Blinde Flecken

  • 12.03.2014, 12:54

Behinderung ist heute kein vorrangig medizinisches oder technisches Problem mehr, sondern vor allem ein soziales. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung schweigen noch immer viele Studierende über ihre Beeinträchtigung.

Behinderung ist heute kein vorrangig medizinisches oder technisches Problem mehr, sondern vor allem ein soziales. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung schweigen noch immer viele Studierende über ihre Beeinträchtigung.

Als vor zwei Jahren die Campuserweiterung Science Park an der Johannes-Kepler-Universität Linz (JKU) eröffnete, fielen die ersten Hürden für Studierende mit Beeinträchtigung schnell auf. Nicht-genormte Stiegen und Glastüren ohne Kennzeichnung erschwerten sehbehinderten Menschen das Fortkommen. Der Haupteingang führte über Treppen und noch heute muss Silke Haider mit ihrem Rollstuhl den LieferantInneneingang benutzen, um ins Gebäude zu gelangen. Damals engagierte sie sich in der Österreichischen HochschülerInnenschaft auf der JKU für Barrierefreiheit. Sie erinnert sich gut: „Eine Vorab-Begehung wurde vom Institut Integriert Studieren eingefordert, aber immer wieder abgelehnt. Erst als auch die ÖH nicht locker ließ, kam es zu einer Besichtigung.“ Der Bau war jedoch bereits abgeschlossen und die Barrieren in Beton gegossen. Zur gleichen Zeit feierte Integriert Studieren sein 20-jähriges Bestehen an der Universität, Festschriften wurden verfasst und der Stellenwert des Instituts seitens der JKU immer wieder betont.

Diese Geschichte ist symptomatisch für die Situation von gesundheitlich beeinträchtigten Studierenden an Österreichs Universitäten. Gerne werden Institute und Projekte gegründet, die ihrerseits gute Arbeit leisten, jedoch ein enklavisches Dasein hüten und nur gelegentlich öffentlich in Szene gesetzt werden. Dabei ist das Linzer Institut sehr umtriebig und die Situation für Studierende mit Beeinträchtigungen an der JKU durchaus zufriedenstellend. Integriert Studieren ist Anlaufstelle für derzeit knapp 80 Studierende, die wegen ihrer funktionalen Einschränkung Unterstützung suchen. Außerdem wird dort zu integrativen Möglichkeiten neuer Technologien und des Internets im Bereich der Barrierefreiheit geforscht. Im Gespräch mit Andrea Petz, Mitarbeiterin am Institut, wird schnell klar, wo die Probleme im Umgang mit Barrierefreiheit an den Unis beginnen: „Eine Braillezeile ist in erster Linie ein technisches Hilfsmittel und bedeutet nicht gleich gelungene Integration“, so die Soziologin. Behinderung ist noch immer nicht im universitären Alltag angekommen, ihr Auftreten eine Irritation. Sie wird gesellschaftlich kaum thematisiert und ihre Bedeutung ist daher oft von der individuellen Interpretation abhängig.

Reden ist Silber, Verschweigen ist Gold. In einer vom Wissenschaftsministerium bundesweit durchgeführten Studie gab 2006 gut ein Fünftel aller Inskribierten an, eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu haben. Bei der Hälfte der Betroffenen wirkt sich diese negativ auf ihr Studium aus. Eine Zahl, die weit über den Schätzungen der Unis liegt. Aber nur wenige Betroffene greifen auf die Angebote der universitären Servicestellen zurück. „Das Verhalten ist diesbezüglich sehr unterschiedlich“, erklärt Andrea Petz. „Manche kommen vom ersten Tag ihres Studiums an regelmäßig. Andere erscheinen erst, wenn der Schuh schon unerträglich drückt.“ Eindrücke, die sich in der Sozialerhebung widerspiegeln: Die Offenlegung der eigenen Behinderung scheint eine Frage des Müssens und nicht des Wollens zu sein.

Silke Haider hatte diesbezüglich keine Wahl. Ein Rollstuhl lässt sich nicht verstecken. Es sind vor allem Sehbehinderte, Lernschwache oder chronisch Kranke, deren Einschränkungen nicht sofort sichtbar sind, die sich die Frage stellen, wie sie nach Außen mit ihrer Beeinträchtigung umgehen. Viele entscheiden sich für das Verschweigen, rücken nur im Anlassfall damit heraus und tragen somit oft ganz ungewollt zur Tabuisierung ihrer Situation bei. Mit technischer oder finanzieller Unterstützung ist zwar vielen geholfen, an ihrem sozialen Status ändert dies jedoch nur wenig. Zwar kann man – so ein Fazit des Spezial- Eurobarometers 2008 – den ÖsterreicherInnen keine behindertenfeindliche Einstellung nachsagen, aber: Nur weil kaum jemand mehr Probleme mit behinderten Menschen zu haben scheint, heißt das noch lange nicht, dass für diese keine mehr existieren.

Wie finden sehbehinderte Studierende ihren Hörsaal? Illustration: Simon Goritschnig

So stellt sich nicht nur die Frage, ob man akzeptiert wird, sondern auch wie. Erst vor kurzem machte die ORF-Journalistin Rosa Lyon diese Ambivalenz sichtbar. Sie vertrat bei einem Ö1-Gespräch den Standpunkt, dass Menschen mit Beeinträchtigung nur am geschützten Arbeitsmarkt eine Chance hätten, da sie nicht gewinnbringend angestellt werden könnten. Wer solche Aussagen hört, überlegt zweimal ob es wirklich notwendig ist, die eigenen Bedürfnisse zu thematisieren. Rücksicht wird allzu oft mit Schutzbedürftigkeit verwechselt und trägt zu einer Situation bei, in der man sich als BehinderteR erstmal von der restlichen Gesellschaft abgrenzen muss, um danach wieder integriert werden zu können. Es ist nicht die Rolle des selbstbestimmten Menschen, sondern jene des angewiesenen und hilfsbedürftigen Behinderten, die einem/einer angeboten wird. Ein Bild, das niemand gerne von sich hat. Doch die Hemmschwelle für eine Offenlegung von Beeinträchtigungen zu senken, liegt selbst für aktive Servicestellen außerhalb ihrer Möglichkeiten. Außerdem werden schon kleinen Schritten in Richtung Alltäglichkeit Steine in den Weg gelegt. Seit Langem setzt sich das Institut an der JKU Linz etwa dafür ein, dass ein Info-Beilage über ihr Angebot zusammen mit anderen Informationsmaterialien bei der Inskription verteilt wird, bis heute jedoch ohne Erfolg.

Service oder Survey? Auch die Wissenschaft hat sich der sozio-kulturellen Dimension der Integration lange verschlossen. Erst in den letzten Jahren erfreuen sich die Disability Studies wachsender Aufmerksamkeit. Die aufkommende Disziplin vernetzt sich dabei stark mit Forschenden anderer Disziplinen, die ebenso an einem kritischen Verständnis von Identität und Normativität ansetzen. Laut den Soziologen Robert Gugutzer und Werner Schneider entsteht Behinderung nicht durch den Körper, sondern in seinem sozialen Kontext. Die Frage, ab wann körperliche Variation als Behinderung gilt, ist daher eine kulturelle. Die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet ist deshalb von hoher Relevanz, weil die wenigsten Menschen auf persönliche Erfahrungen im Umgang mit Behinderung bauen können. Kulturell erlernte Handlungsroutinen, die ansonsten für einen reibungslosen Ablauf des Alltags sorgen, werden im Kontakt mit Behinderten oft zur Quelle des Unbehagens. Wie erklärt man etwa einem sehbehinderten Kommilitonen den Weg zum gesuchten Hörsaal? Der blinde Wissenschafter Siegfried Saerberg machte das Experiment und fragte PassantInnen nach dem Weg. Erklärungen wie „geradeaus“ oder „dort vorne“ sorgten in der Regel für die ersten Irritationen und so manche Erläuterung endete im Versuch, mit wilden Gesten die Auskunft zu verdeutlichen. Saerberg wollte mit seiner Studie vor allem eines aufzeigen: Solange Behinderung nicht im Alltag angekommen ist, fehlen uns schlichtweg die Konzepte, um ihr adäquat zu begegnen. Ihm den Weg so zu weisen, dass er es als sehbehindeter Mensch hätte verstehen können, das hat kaum jemand ad hoc geschafft. Entsprechende Routinen in der Gesellschaft zu verankern, ist ein Kraftakt, auf einfache Lösungen darf man dabei nicht hoffen.

Was bleibt, ist ein schwieriges Thema, das viele Problemfelder öffnet und kaum Lorbeeren abwirft. In Anbetracht der schon bestehenden Unterstützung stößt der Einwand, dass bloße technische oder finanzielle Hilfe nicht genug ist, und Integration mehr heißt, schnell auf Unverständnis. Im Zweifelsfall hilft eine Sozialberatung den Betroffenen oft mehr als eine Forschungsarbeit zur kulturellen Verortung von Behinderung in Auftrag zu geben. Aktivitäten im Zusammenhang mit Behinderung beschränken sich daher in der Regel auf sozial- und studienrechtliche Auskünfte und die barrierefreie Zugänglichkeit der Unis. Die Notwendigkeit dieser Angebote stellt niemand in Frage, nur verliert die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung daneben an Substanz. Sie bekämpfen die Symptome, lassen aber das Grundproblem unberührt. Dabei war das nicht immer so: Vor ein paar Jahren noch gab es in Österreich eine interuniversitäre Forschungs- und Projektplattform. Beteiligt waren neben der JKU auch die TU Wien, sowie die KFU Graz und die Universität Klagenfurt. Im Zuge der Universitätsreform 2002 wurden die Mittel für diese Initiativen von den nunmehr finanziell autonomen Universitäten jedoch gekürzt. Von den vierzehn Stellen am Linzer Institut Integriert Studieren sind heute gerade einmal drei Posten sicher finanziert. Der Rest läuft über Drittmittel. Von Seiten der Universität wird dabei stolz auf die Eigenständigkeit des Instituts verwiesen, der Umstand, dass es durch die prekäre Situation zu keinen österreichweiten Kooperationen mehr kommt, wird verschwiegen.

Ein alltägtlicher Kampf. Studierende mit einer Beeinträchtigung dürfen wohl kaum auf eine spontane Verbesserung hoffen. Ihren sozialen Status werden sie sich auch in Zukunft hart erkämpfen müssen. Im Alltag heißt dies: Man ist anders und dann doch wieder nicht. Alle Studierenden haben Ärger mit Prüfungen und doch brauchen jene mit Beeinträchtigung manchmal andere Bedingungen, um gleiche Chancen zu haben. Verheimlicht man die Behinderung, vergibt man die Möglichkeit, dem eigenen Potential gerecht zu werden. Macht man keinen Hehl daraus, muss man zuerst einmal gegen gesellschaftliche Klischees ankämpfen. Diese Ambivalenz prägt das Leben von behinderten Studierenden. Für eine bewusste Entscheidung zur eigenen Behinderung zu stehen, braucht es viel Selbstvertrauen, meint Silke Haider. In ihrer Schulzeit war sie immer die Andere, erst im Studium hatte sie genug davon. Ihre Arbeit in der Studierendenvertretung gab damals den Impuls zur Veränderung: Plötzlich stand nicht mehr der Rollstuhl im Fokus, sondern ihr politisches Engagement. Sich dafür zu entscheiden, nicht wieder in diese eine Ecke gedrängt zu werden, erfordert viel Ausdauer. Man stößt jeden Tag auf neue Barrieren. Viele davon können jedoch nicht am Gebäudeplan geortet und mit einer Rampe abgeschafft werden. Was bleibt sind die immateriellen Hürden. Sie wirken oft unbewusst und sind daher meist schwer zu benennen. Ihnen etwas entgegen zu setzen heißt Tag für Tag Vorurteile zu bekämpfen. Die Einsicht, dass es gemeinsam immer einfacher geht, würde auch die Arbeit von Andrea Petz erheblich erleichtern. Sie hofft auf den Tag, an dem das Entgegenkommen selbstverständlich und die Auskunft über rechtliche Bestimmungen im Telefonat obsolet wird. Die Integration von beeinträchtigten Studierenden kann nur dann ihrem Anspruch gerecht werden, wenn sie gesellschaftlich von einer Frage des Müssens zu einer Frage des Wollens avanciert.

Lukas Kaindlstorfer studiert Soziologie an der Uni Wien.

Die Broschüre „Barrierefrei Studieren” mit Informationen zum Studienrecht (besondere Prüfungsmodalitäten, Erlass der Studiengebühren), Beihilfen, Anlaufstellen, u.v.m. zum Download unter oeh.ac.at/Downloads & Bestellen

Beratungsangebot und Vernetzungsmöglichkeit an der ÖH: Referat für Menschenrechte und Gesellschaft (mere@oeh.ac.at

AutorInnen: Lukas Kaindlstorfer