, anstatt als vielfältige Variante – genauso wie Homound Bi*sexualitäten, intergeschlechtliche und trans* Körper und viele mehr. Was steht also dieser Öffnung hin zur Vielfalt im Weg?

Behinderte(s) Begehren? Unsere Mitmenschen mögen es oft als (moralisch) verwerflich ansehen, wenn Menschen mit DisAbility begehrt werden. Doch was finden sie daran moralisch verwerflich? Kulturellen Repräsentationen nach werden Menschen mit Dis_ability in „unserer“ Gesellschaft sehr häufig als asexuelle Wesen positioniert. Behinderung* und Sex und Begehren werden – wenn überhaupt – lediglich stereotypisierend in zweierlei Varianten gedacht: Erstens als Sex zwischen behinderten Menschen, zweitens mit einer Übersexualisierung von Disability in Form von speziellem Begehren: Devoteeismus beziehungsweise Amelotatismus. Es wäre schlichtweg falsch anzunehmen, dass nur Devotees Menschen mit Behinderung begehren. Devoteeismus wird, sowohl gesellschaftlich gesehen als auch von manchen Menschen mit Dis/ability selbst, oft als sehr ambivalent betrachtet. Denn das spezielle Begehren von Menschen mit Dis_ability ist in den Augen der Gesellschaft nicht anerkannt und erwünscht. Es kann sich deshalb häufig in Objektivierung und Fetischisierung behinderter* Körperlichkeit oder Seinsweisen und mitunter auch in sehr sexistischem und Street Harassment ähnlichem Verhalten äußern. Devotees begehren den Gegensatz des normativ erwünschten Körpers oder der perfekten Seiensweise, nämlich Ekel und Verabscheuung; oder anders formuliert das normativ Verabscheute. Diese Pathologisierung lastet stark auf Menschen, die behinderte* Personen begehren und lieben.

Behinderte*(s) Begehren für alle? Personen mit DisAbility können ihre behinderte* Seiensweise als eine Quelle der Lust begreifen und in ihre sexuellen Fantasien inkorporieren. Dies alles hat nichts mit Devoteeismus zu tun. Ganz im Gegenteil könnte mensch, so die Begründerin der Queer-Dis_ability Studies und Dis_ability Rights Aktivistin Alison Kafer, eine Sexualität und ein Begehren imaginieren, die reich und robust sind – und dies nicht trotz oder wegen der Beeinträchtigung*. Also eine Sexualität und ein Begehren, die nicht aufgrund von DisAbility fetischisierend sind, aber in Beziehung zu Behinderung* stehen. Wie queere und feministische Menschen und Communities, müssen also auch Menschen mit Dis_ability ihre Wege finden. Wege zu einem möglichen Umgang mit Normen um daran zu arbeiten, die eigenen nicht-normativen Körper wertzuschätzen und neu zu bewerten, zu inkludieren und zu erotisieren.

Es geht demnach also darum, diese Normvorstellung zu brechen und neue Wege zu finden Behinderung*, behinderte* Körperlichkeiteb und deren unterschiedliche Sexualitäten zu inkludieren. Denn: Menschen mit Dis-ability haben ein Sexleben: Sie kämpfen um ihre „intime Bürger_innenschaft“, wie es der Soziologe und Queer Dis/ ability Richts Activist Kenneth Plummer treffend bezeichnet, und darum, sich sexuelle Identitäten* anzueignen! Behinderung ist sexy. Wir sind so sexy und hip wie wir uns selbst beschreiben. Wir wollen teilhaben! Wir wollen interessante Menschen treffen! Wir wollen Begegnungsorte für ALLE!

Elisabeth Magdlener, Verein CCC** – Change Cultural Concepts, ist Trainerin und Vortragende im Bereich Queer DisAbility (Studies) und Tänzerin, Mitglied der weltweiten Community- Tanzbewegung DanceAbility und A.D.A.M. (Austrian DanceArt Movement). Sie studiert(e) Gender Studies & Pädagogik in Wien.

Inklusion braucht Werkzeuge

  • 15.02.2017, 19:35
Der Alltag von Frauen mit geistiger Behinderung ist geprägt von Fremdbestimmung und Einteilung unter finanziellen Gesichtspunkten. Dies führt dazu, dass auch politische Teilhabe von Frauen mit geistiger Behinderung durch die verwehrte Selbstbestimmung versperrt bleibt.

Der Alltag von Frauen mit geistiger Behinderung ist geprägt von Fremdbestimmung und Einteilung unter finanziellen Gesichtspunkten. Dies führt dazu, dass auch politische Teilhabe von Frauen mit geistiger Behinderung durch die verwehrte Selbstbestimmung versperrt bleibt. Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention (in Österreich 2008 in Kraft getreten) gesetzlich gilt, ist deren Verwirklichung noch in vielen Punkten unerreicht. Oft fehlt es am Willen politischer Instanzen. Auch an Maßnahmen und Konzepten, welche politische Teilhabe von Frauen mit geistiger Behinderung vorantreiben und bewerkstelligen könnten.

Die Autorin, Karoline Klamp-Gretschel, setzt hier an und legt ein von ihr neu entwickeltes Bildungskonzept vor. Dieses richtet sich gezielt an Frauen und Mädchen mit geistiger Behinderung, um die Vermittlung politischer Kenntnisse zu begünstigen. Begleitet durch Interviews in der Zielgruppe entstehen Handlungsempfehlungen, die eine Grundlage für gender-spezifische Bildungs-Konzepte zur gesellschaftlichen und politischen Partizipation bilden sollen. Gesetze können inklusivere Gesellschafts-Strukturen ebnen, jedoch braucht Inklusion auch Werkzeuge zur Partizipation, das heißt: Gesetze allein bringen noch keine politische Teilhabe. Denn nur wenn Fremdbestimmung entfällt oder zumindest maximal reduziert wird, können Menschen auch selbstbestimmt und Akteur*innen ihrer eigenen Lebensläufe sein.

Obgleich es bei wissenschaftlichen Arbeiten oft viel zu wenig der Fall ist, reflektiert Karoline-Klamp-Gretschel die verwendeten Begrifflichkeiten und Konzepte in ihrem Buch gekonnt. So beschreibt sie beispielsweise Unzulänglichkeiten im Terminus „geistige Behinderung“, welcher eine Spanne an diversen Menschen umfasst. Die Problematik liegt genau darin: Durch die Verwendung eines Begriffes für eine heterogene Gruppe kommt es zu Stereotypisierung. Trotzdem verwendet Klamp-Gretschel diesen Begriff, allerdings kritisch, um davon ausgehend differenzieren zu können. Stärken des Buches liegen auch im Aufgreifen von bestürzenden Diskursen um die vermeintliche „Bildungsfähigkeit“ von Personen mit geistiger Behinderung. Dem gegenüber stellt Klamp-Gretschel Erläuterungen von den realen Lebensbedingungen und -Situationen von Frauen und Mädchen mit geistiger Behinderung. So veranschaulicht sie die Diskrepanz zwischen ableistischen/behindertenfeindlichen Diskursen und den tatsächlichen Realitäten und Perspektiven der Frauen und Mädchen.

Unterm Strich ergibt sich ein umfassendes fachwissenschaftliches Buch, dessen Vorschläge für eine inklusivere Zukunft hoffentlich Beachtung und Umsetzung finden wird.

Mara Otterbein studiert Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und beschäftigt sich vor allem mit intersektionalen Perspektiven der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen.

Klag die Uni!

  • 08.03.2016, 13:47
Überall Barrieren! Warum die Universität eine einzige Barriere ist und was das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes daran ändern kann.

Überall Barrieren! Warum die Universität eine einzige Barriere ist und was das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz daran ändern kann.

„Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz“ ist ein langes Wort. Das BGStG soll die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen regeln. Schon seit 2006 schreibt das BGStG vor, dass alle öffentlichen Gebäude, Verkehrsmittel und Geschäftslokale barrierefrei zu erreichen sein müssen. Für die Implementierung dieses Gesetzes hatte man in Österreich zehn Jahre lang Zeit. Seit 1. Jänner 2016 ist diese Frist verstrichen. Barrierefreiheit heißt im Sinne des Gesetzes nicht nur Rampen und Aufzüge zu errichten, sondern sämtliche Hürden abzuschaffen und zum Beispiel Homepages von öffentlichen Institutionen barrierefrei bedienbar zu machen oder auch Filme mit Untertiteln zu gewährleisten. „Ziel dieses Bundesgesetzes ist es, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen oder zu verhindern und damit die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen,“ so der Gesetzestext. Auch die Hochschulen in Österreich haben sich an dieses Gesetz zu halten.

Barriere Hochschule. Wenn in Österreich eine Frist verstreicht und die Ziele noch nicht erreicht sind, dann könnte sich der Gesetzgeber Mühe geben, die Frist einzuhalten, oder die Frist einfach verlängern. Letzteres hat der Bund im Falle der öffentlichen Gebäude, zu denen die meisten Hochschulen zählen, gemacht.

Zwölf Prozent gaben bei der letzten Studierendensozialerhebung an, eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu haben, die sich auf das Studium auswirkt. Rund ein Prozent aller Studierenden gaben an, eine Behinderung zu haben (das sind über 3.700 Personen) und fünf Prozent eine chronische Krankheit (das sind über 18.500). Für diese Gruppe ist der Unialltag um einiges hürdenreicher. Es ist nervig für Studierende in den Hörsaal im dritten Stock zu kommen, doch für Studierende mit Rollstuhl ist es oft schlicht unmöglich. Während in den repräsentativen Hauptgebäuden oft nachträglich Lifte und Rampen eingebaut wurden, werden die Nebengebäude meist mehr schlecht als recht nachgerüstet. Aber auch die Hochschulen haben sich an das BGStG zu halten und müssten seit 1. Jänner überall barrierefrei zugänglich sein. Barrierefrei sind laut BGStG „bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind“. Wie sieht es nun damit aus?

Klagerecht. Österreich ist ein Land der Sonderregelungen. Gefühlt gibt es für jede Regelung sechs Ausnahmen. Auch beim BGStG sieht es nicht besser aus. Generell gilt die Verhältnismäßigkeit oder wie es im § 6 des Gesetzes heißt eine Ausnahme bei „unverhältnismäßigen Belastungen“. Bei „unverhältnismäßigen Belastungen“ liegt keine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung vor, wenn „die Beseitigung von Bedingungen, die eine Benachteiligung begründen, insbesondere von Barrieren, rechtswidrig oder wegen unverhältnismäßiger Belastungen unzumutbar wäre“. Unverhältnismäßigkeit kann zum Beispiel durch einen zu großen (finanziellen) Aufwand oder Denkmalschutz gegeben sein. Dies trifft vor allem bei alten Unigebäuden zu und darauf ruht man sich oft aus. Das BGStG bringt nun aber eine wesentliche Änderung, welche die Hochschulen ins Schwitzen bringen könnte, und zwar das Klagerecht.

Das BGStG sieht ein Klagerecht vor, wenn Einzelpersonen oder Gruppen (Verbandsklage) durch Hürden daran gehindert werden, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Erst kommt es jedoch zu einem Schlichtungsverfahren bei den Landesstellen des Bundessozialamts, das auf eine außergerichtliche Einigung abzielt. Oft wird über die Höhe der Entschädigung verhandelt. Erst wenn keine Einigung erzielt wird, kommt es zu einem Gerichtsverfahren.

Kein Umbau. Das größte Defizit des Gesetzes bleibt jedoch auch nach der Fristverstreichung erhalten. So kritisiert Martin Ladstätter, Gründungsmitglied des BIZEPS-Behindertenberatungszentrums, dass „mit einer Klage Barrierefreiheit nicht erreichbar ist, weil das Gesetz nur Schadenersatz zuerkennt. Konkret bedeutet dies, dass ein Gericht zwar eine gewisse Summe an Schadenersatz festlegen, nicht aber einen Umbau anordnen kann.“ Die Barriere bleibt also bestehen. Meist ist es nämlich billiger zu zahlen als umzubauen. Dabei ist mit barrierefreien Gebäuden allen geholfen. Aufzüge sind nicht nur für Menschen mit Rollstühlen von Vorteil, keiner geht gerne mehrere Stockwerke die Treppen hoch. Eine bessere und einfache Ausschilderung hilft nicht nur Menschen mit Sehschwierigkeiten, sondern allen bei der Orientierung in großen und unübersichtlichen Universitätsgebäuden.

Viele Studierende mit Behinderungen wissen nicht, dass die Universität Barrierefreiheit gewährleisten muss und sie ein einklagbares Recht darauf haben. Viele wissen auch nicht, dass jede Hochschule ab einer gewissen Größe eine*n Behindertenbeauftragte*n haben muss, der sich mit Themen der Barrierefreiheit auseinandersetzt und Studierende mit Behinderungen berät. Diese Behindertenbeauftragten werden von den Rektoraten aber angehalten, die Studierenden nicht über ihr Klagerecht zu informieren. Dabei würde sich auf den Hochschulen wohl schnell etwas verändern, wenn die Schadenersatzkosten höher wären als die Kosten für Umbauten.


Anne Marie Faisst studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.


Links:
Referat für Barrierefreiheit ÖH-Bundesvertretung
Referat für Barrierefreiheit ÖH Uni Wien
BIZEPS

Veranstaltungshinweis:
Am 16.3. findet eine Podiumsdiskussion zum Thema: HÜRDENLOS STUDIEREN?! "Wie barrierefrei sind Österreichs Hochschulen?" an der Universität für Bodenkultur Wien (2. Stock, Sektor D in der „alten WU“, Augasse 2-6, 1090 Wien) statt. Weitere Informationen beim Facebook-Event hier.

Eine Reise auf acht Rädern

  • 02.08.2014, 09:24

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Im Spätsommer 2010 haben sich die beiden aufgemacht. Eigentlich sollte es eine sechsmonatige Auszeit vom österreichischen Winter werden. Es wurde schließlich eine zwölf Monate lange Reise durch Mexiko und Mittelamerika. Dabei bestaunten Victoria Reitter und Reinfried Blaha nicht nur die schönsten Strände, durchtauchten malerische Buchten und machten unzählige Bekanntschaften. Sie hatten auch mit Krankheiten zu tun, machten es sich auf verlassenen Terrassen gemütlich und entwickelten eine besondere Taktik im Umgang mit lästigen Polizeikontrollen. Bis nach einem Jahr sowohl ihr Auto, mit dem sie rund 20.000 Kilometer zurückgelegt hatten, als auch Reinfrieds Rollstuhl eine Generalsanierung nötig hatten.

Victoria pausierte für die Dauer des Trips ihr Studium der Kultur- und Sozialanthropologie in Wien, der studierte Architekt Reinfried ließ sich von seiner Arbeit in Graz karenzieren. Startpunkt der Reise war Los Angeles, wo sich die beiden einen alten Volvo, Baujahr 1984, zulegten. Denn eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre nur unter schweren Anstrengungen möglich gewesen. Seit einem Ski-Unfall im Jahr 2006 ist Reinfried von der Brust abwärts gelähmt und nur mit einem Rollstuhl mobil. Aufgrund seiner Querschnittslähmung ist er auch auf Einwegkatheter angewiesen, um seine Blase entleeren zu können, je nach Wassermenge benötigt er dafür sechs bis neun Stück am Tag. Für eine halbjährige Reise hatten die beiden also eine Unmenge an Kathetern im Gepäck; der zusätzliche Stauraum des Autos erwies sich deshalb als erhebliche Erleichterung. Kalifornien empfanden beide, auch im Vergleich zu Österreich, als relativ barrierefrei. Das änderte sich aber spätestens an der Grenze zu Mexiko: „Wir sind dann zu einem Team geworden, das voneinander abhängig war. Ich war angewiesen auf Vicki, sie aber auch auf mich. Ohne sie hätte ich quasi an einer Straßenecke sitzenbleiben müssen“, erklärt Reinfried.

Durch die Wüste. Für die erste, rund 1.600 Kilometer lange Etappe, die sie durch die dünnbesiedelte, wüstenartige Gegend von Baja California mit ihren einzigartigen Stränden führte, ließen sich die beiden gut fünf Wochen Zeit. Mit wenig Budget ausgestattet, schlugen sie dort ihr Lager auf, wo es ihnen gerade am besten gefiel. Wild zu campieren, hatte in dieser Gegend allerdings einen erheblichen Nachteil: Der Boden ist dort so sandig, dass Reinfried mit dem Rollstuhl schnell steckenblieb. Vicki musste sich um Zelt und Lagerfeuer also immer alleine kümmern. Auf der Suche nach Alternativen mieteten sie sich schließlich auf den Terrassen von verlassenen Ferienhäusern ein. Für Reinfried bedeutete das, seine Mobilität zurückzugewinnen. Überrascht von den vergleichsweise niedrigen Temperaturen in der Nacht, mussten sie zum Schlafen manchmal nahezu alles anziehen, was sie dabei hatten. Das Auto wurde bald zu einem zweiten Zuhause. Täglich mit neuen Herausforderungen konfrontiert, entwickelten beide im Zuge der Reise für so manches Problem kreative Lösungen. Da Reinfried auf Sitztoiletten angewiesen ist, solche in der Gegend aber dünn gesät waren, wurde kurzerhand ein Camping-Stuhl zu einer mobilen Toilette umfunktioniert. „Ich konnte mir jetzt die schönsten Toilettenplätze der Welt aussuchen“, erzählt er lachend. Zwei gestohlene Schlafsäcke, eine gebrochene Zeltstange und zwei löchrige Matten kostete die erste Etappe ihrer Reise, dafür hatten die beiden ihr Spanisch zu diesem Zeitpunkt bereits um gefühlte fünf Prozent verbessert.

In San José del Cabo, an der Südspitze Baja Californias angekommen, begann Reinfried in einem Architekturbüro zu arbeiten; Victoria fand Arbeit bei einer NGO, die Menschen im Slum-Gürtel rund um die Stadt unterstützt. Die Wohnungssuche gestaltete sich schwieriger, da es in San José del Cabo praktisch keine barrierefreien Gebäude gab. Konfrontiert mit der Aussicht, ihren Aufenthalt in Zelt und Auto verbringen zu müssen, tat sich aber plötzlich doch noch ein geeignetes Domizil auf: direkt am Meer, sogar mit einer Rampe bis zum Strand – ideal für einen Strandbesuch mit dem Rollstuhl.

Weihnachten am Strand. Statt mit einer importierten Tanne aus Kanada wurde Weihnachten mit Corona und Tequilla gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen Reinfried und Victoria auch, ihre Reise um drei weitere Monate zu verlängern. Damit standen sie aber auch vor einem Problem: Die Katheter würden früher oder später zur Neige gehen. Es musste Nachschub her. Ein Paket aus Österreich wurde allerdings vom mexikanischen Zoll festgehalten. Um die Katheder dort abzuholen, hieß es also wieder ab auf die Straße Richtung Mexiko-City.

Am Weg in die Millionen-Metropole verbrachten Victoria und Reinfried die Nächte immer öfter in Herbergen. Geeignete Unterkünfte zu finden, die ohne Treppen, ohne zu steile Rampen und durch ausreichend breite Türen zugänglich waren, stellte sich aber auf der gesamten Reise als äußerst schwierig heraus. Während Reinfried im Auto wartete, sah sich Victoria die Herbergen an. Dabei entwickelte sie ein besonderes Auge für Maße: „Ich konnte auf den Millimeter genau erkennen, ob Reini mit dem Rolli durch eine Tür passen wird oder nicht.“ Dass sie aufgrund mangelnder Barrierefreiheit viele Unterkünfte ausschließen mussten, sollte sich aber als Bereicherung erweisen: „Auf diese Weise haben wir viele Plätze gesehen, die in keinem Reiseführer verzeichnet sind und haben eine Art Negativabdruck des Reiseführers gemacht“, erzählt Victoria. Oft wurden von GastgeberInnen auch provisorische Rampen angelegt oder anderweitig geholfen. In der Hauptstadt Mexikos angekommen, war es zwar nicht möglich, die Katheter tatsächlich aus den Fängen des mexikanischen Zolls zu befreien, mit Hilfe von Victorias Bruder und der österreichischen Botschaft erhielten sie aber trotzdem Nachschub.

Gleichberechtigt unter Wasser. Der weiteren Erkundung Mexikos stand somit nichts mehr im Weg. Besonders fasziniert waren Reinfried und Victoria vielerorts von der Unterwasserwelt. Sie gingen nicht nur oft schnorcheln, sondern lernten auch Tauchen – eine Sportart, die sie beide gleichberechtigt ausüben konnten. „Es hat zwar ein wenig gedauert bis ich die Stabilität unter Wasser gefunden habe. Ich habe aber schnell gemerkt, dass es eigentlich allen Tauchanfängern dabei gleich geht“, erzählt Reinfried. Nach 180 Tagen stand schließlich die Ausreise aus Mexiko bevor. Das Ziel war Kolumbien.

Ihre Reise führte zunächst über Belize nach Guatemala, ein Land mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von rund 60 Prozent, in dem circa 50 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Osterzeit verbrachten sie in der Stadt Antigua und erlebten dort die tagelangen Osterprozessionen. „Die ganze Stadt spielt eine Woche lang verrückt. In stundenlanger Arbeit werden bunte Teppiche aus Holzspänen auf die Straßen gelegt, dann kommt die Prozession, danach werden neue Teppiche gelegt“, erzählt Victoria. In El-Salvador fing Victoria an, Vulkane zu besteigen. Für Reinfried hieß das zwar, dass er den ganzen Tag im Zimmer bleiben musste, das war aber nach den vielfältigen Eindrücken der bisherigen Reise eine entspannende Abwechslung für ihn.

Je länger Victoria und Reinfried unterwegs waren, desto mehr Schwierigkeiten begegneten ihnen. Auch das geliebte Auto zeigte zunehmend Verfallserscheinungen: Mal war es eine kaputte Benzinpumpe, ein anderes Mal gaben ausgerechnet zur Regenzeit die Scheibenwischer auf. Wie immer wussten sich Victoria und Reinfried aber zu helfen und erdachten eine Konstruktion mit Schnüren, mittels derer sie die Scheibenwischer aus dem Auto heraus manuell bedienen konnten. Reinfried zog sich gegen Ende der Reise eine Fersenverbrennung zu, die sich nur deshalb nicht erheblich entzündete, weil er aufgrund seiner immer wiederkehrenden Harnwegsinfekte regelmäßig Antibiotika einnehmen musste. Victoria wiederum erkrankte an Denguefieber, eine Krankheit, die mitunter tödlich verlaufen kann.

Boot statt Auto. Immer wieder waren die beiden auf ihrer Reise auch mit schlecht bezahlten PolizistInnen konfrontiert, die sich über Geld unter der Hand freuten. Für diese Situationen entwickelten sie eine spezielle Taktik: den Rollstuhlbonus. „Sobald uns die Polizei aufgehalten hat, ist Vicki ausgestiegen, zum Kofferraum gegangen und hat mühsam den Rolli ausgepackt“, erklärt Reinfried: „Meistens hat sich die Sache damit auch schon erledigt“. Sie entschieden sich schließlich, ihre Reise nochmals um weitere drei Monate zu verlängern; Victorias Bruder hat sie dafür noch einmal persönlich mit einer Katheterlieferung aus Österreich versorgt. Über Honduras ging es schließlich weiter nach Nicaragua. An der Grenze zu Costa Rica wurde schließlich der Plan, über Panama bis nach Kolumbien zu reisen, durchkreuzt: Die Grenzbehörden wollten die beiden mit ihrem alten Volvo nicht einreisen lassen. So entschlossen sie sich, die touristisch kaum erschlossene Ost-Küste Nicaraguas zu bereisen – eine Gegend, in der es kaum Straßen gibt. Die meisten Strecken legten sie dort, wie die Einheimischen, im Boot zurück.

Am gefühlten Ende der Welt sollte dann schließlich das Schlimmste passieren, was sie sich vorstellen konnten: Die Kugellager des Rollstuhls gaben nach und nach den Geist auf. Für Reinfried bedeutete dies den Verlust seiner Mobilität, ein Tiefschlag für beide. Nach einiger Suche konnten sie aber den 80-jährigen Schweißer Mr. Silvio ausfindig machen, der das Nötigste reparieren konnte. Reinfried war zwar nicht mehr so mobil wie zuvor, für die Rückreise nach Mexiko-City reichte es aber. Dort überließen sie ihren lieb gewonnenen Volvo einem Künstler – im Tausch gegen zwei Gemälde. Zurück in Österreich war es für Victoria und Reinfried nicht einfach, in den Alltag zurückzufinden. Die Reise wird ihnen unvergesslich bleiben. Rückblickend meint Reinfried: „Wir haben bei dieser Reise viel gelernt, sie hat unseren Horizont erweitert. Sie hat unsere Intuition geschult und wir haben gelernt, Perspektiven
zu wechseln. Trotz manchmal unüberwindbaren Barrieren haben wir erkannt, dass die meisten Barrieren in unseren Köpfen verankert sind.“

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung in Wien.

Reisevorträge von Victoria und Reinfried gibt es zu folgenden Terminen:
30. 9. Wien Energie (www.allesleinwand.at)
8. 10. Hartberg (Stmk.)
15. 10. Seestadt Aspern (Wien)
23. 10. VBH Schloss Retzhof, Wagna (Stmk.)
29. 10. Leoben (Stmk.)

Für mehr Informationen:
https://www.facebook.com/mebeguelhonicopa

Blinde Flecken

  • 12.03.2014, 12:54

Behinderung ist heute kein vorrangig medizinisches oder technisches Problem mehr, sondern vor allem ein soziales. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung schweigen noch immer viele Studierende über ihre Beeinträchtigung.

Behinderung ist heute kein vorrangig medizinisches oder technisches Problem mehr, sondern vor allem ein soziales. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung schweigen noch immer viele Studierende über ihre Beeinträchtigung.

Als vor zwei Jahren die Campuserweiterung Science Park an der Johannes-Kepler-Universität Linz (JKU) eröffnete, fielen die ersten Hürden für Studierende mit Beeinträchtigung schnell auf. Nicht-genormte Stiegen und Glastüren ohne Kennzeichnung erschwerten sehbehinderten Menschen das Fortkommen. Der Haupteingang führte über Treppen und noch heute muss Silke Haider mit ihrem Rollstuhl den LieferantInneneingang benutzen, um ins Gebäude zu gelangen. Damals engagierte sie sich in der Österreichischen HochschülerInnenschaft auf der JKU für Barrierefreiheit. Sie erinnert sich gut: „Eine Vorab-Begehung wurde vom Institut Integriert Studieren eingefordert, aber immer wieder abgelehnt. Erst als auch die ÖH nicht locker ließ, kam es zu einer Besichtigung.“ Der Bau war jedoch bereits abgeschlossen und die Barrieren in Beton gegossen. Zur gleichen Zeit feierte Integriert Studieren sein 20-jähriges Bestehen an der Universität, Festschriften wurden verfasst und der Stellenwert des Instituts seitens der JKU immer wieder betont.

Diese Geschichte ist symptomatisch für die Situation von gesundheitlich beeinträchtigten Studierenden an Österreichs Universitäten. Gerne werden Institute und Projekte gegründet, die ihrerseits gute Arbeit leisten, jedoch ein enklavisches Dasein hüten und nur gelegentlich öffentlich in Szene gesetzt werden. Dabei ist das Linzer Institut sehr umtriebig und die Situation für Studierende mit Beeinträchtigungen an der JKU durchaus zufriedenstellend. Integriert Studieren ist Anlaufstelle für derzeit knapp 80 Studierende, die wegen ihrer funktionalen Einschränkung Unterstützung suchen. Außerdem wird dort zu integrativen Möglichkeiten neuer Technologien und des Internets im Bereich der Barrierefreiheit geforscht. Im Gespräch mit Andrea Petz, Mitarbeiterin am Institut, wird schnell klar, wo die Probleme im Umgang mit Barrierefreiheit an den Unis beginnen: „Eine Braillezeile ist in erster Linie ein technisches Hilfsmittel und bedeutet nicht gleich gelungene Integration“, so die Soziologin. Behinderung ist noch immer nicht im universitären Alltag angekommen, ihr Auftreten eine Irritation. Sie wird gesellschaftlich kaum thematisiert und ihre Bedeutung ist daher oft von der individuellen Interpretation abhängig.

Reden ist Silber, Verschweigen ist Gold. In einer vom Wissenschaftsministerium bundesweit durchgeführten Studie gab 2006 gut ein Fünftel aller Inskribierten an, eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu haben. Bei der Hälfte der Betroffenen wirkt sich diese negativ auf ihr Studium aus. Eine Zahl, die weit über den Schätzungen der Unis liegt. Aber nur wenige Betroffene greifen auf die Angebote der universitären Servicestellen zurück. „Das Verhalten ist diesbezüglich sehr unterschiedlich“, erklärt Andrea Petz. „Manche kommen vom ersten Tag ihres Studiums an regelmäßig. Andere erscheinen erst, wenn der Schuh schon unerträglich drückt.“ Eindrücke, die sich in der Sozialerhebung widerspiegeln: Die Offenlegung der eigenen Behinderung scheint eine Frage des Müssens und nicht des Wollens zu sein.

Silke Haider hatte diesbezüglich keine Wahl. Ein Rollstuhl lässt sich nicht verstecken. Es sind vor allem Sehbehinderte, Lernschwache oder chronisch Kranke, deren Einschränkungen nicht sofort sichtbar sind, die sich die Frage stellen, wie sie nach Außen mit ihrer Beeinträchtigung umgehen. Viele entscheiden sich für das Verschweigen, rücken nur im Anlassfall damit heraus und tragen somit oft ganz ungewollt zur Tabuisierung ihrer Situation bei. Mit technischer oder finanzieller Unterstützung ist zwar vielen geholfen, an ihrem sozialen Status ändert dies jedoch nur wenig. Zwar kann man – so ein Fazit des Spezial- Eurobarometers 2008 – den ÖsterreicherInnen keine behindertenfeindliche Einstellung nachsagen, aber: Nur weil kaum jemand mehr Probleme mit behinderten Menschen zu haben scheint, heißt das noch lange nicht, dass für diese keine mehr existieren.

Wie finden sehbehinderte Studierende ihren Hörsaal? Illustration: Simon Goritschnig

So stellt sich nicht nur die Frage, ob man akzeptiert wird, sondern auch wie. Erst vor kurzem machte die ORF-Journalistin Rosa Lyon diese Ambivalenz sichtbar. Sie vertrat bei einem Ö1-Gespräch den Standpunkt, dass Menschen mit Beeinträchtigung nur am geschützten Arbeitsmarkt eine Chance hätten, da sie nicht gewinnbringend angestellt werden könnten. Wer solche Aussagen hört, überlegt zweimal ob es wirklich notwendig ist, die eigenen Bedürfnisse zu thematisieren. Rücksicht wird allzu oft mit Schutzbedürftigkeit verwechselt und trägt zu einer Situation bei, in der man sich als BehinderteR erstmal von der restlichen Gesellschaft abgrenzen muss, um danach wieder integriert werden zu können. Es ist nicht die Rolle des selbstbestimmten Menschen, sondern jene des angewiesenen und hilfsbedürftigen Behinderten, die einem/einer angeboten wird. Ein Bild, das niemand gerne von sich hat. Doch die Hemmschwelle für eine Offenlegung von Beeinträchtigungen zu senken, liegt selbst für aktive Servicestellen außerhalb ihrer Möglichkeiten. Außerdem werden schon kleinen Schritten in Richtung Alltäglichkeit Steine in den Weg gelegt. Seit Langem setzt sich das Institut an der JKU Linz etwa dafür ein, dass ein Info-Beilage über ihr Angebot zusammen mit anderen Informationsmaterialien bei der Inskription verteilt wird, bis heute jedoch ohne Erfolg.

Service oder Survey? Auch die Wissenschaft hat sich der sozio-kulturellen Dimension der Integration lange verschlossen. Erst in den letzten Jahren erfreuen sich die Disability Studies wachsender Aufmerksamkeit. Die aufkommende Disziplin vernetzt sich dabei stark mit Forschenden anderer Disziplinen, die ebenso an einem kritischen Verständnis von Identität und Normativität ansetzen. Laut den Soziologen Robert Gugutzer und Werner Schneider entsteht Behinderung nicht durch den Körper, sondern in seinem sozialen Kontext. Die Frage, ab wann körperliche Variation als Behinderung gilt, ist daher eine kulturelle. Die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet ist deshalb von hoher Relevanz, weil die wenigsten Menschen auf persönliche Erfahrungen im Umgang mit Behinderung bauen können. Kulturell erlernte Handlungsroutinen, die ansonsten für einen reibungslosen Ablauf des Alltags sorgen, werden im Kontakt mit Behinderten oft zur Quelle des Unbehagens. Wie erklärt man etwa einem sehbehinderten Kommilitonen den Weg zum gesuchten Hörsaal? Der blinde Wissenschafter Siegfried Saerberg machte das Experiment und fragte PassantInnen nach dem Weg. Erklärungen wie „geradeaus“ oder „dort vorne“ sorgten in der Regel für die ersten Irritationen und so manche Erläuterung endete im Versuch, mit wilden Gesten die Auskunft zu verdeutlichen. Saerberg wollte mit seiner Studie vor allem eines aufzeigen: Solange Behinderung nicht im Alltag angekommen ist, fehlen uns schlichtweg die Konzepte, um ihr adäquat zu begegnen. Ihm den Weg so zu weisen, dass er es als sehbehindeter Mensch hätte verstehen können, das hat kaum jemand ad hoc geschafft. Entsprechende Routinen in der Gesellschaft zu verankern, ist ein Kraftakt, auf einfache Lösungen darf man dabei nicht hoffen.

Was bleibt, ist ein schwieriges Thema, das viele Problemfelder öffnet und kaum Lorbeeren abwirft. In Anbetracht der schon bestehenden Unterstützung stößt der Einwand, dass bloße technische oder finanzielle Hilfe nicht genug ist, und Integration mehr heißt, schnell auf Unverständnis. Im Zweifelsfall hilft eine Sozialberatung den Betroffenen oft mehr als eine Forschungsarbeit zur kulturellen Verortung von Behinderung in Auftrag zu geben. Aktivitäten im Zusammenhang mit Behinderung beschränken sich daher in der Regel auf sozial- und studienrechtliche Auskünfte und die barrierefreie Zugänglichkeit der Unis. Die Notwendigkeit dieser Angebote stellt niemand in Frage, nur verliert die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung daneben an Substanz. Sie bekämpfen die Symptome, lassen aber das Grundproblem unberührt. Dabei war das nicht immer so: Vor ein paar Jahren noch gab es in Österreich eine interuniversitäre Forschungs- und Projektplattform. Beteiligt waren neben der JKU auch die TU Wien, sowie die KFU Graz und die Universität Klagenfurt. Im Zuge der Universitätsreform 2002 wurden die Mittel für diese Initiativen von den nunmehr finanziell autonomen Universitäten jedoch gekürzt. Von den vierzehn Stellen am Linzer Institut Integriert Studieren sind heute gerade einmal drei Posten sicher finanziert. Der Rest läuft über Drittmittel. Von Seiten der Universität wird dabei stolz auf die Eigenständigkeit des Instituts verwiesen, der Umstand, dass es durch die prekäre Situation zu keinen österreichweiten Kooperationen mehr kommt, wird verschwiegen.

Ein alltägtlicher Kampf. Studierende mit einer Beeinträchtigung dürfen wohl kaum auf eine spontane Verbesserung hoffen. Ihren sozialen Status werden sie sich auch in Zukunft hart erkämpfen müssen. Im Alltag heißt dies: Man ist anders und dann doch wieder nicht. Alle Studierenden haben Ärger mit Prüfungen und doch brauchen jene mit Beeinträchtigung manchmal andere Bedingungen, um gleiche Chancen zu haben. Verheimlicht man die Behinderung, vergibt man die Möglichkeit, dem eigenen Potential gerecht zu werden. Macht man keinen Hehl daraus, muss man zuerst einmal gegen gesellschaftliche Klischees ankämpfen. Diese Ambivalenz prägt das Leben von behinderten Studierenden. Für eine bewusste Entscheidung zur eigenen Behinderung zu stehen, braucht es viel Selbstvertrauen, meint Silke Haider. In ihrer Schulzeit war sie immer die Andere, erst im Studium hatte sie genug davon. Ihre Arbeit in der Studierendenvertretung gab damals den Impuls zur Veränderung: Plötzlich stand nicht mehr der Rollstuhl im Fokus, sondern ihr politisches Engagement. Sich dafür zu entscheiden, nicht wieder in diese eine Ecke gedrängt zu werden, erfordert viel Ausdauer. Man stößt jeden Tag auf neue Barrieren. Viele davon können jedoch nicht am Gebäudeplan geortet und mit einer Rampe abgeschafft werden. Was bleibt sind die immateriellen Hürden. Sie wirken oft unbewusst und sind daher meist schwer zu benennen. Ihnen etwas entgegen zu setzen heißt Tag für Tag Vorurteile zu bekämpfen. Die Einsicht, dass es gemeinsam immer einfacher geht, würde auch die Arbeit von Andrea Petz erheblich erleichtern. Sie hofft auf den Tag, an dem das Entgegenkommen selbstverständlich und die Auskunft über rechtliche Bestimmungen im Telefonat obsolet wird. Die Integration von beeinträchtigten Studierenden kann nur dann ihrem Anspruch gerecht werden, wenn sie gesellschaftlich von einer Frage des Müssens zu einer Frage des Wollens avanciert.

Lukas Kaindlstorfer studiert Soziologie an der Uni Wien.

Die Broschüre „Barrierefrei Studieren” mit Informationen zum Studienrecht (besondere Prüfungsmodalitäten, Erlass der Studiengebühren), Beihilfen, Anlaufstellen, u.v.m. zum Download unter oeh.ac.at/Downloads & Bestellen

Beratungsangebot und Vernetzungsmöglichkeit an der ÖH: Referat für Menschenrechte und Gesellschaft (mere@oeh.ac.at

Mit geborgten Händen

  • 07.04.2013, 22:56

Wie problemlos U-Bahn fahren, wenn man im Rollstuhl sitzt? Wie eine Flasche öffnen, wenn die Hand ständig krampft? Ganz einfach: Mithilfe einer persönlichen Assistenz.

Wie problemlos U-Bahn fahren, wenn man im Rollstuhl sitzt? Wie eine Flasche öffnen, wenn die Hand ständig krampft? Ganz einfach:  Mithilfe einer Persönlichen Assistenz.

Handgriffe des Alltags mit großer Mühe verbunden. Ob eine Kiste schleppen, kochen oder einen Brief öffnen: Oft stößt sie auf   Tätigkeiten, die sie wegen ihrer Behinderung nur schwer oder gar nicht erledigen kann. Doch zum Problem wird das nicht, denn  dafür hat sie Lillian Bocksch, ihre Persönliche Assistentin. Sie begleitet ihre Arbeitgeberin durch den Alltag und geht überall dort zur Hand, wo Unterstützung nötig ist. „So kann ich ein selbstbestimmtes Leben nach meinen eigenen Vorstellungen führen“, erklärt  Pichler im Gespräch.

Selbstbestimmung. Das Konzept der Persönlichen Assistenz entstand in den 1990er Jahren aus der „Selbstbestimmt Leben“-Bewegung. Die Betroffenen forderten endlich echte Gleichstellung und wollten traditionelle Formen der fremdbestimmten Behindertenhilfe überwinden. Betreuung lehnten sie insgesamt ab, weil sie sich von diesem Ansatz auf die Rolle von passiven  HilfsempfängerInnen reduziert fühlten. Ihr Anspruch war es, selbst zu entscheiden, wann, wo und durch wen sie Unterstützung bekamen. So entstand ein ganz neues Modell: Persönliche Assistenz. Bald entwickelten sich auch Formen, die Assistenz in der  Praxis zu organisieren. „Ich habe mich für das ArbeitgeberInnenmodell entschieden“, berichtet Pichler: „Meine Assistentinnen sind  direkt bei mir angestellt, ich bin also für alles selbst verantwortlich – vom Bewerbungsgespräch bis zur Abrechnung.“ Das bedeutet  natürlich einiges an Arbeit, denn Pichler hat insgesamt drei Assistentinnen. Da müssen Dienstpläne koordiniert, Bürokratie erledigt  und Sozialabgaben gezahlt werden.

Nicht alle Menschen wollen neben Beruf und Familie noch ein kleines Assistenzunternehmen führen. Deshalb gibt es Dienstleister,  die diese Aufgaben für ihre KundInnen übernehmen – zum Beispiel das Zentrum für Kompetenzen im dritten Wiener Gemeindebezirk. Wer dort Beratung sucht, trifft Angelika Pichler wieder. Sie arbeitet als sogenannte Peer-Beraterin. Das heißt, sie als behinderte Frau  berät andere behinderte Menschen in Sachen Persönliche Assistenz und darüber hinaus. „Wir helfen bei der Suche nach geeigneten  AssistentInnen, stehen bei etwaigen Schwierigkeiten zur Seite und erledigen die Abrechnung im Auftrag unserer KundInnen.  Außerdem sind die AssistentInnen nicht bei den ArbeitgeberInnen, sondern direkt beim Zentrum angestellt“, erklärt Pichler ihre  Arbeit.

Auch hier im Büro ist Angelika Pichler ständig in Begleitung ihrer Assistentinnen. Wenn sie einen Workshop hält, schreibt jemand für  sie das Flipchart. Wenn sie ihre Unterlagen ordnet, geht ihr jemand zur Hand. Und auch wenn sie nach getaner Arbeit nach  Hause fährt, ist die Assistentin immer mit dabei. „Es ist schon gewöhnungsbedürftig, ständig jemanden um sich herum zu haben,  zumal die Assistentin ja relativ viel über mich und mein Privatleben erfährt“, so Pichler. „Anwesend sein und sich trotzdem  unsichtbar machen“, ist deswegen eine Qualität, die sie bei ihren Assistentinnen besonders schätzt.

Lillian arbeitet schon seit mehr als einem halben Jahr bei Pichler. „Anfangs war ich sehr unsicher“, erzählt die Studentin und lächelt:  „Ich wusste nicht, wie sehr ich mich einbringen sollte, ob ich selbst entscheiden oder besser auf Anweisungen warten sollte.“  Pichler habe ihr aber alles ganz genau erklärt und daher fiel ihr das Einarbeiten nicht schwer.

Anleitung. AssistentInnen arbeiten ausschließlich auf Anleitung, das heißt, sie müssen weder selbst Entscheidungen treffen, noch  die Verantwortung für die ArbeitgeberIn übernehmen. Für Pichler ist dies ein wichtiger Punkt: „Ich will schließlich das machen  können, was für mich gerade passt und mich darin auch niemandem erklären müssen.“ Natürlich erfordere dieser Ansatz auch eine sehr gute Anleitungskompetenz, denn schließlich müsse der Assistentin in jedem Moment klar sein, was von ihr verlangt werde. Die Regelungen zur Finanzierung von Persönlicher Assistenz sind bislang in allen Bundesländern unterschiedlich. In Wien können die  Betroffenen seit 2008 die sogenannte „Pflegegeldergänzungsleistung für Persönliche Assistenz“ beim Fonds Soziales Wien  beantragen. Auf Basis einer Selbsteinschätzung wird dann der nötige Assistenzbedarf ermittelt und die entsprechende Geldleistung  bewilligt.

Über 180 Personen beziehen in Wien Persönliche Assistenz. „Verglichen damit, wie viele behinderte Menschen es gibt, ist das sehr  wenig“, so Pichler. In der Tat, denn alleine in der Hauptstadt gibt es rund 1500 behinderte Menschen, die in stationären  Einrichtungen ohnen und mit Persönlicher Assistenz vielleicht ein selbstbestimmtes  Leben führen könnten. Allerdings ist die  Bewilligung der Leistungen an einige Bedingungen geknüpft, zum Beispiel daran, dass an in einem privaten Haushalt lebt.  Ist eine  Person aber in einer Einrichtung  des Betreuten Wohnens untergebracht, kann sie – beispielsweise für Freizeitaktivitäten – keine Persönliche Assistenz beantragen. Dennoch ist die Situation in Wien, verglichen mit den anderen Bundesländern, noch gut: Dort leben nur eine Handvoll Menschen mit Assistenz. In Niederösterreich waren es 2010 rund 30, in Salzburg gar nur vier Personen. „Dabei wäre es sehr wichtig, die Assistenz auszubauen und jene Personengruppen einzubeziehen, die derzeit keinen Anspruch auf  die Leistungen haben“, meint Pichler.

Studijob. Lillian hat indes als Persönliche Assistentin den optimalen Nebenjob für sich gefunden. „Ich habe schon viel probiert, aber die Interaktion mit Menschen liegt mir einfach sehr.“ Früher hatte sie kaum Kontakt zu behinderten Menschen: „Jetzt aber habe   ich einen persönlichen Zugang zu dem Thema und weiß ansatzweise, wo die Probleme liegen.“ Außerdem könne sie die   Assistenz sehr gut mit ihrem Studium vereinbaren: „Man kann die Dienste an den eigenen Stundenplan anpassen und auch   entscheiden, ob man geringfügig oder voll angestellt sein möchte“, fügt sie hinzu. Und wie Menschen reagieren, wenn sie von ihrer  Arbeit erzählt? „Viele sagen: ‚Das könnte ich nicht‘, das hat mich verwundert. Aber sonst gibt es immer positive Reaktionen und  viele Fragen.“

Wenn du Interesse hast, als PersönlicheR AssistentIn zu arbeiten, melde dich  beim „Zentrum für Kompetenzen“ unter pa@zfk.at.