Asyl

Verleitung zum Aufstand

  • 12.03.2013, 18:48

Michael Genners Autobiografie „Verleitung zum Aufstand“ lässt tief in das Leben eines Antirassimus-Aktivisten in Österreich blicken. Eine Rezension.

Michael Genners Autobiografie „Verleitung zum Aufstand“ lässt tief in das Leben eines Antirassimus-Aktivisten in Österreich blicken. Eine Rezension.

Michael Genners Leben ist von politischem Engagement, dem Kampf für Menschenrechte und eine bessere Gesellschaft gekennzeichnet. Der heute 64-jährige Obmann des Vereins „Asyl in Not“ ist jedoch – im Gegensatz zu vielen ProtagonistInnen der 68er-Generation – seinen Grundsätzen stets treu geblieben. Dementsprechend trägt seine Autobiografie den politisch programmatischen Titel „Verleitung zum Aufstand. Ein Versuch über Widerstand und Antirassismus“.  Als Sohn des kommunistischen Widerstandskämpfers Laurenz Genner und der Halbjüdin und Ärztin Lily Genner hatte er von Kindesbeinen an einen kritischen Blick auf die postnazistische österreichische Gesellschaft entwickelt. Im ersten Drittel des Buchs beschreibt Michael Genner sein politisches Engagement in seiner Zeit als Student sowie seine Differenzen mit der SPÖ und Bruno Kreisky. Den Schwerpunkt bildet allerdings sein Engagement bei der Gruppe „Spartakus“, mit der er in den „Heimkampagnen“ gegen die Zustände in den damaligen Erziehungsheimen kämpfte. Seine Darstellungen verdeutlichen die damals praktizierten autoritären Erziehungsmethoden und den gewalttätigen Missbrauch Heimzöglingen. Eine Thematik, die 2011 und 2012 in den österreichischen Medien als „Missbrauchsskandal“ nochmals thematisiert wurde. Doch die Aktionen von „Spartakus“ führten zu einer Kriminalisierung der AktivistInnen durch die Behörden, die unter anderem eine Verbindung zur Roten Armee Fraktion in Deutschland konstruierten. 1972 verließen Genner und andere Mitglieder der Gruppe aus diesem Grund Österreich und schlossen sich in Schweiz der Longo-Mai-Bewegung an. Über diesen Lebensabschnitt reflektiert Michael Genner in seinem Buch überaus selbstkritisch, er bezeichnet ihn als verlorene Zeit. Er thematisiert die autoritäre Führung sowie die Frauenfeindlichkeit und den psychischen Druck der Bewegung. Leider geht er dabei nicht ins Detail, sondern verweist auf einen Aufsatz in einem Sammelband. Es wäre jedoch gerade für jüngere LeserInnen interessant gewesen, den Inhalt des Aufsatzes auch in der Autobiografie zu lesen, da die Longo-Mai-Bewegung vielen unbekannt ist. Sein politisches Leben bis zum Jahr 1989 beendet Genner mit dem Kapitel „Ganz unten“, in dem er auf einer halben Seite auf sein Privatleben eingeht und von seiner gescheiterten Ehe und seinem Kind berichtet.

Die anschließenden zwei Drittel von Genners Autobigrafie umfassen sein Engagement für Flüchtlinge, das er nicht als karikative, sondern politische Arbeit betrachtet. Dieses begann 1989 mit der Blockade einiger Flugzeuge voll mit kurdischen Flüchtlingen und bestimmt bis heute sein Leben. Detailliert beschreibt er die sukzessive über die Jahre sich verschärfende Asylpolitik, die 1992 mit der Beendigung des Grundrechts auf Asyl einsetzte. 1993 trat Michael Genner unter dem Innenminister Franz Löschnak und dessen Juristen Manfred Matzka seinen Dienst als Rechtsberater beim „Unterstützungskomitee für politisch verfolgte Ausländer“, dem jetzigen Verein „Asyl in Not“ an. Er beschreibt, wie die unter Löschnak beschlossenen Gesetze Tausende von GastarbeiterInnen zu Illegalen machten und Flüchtlinge im Zuge des gesellschaftlichen Rechtsrucks zu AsylantInnen wurden. Als Rechtsberater hat Michael Genner in den vergangenen Jahren Tausende von Flüchtlingen juristisch betreut und an deren Schicksal Anteil genommen. Einige stellt er in seiner Autobiografie dar, die den LeserInnen die Willkür der BeamtInnen und die unmenschliche Behandlung der AsylwerberInnen vor Augen führen. Auch das jahrelange Warten auf die Anerkennung als Flüchtling wird von ihm eindringlich thematisiert. Besonders berührend ist das Schicksal zweier AfrikanerInnen aus der Republik Kongo, deren Asylanträge trotz Vergewaltigung und Folter zunächst abgelehnt wurden. Auch die Zurückweisung des Asylstatus von afghanischen Frauen während des Taliban-Regimes dürfte den meisten LeserInnen unbekannt sein. Bei all diesen Darstellungen zeigt Genner den Zynismus der Behörden und die Unmenschlichkeit der Asylgesetzgebung auf. Auch die Missstände der letzten Jahre werden dabei nicht ausgeklammert. Genner thematisiert die unter den Innenminister Ernst Strasser eingeführte „Dublin-Verordnung“ ebenso wie die von dessen Nachfolgerin Liese Prokop beschlossene Schubhaft-Verordnung. Auch die Folterung des gambischen Flüchtlings Bakary J. durch Fremdenpolizisten und der Tod von Marcus Omofuma und Seibane Wague werden von ihm dargestellt. Am Ende seines nach eigenen Worten „autobiografischen Berichts“ hofft Michael Genner, mit seinem Buch gezeigt zu haben, dass sich der Widerstand lohnt. Dies ist ihm als politischen Aktivisten und profunden Kenner der Flüchtlingsthematik eindeutig gelungen. Fazit: Für alle Menschen, die sich für die Geschichte der Linken und der Flüchtlinge in Österreich interessieren, ist Michael Genners Autobiografie „Verleitung zum Aufstand“ eine Pflichtlektüre, die das politische Bewusstsein gegenüber den Widrigkeiten deutlich erweitert.

Michael Genner, Verleitung zum Aufstand. Ein Versuch über Widerstand und Antirassismus, Mandelbaum kritik & utopie, 2012, 255 S., 20,-- Euro (10 Euro gehen an Asyl in Not, 10 Euro an den Verlag)

Termin:

Buchpräsentation und Podiumsdiskussion mit Michael Genner und Susanne Scholl in der Hauptbücherei am Gürtel 1070 Wien, Urban-Loritz Platz 2a, 3. Stock am Freitag, den 22. März 2013, 19 Uhr.

Das Buch kann bei Asyl in Not bestellt werden: office@asyl-in-not.org Es kostet dann 20.- Euro plus 4.- Euro für den Versand. Selbstabholung um 20.- Euro (davon gehen 10.- an Asyl in Not, 10.-. an den Verlag) bei Asyl in Not im WUK (1090 Wien, Währingerstraße 59) oder im WUK-Infobüro.

Links:

www.asyl-in-not.org

Audiointerview mit Michael Genner zu seiner über sein Engagement.

Brücken statt Stacheldraht

  • 13.02.2013, 17:30

Klaus Schwertner: "Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es ird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben."

progress: Wann wären die Proteste in der Votivkirche aus Sicht der Caritas ein Erfolg?

Klaus Schwertner: Durch ihren Protest haben die Flüchtlinge schon sehr viel erreicht: Sie haben sichtbar gemacht, dass es  grundsätzliche Probleme in den Unterkünften und im Verfahren gibt. Erstmals treten AsylwerberInnen in einer breiten Öffentlichkeit selber für ihre Anliegen ein. Menschenrechte gelten für alle, das vermitteln sie eindrucksvoll. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass  wir in einem Rechtsstaat leben, das heißt nicht jedeR die oder der Asyl beantragt, wird auch Asyl erhalten. Die PolitikerInnen könnten zwei Dinge von den Flüchtlingen lernen: mehr Menschlichkeit und mehr Mut. Eine Lösung für die Flüchtlinge in der Votivkirche ist eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.

Warum hat sich aus der Bundesregierung niemand in die Kirche begeben? Oder der Bundespräsident, der sich auch
für Arigona Zogaj stark gemacht hat?

 
Das müssen Sie die PolitikerInnen selbst fragen. Es gab in der Kirche Gespräche mit Kardinal Schönborn und mit Othmar Karas, dem Vize-Präsidenten des Europaparlaments. Aber es ist nicht so wichtig, wo ein Dialog stattfindet, sondern dass ein Dialog stattfindet. Die Innenministerin hat Anfang Jänner vier Flüchtlinge, die in der Votivkirche Schutz suchen, empfangen. Dabei hat sie zwei Stunden lang mit ihnen gesprochen und faire Verfahren versprochen – aber auch betont, dass es keine strukturellen Änderungen im  Asylrecht geben werde.

Welche gesetzlichen Änderungen braucht es aus Ihrer Sicht?

Es ist nicht alles schlecht und nicht alles gut im österreichischen Asylwesen. Wenn man sich die Verhältnisse in Griechenland anschaut, stehen wir hier nicht so schlecht da. Trotzdem sollte Europa gemeinsam Brücken bauen, anstatt Stacheldrähte hochzuziehen. Österreich braucht rasche, qualitätsvolle Asylverfahren. In acht von neun Bundesländern gibt es baufällige, schimmlige Quartiere. Da brauchen wir Mindeststandards: Es geht nicht um Hotels mit drei Sternen, sondern um menschenwürdiges Wohnen. Wir brauchen eine einheitliche Beurteilung der Gefahren in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Es mutet eigenartig an, dass auf der Homepage des Außenministeriums Reisewarnungen der höchsten Sicherheitsstufe für Pakistan ausgesprochen werden, aber die Flüchtlinge aus diesen Regionen möglicherweise dorthin zurück müssen.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass im Asyl- und Fremdenrecht seit 20 Jahren eine Verschärfung die andere jagt.

Unzählige Novellen haben dazu geführt, dass die Qualität der Gesetze immer schlechter geworden ist. Durch die Schaffung des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration sollte es aber hier dringend notwendige Verbesserungen geben. In den letzten Jahren hat  sich einiges zum Positiven verändert. Aber auf der einen Seite wirft man Flüchtlingen oft vor, dass sie viel Steuergeld kosten, und auf der anderen Seite lässt man sie nicht arbeiten – das ist zynisch. Die aktuelle Regelung erlaubt nur Saisonarbeit bei der Ernte. AsylwerberInnen dürften Gurkerl ernten, aber aufgrund der Einschränkung der Bewegungsfreiheit dürfen sie oft nicht dort hin, wo  die Gurkerl sind.

Haben sich SPÖ und ÖVP in der Frage der Rechte von MigrantInnen zu lange von der FPÖ treiben lassen?

Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es wird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben. Menschen, die sich fünf Jahre in Österreich aufhalten, drei davon legal, bekommen einen Rechtsanspruch auf humanitäres Bleiberecht. Abschiebungen von Kindern mit Sturmgewehren, Familien, die auseinandergerissen werden: Diese Zustände müssen in Österreich ein Ende haben und ich bin  guten Mutes, dass uns das gelingt. Es braucht klare Gesetze und Menschlichkeit.

Was das Herz berührt

  • 13.02.2013, 17:17

Alexander Pollak (SOS Mitmensch): "Dass Flüchtlinge vor Medien für sich selbst sprechen, ist auch neu. Symbolisch ist der aktuelle Protest kaum zu übertreffen. Die politischen Erwartungen muss man davon trennen."

progress: Wie hat sich das politische Klima für Menschenrechte in den letzten 20 Jahren entwickelt? Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen 1993 und 2013?

Alexander Pollak: Zum Einen hat sich verändert, wer die Debatte führt. Die Zivilgesellschaft hat mehr Gewicht bekommen, es gibt mehr Organisationen, die sich individuell und politisch für Flüchtlinge engagieren. Es kommen immer wieder Impulse von der EU,  die in Österreich umgesetzt werden müssen. Ich denke an die Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen vor zehn Jahren. Neu sind die Herkunftsländer der Flüchtlinge: AsylwerberInnen aus Afrika und Asien, die sich mit den restriktiven Regelungen  herumschlagen müssen, haben wir erst seit den letzten Jahren. Verändert hat sich auch die Wahrnehmung der FPÖ: Sie ist zu einem  Teil der Normalität geworden. Vor 20 Jahren war die Empörung über die Hetze der FPÖ noch größer.

Der Journalist Peter Huemer hat bei der Matinee zur 20-Jahr-Feier des Lichtermeers die Frage in den Raum gestellt, ob man nicht  mindestens so massiv gegen SPÖ und ÖVP protestieren müsste, die Haider und jetzt auch Strache immer wieder nachgegeben  haben. Wie sehen Sie das?

Unsere politische Arbeit richtet sich in erster Linie an die Regierung, also beispielsweise an den Sozialminister, wenn es um ein Recht auf Arbeit für AsylwerberInnen geht, oder an die Innenministerin, wenn es etwa um unzulässige Härten in Asylverfahren geht. Die FPÖ nimmt vor allem eine Rolle wahr: Den Diskurs immer wieder aus einer menschenfeindlichen Perspektive anzuheizen.

Hat  sich die politische Mitte durch diesen Anti- Migrations-Diskurs verschoben?

Es gibt eine gewisse Verschiebung. Aber diese ist nicht eindimensional. Eine negative Verschiebung sehe ich, was die Bereitschaft betrifft, menschenfreundliche Reformen anzugehen. Aber ich sehe auch positive Verschiebungen: Vor 20 Jahren gab es kaum  Dorfgemeinschaften und BürgermeisterInnen, die sich für Asylsuchende stark gemacht haben.

Welche Strategien gibt es gegen die angesprochene Abstumpfung gegenüber dem Thema Asyl?

Menschen sind leichter für Mitleid als für konkrete rechtliche Anliegen zu gewinnen. Viele haben Probleme damit, wenn Flüchtlinge plötzlich beginnen, Forderungen zu stellen und sich selbst zu artikulieren, wie das in der Votivkirche passiert. Unsere Kampagnen richten sich nicht primär danach aus, ob Mitleid erregt werde kann, etwa weil Kinder betroffen sind, oder nicht. Aber alles, was das  Herz berührt, hat größere Chancen, wahrgenommen zu werden und Engagement zu wecken. Dieser Logik kann sich niemand ganz  entziehen.

Was ist das Neue an den Protesten in der Votivkirche?

Dass eine Innenministerin Flüchtlinge empfängt, ist auf jeden Fall neu. Dass Flüchtlinge vor Medien für sich selbst sprechen, ist auch neu. Symbolisch ist der aktuelle Protest kaum zu übertreffen. Die politischen Erwartungen muss man davon trennen. Ich glaube nicht an Erfolge von heute auf morgen. Regierungen lassen sich ungern von außen zu Änderungen zwingen. Allerdings sind Verbesserungen im Asylbereich dringend nötig. Positive Reformen weiter hinauszuschieben, ist keine gute Idee.

Was hindert die Regierungsparteien daran, für zumutbare Bedingungen für Flüchtlinge zu sorgen?

Inoffiziell hören wir aus der SPÖ und auch aus der ÖVP immer wieder, dass sie unsere Anliegen unterstützen. Aber die Ängstlichkeit der Regierungsparteien vor der FPÖ und dem Boulevard verhindert Verbesserungen. Diese Angst macht aber gerade die FPÖ nicht schwächer, sondern gibt ihr immer wieder neue Nahrung. Wenn die Regierungen der letzten 20 Jahre konsequenter eine Linie für  Menschenrechte eingenommen hätten, wäre die FPÖ um nichts stärker, sondern eher schwächer, als sie heute ist.

Keine Frage des Könnens

  • 13.02.2013, 17:12

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer, Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer,  Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

Es war die größte politische Kundgebung, die Österreich je gesehen hatte und bis heute gesehen hat. 300.000 Menschen demonstrierten am 23. Februar 1993 am und um den Wiener Heldenplatz. Keinen halben Kilometer Luftlinie weiter frieren und hungern im Winter 2013 AsylwerberInnen in der Wiener Votivkirche. Sie finden die Lebensumstände in den Asyllagern nicht mehr  zumutbar und ihre Position aussichtslos.

Rückblende. Anfang der 1990er-Jahre scheint der Aufstieg der FPÖ kaum zu stoppen. Jörg Haider ist seit sechs Jahren Obmann der größten Oppositionspartei, er nennt SPÖ-Innenminister Franz Löschnak „meinen besten Mann in der Regierung“. Trotz interner  Widerstände setzt Haider  das sogenannte „Ausländervolksbegehren“ durch. Es beinhaltet gezielte Tabubrüche wie die Verknüpfung eines Zuwanderungsstopps mit der Arbeitslosenquote und eine „Ausländerquote“ in Schulklassen. Der liberale Flügel der FPÖ bricht nach dem Volksbegehren weg, fünf Abgeordnete um Heide Schmidt gründen das Liberale Forum (LIF). Den Takt in der  Fremdenpolitik gibt die FPÖ trotzdem weiter vor. 20 Jahre später ziehen zwei Protagonisten der Menschenrechtsbewegung von heute  ein vorläufiges Resümee. progress hat Caritas-Pressesprecher Klaus Schwertner und SOS-Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak getroffen und mit ihnen über das raue Klima in der österreichischen Menschenrechtspolitik und die Perspektiven des Protests in der Wiener Votivkirche gesprochen und dabei unterschiedliche Einschätzungen gefunden, was Flüchtlinge in Österreich in den kommenden Jahren erwartet.

Weiterlesen: Interview mit Alexander Pollak (SOS Mitmensch)

Weiterlesen: Interview mit Klaus Schwertner (Caritas)

Minderjährig, allein und auf der Flucht

  • 23.12.2012, 19:24

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

„Mein Zimmer aufräumen und mich mit Freunden treffen“, antwortet Amel* auf die Frage, was sie an diesem Samstag noch vorhat. Aus der Küche strömt der Geruch von gebratenen Zwiebeln, laute Popmusik dröhnt durch den Gang. Ein paar Jugendliche sind gerade damit beschäftigt, das gemeinsame Essen vorzubereiten. Im angrenzenden Aufenthaltsraum tippt ein Mädchen auf der Tastatur eines Laptops, ein anderes malt ein Bild. Doch bereits beim Betreten des Hauses in der Braunspergengasse im zehnten Wiener Gemeindebezirk wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Wohngemeinschaft für Jugendliche handelt. Eine weiße Kamera, die vor dem Eingang montiert ist, überwacht das Geschehen vor dem Gebäude. Bevor der Portier das Öffnungssignal für die Haustüre freigibt, nimmt er eine Gesichtskontrolle vor.

Seit 2005 befindet sich in diesem Haus die WG Refugio, eine Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), die von der Caritas betreut wird. Hier finden Jugendliche, die zumeist auf sich allein gestellt aus unterschiedlichen Krisenregionen der Welt nach Österreich gekommen sind, bis zur Volljährigkeit ein neues Zuhause. Eine von ihnen ist die 16-jährige Amel, die mit ihren beiden Brüdern aus Afghanistan geflüchtet ist. Seit einem halben Jahr leben alle drei in der Wohngemeinschaft. Amel trägt ein lockeres Kopftuch aus durchsichtigem Stoff, ihre langen schwarzen Haare sind zu einem losen Zopf zusammengebunden. Trotz der kalten Jahreszeit trägt sie türkise Flipflops aus Plastik.

Taliban-Terror. Beim Reden löst sich eine Seite des Kopftuches immer wieder und fällt auf ihre rechte Schulter. Amel rückt es behutsam zurecht. „Für die Taliban sind wir keine richtigen Moslems, weil meine Mutter als Krankenschwester gearbeitet hat und ich zur Schule gehen durfte“, sagt sie. „Die Taliban wollen, dass sich die Mädchen fürchten und das Haus nicht verlassen.“ Sie  verschränkt ihre Arme, schlägt ihre Beine übereinander und erzählt, dass sie gemeinsam mit Freundinnen auf dem Heimweg von der Schule war, als zwei Personen auf Motorrädern neben ihnen Halt machten. Sie begannen Flüssigkeit auf die Mädchen zu spritzen. Im ersten Moment dachte Amel, es sei ein Jungenstreich und man wolle sie mit Wasser necken. Doch dann sah sie überall Blut, ihre  Haare und Teile ihres Körpers brannten.

Seit diesem Tag wagte auch sie es nicht mehr, in die Schule zu gehen. Während Amel von ihrem Heimatland erzählt, gerät ihr Redefluss immer wieder kurz ins Stocken. Ihr Blick ist dann suchend und ihr Mund formt sich zu einem schüchternen Lächeln. „Es  tut mir leid, aber manchmal vergesse ich Dinge auch einfach“, sagt sie. Das Regime der Taliban beschreibt Amel als ein  gnadenloses, gegen das Polizei und Regierung machtlos sind. Angst und Terror sind täglicher Begleiter der meisten AfghanInnen. Amels Vater war als Geschäftsmann in der Holzindustrie tätig und arbeitete mit den AmerikanerInnen zusammen. Die Taliban haben ihn und einen ihrer Brüder getötet. Kurz darauf ist ihre Mutter nach Europa geflüchtet, wo sie sich heute aufhält, weiß niemand. Da ihre Brüder den ganzen Tag arbeiteten, war Amel ab diesem Zeitpunkt immer alleine zu Hause. Die Angst, getötet oder entführt zu werden, war allgegenwärtig.

Wenig später half ein Onkel, der in Kabul lebt, die restlichen Habseligkeiten der Familie zu verkaufen, um an Geld für eine Flucht zu kommen. Wie lange diese tatsächlich gedauert hat, weiß Amel nicht mehr. „Ich denke es waren drei bis vier Monate, aber ich bin mir nicht sicher. Wir haben in dieser Zeit nicht darüber nachgedacht, wie lange wir schon unterwegs sind. Wir haben einfach nur  gebetet“, sagt Amel.

So wie Amel und ihren Brüdern geht es vielen. Im Jahr 2011 haben laut Angaben des Bundesministeriums für Inneres (BMI) mehr als 1100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Österreich erreicht. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, Pakistan und  Somalia. Die Jugendlichen fliehen vor Krieg, Verfolgung, Hunger oder Vertreibung. Im Jahr 2012 wurde bis September bereits jeder zehnte Asylantrag in Österreich von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gestellt. „Das sind alles Überlebende, die es  hierher schaffen“, sagt Elina Smolinski, Betreuerin in der WG Refugio. Gerade Jugendliche seien in einer sehr verletzlichen Situation,  wenn sie alleine unterwegs sind – besonders die Mädchen. Bis sie es nach Österreich schaffen, sind sie oft monatelang unterwegs.

Doch was im Moment fehlt, sind ausreichend geeignete Unterbringungsplätze für die Jugendlichen. Zwar hat sich die Situation für  unbegleitete Minderjährige laut Smolinski seit der Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen im Jahr 2004 verbessert, das Problem sei aber, dass es in den vergangenen Jahren immer Schwankungen gegeben habe. Darum ist es auch nie vorhersehbar,  wie viele Plätze benötigt werden.

Erstaufnahme. In der WG Refugio leben momentan acht Mädchen und acht Jungen. Alle besuchen Deutschkurse oder Schulen.  Früher hatte die Caritas zwei Wohngemeinschaften in Wien, eine musste jedoch geschlossen werden, weil Wien die Quotenplätze   übererfüllt hat. „Dass die Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht einmal annähernd ausreichend sind, sieht man an der momentanen Situation in Traiskirchen“, sagt Smolinski. Dorthin kommen die Jugendlichen, bevor sie an die Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgeteilt werden. Im Moment müssen in Traiskirchen über 500 unter 18-Jährige ausharren,  ohne Zugang zu sozialpädagogischer oder psychologischer Betreuung. Darunter auch unter 14-Jährige, obwohl der  Grundversorgungs- Koordinationsrat im Dezember 2011 festgehalten hat, dass unbegleitete Flüchtlinge unter 14 Jahren nicht in die Erstaufnahmezentren Traiskirchen oder Thalham überstellt werden sollten. Stattdessen sollen sie in Heimen oder Wohngemeinschaften in jenem Bundesland untergebracht werden, in dem sie angehalten wurden und die von den dort ansässigen Jugendwohlfahrtsträgern betrieben werden.

Auch Amel hat drei Monate in Traiskirchen verbracht. Eine Zeit, an die sie sich nicht gerne zurückerinnert, denn „Traiskirchen ist hart.“ Sie erzählt von überbelegten Zimmern, Konflikten mit anderen Flüchtlingen, zu wenig Essen und einer unzureichenden medizinischen Versorgung.

Fremdbestimmtes Alter. Außerdem wurde für Amel in Traiskirchen ein neues Geburtsdatum festgelegt. Nach einer Reihe medizinischer Untersuchungen wurde ihr Alter auf 16 Jahre angesetzt. Laut eigenen Angaben ist sie erst 15. Trotzdem respektiert sie die Entscheidung: „Mir ist es egal, ob ich 15, 16, 17 oder 18 Jahre alt bin, solange ich hier die Möglichkeit bekomme, ein gutes Leben zu führen“, sagt sie und erzählt, dass sie selbst viele Menschen in Österreich viel jünger schätzt. „In Afghanistan arbeiten Kinder schon im Alter von acht Jahren, darum sehen sie im Gesicht auch viel älter aus.“

Smolinski erzählt, dass die Altersbegutachtung für die Jugendlichen eine große Belastung sei. „Sie erleben das als sehr einschüchternd. Es manifestiert sich dadurch, dass ihnen nicht geglaubt wird.“ Außerdem sei es für einen jungen Menschen, der  viele Veränderungen durchgemacht hat und auf der Suche nach seiner Identität ist, verunsichernd, wenn vom Staat ein neues Geburtsdatum festgelegt werde. Auch Herbert Langthaler von der Asylkoordination Österreich stellt die Brauchbarkeit der Methode  in Frage und zweifelt an ihrer ethischen Vertretbarkeit. „Wir haben mehrmals vorgeschlagen, dass in diese rein medizinische, physische Untersuchung auch soziale, gesundheitliche und psychologische Aspekte hineingebracht werden“, sagt Langthaler. Eine Volljährigkeitserklärung hat zudem erhebliche Konsequenzen für eineN MinderjährigeN. Beispielsweise darf er/sie nicht mehr in  einer Betreuungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wohnen. Viele müssen dann ihre Ausbildung abbrechen und werden in abgelegene AsylwerberInnenheim überstellt, wo es keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.

Kein Schutz. Obwohl unbegleitete minderjährige Flüchtlinge rechtlich besser gestellt sind und besser betreut werden, stehen die Chancen auf permanentes Asyl schlecht. Bislang wurde ihnen zumeist ein subsidiärer Schutz gewährt, eine Art zeitlich befristetesAsyl, um das immer wieder neu angesucht werden muss. Doch auch dieses wird laut Langthaler in letzter Zeit immer seltener ausgestellt. Abschiebungen nach Afghanistan oder Somalia können aber nicht durchgeführt werden, weil die Botschaftenkeine Heimreisezertifikate ausstellen. Die Folge ist, dass die Flüchtlinge schlecht versorgt und ohne Chance auf eine Arbeit oder eine andere Beschäftigung in Österreich bleiben. Auch Amel hat bereits ihren Antrag auf Asyl eingereicht, bisher aber keine Antwort bekommen. Eigentlich müsste das Bundesasylamt innerhalb der ersten sechs Monate eine Entscheidung treffen. Diese Frist wird laut Smolinski aber kaum eingehalten.

Durchschnittlich beträgt die Wartezeit auf die erste Entscheidung ein bis zwei Jahre, sie mündet meist direkt in ein Berufungsverfahren. Bis das Verfahren abgeschlossen ist, sind die meisten Flüchtlinge, die als Minderjährige nach Österreich gekommen sind, bereits volljährig. Die lange Wartezeit schürt die Ängste der Jugendlichen. „Ich habe Angst, aus dem Land geworfen zu werden und dann zu sterben oder an einen 60-jährigen Mann verkauft zu werden“, sagt Amel.

Zwei Klassen. Neben den lang andauernden Verfahren gibt es auch bei der finanziellen Unterstützung Handlungsbedarf. Die Tagsätze für die Betreuung und die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wurde seit dem Jahr 2004 nicht angehoben. Für Smolinski existiert zwischen österreichischen Jugendlichen ohne Eltern und unbegleiteten minderjährigen  Flüchtlingen noch immer eine Ungleichbehandlung. „Da gibt es klar eine Zweiklassengesellschaft“, so Smolinski. Das bestimme auch den Alltag der Jugendlichen, denn sie leben an der Armutsgrenze. Doch kein Grund für Amel, den Mut zu verlieren. Trotz allem sagt sie: „Das Leben ist so schön. Für mich ist es hier, als würde ich eine neue Familie bekommen.“

*Name von der Redaktion geändert.

Die Autorin Elisabeth Mittendorfer ist freie Journalistin in Wien.

Nerven wie Stahlseile

  • 21.09.2012, 11:45

Judith Ruderstaller von Asyl in Not vertritt Mike A. vor dem Bundesasylamt. Über die unglaubliche Verwechslung der Behörden von Dominica, der Dominikanischen Republik, Haiti und Nigeria und den ganz normalen Wahnsinn der österreichischen Asylpolitik.

Judith Ruderstaller von Asyl in Not vertritt Mike A. vor dem Bundesasylamt. Über die unglaubliche Verwechslung der Behörden von Dominica, der Dominikanischen Republik, Haiti und Nigeria und den ganz normalen Wahnsinn der österreichischen Asylpolitik.

AsylwerberInnen haben es in Österreich schwer, von den Asylbehörden für glaubhaft gehalten zu werden. Zu oft werden ihre Angaben nach europäischen Maßstäben gemessen und zu oft werden sie - infiltriert von xenophobem Gedankengut - von vornherein als AsylbetrügerInnen eingestuft, die erst einmal beweisen müssen, dass sie „echte“ Flüchtlinge sind. Unter anderem geht das sogar so weit, dass die Staatsangehörigkeit mangels Beweisbarkeit angezweifelt wird, oft auf Grundlage völliger Ignoranz der entscheidenden BeamtInnen. So ergeht es auch Mike A. – und das bereits seit zwei Jahren.

A. wurde in Haiti geboren. Als er ein Kleinkind war, trennten sich seine Eltern und er kam nach Dominica, einer karibischen Insel. 2009 besuchte er mit seiner Mutter Haiti, um seinen Vater wiederzusehen - seine Mutter überlebte das Erdbeben Anfang 2010 jedoch nicht, und so flüchtete Mike alleine nach Österreich.

VERWECHSLUNG. In Österreich gab er korrekt an, er sei in Haiti geboren und in Dominica aufgewachsen. Welche Staatsbürgerschaft er habe, also ob Haiti oder Dominica, sei ihm nicht bekannt, seine Mutter habe sich immer um Behördenangelegenheiten gekümmert. Er spreche Englisch, etwas Kreolisch und etwas Französisch. Aus Dominica wurde mangels Kenntnis der Existenz dieser Insel im Asylsystem die Dominikanische Republik. Das weitere Verfahren lässt sich wie folgt kurz zusammenfassen:

Bundesasylamt (BAA): Sie kommen also aus der Dominikanischen Republik. Wie kommt es, dass sie kein Spanisch sprechen?
A.: Ich komme aus Dominica, dort spricht man Englisch und Kreolisch.
BAA: Nein, in der Dominikanischen Republik spricht man Spanisch - Sie sind unglaubwürdig, wir machen eine Sprachanalyse.

Eine Sprachanalyse wurde durchgeführt, das Ergebnis: Nigeria! A. war fassungslos über seine neu gewonnene Herkunft, erhielt einen negativen Bescheid, weil ihm ja in Nigeria keine Gefahr droht und er soll nach Nigeria ausgewiesen werden. Asyl in Not, vertreten durch mich selbst, verfasste eine Beschwerde und versuchte das Missverständnis rund um Dominica und die Dominikanische Republik aufzuklären. Das Ergebnis: Keine Chance. Der Bescheid des BAA wurde bestätigt.

MISSVERSTÄNDNISSE. A. kam in Schubhaft: In der Verhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat Burgenland kam es trotz vorheriger Thematisierung des Missverständnisses erneut zu denselben Problemen: Wieder übersetzte die Dolmetscherin „Dominica“ als „Dominikanische Republik“, wieder musste dies korrigiert werden. Am nächsten Tag gab es - was ausschlaggebend für den Ausgang des Schubhaftverfahrens war - einen Termin bei
der nigerianischen Botschaft. Dort stand bald fest: A. kommt nicht aus Nigeria, sondern habe einen „rastafarian“ Akzent - kommt also aus der Karibik. Er wurde freigelassen, weil die nigerianische Botschaft empfahl, sich „an den tatsächlichen Herkunftsstaat“ zu wenden. Nachdem trotz allem noch immer eine Ausweisung nach Nigeria rechtlich im Raum stand und die Gründe für das Verlassen von Dominica beziehungsweise Haiti nicht geklärt wurden, ebenso wenig wie die tatsächliche Staatsangehörigkeit, stellte Asyl in Not einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Dem Antrag wurde stattgegeben, das Verfahren wurde beim Bundesasylamt Eisenstadt fortgesetzt - mit dem klaren Auftrag des Asylgerichtshofs, man möge doch endlich seinen tatsächlichen Herkunftsstaat ermitteln, da es Nigeria offenkundig nicht sei.
Aber erneut scheint das Bundesasylamt uneinsichtig: Bei der Befragung im März 2012 wurde die Qualifikation der MitarbeiterInnen der nigerianischen Botschaft angezweifelt - diese könnten doch im Gegensatz zum Sprachgutachter nicht zum Ergebnis kommen, dass er nicht aus Nigeria stamme.
Wie lange A. noch auf eine Entscheidung warten muss, wird sich noch weisen.

ENDLOSSCHLEIFE. So steckt die österreichische Asylpolitik in einer Endlosschleife; Tag für Tag „Österreich sucht den Superflüchtling“: Die zuständigen Behörden scheinen sich darin überbieten zu wollen, durch fadenscheinige Argumente Anträge abzuweisen. Oft wird argumentiert, der „echte“ Flüchtling würde ja gleich im nächsten „sicheren“ Staat bleiben und nicht bis nach Österreich kommen, um hier ein Asylverfahren zu betreiben. Dieser Wunschtraum der xenophoben Politik entspricht aber erfahrungsgemäß nicht der Realität und entsprach dieser auch nie. Vielmehr sucht sich jemand, der aufgrund einer Verfolgung keine Zukunft mehr im Heimatland sieht, einen Zielstaat, in dem er dauerhaft sicher ist, und nicht einen, in dem er (ob zu Recht oder nicht) eine Abschiebung befürchtet. Auch die österreichische Asylstatistik zeigt, dass die „echten“ anerkannten Flüchtlinge nicht aus Österreichs angrenzenden Ländern, sondern von etwas weiter her kommen. Oft wird eine mangelnde „Logik“ des Verhaltens in der Verfolgungssituation in den abweisenden Bescheiden angeprangert - selbstverständlich gemessen an den Maßstäben der europäischen Asylbeamten, der sich meist niemals in einer Kriegssituation oder in einer Situation der politischen Verfolgung befunden hat. Was dieser als „unlogisch“ erachtet, wird dann allerdings ohne Weiteres so bezeichnet.

KRITIK UND WENIG REAKTION. Problematisch ist auch der Mangel an verständlichen Informationen - häufig bedingt durch eine praktisch nicht vorhandene Bildung, andererseits einen Überfluss an schlechten Ratschlägen oder Halbwahrheiten von SchlepperInnen und anderen Flüchtlingen, meist mit der Konsequenz, dass das Vorbringen der Lebensgeschichte von außen betrachtet in der Tat manchmal eigenwillig wirkt. Die bereits mehrfach durch UNHCR, Menschenrechtsbeirat und Netzwerk SprachenRechte geäußerte Kritik stieß leider auf wenig Reaktion. Dabei sei angemerkt, dass hier nicht die gesetzliche Lage, sondern deren Umsetzung zentrales Problem ist.

Der beschriebene Fall ist nur ein Beispiel von zahlreichen Verfahrensfehlern, die das gegenwärtige Asylsystem kennzeichnen. Als Fazit in Bezug auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit im Asylverfahren kann hier durchaus von einer Umkehr der Beweislast gesprochen werden, die so im Gesetz nicht direkt vorgesehen ist: Der Flüchtling von heute muss nicht bloß gefoltert aus seinem Heimatstaat direkt nach Österreich gekommen sein, darf sich nicht im kleinsten semantischen Detail widersprechen, sondern muss auch Nerven wie Stahlseile haben, um oft jahrelang ein Verfahren betreiben zu können, in der Hoffnung, dass ihm oder ihr letztlich doch jemand glaubt.

Judith Ruderstaller ist Juristin und seit 2007 in der NGO Asyl in Not als Rechtsberaterin aktiv. Sie nimmt ebenfalls für Asyl in Not an EU-Projekten zur Asylthematik teil. Momentan verfasst sie ihre Dissertation am Institut für Kriminologie und Strafrecht.

Unbescholtenheit schützt nicht vor Haft

  • 20.09.2012, 16:39

Fehlurteile oder strittige Terrorismusparagraphen können für Unschuldige Gefängnis bedeuten. Auch Menschen, die in Österreich Schutz vor Verfolgung suchen, sind davon immer wieder betroffen: Schubhaft.

"In Tschetschenien wurde ich zwei Jahre lang im Gefängnis gefoltert. Nachdem ich mit Hilfe meiner Familie freigekommen bin, habe ich das Land verlassen“, erzählt der 32Jährige Lukas Kerimov*. Anfang 2007 hat er Österreich erreicht, um Schutz vor Verfolgung zu suchen. Sein erster Asylantrag wurde negativ beschieden, kurz darauf wurde er in Haft genommen ohne ein Verbrechen begangen zu haben.
Österreichweit befanden sich 2010 laut Angaben des Innenministeriums rund 6000 Personen in Schubhaft. Diese Form der Haft wird etwa dann verhängt, wenn die Republik Schutz vor Verfolgung verweigert. Kritik an der Schubhaft-Praxis ist vielschichtig und kommt nicht nur von (ehemaligen) Inhaftierten sondern auch von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen. Judith Ruderstaller vom Verein Asyl in Not stellt fest: „Das ist keine Strafhaft, diese Menschen haben nichts angestellt. Deswegen sollte man sie auch nicht wie Strafgefangene behandeln“.

Rudstaller weiß einiges über die Zustände in diesen Gefängnissen zu berichten: „KlientInnen beschweren sich zum Beispiel regelmäßig über die Gesundheitsversorgung. Einer hatte in der Haft einen Bandscheibenvorfall mit sehr starken Schmerzen. Von Woche zu Woche ist es ihm schlechter ergangen. Er hat mir gesagt: Die Amtsärztin macht nichts. Sie hilft mir nicht.“ Auch der österreichische Menschenrechtsbeirat kritisiert Mängel bei der medizinischen Versorgung von Schubhäftlingen und beklagt insbesondere, dass es immer noch zu wenig qualifiziertes ärztliches und psychologisches Personal gäbe.

„Freiwillige“ Rückkehr. Als ihn die Polizei abholte um ihn in das Schubhaftgefängnis am Hernalser Gürtel in Wien zu bringen, verstand Kerimov zunächst gar nicht, warum das geschah. „Ich wollte einfach nur raus, nicht abgeschoben werden“. Ruderstaller stand mit ihm eine Zeit lang in engem Kontakt und vermittelte für ihn bei Verfahrensangelegenheiten. Sie beklagt besonders die Betreuungssituation der Menschen in Schubhaft: „Bei der Betreuung ist der Verein Menschenrechte das größte Problem. Sie schreiben eigentlich kaum Schubhaftbeschwerden, sondern machen ausschließlich Rückkehrberatung. Das entspricht nicht der EU-Richtline. Nach dieser müsste es eine Rechtsberatung in den Anstalten geben. Das hat dieser Verein in der Vergangenheit aber kaum oder mangelhaft gemacht“. Der Verein Menschenrechte Österreich wird, unter anderem, vom Innenministerium finanziert und betreut in dessen Auftrag österreichweit rund 92 Prozent der Schubhäftlinge. Seit 1. Dezember gibt es auch in Österreich eine verpflichtende Rechtsberatung für Schubhäftlinge. Auf die Frage, ob sie sich von der Praxis des Vereins Besserung erwartet, da es nun eine verpflichtende rechtliche Beratung gebe, bekräftigt Ruderstaller ihre Kritik: „Ich befürchte, sie werden wahrscheinlich die gleichen Leute wie vorher nehmen, die zumeist keine juristische Ausbildung haben.“

Kritik des UNHCR. Die mangelhafte Rechtsberatung in den Schubhaftanstalten hat in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass die Interessen von AsylwerberInnen keine angemessene Vertretung bekommen haben. Auch Kerimov war damit konfrontiert: Im Schubhaftgefängnis wollte er eigentlich eine Beschwerde gegen seinen negativen Asylbescheid und seine Inhaftierung einlegen. Anstatt von den zuständigen BetreuerInnen Unterstützung zu bekommen, wurde ihm die freiwillige Rückkehr nach Tschetschenien nahegelegt. „Sie wollten, dass ich etwas unterschreibe. Ich habe nicht gewusst, was ich unterschreiben sollte. Sie sagten, ich muss unterschreiben. Später habe ich dann erfahren, dass sie wollten, dass ich freiwillig zurückkehre.“ Die Praxis der Rückkehr- und Rechtsberatung des Vereins Menschenrechte Österreich wird auch von der UNHCR (Hohes Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) kritisiert: Für einen Bericht aus dem Jahr 2008 wurden österreichweit Einzelgespräche mit SchubhaftInsassInnen geführt. Es stellte sich heraus, dass sämtliche Befragten, die vom Verein betreut wurden, nicht wussten, warum sie in Schubhaft genommen worden waren.

Hungerstreik. Nicht nur Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen protestieren gegen Schubhaft und die Bedingungen in den Anstalten, vor allem die SchubhaftinsassInnen selbst greifen immer wieder zu drastischen Mitteln, um gegen ihre Inhaftierung zu kämpfen. Hungerstreiks sind keine Seltenheit. Manche Schubhaftgefängnisse haben eigene Räumlichkeiten für Hungerstreikende eingerichtet, die Anstalt am Hernsalser Gürtel sogar ein eigenes Stockwerk. Auch Kerimov ist kurz nach seiner Inhaftierung in Hungerstreik getreten. Er wurde aufgrund des bedrohlichen Verlusts an Körpergewicht für haftunfähig erklärt. Kurze Zeit nach seiner Entlassung hat er mit Hilfe von Judith Ruderstaller und dem Verein Asyl in Not Beschwerde gegen seinen negativen Asylbescheid eingelegt.
Als Alternativen zur Schubhaft haben die Behörden seit 2005 eine weitere Befugnis bekommen: das „Gelindere Mittel“. Dieses kann im Ermessen der Behörden anstatt einer Schubhaft verhängt werden und übergibt AsylwerberInnen, etwa wenn sie einen negativen Asylbescheid bekommen haben, in betreute Einrichtungen, in denen sie sich frei bewegen können. Sie können diese auch verlassen, müssen sich aber regelmäßig bei der Polizei oder einer Betreuungsperson melden. Laut Innenministerium wurde das Gelindere Mittel 2010 bereits in ca. 1400 Fällen angewandt. Den Menschen in diesen Einrichtungen droht aber nach wie vor die Abschiebung. Das „Gelindere Mittel“ ist kein Ersatz für ein faires Asylverfahren, das der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen würde.

Der Beschwerde von Lukas Kerimov wurde schließlich Recht gegeben. Seit 2009 hat er eine gültige Aufenthaltsbewilligung. In ungefähr sechs Jahren möchte er die österreichische StaatsbürgerInnenschaft beantragen.

Der Autor studiert Internationale Entwicklung.

* Die Angaben zur Person wurden auf Wunsch von der
Redaktion geändert.

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