Antisemitismus

Eine Jugend im Konzentrationslager Theresienstadt

  • 31.03.2014, 13:56

Helga Pollak-Kinsky, 1930 in Wien geboren, war zwölf als sie im Jänner 1943 zusammen mit ihrem Vater Otto Pollak nach Theresienstadt deportiert wurde. “Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak” wurde im eigens dafür gegründeten Verlag edition Room 28 veröffentlicht. progress online hat mit der Herausgeberin Hannelore Brenner über dieses einzigartige, zeithistorische Dokument und über die Schwierigkeiten für dieses einen Verlag zu finden gesprochen.

Helga Pollak-Kinsky, 1930 in Wien geboren, war zwölf als sie im Jänner 1943 zusammen mit ihrem Vater Otto Pollak nach Theresienstadt deportiert wurde. “Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak” wurde im eigens dafür gegründeten Verlag edition Room 28 veröffentlicht. progress online hat mit der Herausgeberin Hannelore Brenner über dieses einzigartige, zeithistorische Dokument und über die Schwierigkeiten für dieses einen Verlag zu finden gesprochen.

progress online: Wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Helga Pollak-Kinsky?

Hannelore Brenner: 1996 habe ich ein Hörfunk-Feature über die Kinderoper „Brundibár“ von Hans Krása und Adolf Hoffmeister für den Sender Freies Berlin gemacht; ein Jahr später übrigens für den ORF. Im Rahmen der Recherchen lernte ich einige Überlebende von Theresienstadt und Auschwitz kennen. Ich war damals auch in den USA, um Ela Weissberger zu sprechen, die in den Theresienstädter Aufführungen von ‚Brundibár‘ die Katze gespielt hatte. Sie erzählte viel von ihren ‚Freundinnen vom Zimmer 28‘. Beim Abschied ermunterte sie mich, im September nach Prag zu kommen, wo sie sich mit einigen ihrer Freundinnen treffen wollte. Das tat ich, und das war der Beginn. Ich lernte einen außerordentlichen Freundeskreis kennen und erfuhr eine Geschichte, die mich nicht mehr losließ. Ich besuchte die Frauen – zunächst Anna Hanusová in Brünn und Helga Pollak-Kinsky in Wien.

Und dann haben Sie mit der Arbeit an dem Buch „Die Mädchen von Zimmer 28“ begonnen?

So schnell ging das nicht. Aber als ich Flaška (Anna Hanusová) in Brno und Helga in Wien besuchte, zeigten sie mir wertvolle Dokumente. Flaška ihr Poesiealbum und Helga ihr Tagebuch. Dabei sprachen sie davon, dass sie etwas tun wollten zur Erinnerung an die Mädchen, die nicht überlebten, auch etwas zur Erinnerung und Würdigung der Erwachsenen, die sich um sie gekümmert haben. Ich wollte diese Idee spontan unterstützen Wir haben uns gut verstanden, trafen uns dann öfters und sprachen immer wieder über dieses Vorhaben. Dann wurde ein Projekt daraus.

Ab 1998 trafen wir uns  - Helga, Flaška und weitere Überlebende von Zimmer 28 –regelmäßig im September in Spindlermühle, Riesengebirge, um an dem Projekt zu arbeiten. Sechs Jahre später erst, im März 2004, kam endlich das Buch heraus - „Die Mädchen von Zimmer 28“. Ohne Helgas Tagebuch und die Aufzeichnungen ihres Vaters hätte das Buch nicht geschrieben werden können. Es diente nicht nur mir als roter Faden, um die Geschichte dieser Mädchen zu erzählen, es diente auch ihren Freundinnen als Katalysator der Erinnerung.

Dachten Sie damals schon daran, Helgas Tagebuch als separates Buch zu veröffentlichen?

Ja, natürlich. Ich hätte damals schon gerne Helgas Tagebuch als eigenständiges Buch veröffentlicht. Es ist ja ein wunderbares Dokument. Aber es galt, die gemeinsame Geschichte dieser Mädchen zu schreiben. Das war das Anliegen, der Ausgangspunkt. Es sollte ein Buch werden zur Erinnerung an die Mädchen, die umgekommen sind. Helga hat ihr Tagebuch ganz bewusst in den Dienst dieses Anliegens gestellt.

Als ich später für Helgas Tagebuch einen Verlag suchte, lehnten alle ab. Es stehe doch schon alles in dem Buch über ‚Die Mädchen von Zimmer 28‘, hieß es oft. Aber das stimmt natürlich nicht. Es ist eine ganz andere Geschichte, Helgas genuin persönliche Geschichte.

Sie haben extra einen Verlag gegründet, um die Tagebücher herauszugeben, warum war es so schwierig einen Verlag zu finden?

Das verstehe ich selbst am wenigsten. Ich habe immer wieder Briefe und Exposés an Verlage geschrieben, aber es kamen nur Ablehnungen. Eigentlich ein Wahnsinn – wenn ich an die vielen Lesungen mit Helga, an die vielen Zeitzeugengespräche und Veranstaltungen mit ihr denke und an das Interesse an ihr und dem Tagebuch. Helga ist eine äußerst sympathische und beeindruckende Persönlichkeit und alle waren immer sehr berührt von ihr und den Lesungen und viele haben gefragt: Warum ist das Tagebuch nicht längst veröffentlicht? Irgendwann war für mich klar: Ich muss das Buch einfach selber herausbringen.

Das Buch besteht ja nicht nur aus Helgas Tagebüchern, sondern auch aus den Notizen des Vaters, Briefen, Postkarten, historischen Fakten und Interviews. Wie ist entschieden worden, was ins Buch hineinkommt?

Wir wollten ein Buch machen, das vor allem von jungen Menschen gelesen wird. Das heißt, es genügte nicht, einfach die Dokumente abzudrucken. Sie mussten in den historischen und biografischen Kontext gestellt werden, vieles musste erklärt werden, verständlich gemacht werden. Vor allem die Kindheitsgeschichte musste erzählt werden. Erst durch sie erfährt man, wer Helga war, wie sie in Wien und dann in Gaya/Kyjov (heute Tschechische Republik) gelebt hat bevor sie nach Theresienstadt kam. Ihre Kindheit zu kennen heißt, ihr Tagebuch besser zu verstehen und das, was ihr und ihrem Vater widerfahren ist. In dem Kapitel ihrer Kindheit lernt man auch viele der Verwandten kennen, von denen am Ende fast alle nicht mehr da sind.

Ja, und dann stellten sich einige Fragen. Wie mit der Tatsache umgehen, dass der dritte Band von Helgas Tagebuch verloren gegangen ist, dass ihre Aufzeichnungen im April 1944 aufhören? Wie die Geschichte zu Ende erzählen? Die Antwort lag auf der Hand. Denn in den Aufzeichnungen ihres Vaters spiegelt sich vieles von dem wieder, was Helga erlebte. So musste das Kalendertagebuch eingeflochten werden, so dass die Aufzeichnungen des Vaters dort, wo Helgas Tagebuch endet, die Geschichte weiter erzählen. Es kommt hinzu, dass ich natürlich weiß, dass Helga sich an vieles erinnert, was nicht in ihrem Tagebuch steht; ich bin sicher, im dritten Band wäre einiges zu lesen gewesen – über die Kinderoper Brundibár, Friedl Dicker-Brandeis, die Konzerte, die sie besuchte, Rafael Schächter, über die Transporte im Mai und über vieles andere. Also war es nötig, auch dies zu beleuchten und so kam es zu den Interviews.

Das Kulturleben in Theresienstadt und die Bedeutung, die es gehabt haben muss, ist auch beim Lesen der Tagebücher auffallend.

Vor allem Musik, Konzerte. Sie beschreibt immer wieder Konzerte. Und dann ihre Erinnerungen an Verdis Requiem, an Rafael Schächter. Ja, Sie haben vollkommen Recht – es bedeutete ihr sehr viel.

Und auch die Literatur.

Auch die Literatur, ja. Oder die philosophischen Gespräche, die sie mit ihrem Vater führte. Sie wird ja manchmal sehr philosophisch. Da sind wunderschöne Stellen drin! Zum Beispiel schreibt sie einmal nachdem sie ein Konzert erlebt hat: „Musik ist die schönste Schöpfung der menschlichen Seele, die der Mensch aus dem Nichts geschaffen hat.“ Oder sie schreibt darüber, dass sie oft an sich zweifele, und dass sie mit Rita darüber gesprochen habe und Rita ihr sagte: „Nur dumme Leute sind sich ihres Handelns und ihrer selbst sicher. Je klüger ein Mensch, desto mehr zweifelt er.“ Und dann fügte sie hinzu: “DENKEN IST DIE SCHÖNSTE SACHE“.

Es sind so kluge Sachen drin. Helga denkt viel über die Welt nach, verliert sich manchmal für Augenblicke in ihrer Gedankenwelt, träumt von der Zukunft, malt sich in ihrer Vorstellung die Zukunft aus, dass sie eines Tages studieren und Ärztin oder Wissenschaftlerin wird.

Es erzählt ja auch die Geschichte einer Jugend.

Ja, Helga kommt mit zwölf Jahren nach Theresienstadt, sie ist noch ein Kind. In den folgenden Monaten reift sie heran, man spürt den Übergang von der Kindheit hin zum Erwachsenenalter, erlebt mit wie sie sich verändert und immer reflektierter wird, nachdenkt über Dinge, über die viele junge Menschen nachdenken. Ich glaube, dass heutige Jugendliche sich in sie einfühlen, sich mit ihr identifizieren können. Und ich glaube, dass die Lektüre von Helgas Tagebuch vergleichbar ist mit dem Tagebuch der Anne Frank.

Ich bedaure sehr, dass der dritte Band verlorenging. Denn gerade gegen Ende des zweiten Bandes fängt sie an, erstaunlich dichterisch zu werden. Der letzte Eintrag vom 5. April 1944 – er ist phantastisch! Sie erzählt ein wunderbares Märchen -  es liest sich wie eine Parabel auf ihre eigene Geschichte. Ein Märchen, das ihr die Musik eingab, während sie einem Beethoven-Konzert zuhörte. Dieses Märchen könnte genauso wie es geschrieben ist, als Kinderbuch veröffentlicht werden.

Was ist mit dem dritten Tagebuch geschehen?

Helga hatte 1951 geheiratet und lebte mit ihrem Mann zunächst in Bangkok, dann in Addis Abeba. Als sie 1956 wieder nach Europa zurückkehrten und sie ihr Umzugsgut auf dem Schiffsweg nach London transportieren ließen, kam ein großer Teil zerstört am Hafen an. Auf dem Schiff war ein Feuer ausgebrochen und hatte einige Container in Brand gesetzt, in einem war der dritte Band des Tagebuchs.

Ein Glück, dass es die Kalendernotizen von Otto Pollak gibt.

Otto Pollak erzählt die Geschichte weiter. Von ihm erfahren wir, was er erlebte und was Helga erlebte, ehe sie am 23. Oktober 1944  nach Auschwitz deportiert wurde. Doch nach dem 19. Oktober 1944 sind die Seiten im Kalender von Otto Pollak leer. Zu schwer war es für ihn, mit ansehen zu müssen, wie seine Tochter nach Auschwitz deportiert wurde. Er konnte nicht mehr schreiben. Was dann geschah, können nur Erinnerungen und vereinzelte Dokumente vermitteln.

 

Am 1. April um 19:00 Uhr wird “Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak” im Top Kino in Anwesenheit von Helga Pollak-Kinsky mit anschließender Podiumsdiskussion präsentiert:

http://edition-room28.de/Termine.html

Hier kann man das Buch bestellen: http://edition-room28.de/index.html

 

Sara Schausberger hat Germanistik studiert und arbeitet als Kulturjournalistin (u.a. für den Falter) in Wien. 

 

 

 

 

 

Heimweh nach La Paz

  • 20.03.2014, 17:06

Die pensionierte Kinderärztin Miriam Rothbacher (*1935, geb. Krakauer) musste wegen des nationalsozialistischen Antisemitismus mit ihrer Familie 1939 Deutschland verlassen. Bolivien gewährte der Familie damals Zuflucht. Im Interview erzählt sie von ihrem Leben und ihrem Hilfsprojekt Pro Niño Boliviano.

Die pensionierte Kinderärztin Miriam Rothbacher (*1935, geb. Krakauer) musste wegen des nationalsozialistischen Antisemitismus mit ihrer Familie 1939 Deutschland verlassen. Bolivien gewährte der Familie damals Zuflucht. Im Interview erzählt sie von ihrem Leben und ihrem Hilfsprojekt Pro Niño Boliviano.

progress: Wie sind Sie mit Ihrer Familie nach Bolivien gekommen?

Miriam Rothbacher: Wir sind sehr spät im Jahr 1939 ausgewandert und hatten das Problem, dass die meisten Zufluchtsländer ihre Grenzen für die jüdischen Flüchtlinge bereits geschlossen hatten. Sogar eine Flucht in die großen lateinamerikanischen Länder Argentinien und Brasilien war nicht mehr möglich. In Bolivien hatte mein Vater eine entfernte Cousine, deren Mann als Ingenieur in den Bergminen gearbeitet hat. Mit ihr hat mein Vater Kontakt aufgenommen und sie um Hilfe gebeten. Mein Vater war Lehrer und Studienrat und meine Cousine hat für meinen Vater ein Visum über den Rektor der Methodistischen Schule in La Paz besorgt.

Gab es einen politischen Hintergrund für die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen in Bolivien?

Bolivien hatte damals den Krieg gegen Paraguay hinter sich und der damalige General Germán Busch Becerra hatte die Juden ins Land geholt, um das Land aufzubauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann rechte Diktatoren an die Macht, die geflohenen Nazis Zuflucht gewährten.

Viele jüdische Flüchtlinge hatten große Probleme, im Zufluchtsland ihrem Beruf nachzugehen. Wie war das in Ihrer Familie?

Mein Vater hatte das Glück, schon in Deutschland Studienrat gewesen zu sein und Sprachen unterrichtet zu haben. Er konnte auch Spanisch und hat eine Anstellung als Lehrer an der amerikanischen Schule von La Paz bekommen. Meine Mutter hatte in Deutschland Schwedische Massage gelernt und als Masseurin gearbeitet. Sie hat sehr gut verdient, da die alten eingesessenen Deutschen von La Paz verrückt nach ihrer Massage waren und eine Fachkraft in diesem Bereich rar war.

Haben Sie in Bolivien Antisemitismus von den ansässigen Deutschen erfahren?

In Bolivien lebten viele Deutsche, die vor oder unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ins Land gekommen sind. Es gibt heute noch eine deutsche Wurstfabrik in La Paz und in den tropischen Gegenden besaßen die Deutschen große Ländereien und Farmen. Die meisten von ihnen hatten nichts gegen Juden und haben den Nationalsozialismus in Deutschland auch nicht erlebt. Es hat jedoch eine deutsche Schule in La Paz gegeben, in der ein Hitlerbild hing und die Jüdinnen und Juden nicht besuchen durften. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte diese Schule nicht mehr viele Lehrer, da diese meist aus Deutschland kamen und dort in den Krieg gezogen waren. Da überlegte die Schulverwaltung der deutschen Schule, meinen Vater – den Herrn Krakauer – als Lehrer an die Schule zu holen. Der Elternverein sprach sich jedoch dagegen aus, da mein Vater ein „J“ (Anm.: für Jude) im Pass hatte.

Hatten Sie als Kind Kontakt mit den Kindern der deutschstämmigen Bevölkerung? Ich bin zwölf Jahre in die amerikanische Schule gegangen und hatte mit den deutschen Kindern keinen Kontakt. Mit meinen SchulkollegInnen aus der Maturaklasse der amerikanischen Schule treffe ich mich aber immer noch.

Sind Sie einem der geflohenen Nazis einmal begegnet?

Nicht wissentlich. Aber ich kann folgende Anekdote erzählen: Als Kind habe ich mit meiner Mutter in den Winterferien das Hotel Hamburgo in der Ortschaft Chulumani in den Tropen besucht. In das Hotel sind viele EmigrantInnen auf Urlaub gefahren, weil die Besitzerin eine alte Hamburgerin war und europäisches Essen gekocht hat. Nach 1945 haben in dem Ort auch der „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie und andere Nazigrößen gelebt. Bei einer meiner späteren Bolivienreisen wollte ich meinem Mann das Hotel zeigen. Ich habe es jedoch nicht auf Anhieb gefunden und als wir bei einem Haus vorbeikamen, hat mich ein Mann gefragt, was ich suche. Er hat mir dann gesagt, dass von dem Hotel nur noch das Schwimmbad existieren würde. Und er habe erzählt, dass das der alten Nazifrau gehört hat, die damals den geflohenen Naziverbrechern Teller und Bestecke mit Hakenkreuz-Emblem serviert habe. Ich hab mir damals gedacht: Um Gottes willen! Meine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie das wüsste!

Haben Sie damals Vorurteile seitens der bolivianischen Bevölkerung gegenüber Ihnen als Europäerin gespürt?

Ich habe keinen Antisemitismus durch die bolivianische Bevölkerung erfahren, außer manchmal von der katholischen Kirche, wenn der Pfarrer von der Kanzel gepredigt hat, dass die Juden Jesus Christus getötet hätten. Der Sozialmediziner Ludwig Popper war auch in Bolivien im Exil und hat das Buch „Bolivien für Gringos“ geschrieben. Auch er berichtet, dass er dort niemals Antisemitismus gespürt habe.

Was verbindet Sie bis heute mit Bolivien?

Ich wollte mein Leben lang wieder zurück nach Bolivien. Aber es hat sich dann ergeben, dass ich in Österreich geblieben bin. Dennoch ist Bolivien mein Land und meine Heimat. Ich war sehr lange wegen meiner drei Kinder und auch aus finanziellen Gründen nicht in Bolivien. Erst 1981 – als meine Kinder alt genug waren, um dieses Land zu verstehen – sind wir zusammen mit zwei meiner Freundinnen nach Bolivien gefahren. Damals war ich sehr aufgeregt. Viele meiner Freunde hier warnten mich davor, dass mich nach so langer Zeit niemand mehr in Bolivien kennen würde. Aber als ich nach La Paz gekommen bin, war es so, wie wenn ich niemals weggewesen wäre. Meine bolivianischen Freunde haben mich gleich erkannt und mich zu ihnen und ihrer Familie zum Essen eingeladen. Und obwohl damals die Situation wegen der Militärdiktatur eher trist war, hatte ich das Gefühl hier zu Hause zu sein. Als ich dann wieder nach Österreich zurückgekehrt bin, hatte ich wirklich großes Heimweh. Da ist es mir so gegangen wie 1955, als ich als junges Mädchen von Bolivien nach Heidelberg zum Studieren ging. Wenn ich hier keine Familie hätte, würde ich trotz Armut und sozialer Ungleichheit in Bolivien leben wollen.

Welche Erfahrungen haben Sie in Deutschland während Ihres Studiums gemacht?

Ich bin 1955 nach Deutschland gefahren, um in Heidelberg Medizin zu studieren. Ich wäre natürlich viel lieber in die USA zum Studium gegangen als nach Deutschland. Aber mein Vater hatte eine Pension bekommen, von der ich in Deutschland studieren konnte. Ich hatte damals sehr großes Heimweh nach Bolivien und habe meine Eltern sehr vermisst. Hinzu kam, dass die Deutschen sich als die einzigen Opfer des Zweiten Weltkriegs betrachtet haben. Die ganze Zeit über habe ich mir als Studentin anhören müssen, wie schlimm die Bombenangriffe waren und wie arm die Deutschen nicht gewesen wären. In Deutschland habe ich als Studentin zur Untermiete gewohnt und die Vermieterin hat mir gleich erzählt, dass ihr Bruder einem Juden in Karlsruhe ein Haus abgekauft habe und dass dieser es wieder zurückhaben wolle. An der Uni in Heidelberg haben auch die Burschenschaften eine zentrale Rolle gespielt. Ich selbst bin auf der Uni immer mit „Herr Miriam“ angesprochen worden, weil der Name überhaupt nicht bekannt war. Er war von den Nazis ausradiert worden. Und natürlich hat damals jeder Deutsche behauptet, von den Verbrechen an den Juden nichts gewusst zu haben. Ich hatte damals kaum Kontakt mit deutschen Studierenden. Meine Studienzeit in Deutschland war keine schöne Zeit. Auch später habe ich keine guten Erfahrungen mit Deutschland gemacht. In Schöneiche bei Berlin hatten meine Großeltern und mein Großonkel zwei Grundstücke. Das eine Grundstück von meinem Großonkel wurde mir als Alleinerbin geschenkt. Ich hätte aber für dieses Grundstück sehr viel Schenkungssteuer zahlen müssen und musste es veräußern. Und das, obwohl man meiner Familie das Grundstück weggenommen hatte.

Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Ich habe 1961 eine Freundin nach Wien begleitet, die sich im St. Anna Kinderspital vorgestellt hat. Der damalige Primar hat mich gesehen und mich gefragt, ob ich mich auch vorstellen möchte. Da habe ich mir gedacht, dass ich doch auch ein Jahr in Wien bleiben könnte. Während dieser Zeit habe ich aber meinen Mann kennengelernt und bin in Wien geblieben. Hier war vieles lustiger als in Deutschland, die ÖsterreicherInnen haben eine leichtere Art zu leben als die Deutschen. Ich finde, dass Österreich Bolivien ähnlicher ist als Deutschland. Ich war und bin gerne in Wien.

Wie ist Ihr Projekt Pro Niño Boliviano entstanden?

Als ich in Pension war, hat meine jüngere Tochter mich daran erinnert, dass ich geplant hatte, für längere Zeit nach Bolivien zu gehen. Sie wollte selbst nach Bolivien reisen, um zu sehen, wo ich aufgewachsen bin. 1996 sind wir dann gemeinsam mit ihrem damals eineinhalb-jährigen Sohn für längere Zeit nach Bolivien gereist. Damals ist mir die soziale Ungleichheit aufgefallen, doch ich hatte nicht die Absicht ein Projekt zu leiten. Daher habe ich nur ein bisschen in der Caritas vor Ort geholfen und mir Schulen angeschaut. Dabei habe ich dann beschlossen, zurück in Österreich Schulmaterial für die bolivianischen SchülerInnen zu sammeln. Doch die Sammelaktion hat eine Eigendynamik bekommen und mit der Zeit haben sich einzelne Projekte entwickelt.

Welche Projekte haben Sie seither verwirklicht?

Zunächst habe ich eine staatliche Schule in einer sehr abgelegenen Gegend von El Alto unterstützt. El Alto ist eine Satellitenstadt in der Nähe von La Paz, von der man sagt, dass sie die ärmste Stadt Lateinamerikas sei. In dieser Schule gab es nur zwei nackte Räume ohne Schulmöbel für 240 Kinder. Da haben wir damit begonnen Schulklassen zu bauen und Tische und Sessel für die Kinder zu organisieren. Wir haben uns bei diesem Projekt immer nach den Wünschen der Kinder und LehrerInnen gerichtet. Mittlerweile ist aus dieser Schule eine Maturaschule geworden, in der viele Klassen maturieren konnten. Nach diesem Projekt ist jemand gekommen und hat mich gefragt, ob ich nicht auch eine andere Schule unterstützen wolle. Das haben wir dann getan, indem wir die Kinder mit Schulmaterial versorgt haben. Außerdem haben wir dort eine mobile Bücherei ins Leben gerufen. Danach habe ich bei einer meiner Reisen den Frauen gesagt, dass sie Handarbeiten anfertigen könnten und ich diese in Österreich verkaufen könnte. Heute machen wir fünfbis sechsmal im Jahr Verkaufsstände mit den Handarbeiten der Frauen. Mittlerweile können 20 Frauen von unserem Projekt leben. Und wir haben auch ein Tuberkuloseprojekt. Die Abwicklung der Projekte ist leider nicht einfach, da Bolivien für die österreichische Entwicklungspolitik kein Schwerpunktland ist.

 

Der Verein Pro Niño Boliviano sucht laufend ehrenamtliche MitarbeiterInnen: http://www.proninoboliviano.org/ Kontakt: office@proninoboliviano.net

Das Interview führte Claudia Aurednik.

 

Liberal, demokratisch, deutschnational?

  • 20.03.2014, 16:43

Immer wieder versuchen Burschenschaften, ihre Rolle während der Deutschen Revolution 1848 zu glorifizieren und ihre Beteiligung am Nationalsozialismus kleinzureden. Ein Fest am 8. Mai soll die Mythen der Burschenschaften zementieren.

Immer wieder versuchen Burschenschaften, ihre Rolle während der Deutschen Revolution 1848 zu glorifizieren und ihre Beteiligung am Nationalsozialismus kleinzureden. Ein Fest am 8. Mai soll die Mythen der Burschenschaften zementieren.

24. Jänner, Wien. Auf den Straßen demonstrieren Antifaschist_innen gegen den von der Wiener FPÖ organisierten „Akademikerball“, in der Hofburg tanzen schlagende Burschenschaftler und rechte Politiker_innen. In den darauffolgenden Tagen und Wochen wird eins dieser Ereignisse heiß diskutiert: die Demonstrationen und ihre Kollateralschäden, vor allem umgeworfene Mistkübel und eingeschlagene Fensterscheiben. Am achten Februar findet darauffolgend in Linz der „Burschenbundball“ statt. Auch hier findet eine große antifaschistische Kundgebung statt, bei der allerdings Menschen aufgrund dunkler Kleidung von Demoordner_innen vom Rest der Demonstration ausgegrenzt wurden. Angeblich, um Szenarien wie in Wien zu vermeiden. Gebracht hat diese Entsolidarisierung außer einer fragwürdigen Spaltung der Demonstration nichts: Ein Diskurs um den Auslöser der Demonstrationen blieb, wie in Wien, aus. Stattdessen reden rechte Politiker_innen von der bedeutenden liberaldemokratischen Rolle der Burschenschaften während der Revolution 1848, im gleichen Atemzug wird dann meistens auch ihre Auflösung 1938 als „Beweis“ dafür genannt, dass die deutschnationalen Männerbünde nicht rechtsextrem seien.

166 Jahre. Für den 8. Mai hat der Wiener Kooperationsring (WKR) ein „Fest der Freude“ angekündigt. Nicht um, wie im restlichen Europa, den Sieg der Alliierten über den Nationalsozialismus, sondern die misslungene deutsche Revolution von 1848 zu feiern. 166 Jahre liegt die zurück – ein runder Jahrestag ist es nicht, den der WKR von der „Forschungsgesellschaft Revolutionsjahr 1848“ unter Leitung eines Olympia-Mitglieds ausrichten lassen will. Das geplante Großereignis wird aber nicht nur von unrunden Jahreszahlen getrübt: In Österreich wurden die ersten Burschenschaften nämlich erst 1859 gegründet. Nichtsdestotrotz will der WKR sein offenbar doch angeschlagenes Image aufpolieren, indem der Mythos, Burschenschaftler hätten in Wien 1848 für liberal-demokratische Grundwerte gekämpft, gefeiert wird.

Es ist nicht das erste Mal, dass deutschnationale Burschenschaften ihren revolutionären Moment zelebrieren . Im Mai 1998 veranstalten Burschenschaftler einen „Revolutionskommers“, der ausgerechnet in der Wiener Hofburg stattfand. Neben 130 verschiedenen Kooperationen kamen auch CV-Mitglieder und, wie die Burschenschaft Aldania stolz auf ihrer Webseite berichtet, eine „Abordnung der Südtiroler Freiheitskämpfer“. Die Burschenschaftler versuchen in ihrer Beschreibung des Fests gar nicht erst, ihre großdeutschen Intentionen zu verstecken: Die Wahlen zum „ersten und einzigen gesamtdeutschen demokratisch gewählten Parlament“ seien Anlass zum Feiern. Mit „demokratisch“ ist hier ein Wahlsystem gemeint, dass nur selbstständigen, also mit einem gewissen Besitz ausgestatteten Männern das Wahlrecht verlieh, mit Parlament die Frankfurter Nationalversammlung. Die zu erwartenden Proteste gegen das „Fest der Freude“ am 8. Mai werden wohl mit ähnlichen Argumentationsmustern von Burschenschaftlern und ihren Befürworter_innen konfrontiert sein.

Akademische Legion. Zwar beteiligten sich 1848 in Wien anfänglich tatsächlich Studenten Seite an Seite mit Arbeiter_innen und Handwerker_innen an der Revolution, dennoch war deren Ziel stets die Errichtung einer großdeutschen Nation. Der Mythos einer gemeinsamen Achse von Studenten und Arbeiter_innen starb spätestens als sich die Studenten vom Kaiser bewaffnen ließen und die „akademische Legion“ gründeten. Diese bekämpfte als Teil der Wiener Nationalgarde allzu „radikaldemokratische“ Kräfte. Der Ort für den „Revolutionskommers“ 1998 war damit vielleicht doch nicht so abstrus gewählt, wie er auf den ersten Blick scheinen mag.

Wenn sich österreichische Burschenschaften heute auf ihre Rolle in der deutschen Revolution 1848 beziehen, beziehen sie sich auf die Taten von Burschenschaftlern in Deutschland. Diese verbrannten dreißig Jahre zuvor auf der Wartburg Uniformen, „undeutsche Bücher“ und Literatur jüdischer Schriftsteller_innen, um danach eine konstitutionelle Monarchie und die Wehrpflicht für Deutschland zu fordern. Heute erscheint es eher skurril, solche Forderungen unter die Banner des Liberalismus und der Demokratie zu stellen.

Wie liberal die frühen Burschenschaften tatsächlich waren, zeigt auch das Beispiel des „Arierparagraphen“, den die Wiener Burschenschaft Libertas 1878 als erste Burschenschaft im deutschsprachigen Raum einführte. Die Idee dafür stammte vom österreichischen Antisemit Georg von Schönerer, einem Mitglied der Libertas, der die Bestimmung, nur mehr „arische“ Menschen aufzunehmen, in das deutschnationale Linzer Programm einbrachte.

Mythos Auflösung. Ein weiterer Mythos, der gerne als Schutzschild vor die Burschenschaften gehalten wird, ist deren Auflösung im Nationalsozialismus. Es stimmt, dass katholische, liberale oder zionistische Verbindungen zerschlagen wurden, die deutschnationalen Burschenschaften wurden jedoch als sogenannte Kameradschaften in den nationalsozialistischen deutschen Studentenbund (NSDStB) aufgenommen. In Deutschland geschah dies 1935 auf der Wartburg, wo die Burschenschaftler ihre „alten Farben als Bekenntnis zur neuen Form im alten Geist feierlich ablegen“, wie der Burschenschaftenführer Otto Schwab es ausdrückte. Die Burschenschaften stellten eine direkte Verbindung zwischen ihrer Beteiligung an der Revolution 1848 und dem Nationalsozialismus her.

Auch die österreichischen Burschenschaftler, die zuvor im Untergrund für die verbotene NSDAP gekämpft hatten, sahen sich 1938 am Ziel ihres deutschnationalen Strebens: „Fast wollte es keiner glauben, dass das alles über Nacht zu Ende und der langersehnte Anschluss an das Reich durchgeführt sein sollte. Jeder kann sich noch an den unendlichen und dankbaren Jubel erinnern“, berichteten die Burschenschaftler der Kameradschaft Adolf Ritter von Guttenberg, die ehemalige Hausburschenschaft der Hochschule für Bodenkultur, Sylvania, in ihren „Kameradschaftsmitteilungen“. Der völkische Nationalismus und Antisemitismus der Burschenschaften war mit dem Nationalsozialismus ohne Weiters kompatibel. .

Die unrühmlichen Aktivitäten der Burschenschaftler endeten 1945 nicht. In den 1960er und 1970er Jahren wurden Proteste linker Studierender regelmäßig durch Kooperierte aufgelöst. Das „Fest der Freude“ im Mai jedenfalls scheint eine Imagekampagne zu sein – wohl nicht zuletzt, um die leeren Säle der Hofburg am nächsten Akademikerball wieder voller zu machen.

 

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

 

Antisemitische Kapitalismuskritik am Linzer "Burschenbundball"

  • 07.02.2014, 13:49

Am 8. Februar diesen Jahres propagieren deutschnationale Burschenschaften am Linzer Burschenbundball den Kampf gegen „egoistische Selbstverwirklichung“ und „Entwurzelung“. Sämtliche Motive ihres reaktionären Antikapitalismus sind durchzogen von antisemitischen Stereotypen. Ressentimenthaltige Kapitalismuskritik ist jedoch keine Eigenheit des österreichischen „nationalen“ Lagers.

Am 8. Februar diesen Jahres propagieren deutschnationale Burschenschaften am Linzer Burschenbundball den Kampf gegen „egoistische Selbstverwirklichung“ und „Entwurzelung“. Sämtliche Motive ihres reaktionären Antikapitalismus sind durchzogen von antisemitischen Stereotypen. Ressentimenthaltige Kapitalismuskritik ist jedoch keine Eigenheit des österreichischen „nationalen“ Lagers.

Jedes Jahr feiern deutschnationale Burschenschaften im „Palais des Kaufmännischen Vereins“ den sogenannten „Burschenbundball“. Er stellt damit neben dem Akademikerball (vormals WKR-Ball) für Antisemiten, Frauenfeinde und Rassisten sämtlicher Couleur eine der wichtigsten Festlichkeiten im Jahr dar. Maßgeblich verantwortlich für die Durchführung und Organisation der Feierlichkeiten zwischen Männerbündelei und Deutschtümelei ist die Burschenschaft Arminia Czernowitz, auf deren Homepage man gegen „egoistische Selbstverwirklichung“ ankämpft und sich in einer „staatenübergreifenden, deutschen (...) Volksgemeinschaft“ verwurzelt sieht.

Auf der Homepage des deutschnationalen Balls findet sich - neben einer Werbeanzeige der „Akademischen Burschenschaft Oberösterreicher Germanen“ - ein weiteres sehr typisches Motiv reaktionärer, antikapitalistischer Rhetorik: (siehe Bild) FPÖ-Bundesparteiobmann Heinz-Christian Strache wettert in einem Inserat gegen „Entwurzelung und Beliebigkeit“. Was aber meint diese Parole?

Antisemitische Kapitalismuskritik

Der Kampf gegen „Entwurzelung“ ist ein oft bemühtes Motiv antisemitischer Globalisierungskritik, das eine Rückkehr zum Natürlichen anstrebt und den Globalisierungsprozess aufgrund seiner internationalisierenden Tendenzen ablehnt. Nach dem Politmagazin „profil“ konnte man bereits 2003 in der wöchentlich erscheinenden Zeitschrift der Freiheitlichen Partei Österreichs „Zur Zeit“ genauestens nachverfolgen, was sich dort der österreichische Ökonom Friedrich Romig, der das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes als „kommunistische Tarnorganisation“ titulierte und dafür wegen übler Nachrede teilweise schuldig gesprochen wurde, unter dem Begriff „Globalisierung“ versteht: „als Weg, auf dem das Judentum (...) weltweite Dominanz erlangt.“

In vorkapitalistischen Gesellschaften beruhte Ausbeutung auf einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis: der leibeigene Bauer etwa war an den Grundherren gebunden. Seit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse im 19. Jahrhundert sind keine direkten, personengebundenen Abhängigkeitsverhältnisse mehr gegeben (wie etwa im Feudalismus). Es dominieren „unpersönliche“ und undurchschaubare Zwänge zur individuellen Sicherung des eigenen Lebensabends. Angesichts der krisenhaften, für die einzelnen menschlichen Existenzen oft tragischen Entwicklungen des Kapitalismus, kommt es zu immer neuen Formen von Personalisierungen der kapitalistischen Verhältnisse. „Personalisierungen“ meint, dass gesellschaftliche Strukturen auf das bewusste Wirken von einzelnen Personen zurückgeführt werden.

Der Antisemitismus ist also eine besondere Form der Personalisierung des Kapitalismus – und wurde in den „Rassetheorien“ des 19. Jahrhunderts beschrieben . Es wird „dem Juden“ per se eine ökonomische Orientierung an Geld und Gewinn zugeschrieben, die in ihrer Wesensart und somit in ihrer „Rasse“ wurzeln soll. Ebenso soll in ihnen ein unbedingter Wille zum Erstreben der Weltherrschaft schlummern. Zugleich erscheinen diese auch als übermächtig: Über Banken und Börse beherrschen sie die großen Unternehmen der Welt. Gleichzeitig gelten die Juden jedoch als „heimatlos“ und „entwurzelt“, aber mit weltweiten Verbindungen zu ihresgleichen.

Diese beiden Stereotypen führen konsequenterweise zur paranoiden Wahnvorstellung der „jüdischen Weltverschwörung“, der Antisemiten wie Romig verfallen sind. Diese Stereotypen finden sich am deutlichsten im wohl bekanntesten antisemitischen Pamphlet – den Protokollen der Weisen von Zion – das als einflussreiche Programmschrift antisemitischer Verschwörungsideologie gilt und 1929 im Parteiverlag der NSDAP publiziert wurde.

Brothers in Arms

Solche antisemitischen Wahngebilde kann man auch bei der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ feststellen. Jürgen Gansel, der seit 2004 Abgeordneter im Sächsischen Landtag ist und seine Magisterabschlussarbeit nicht zufällig über „Antikapitalismus in der konservativen Revolution“ schrieb, definiert die Globalisierung als das „planetarische Ausgreifen der kapitalistischen Wirtschaftsweise unter der Führung des Großen Geldes.“ Dieses habe, so zitiert man Gansel im Buch „Neonazis in Nadelstreifen“ von Andreas Speit und Andrea Röpke, „obwohl seinem Wesen nach nomadisch und ortlos, seinen politisch-militärisch beschirmten Standort vor allem an der Ostküste der USA.“

Diese Ausführungen enthalten freilich ein kaum verhülltes Bündel antisemitischer Stereotypen, wobei hier das Wort „nomadisch“ als Synonym für „heimatlos“ fungiert und die „Ostküste“ der USA ein Synonym für die jüdische Weltverschwörung ist. Das ehemalige SS-Mitglied Franz Schönhuber brachte 2002 in „Nation & Europa“ (Nr. 9/02) den Kern des antisemitischen Antikapitalismus auf den Punkt: „Die Fronten sind klar: Besorgte Menschen in der ganzen Welt von links bis rechts versuchen, sich im Kampf gegen die Globalisierung zu einigen. Sie wissen, was Globalisierung bedeutet, nämlich Amerikanisierung plus Judaisierung.”

Das deutlichste Beispiel für antisemitischen Antikapitalismus als Konnex linker und rechter Agitation ist Jürgen Elsässers „Volksinitiative gegen das Finanzkapital“.  Das ehemalige Mitglied des Kommunistischen Bundes Jürgen Elsässer rief 2009 zur Gründung dieser auf, da sie ein „bewusster Angriff des anglo-amerikanischen Finanzkapitals“ sein sollte, den es abzuwehren gelte. Hauptaufgabe der Initiative sei „die entschädigungslose Nationalisierung des Finanzsektors“. Kurz nach der Gründung der Initiative ließ der damalige NPD-Vorsitzende Holger Apfel über den Pressesprecher der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag verlautbaren, die Volksinitiative solidarisch zu begleiten. 2010 brachte Elsässer, nach Ausschluss aus der linken Zeitung „Neues Deutschland“, in der er bisher publizieren durfte, ein eigenes Magazin namens „Compact“ auf den Markt. Seit August 2011 erscheint das Blatt in der Compact-Magazin GmbH, die dafür von Elsässer zusammen mit seinen Genossen Kai Homilius und Andreas Abu Bakr Rieger gegründet wurde.

Andreas Abu Bakr Rieger ist deutscher Konvertit, der 1990 zum „Jihad gegen die Marktwirtschaft“ aufrief,  und 1993 betörte, dass die Nationalsozialisten für eine „gute Sache“ gekämpft hätten, bei ihrem Hauptfeind allerdings „nicht ganz gründlich“ gewesen seien. Abu Bakr ist Herausgeber der „Islamischen Zeitung“ und hat – welch Überraschung – 2011 sein Buch „Weg mit dem Zins!“ im Kai Homilius Verlag herausgebracht. Neben Hans Modrow, dem Ehrenvorsitzenden der deutschen Linkspartei, ist auch der österreichische Historiker Hannes Hofbauer zu erwähnen, der für seine Tätigkeit als Chef des linken Promedia-Verlages bekannt ist und ebenfalls für „junge welt“, „analyse und kritik“ und das „Neue Deutschland“ schreiben darf.

Dass auch namhafte Linke in Elsässers Querfront-Blättchen schreiben, ist kein Zufall, hat sich doch beispielsweise auch die österreichische Sozialdemokratie dieses Gedankengut zu eigen gemacht. Alfred Gusenbauer, anno dazumal Vorsitzender der SPÖ, erklärte gegenüber dem „profil“ (Nr. 15/02) den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital für „überholt“: „Der wahre Widerspruch liegt heute zwischen dem Realkapital und dem Finanzkapital, also dem Zusammenwirken von Unternehmern und Arbeitnehmern einerseits und den Mechanismen der Finanzmärkte andererseits.“ Diesen personalisierenden Antikapitalismus kann man bereits bei den anti-marxistischen, anarchistischen Theoretikern wie Michail Bakunin sowie bei manchen Sozialdemokraten wie Ferdinand Lassalle erkennen, deren Theorie ebenfalls auf der Ebene der Zirkulation verharrt.

Die Vertreter des antisemitischen Antikapitalismus, ob sie sich nun rechts oder links sehen, haben also eines gemeinsam: Man unterscheidet zwischen dem produktiven, heimatverbundenen Industriekapitalisten und gierigen Finanzhaifischen mit kosmopolitischer Orientierung. Es ist die Unterscheidung zwischen „schaffendes“ und „raffendes Kapital“ in neuer Terminologie, wodurch man alte antisemitische Ressentiments im Stil des nationalsozialistischen Gottfried Feders bedient, der einst die „jüdische Zinsknechtschaft“ brechen wollte. Wie Stephan Grigat bereits 2009 in der „Wiener Zeitung“ vom 19.03.2012 feststellte, hinkt die FPÖ allerdings zumindest terminologisch noch etwas hinterher: Vor einigen Jahren noch bezeichnete man dort die grüne und linke Opposition in klassischer Nazidiktion als „Handlanger der Amerikaner“.

Wenn Heinz-Christian Strache also in diesen Tagen in einem Inserat gegen „Entwurzelung“ wettert, so darf jedenfalls kein Zweifel daran bestehen, wer damit gemeint ist: Der Jude als Personalisierung der kapitalistischen Ökonomie.

 

David Kirsch studiert in Wien und schreibt auf exsuperabilis.blogspot.com

 

Karl Pfeifer: Lebenslanges Engagement gegen Antisemitismus

  • 30.01.2014, 13:56

Der Journalist Karl Pfeifer (*1928) ist ein Mahner gegen den Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Claudia Aurednik hat für progress online in einer Audiosendung mit Karl Pfeifer über sein Leben gesprochen. Die Musik hat Mark Klatt komponiert.

Der Journalist Karl Pfeifer (*1928) ist ein Mahner gegen den Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Claudia Aurednik hat für progress online in einer Audiosendung  mit Karl Pfeifer über sein Leben gesprochen. Die Musik hat Mark Klatt komponiert.

Nach seiner Rückkehr aus Israel im Jahre 1951 hat er in Österreich selbst jahrzehntelang unter Antisemitismus und Ausgrenzung gelitten. Im Gegensatz zu den meisten ZeitzeugInnen spricht Karl Pfeifer offen über seine Erfahrungen und die Problematik des österreichischen Juden- und Israelhasses, der in nahezu allen politischen Parteien zum Vorschein kam. Karl Pfeifer erhielt 2003 für sein Engagement und seine Zivilcourage die Ernst-Bloch Medaille der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich. Seine Erfahrungen sind erschütternd und verdeutlichen die Kontinuität der Problematik innerhalb von Politik und Gesellschaft. 

Ausschnitte aus der Sendung:

„Und man hat nie gegen mich vom Staat her diskriminiert. Das hat man nicht. Allerdings als ich wegen meines Staatsbürgerschaftsnachweis ins Magistrat der Stadt Wien 1951 kam, kam ich mit der Heimatrolle meiner Eltern und mit meiner Geburtsurkunde, die man in der jüdischen Gemeinde schnell ausgestellt hat. Dort hat man bei meinen Vornamen Karl Eduard Pfeifer bei Eduard das "d" vergessen. Der Beamte hat gesagt: ‚ein `d´ das geht nicht. Also so geht das nicht, das kann ich nicht bearbeiten. Sie müssen zurück und ein anständiges Geburtszeugnis holen‘. Ich habe gesagt: ‚Wissen Sie was,  ich mag das nicht mehr machen. Ich brauch jetzt einen Pass, weil ich eine Arbeit habe.‘ Darauf hin hat der Beamte gesagt: ‚Na ja, hamm‘s  eh recht a Jud braucht net zwei Vornamen‘. Das war so. Auch ein schöner Empfang. Uns hat man doch aufrichtig und gut empfangen in diesem Land.“

„Wo ich natürlich meine Schwierigkeiten hatte: Ich wurde in einem Kibbuz erzogen, wo man mir beigebracht hatte immer geradeaus seine Meinung zu sagen. Aber in Österreich lernten die Menschen schon in ihrer Kindheit, dass es besser ist nicht die direkt seine Meinung zu sagen.“

„…Ich bin ein Mensch, der nie seine Menschlichkeit aufgegeben hat, der für seine Ideen mit seinen bescheidenen Kräften gekämpft hat. Aber ich habe etwas getan. Die meisten, die zurückkamen, konnten dies nicht tun. Stellen Sie sich vor, ich war Geschäftsführer während der 1960er Jahre und da kamen Kunden – ich hatte ja mit Österreichern zu tun – und erzählten mir Gaskammerwitze. Wie hätte ich mich verhalten sollen? Hätte ich ihnen eine in die Goschn haun sollen und meine Existenz verlieren? Oder das was ich gemacht habe: Es hat sich mir auf den Magen geschlagen und ich habe Magengeschwüre bekommen.“

„Ich glaube, dass dieser Antizionismus - diese ungerechtfertigte Israelkritik, die mit sehr wenig berechtigter Israelkritik zusammengeht -, aus dem Bedürfnis des Kompensierens entsteht. Ich habe nie daran gezweifelt.“

„Ich habe nie pauschalisiert und von ‚den Österreichern‘ gesprochen und habe immer Unterschiede zwischen den Menschen gemacht. Und ich habe dann festgestellt, dass es sehr vielen Österreichern auf gut Wienerisch ‚Powidl‘ ist, ob jemand ein Jude ist oder nicht. Denn sie kennen nicht viele Juden. Während der Waldheim-Zeit hat mir Professor Gottschlich zwei Studierende geschickt, denen ich mein Archiv ‚Antisemitismus in den österreichischen Medien‘ gezeigt habe. Es kam ein Bursch hinein und ich habe ihn die Hand gedrückt, mich vorgestellt und ihm einen Kaffee angeboten. Dann kam ein Mädchen aus Oberösterreich und die drückte meine Hand und ließ sie nicht los. Sie sagte mir - meine Hand noch immer drückend - ‚Herr Pfeifer, Sie sind der erste Jude, den ich kennenlerne.‘ Daraufhin sagte ich: ‚Na ja, wir sind ja Menschen wie alle anderen.‘ ‚Nein‘, sagte sie und sie hielt noch immer meine Hand fest. Da war ich erschrocken und ich fragte sie ‘Warum nicht ?‘ Sie sagte mir folgendes: ‚Ich bewundere Ihr Volk so sehr wegen der Intelligenz.‘ Da sagte ich: ‚Hören Sie, ich arbeite seit zehn Jahren in einer jüdischen Institution und bekommen jeden Tag Beweise gegen Ihre These‘. Also das ist natürlich genauso ein Vorurteil wie jenes, dass Juden geizig, gierig oder so und so wären.“

 

progress online Rezension zu Karl Pfeifers Autobiographie „Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg“

Veranstaltungstipp:

Buchpräsentation:

Karl Pfeifer: Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg.

Wien: Edition Steinbauer 2013

Dienstag, 11.02.2014, 19.00 Uhr
Hauptbücherei am Gürtel, Urban Loritz-Platz 2a, 1070 Wien
Lesung und Diskussion mit Karl Pfeifer
Moderation: Heimo Gruber (Büchereien Wien)
 

Film:

Dokumentarfilm: Zwischen allen Stühlen – Lebenswege des Journalisten Karl Pfeifer

Regie und Produktion: Mary Kreutzer, Ingo Lauggas, Maria Pohn-Weidinger und Thomas Schmidinger.

Schnitt: D. Binder
http://film.antisemitismusforschung.net/

„Es hat ja damit angefangen…“

  • 27.01.2014, 11:40

Marko Feingold (*1913) hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und ist heute Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg. Djordje Čenić hat mit ihm für progress online über sein Leben nach 1945 und die österreichische Rechte gesprochen.

Marko Feingold (*1913) hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und ist heute Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg. Djordje Čenić hat mit ihm für progress online über sein Leben nach 1945 und die österreichische Rechte gesprochen.

progress online: Herr Feingold, die Kamera läuft, es wird ab jetzt alles aufgezeichnet. Wenn Sie etwas nicht aufgezeichnet haben wollen, dann sagen Sie es einfach.

Marko Feingold: Nein, ich bin ein offenes Buch, ich habe keine Angst. Ich stehe im Telefonbuch drinnen, ich habe keine Probleme diesbezüglich. Ich bin sogar interessiert daran, dass das weitergetragen wird, denn die Zeitzeugen sind viel weniger geworden.

Wir Österreicher haben unsere Geschichte nicht aufgearbeitet. Jetzt immer mehr kommt es heraus, insbesondere von der Sozialistischen bzw. Sozialdemokratischen Partei gedeckt, dass ja rot ziemlich braun gefärbt wurde, antisemitisch von Anfang an. Und jetzt kommt die Geschichte: Das ist ganz einfach entstanden, als 1938 der Dr. Karl Renner gleich für den Anschluss war. Er war für den Anschluss und wir gingen ins KZ, weil wir gegen den Anschluss waren. Nach 45 wollte er niemanden da haben, der wusste, was er 1938 gemacht hat. Was mich persönlich betrifft, am 11. April 45 ist Buchenwald befreit worden, unter den vielen Nationen, ich glaube 28 Nationen waren da, sind 27 Nationen geholt worden. Nur die 500 Menschen aus Österreich nicht. Wir werden bei den Amerikanern vorstellig, wir wollen nach Hause. „Ja, aber wir haben momentan keine Transportmittel.“ Da haben wir drei Busse der Verkehrsbetriebe von Weimar gekapert. 128 Häftlinge, durchwegs politische Häftlinge, gemischt - Juden, Nichtjuden -, so waren wir unterwegs, über Nürnberg, München, Salzburg, Linz. Da kommen wir an die Zonengrenze. „Halt!“ Die Russen lassen uns nicht durch. Auf Befehl von Renner dürfen keine KZler, keine Juden und keine Vertriebenen zurückkommen.

Warum eigentlich? Damit keiner da ist, der weiß, was 38 war!  So ein Mann, der für den Anschluss war, hätte niemals Bundespräsident werden dürfen. Denn er musste schon wissen, als Politiker musste er schon wissen, was in Deutschland war seit 33, in den fünf Jahren bis 38. Schon aus dem Grund hätte er Nein sagen müssen.

Und nach 1945 hat er sich mehr um die armen Nazi gekümmert, die da jetzt sind. Ob er daran gedacht hat, er könnte aus den Nazis Rote machen, darüber will ich nicht diskutieren. Selbst Politiker, die bei uns mit dabei waren, niemanden hat er durchgelassen. Ein Freund von mir, der Frau und Kind in Wien hatte, der wird jetzt 120 Kilometer vor Wien aufgehalten und er darf nicht nach Wien kommen. Das ist der Stand, von dem man ausgegangen ist. Man soll es nicht in die Länge ziehen, hat man da gleich formuliert. Auf der anderen Seite: Wehret den Anfängen. Man hat ja noch nicht Schluss gemacht und man soll schon den Anfängen wehren. Also lauter Blödsinn.

Das Absinken beider Parteien, dadurch konnte ja dann 1948 der VDU respektive die FPÖ auf einmal eine große Partei werden, denn sie waren alle rechtsradikal noch immer. Und in Salzburg ist man am rechtsradikalsten von ganz Österreich, man will es nur nicht zugeben. Die Schmierereien jetzt in der letzten Zeit sind das typische Beispiel. Wenn ich sage, Salzburg ist antisemitisch, streiten das Alle ab. Hätte ich das nicht 1945 erlebt, dann dürfte ich das ja nicht sagen, aber ein einziger Satz wird ihnen bestätigen, ich habe Recht.

In Salzburg waren ja ein paar hunderttausend Flüchtlinge, darunter auch sehr, sehr viele jüdische Flüchtlinge. Für die Flüchtlinge besorgten die Amerikaner Lebensmittel, die Stadtgemeinde musste nur die Kasernen, die damals alle leer waren, zur Verfügung stellen. Eines Tages kommt man zu mir, die Lager sind überfüllt, wir müssen die Leute weiterbringen. Es waren darunter jüdische Flüchtlinge,  die nach Palästina zogen - offiziell keine Möglichkeit. Bis hierher hat man sie mit unechten Fahrausweisen, mit falschen Papieren gebracht. Ganze Züge sind mit ihnen gekommen. Ich will auf das nicht eingehen, sie waren jedenfalls dann hier. Da ich perfekt Italienisch gesprochen habe, ich war sechs Jahre vorher in Italien, war es naheliegend für mich. Also ich muss das irgendwie arrangieren. Jetzt ist es so, man braucht Autos. Die Landesregierung hat alle im Land Salzburg stehengebliebenen Militärfahrzeuge gesammelt. Wenn ein Frächter jetzt ein Fahrzeug braucht, wird das geschwärzt. Er bezahlt, er kann es haben. An diese Stelle wurde mir empfohlen zu gehen. Ich wusste selbst nichts davon. Und ich ging dorthin.

Marko Feingold erzählt über seine Rückkehr nach Österreich. Foto: Djordje Čenić

Aber: „Nein, nein.“ „Passen Sie auf“, sagte ich, „es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich kriege die Autos, die ich brauche, oder die Juden bleiben da.“ „Wie viele brauchen Sie?“

Was ist das? Ist das antisemitisch oder nicht? Die Juden bleiben da – ein Schreckgespenst – und auf einmal: „Wie viele Autos brauchen Sie?“ Ich habe sechs bekommen.

So sehe ich schon 45 alles und so sehe ich das ununterbrochen weiter, Jahr für Jahr und immer wieder. Ein paar tausend Mal bin ich hier angegangen worden, ich war ja in Salzburg sehr bekannt – „Herr Feingold, warum gehen sie nicht nach Palästina?“ „Wenn Sie nach Rom gehen, gehe ich nach Palästina.“ Dann  sind die Leute draufgekommen, dass das doch ein bisschen zu hart war.

1948 die Gründung des VDU in Salzburg. Warum nicht in Kärnten, warum nicht in der Steiermark, warum in Salzburg? Überall hat´s geheißen, in Salzburg wären mehr Nazi, die Stadt der Erhebung, und was weiß ich was. Man kann darüber diskutieren - ausgerechnet in Salzburg!

Hier bei uns, der ORF hat sie engagiert, als Reporter, bei den Zeitungen, sind sie untergekommen. Canavals Schützlinge waren sie alle, das ist der Chef der Salzburger Nachrichten gewesen. Das ist ja alles hier zusammengekommen. Die Kameradschaft IV, eine SS-Formation, ich glaube sie marschieren jetzt auch noch am 1.November auf. Nur die meisten gehen auf Krücken oder werden auf Wägen herumgeführt, weil sie schon so alt sind.

Aber es hat Jahrzehnte Schwierigkeiten am Friedhof gegeben. Wir haben immer einen Tumult am 1. November gehabt, weil die sind in Reih und Glied marschiert zum Heldendenkmal und haben dort ihre Kränze hingelegt. Einige Male hat ein Münchner Künstler sogar die Schleifen abgeschnitten, weil sie hatten das Original- SS-Zeichen drauf, was nicht sein darf. Es hat einen Prozess gegeben gegen ihn. Ích glaube, zwei bis drei Jahre hat er nicht nach Salzburg kommen können, bis man das irgendwie eingestellt hat. Er war im Recht.

Jetzt nehme ich an, Sie haben auch irgendwelche Fragen?

In Salzburg gibt es seit Monaten Nazi-Schmierereien. Sie sind davon auch betroffen…
Wir sind gut versichert, wir werden das durch die Versicherung gedeckt bekommen. Aber die neue Gegensprechanlage ist kaputt, verschmiert. Es ist kein Bild zu sehen. Wir haben es schon versucht zu reinigen, aber ich glaube, es wird nicht werden. Die erste Anlage wurde beschädigt. So, dann haben wir eine neue Anlage bekommen. Wenige Tage später schon, mit einem harten Metallgegenstand eingeritzt, aber es hat noch funktioniert. Dann begannen die Schmierereien. Und das soll kein Antisemitismus sein?

Wissen Sie, das wachsame Auge unsereins sieht diese Sachen. Es stört sie natürlich. Andere sehen es ja nicht, oder sie wollen es nicht sehen, oder sie finden das sind Lausbübereien. Aber wie heißt so schön der Satz? Wehret den Anfängen.

Ja, was ist ein Anfang? Ein Anfang ist die Lausbuberei, ich habe es aus den 20er Jahren heraus in Erinnerung, es hat ja damit angefangen.

Was halten Sie von der FPÖ?

Ich war mit Haider sehr gut. Und ich habe intensive Gespräche mit ihm geführt. Ich habe ihm gesagt, er soll die scharfen Kanten, die er hat, mildern, dann könnte er tragbar werden. Aber hat auf mich nicht gehört. Die Betrügereien in Kärnten, die nach seinem Tod ans Licht gekommen sind, waren skandalös. Er hat ganz Kärnten in den Ruin geführt mit seinen Machenschaften. Er und seine Umgebung, lauter Gangster!  

Würden Sie nicht sagen, dass Haider ein dem Nationalsozialismus zumindest zugetaner Mensch war? Kann man das so sagen?

Ja, ja, ja.

War er ein Antisemit?

Das ist die alte Geschichte. Jeder Germane hat einen Juden gehabt, den er gut leiden konnte.

Und in Haiders Fall waren Sie das anscheinend.

Ja.

Sie hatten nie Berührungsängste?

Keine. Im Gegenteil. Er war einmal in Salzburg, als wir gerade bei der Gründung des Jüdischen Instituts bei einem Kollegen waren, unter der Festung. Auf einmal ruft mich ein befreundeter Notar an und teilt mir mit, der Haider ist da und wäre bei unserem Treffen gerne dabei. Es sei nicht mein Haus, ich bin nicht der Einlader, aber ich würde den Kollegen fragen, ob er was dagegen hat. Da gibt es eine Menge Fotos von ihm und mir zusammen im Gespräch oben. Und ich habe ihn gefragt, ob er sich bei der Finanzierung des Instituts beteiligen will. Ja, mit 800.000 Schilling. Er ist dann mit der Riess-Passer und einem Rechtsanwalt gekommen und hat mir einen Vorschuss von 400.000 gegeben. Daraufhin gab es eine Ausstellung von Künstlern bis 1938 in Österreich. Eine wunderbare Ausstellung. Wo immer man sie zeigte, wurde sie verlängert. Ich habe einen Platz gefunden, von den Festspielen zur Verfügung gestellt. Alles bestens, alles schönstens. Und wir haben eine Pleite gehabt. 200.000 Schilling Schaden. Durch die 400.000 konnten wir das abdecken. Sonst hätten wir es aus unseren Taschen bezahlen müssen. Die restlichen 400.000 habe ich nie gekriegt.

Ich habe noch ein paar persönliche Fragen an Sie. Sie sind ja 1945 eher durch Zufall in Salzburg gelandet… Hatten Sie jemals den Gedanken wegzugehen?

Nein, nein. Vielleicht als letzter Jude würde ich weggehen. Oder mich begraben lassen. Nein, ich hatte nie die Absicht, denn das hieße die Flinte ins Korn zu werfen. Nein, das kann ich nicht.

Glauben Sie, dass die Umtriebe der, nennen wir es einmal, Nazis schlimmer werden?

Nein. Nein, also ich persönlich fürchte keine Angriffe. Und außerdem wissen Sie, es wird sich keiner eine Ehre antun, einem 100-jährigen etwas anzutun. Mit der Zuversicht lebe ich. Es wird sich herausstellen, ob es stimmt oder nicht.

 

Marko Feingold (*1913 in Wien) ist Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Salzburg und betreut die Salzburger Synagoge. 1939 wurde Feingold nach Auschwitz deportiert. Von 1941 bis 1945 war er im KZ Buchenwald interniert, nach der Befreiung ließ er sich in Salzburg nieder, wo er bis zu seiner Pensionierung 1977 ein Modegeschäft betrieb. Marko Feingold ist aktiv als Zeitzeuge in Schulen und Pfarrgemeinden unterwegs und hat mit „Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh“ seine Überlebensgeschichte geschrieben.   

Feingold, Marko M.: Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Picus Verlag, Wien 2000.

 

Lina Čenić ist Juristin und Rechtsberaterin im Flüchtlingsbereich. Djordje Čenić ist Historiker und Filemacher.

 

 

Politaktivismus meets Isratrash

  • 12.12.2013, 11:20

Am 14. Dezember öffnen Ursula Raberger (32) und Stefan Schaden (37) zum vierten Mal die Pforten zum Wiener Kibbutz Klub. Doch das mittlerweile „angesagteste Event der Stadt“ ist weit mehr als eine Party. progress online hat mit den beiden GründerInnen über den Kibbutz Klub, die Wahrnehmung der jüdischen Kultur und den Antisemitismus gesprochen.

Am 14. Dezember öffnen Ursula Raberger (32) und Stefan Schaden (37) zum vierten Mal die Pforten zum Wiener Kibbutz Klub. Doch das mittlerweile „angesagteste Event der Stadt“ ist weit mehr als eine Party. progress online hat mit den beiden GründerInnen über den Kibbutz Klub, die Wahrnehmung der jüdischen Kultur und den Antisemitismus gesprochen.

progress online: Warum organisiert ihr in Wien eine Party mit israelischer Popmusik?

Ursula Raberger: Ich liebe Mizrahi Musik und israelischen Pop. Und ich liebe auch den Trashfaktor, der dieser Musik anhaftet. Hinzu kommt, dass Stefan und ich in der israelsolidarischen Szene aktiv sind und auch die AktivistInnen-Plattform QueerHebrews gemeinsam betreiben.

Stefan Schaden: Ich habe insgesamt zwei Jahre in Israel gelebt. Die israelische Musik ist während dieser Zeit ein Teil meines Alltags gewesen und ich habe sie in Österreich natürlich weitergehört. Politisch bin ich - wie Ursula bereits gesagt hat - in israelsolidarischen Gruppen aktiv. Bei meiner politischen Tätigkeit habe ich das Problem erkannt, dass israelische KünstlerInnen und Kulturschaffende in Österreich und Europa boykottiert werden, und dass Diskussionen über die Legitimität eines Boykotts israelischer Produkte geführt werden. Mit dem Kibbutz Klub schaffen wir einen Raum für israelische Kunst und Musik und zeigen gleichzeitig, dass ein Boykott nicht legitim ist.

Ursula: Ich bin Mitarbeiterin beim internationalen LGBT-Filmfestival TLVFest in Tel Aviv und habe dort Kulturboykott miterlebt. Nach dem Vorfall auf der Gaza-Flottille im Jahr 2010 haben FilmemacherInnen aus Brasilien ihre Filme zurückgezogen. Das hat mich schockiert, da dieses Filmfestival einen offenen Platz für Diskussionen bietet. Bei Israel wird aber ein anderer Maßstab angewendet. Auch in Österreich haben Stefan und ich erlebt, dass Filme aus Israel auf österreichischen Filmfestivals kaum gezeigt werden. Das ist wirklich schade. Denn es gibt wirklich viele tolle FilmemacherInnen, SängerInnen und MusikerInnen aus Israel, die hier nicht bekannt sind. Diesen Mangel wollen wir mit unserer Party ausgleichen.

 

Foto: Gregor Hofbauer

 

Wann habt ihr beschlossen den ersten Kibbutz Klub zu veranstalten?

Ursula: Stefan und ich haben sehr lange überlegt, ob wir so eine Party in Österreich überhaupt machen können. Denn leider gibt es noch immer einen sehr gravierenden und vorherrschenden Antisemitismus in diesem Land. Die Entscheidung für die Party ist im Sommer 2012 gefallen. Das war zu jener Zeit, als die FPÖ ihren unsäglichen und explizit antisemitischen Cartoon verbreitet hat und Fußballfans einen Rabbi am Wiener Schwedenplatz antisemitisch beschimpft haben. Antiisraelische Ressentiments waren damals und sind auch heute hierzulande sowieso immer anzutreffen. Daher haben Stefan und ich uns gesagt: Jetzt erst recht.

Stefan: Der heutige Antisemitismus reagiert sich stark am Staat Israel ab. Deswegen organisieren wir den Kibbutz Klub, um ein Stachel zu sein und den Raum zu besetzen.

 

Mit eurer Party erweitert ihr die Wahrnehmung jüdischer Kultur abseits der weit verbreiteten Klezmermusik.

Stefan: Die Klezmermusik bedient ein Klischee und kommt eigentlich aus einer zerstörten Kultur. Mittlerweile ist es so, dass man in Österreich nicht mehr so ein großes Problem mit den während des Nationalsozialismus getöteten Jüdinnen und Juden hat. Es wird ja auch „schon“ der Shoah gedacht und bei diversen Gedenkveranstaltungen werden traurige Mienen aufgesetzt. Aber das alles verkommt zum Ritual und es gibt kein Spillover zum heutigen Antisemitismus und der Tatsache, dass sich dieser sehr stark an Israel abreagiert und es Vernichtungsdrohungen gegen Israel gibt.

Ursula: Mich hat die Einweihung der Wachsfigur von Anne Frank in Madame Tussauds in Wien sehr gestört. Das ist etwas, das mir übel aufstößt und für mich eine Verkitschung des Todes von sechs Millionen jüdischen Menschen darstellt. Das möchte ich mit meiner jüdischen Identität nicht mittragen. Dagegen wehre ich mich. Da kann man noch so eine betroffene Miene machen und meinen, dass das total tragisch wäre. Denn in Wahrheit geht es um das Abfeiern der toten Jüdinnen und Juden. Wenn es aber um den Staat Israel geht, dann werden antisemitische Aussagen getätigt.

 

Das Leben in Israel und der Antisemitismus werden abseits von Kriegsberichterstattung und Dokumentarfilmen über die Shoah kaum thematisiert. Was meint ihr dazu?

Stefan: Es gibt ein aktuelles und ganz „tolles Beispiel“ über die Wahrnehmung des Antisemitismus in Österreich. Im ORF lief die Sendung Menschen und Mächte über die 1980er Jahre in Österreich. Darin wurde natürlich auch über die Waldheim-Affäre 1986 berichtet. Und auch die internationale Kritik an Waldheim wurde darin angesprochen. Der Sprecher der Doku sagte: „Die Angriffe des jüdischen Weltkongresses förderten antisemitische Ressentiments.“ So nach dem Motto: die Juden sind am Antisemitismus Schuld. Das ist typisch für Österreich.

Ursula: Stefan und ich versuchen bei den Queer Hebrews auf derartige Missstände hinzuweisen. Und es ist uns sehr wichtig zu betonen, dass aus unserer aktivistischen Arbeit heraus der Kibbutz Klub entstanden ist. Denn der Kibbutz Klub ist quasi die einzige Party, um die israelische Kunst und Kultur - die hier weitgehend ignoriert wird – zu fördern und bekannt zu machen.

 

Foto: Gregor Hofbauer

 

Welche Leute besuchen den Kibbutz Klub?
Ursula:
Ich war beim ersten Mal überrascht, dass das Publikum so gemischt ist. Denn den Kibbutz Klub besuchen Gay-Hipster, junge jüdische Leute, StudentInnen von der Bildenden und Angewandten ebenso wie Anzugträger.  Dieser wilde Mix feiert dann eine Party, die auch Queer ist. Zur Party kommen aber auch jene, die mit der LGBT-Szene sonst nichts zu tun haben und feiern mit. Und es freut mich, dass wir mit unserem DJ Aviv (without the Tel) – der als Israeli in Berlin lebt – bei unserem Publikum Stimmung machen.

 

Hattet ihr auch unangenehme Erlebnisse mit manchen Gästen?

Stefan: Wir verwenden unter anderem den Hebrew Hammer – das sind aufblasbare Luftmatratzen in Hammerform mit Israelfahne - als Dekorationsobjekt. Einmal ist eine junge Frau zu mir gekommen und hat mich folgendes gefragt: „Was ist denn das für ein Hammer? Hat der etwas mit der Unterdrückung der Palästinenser zu tun?“ Ich habe wirklich keine Ahnung, was die Fantasie von dieser Person war.

Ursula: Wann immer eine Israelfahne zu sehen ist – oder auch eine noch so kleine Israel-Anstecknadel – wird man blöd angemacht. Aber über andere Fahnen – wie beispielsweise jamaikanische Fahnen auf Reggae-Partys – regt sich niemand auf.

 

Foto: Gregor Hofbauer

 

KIBBUTZ KLUB – THE CHOSEN PARTY

Samstag: 14.12.2013, 22:00 Uhr
CLUB U, Künstlerhauspassage, Karlsplatz, 1010 Wien, www.club-u.at

DJ Aviv without the Tel (Berlin Meschugge)
DJ J'aime Julien (Malefiz)
VJ Alkis

Eintritt: 5 Euro
Cocktails Happy Hour 22:00-23:00 Uhr
SPECIAL: israelisches Bier GOLDSTAR – solange der Vorrat reicht!

 

Kontakt: kibbutzklub@gmail.com

facebook.com/KibbutzKlub

facebook.com/qhebrews

 

„Hoppauf, Hakoah!“

  • 01.12.2013, 13:17

Der jüdische Sportverein Hakoah Wien zählt seit mehr als 100 Jahren zu einem der erfolgreichsten Sportvereine Österreichs. Eine Fotoreportage von Margot Landl und Sarah Langoth.

Der jüdische Sportverein Hakoah Wien zählt seit mehr als 100 Jahren zu einem der erfolgreichsten Sportvereine Österreichs. Eine Fotoreportage.

Der SC Hakoah wurde im Jahr 1909 als Zeichen jüdischer und zionistischer Kultur und gleichzeitig als Reaktion auf die in immer mehr Sportvereinen gültigen rassischen Arierparagrafen gegründet. Diese schlossen Juden und Jüdinnen in Zeiten des wachsenden Antisemitismus immer stärker vom gesellschaftlichen und damit vereinssportlichen Leben aus. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg feierte die Hakoah viele Erfolge und war weltweit einer der erfolgreichsten Breitensportvereine. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde auch die Hakoah aufgelöst und enteignet.

Nach 1945 konnte die Vereinstätigkeit jedoch bald wieder aufgenommen werden. Heute steht ein modernes Sportzentrum auf dem etwa 2000 Quadratmeter großen Grundstück im zweiten Wiener Gemeindebezirk, welches dem Verein erst 70 Jahre nach seiner Enteignung zurückgegeben wurde.

 

Foto: Sarah Langoth

„Hakoah“ ist hebräisch und bedeutet so viel wie „Kraft“. Der Verein war ein Teil jüdischer Kultur und ist es auch heute noch. „Heute besitzen wir etwa 500 Mitglieder und natürlich sind die meisten davon jüdischer Religion, doch wir sind offen für Menschen aus allen Kulturen und Religionen“, erklärt der Präsident des Vereins Paul Haber.

„Viele Menschen kommen auch einfach zu uns, weil sie unsere Angebote nutzen möchten. Markus Rogan ist auch erst zum Judentum übergetreten, als er schon lange nicht mehr bei uns trainiert hat. Nicht der Hakoah, sondern der Liebe wegen“, schmunzelt er.

 

Foto: Sarah Langoth

Der Präsident Paul Haber ist der 69-jährige Sohn von Karl Haber, der die Hakoah nach dem Krieg neu gegründet hat. „Ich bin im Verein groß geworden. Meine Großeltern sind alle im Krieg umgekommen, viele Verwandte emigriert oder gestorben. Die Hakoah war, wenn man so will, ein Familienersatz.“

In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zählte die Hakoah etwa 8000 Mitglieder – „So viel, wie heute die ganze Kultusgemeinde“, überlegt Paul Haber. Der Verein war mehr als ein Sportklub, er hatte ein eigenes Orchester, veranstaltete Bälle und die Fußballmatches zogen auch Juden und Jüdinnen an, die sich sonst eher wenig für Sport begeisterten. 25.000 ZuschauerInnen bei einem Derby waren keine Seltenheit. Der Schlachtruf lautete: „Hoppauf, Hakoah!“.

 

Foto: Sarah Langoth

Mannschaftssportarten wie Fußball, Handball oder Wasserball waren beliebte Disziplinen beim SC Hakoah. Ein Wasserballer, der auf anderem Weg berühmt geworden ist,  ist der Schriftsteller Friedrich Torberg. Heute besteht der Verein aus den Sektionen Basketball, Bowling, Judo, Karate, Schwimmen, Tennis, Tischtennis, Wandern und Skifahren.

 

Foto: Sarah Langoth

Bela Guttmann war 1925 mit dem Fußballklub der Wiener Hakoah österreichischer Meister, danach führte er als Trainer beispielsweise Spanien zu einem Sieg im Europacup.

Der Fußballplatz war, damals wie heute, immer ein Ort der Emotionen. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten wurde auch das Fußballfeld immer mehr zum Platz der Diskriminierung und der Gewalt, bis schließlich ab 1933 die sportliche Tätigkeit der Hakoah in allen Bereichen immer stärker eingeschränkt und schließlich unterbunden wurde.

 

Foto: Sarah Langoth

Eine der erfolgreichsten und berühmtesten Schwimmerinnen der Hakoah war Hedy Bienenfeld. Sie gewann nicht nur verschiedene österreichische, sondern auch zahlreiche internationale Meistertitel, beispielsweise bei den Maccabiaden, der größten jüdischen, internationalen Sportveranstaltung.

Bei vielen Wettbewerben waren die SportlerInnen offenen antisemitischen Angriffen ausgesetzt. „Bei manchen Bewerben musste die Hakoah-Ringerstaffel die Schwimmerinnen bis zum Start begleiten“, erzählt Paul Haber. Nicht alle von ihnen nahmen diesen Zustand wortlos hin: Im Jahr 1936 verweigerten die Schwimmerinnen Judith Deutsch, Lucie Goldner und Ruth Langer neben einigen Leichtathleten die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Berlin aus Protest gegen die nationalsozialistische Rassenideologie – eine Entscheidung, die nach den Statuten des Internationalen Olympischen Komitees erlaubt war. Daraufhin wurden sie durch den österreichischen Schwimmverband lebenslänglich gesperrt und es wurden ihnen alle Titel aberkannt. Es dauerte bis in die 1990er Jahre, bis die Sportlerinnen öffentlich rehabilitiert wurden.

 

Foto: Sarah Langoth

Paul Haber zeigt auf die vielen Pokale, Plaketten und Medaillen, die in den Schaukästen im Eingangsbereich des Sportzentrums ausgestellt sind: „Die Hakoah konnte in allen betriebenen Sportarten mindestens einen Staatsmeistertitel vorweisen, in einigen Bereichen konnte man sogar Weltklassesportler hervorbringen, wie beispielsweise Ringen oder Schwimmen. In den 1930ern  waren wir der größte Allroundsportklub der Welt.“

Der SC Hakoah war auf Breitensport hin ausgerichtet, das Angebot des Vereins vor dem Zweiten Weltkrieg umfasste dreizehn verschiedene Sportarten: Fußball, Schwimmen, Ringen, aber beispielsweise auch Fechten oder Schach. Trotzdem, oder genau deshalb, gelang es, in einigen Sportarten SportlerInnen bis an die Weltspitze zu bringen.

 

Foto: Sarah Langoth

In dem Museum des SC Hakoah, welches eine Enklave des Jüdischen Museums Wiens ist, sind Fotos, Texte und Gegenstände ausgestellt, welche hauptsächlich die Zeit vor 1945 thematisieren. Der muskulöse Mann auf dem Schwarz-Weiß-Foto ist Paul Haber im Jahr 1964, als er österreichischer Meister im Schwimmen wurde.

Schwimmen war eine der wenigen Sportarten, welche im Verein kontinuierlich ausgeübt werden konnte, da man dafür nicht viele Ressourcen benötigte. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Verein die meisten seiner, vor allem jungen Mitglieder und sein gesamtes Eigentum verloren hatte, waren Schwimmen und Leichtathletik vorerst die einzigen Sportarten, die weiter praktiziert werden konnten.

 

Foto: Sarah Langoth

Da das Sportzentrum erst 2008 nach der Rückerstattung des Hakoah-Grundstücks gebaut wurde, ist es äußerst modern ausgestattet. „Es ist mit Sicherheit eines der modernsten Fitnessstudios Österreichs“, beurteilt Paul Haber.

Durch die Zusammenarbeit mit der TU und Universität Wien soll auch alles getan werden, um immer auf dem neuesten Stand der Forschung zu bleiben. Ein Team aus PhysiotherapeutInnen, SportmedizinerInnen, TrainerInnen und LeistungssportlerInnen steht den Mitgliedern des Vereins zur Verfügung.

 

Foto: Sarah Langoth

Das Sportzentrum besitzt eine sogenannte „Dreifach-Halle“, welche in drei einzelne Hallen unterteilt werden kann. Diese wird unter der Woche von der benachbarten jüdischen Zwi Perez Chajes-Schule genutzt, die dort ihren Turnunterricht abhält.

Auf der anderen Seite des Gebäudes grenzt das Maimonides-Zentrum an, eine Kombination aus betreutem Wohnen und Seniorenheim für vorwiegend jüdische Personen. Auch einige von diesen kommen regelmäßig in das Fitness- und Wellnesscenter.

 

Foto: Sarah Langoth

Der Außenbereich der Sportanlage besteht aus drei Tennisplätzen, einem Hartplatz und einem Swimming Pool für den Sommer. Alle Sektionen haben hier ihren Standpunkt, außer die Bowling- und die Schwimmsektion, die in eigenen Hallen in anderen Bereichen Wiens trainieren.

 

Foto: Sarah Langoth

Neben dem Fitnessbereich besitzt das Sportzentrum auch einen modernen Wellnessbereich mit Sauna, Solarium und Massagemöglichkeit. Ebenso gibt es einen Aufenthaltsbereich im Freien für den Sommer, einen Seminarraum oder eine Cafeteria, das Tagesgericht ist ein Falafelteller.

„Wir haben ein relativ hohes Durchschnittsalter im Verein, die ältesten Mitglieder sind über 80 Jahre alt. Ich selbst lege als Sportmediziner einen besonderen Schwerpunkt auf ältere Menschen“, erzählt Paul Haber. Andererseits ist der Verein auch eine Trainingsakademie für LeistungssportlerInnen und bringt immer wieder Medaillenhoffnungen wie den Judoka Stephan Hegyi hervor. Alle Generationen sollen eingeladen sein.

 

Sportclub Hakoah
Karl Haber Sport & Freizeitzentrum
Simon-Wiesenthal-Gasse 3 (Eingang: Wehlistr. 326)
1020 Wien

Telefon: +43/1/726 46 98 - 0
FAX:      +43/1/726 46 98 - 999
e-Mail:    office@hakoah.at

Öffnungszeiten:
 Mo. - Fr. (werktags): 08:00 - 22:30
 Sa., So., feiertags:    09:00 - 21:00

Neonazistische Umtriebe in Salzburg

  • 28.11.2013, 12:32

In den letzten Monaten kam es in Salzburg zu gewalttätigen Übergriffen und Sachbeschädigungen gegen antifaschistische Mahnmale und linke Lokale. Am 9. November, den Jahrestag des Novemberpogroms, beschädigten Neonazis die städtische Synagoge. Lina Čenić berichtet für progress online über Salzburgs rechte Szene.

In den letzten Monaten kam es in Salzburg zu gewalttätigen Übergriffen und Sachbeschädigungen gegen antifaschistische Mahnmale und linke Lokale. In der Nacht auf den 9. November, den Jahrestag des Novemberpogroms, beschädigten Neonazis die städtische Synagoge. Lina Čenić berichtet für progress online über Salzburgs rechte Szene.

In der Stadt Salzburg fallen bereits seit dem späten Sommer Naziparolen an Wänden, Schulen und linken Lokalen auf. Doch bereits zuvor existierte in der Stadt eine aktive rechte Szene, in der von manchen konsequent der Anschluss Südtirols an Österreich propagiert wird. Die Rechten schrecken dabei auch vor Gewalt nicht zurück und haben die beiden autonomen Läden – Sub und Infoladen -  der Stadt mehrmals angegriffen. Zudem kam es zu gewalttätigen Attacken gegen Bettelnde und Roma sowie zu rassistischen Übergriffen. Bei einem wurde eine Frau pakistanischer Herkunft in einem Bus niedergeschlagen. Sie erlitt dabei einen doppelten Kieferbruch. 2012 wurde das Lokal „Odins Bar“ geschlossen, weil eine Hakenkreuzfahne an der Bar hing, die von den Ermittelnden zwar nicht mehr gefunden wurde, stattdessen fanden sie aber rund 200 verbotene Lieder. Da Salzburg auch eine Universitätsstadt ist, sind auch die deutschnationalen Burschenschaften, wie zum Beispiel Germania und Gothia, präsent.

Anfang November diesen Jahres wurden die Türschlösser von zahlreichen zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen sowie von der einzigen in Salzburg noch existierenden Synagoge verklebt. Gerade in der Nacht von 8. auf 9. November, den 75. Jahrestag zur Erinnerung an das Novemberpogrom der Nazis, kam es zum wiederholten Mal zu Beschädigungen an der Synagoge. Auch zahlreiche Stolpersteine, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, wurden geschändet. Während der ersten Schändungswelle, die bis zum 24. Oktober 2013 andauerte, wurden vorerst nur jene Stolpersteine beschmiert, die an jüdische Opfer der NS-Vernichtungspolitik erinnern. Viele der Schmierereien waren explizit antisemitisch und nationalsozialistisch codiert. Erst bei einer zweiten Schändungswelle waren auch Stolpersteine anderer Opfergruppen betroffen. Am vergangenen Wochenende kam es erneut zu mehreren Stolpersteinbeschmierungen.

 

Eine einzige Anzeige bei fünf Verdächtigen

Nach den Schändungen erstattete das Personenkomitee Stolpersteine eine Anzeige wegen Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinne. Auch der Verfassungsschutz wurde eingeschaltet. Für die Schmieraktionen von 31 Stolpersteinen und mehreren NS-verherrlichenden Beschmierungen an anderen Objekten gibt es nun einen geständigen zwanzigjährigen Tatverdächtigen, der bereits - unter anderem auch einschlägig - vorverurteilt ist. Doch nach einem Bericht des ORF Salzburg vom 25. Oktober 2013 waren mindestens noch vier weitere Personen an den Taten beteiligt und haben Schmiere gestanden. Hier hat sich möglicherweise eine rechtsradikale Gruppe zusammengefunden, um gemeinsam strafrechtlich relevante Hassdelikte zu begehen. Momentan ist der Verdächtige noch in Untersuchungshaft, die nächste Haftprüfungsverhandlung wird Anfang Dezember stattfinden.

Foto: Lina Cenic

Stolpersteine erneut beschädigt

Fest steht jedenfalls, dass der Verdächtige seit seiner Inhaftierung Ende Oktober nicht mehr für die neuen Schmierereien und Beschädigungen verantwortlich sein kann und dass es mehrere Täter_innen  geben muss. Dem Verdächtigen wird die öffentliche Betätigung für die Ziele der NSDAP sowie die Verherrlichung ihrer Maßnahmen und Einrichtungen zur Last gelegt. Weitere Personen, wie etwa die zwei Frauen und die beiden Männer, die Schmiere gestanden haben sollen, wurden nicht angezeigt. „Wir haben Ende Oktober den Beschuldigten ausgeforscht, er ist geständig zu einem Großteil der Taten. Seit Inhaftierung des Verdächtigen kam es wiederum zu neuen Beschädigungen an Stolpersteinen – diesmal wurde eine andere Farbe benützt. Der verdächtige Ersttäter kann ausgeschlossen werden. Jetzt wird im engsten Umfeld des Täters ermittelt. Es ist unklar, ob es parallel zu den Schmierereien, die früher begonnen haben, tatsächlich neue gibt, denn nach einigen Tagen bereits kann nicht mehr eindeutig bestimmt werden, wie lange die Farbe drauf war“, erklärt Hermann Rechberger, Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in einem Telefoninterview am 14.11.13 und führt aus: „Sämtliche Beschmierungen zeigen eine Handschrift. Dennoch kann man nie ausschließen, dass andere mitbeteiligt waren. Entweder er hat tatsächlich alle Taten begangen, oder nach der Inhaftierung die Verantwortung für alle Taten übernommen, um andere zu schützen. Ob es eine Gruppe war, ist noch zu prüfen.“ 

 

Verdächtiger steht zu rechter Gesinnung

Momentan wird kein/e Graphologe/Graphologin zur Einholung eines Schriftgutachtens wegen der Schmierereien beschäftigt. Allerdings plant die Polizei eingehende Tatortbefragungen durchzuführen. Der sich in Untersuchungshaft befindende Verdächtige steht jedenfalls zu seinen Taten und seiner rechtsradikalen Einstellung. Hermann Rechberger gibt an, dass der Verdächtige bei den Beschuldigteneinvernahmen nicht verhehlt, dass das seine Überzeugung ist und er nur das schreibt, was er tatsächlich glaubt. Andere Einzuvernehmende kommen in einschlägig erkennbarer Bekleidung zu den Einvernahmen. Viele davon haben teilweise keinen Schulabschluss und keine Ausbildung. Ihrer Ansicht nach sind die Ausländer die Sündenböcke und schuld daran, dass sie keine Arbeit bekommen. Und Rechberger ergänzt, „Es gibt in Salzburg keinen Küssel [Anm.: Neonazi-Führer Gottfried Küssel], die Ideologen sind in Haft oder im Ausland. Die hier denken, die Beschäftigungspolitik und der Bau der Autobahnen - das war schon gut von Hitler.“

Von einer kriminellen Organisation geht Rechberger nicht aus: „Der §278a ist meiner persönlichen Meinung nach nicht für diese Gruppe gedacht, da will man an andere Gruppen rankommen.“ Über die Szene in Salzburg meint Rechberger: „Das gesamte Umfeld wird genau angeschaut. Der Verdächtige gehörte in den Dunstkreis der wegen Wiederbetätigung geschlossenen Bar, war jedenfalls öfter dort Bargast. In diesem Milieu begegnen einem immer die gleichen Personen.“

Foto: Lina Cenic

 

Doch die Beschädigungen der letzten Wochen sind leider nichts Neues. Denn die Rechtsradikalen in Salzburg haben in den letzten Jahren Einrichtungen, die einen anderen Diskurs prägen wollen und antifaschistische Arbeit leisten, beschädigt. Bereits 2011 wurden drei Stolpersteine herausgerissen. Damals wurde/n der/die Täter_innen nicht gefasst. Die Steine wurden  nachverlegt. Die Polizei hat damals das Problem  nicht in vollem Ausmaß erfasst und sprach von Metalldiebstahl, nicht von Wiederbetätigung“, erklärt Thomas Randisek vom Personenkomitee Stolpersteine in einem Telefoninterview vom 14. November 2013.

 

Salzburgs rechte Szene

Rechte in Salzburg schrecken auch vor körperlicher Gewalt gegenüber Bettelnden, Roma und people of colour nicht zurück. Denn Antisemitismus, Xenophobie und Verharmlosung des Nationalsozialismus sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. So lobte beispielsweise Bernd Huber, der Büroleiter des stellvertretenden ÖVP Bürger_innenmeisters Harald Preuner, den NS-Kampfflieger und Rechtsradikalen Hajo Herrmann in der Zeitung des Salzburger Kameradschaftsbundes als tadellosen Soldaten. Huber ist auch nach wie vor in der Stadtregierung beschäftigt und bezieht seinen Lohn aus öffentlichen Geldern. Sein Chef Preuner ist einer der Vorreiter im Kampf um ein bettler_innenfreies Salzburg und für die Einführung von Verbotszonen, in denen er  auch die  Sexarbeiter_innen aus dem Stadtbild entfernen möchte.

Der neueste Streich der Stadtregierung war die Erhöhung des Strafrahmens für wildes Campieren von € 350,-- auf € 10 000--. Auch diese von der SPÖ Salzburg mitgetragene Maßnahme zielt auf die Vertreibung und Kriminalisierung von Armut ab. Wenn der Landtagsmandatar Karl Schnell in seiner Funktion als FPÖ-Spitzenkandidat für die Salzburger Landtagswahlen ungestraft Naziterminologie benützt, dann ist das weder ein Patzer noch ein Versehen. In einem Presseinterview vom 14. April 2013 erklärte Schnell, dass es in gewissen Bereichen eine „Umvolkung“ geben würde. Diese Ausgrenzungspolitik und die Verwendung von Nazi-Begriffen sind ein Nährboden für Fremdenhass und die Stigmatisierung von Sündenböcken. In ganz Europa hat die Gewaltbereitschaft der Rechtsextremen wieder zugenommen.

 

Handlungsbedarf

Vor dem Hintergrund dieser wachsenden rechten Bewegung ist das Beziehen einer klaren Gegenposition unerlässlich. Ein Teil der aktiven Erinnerungspolitik muss es sein, Bezüge zur Gegenwart herzustellen und gemeinsam auf die Menschenrechte zu achten.

Gegen die neonazististischen Umtriebe hat sich in Salzburg auf Initiative der ÖH die Plattform gegen Rechts gegründet, die ein überparteilicher Zusammenschluss gegen Antisemitismus und Rassismus ist.

Eine Demonstration ist für den 29.11.13 angesetzt. Treffpunkt ist um 17:30 beim antifaschistischen Mahnmal am Hauptbahhof.

 

Gedenken und Gegenwart

  • 12.11.2013, 13:23

Jedes Jahr findet am 9.November, dem Tag des Gedenkens an das Novemberpogrom, eine Gedenkkundgebung für die Opfer des Nationalsozialismus am ehemaligen Wiener Aspangbahnhof statt. Heuer haben um die 200 Menschen teilgenommen, um der Vergangenheit zu gedenken und die Gegenwart kritisch zu hinterfragen. Margot Landl hat für progress online an der Kundgebung teilgenommen.

Jedes Jahr findet am 9.November, dem Tag des Gedenkens an das Novemberpogrom, eine Gedenkkundgebung für die Opfer des Nationalsozialismus am ehemaligen Wiener Aspangbahnhof statt. Von diesem Ort haben die NationalsozialistInnen während der Jahre 1939 bis 1942 über 10.000 Menschen in Vernichtungslager deportiert.  Heuer haben um die 200 Menschen teilgenommen, um der Vergangenheit zu gedenken und die Gegenwart kritisch zu hinterfragen. Margot Landl hat für progress online an der Kundgebung teilgenommen.

 

„Weit, weit in Polen, am Ufer des Dnester, ist der Krieg entbrannt, bei Nacht und Nebel bin ich mit mein Esther und mit mein‘ Weib davon gerannt.

Wochen und Wochen durch Steine und Feld, Tage und Nächte in der einzigen Kält‘. Das konnten die zwei nicht ertragen, jetzt bin ich allein auf der Welt.“ ---

 

Nach dieser Strophe ist das Lied zu Ende, die Ziehharmonika gibt unter dem letzten Druck noch ein paar knarrende Töne von sich, dann ist es still. Sekunden später erklingt Applaus für jenen älteren Herrn, der sich mit einem leichten Nicken und einem zarten Lächeln für den Beifall bedankt, bevor er das Instrument abstellt. Auf einer Bierbank vor der Bühne sitzt ein altes Ehepaar andächtig nebeneinander. Die Frau hält immer noch den Blick gesenkt, auf ihren Lippen liegt ein zaghaftes Lächeln. Als der Veranstaltungsleiter vom Wiener Arbeiter*innen Syndikat sich bei dem Musiker Isaac Loberan bedankt, dass er auch ohne seinen kurzfristig verhinderten Partner vom Klezmer Ensemble „Scholem Aljechem“ aufgetreten ist, antwortet dieser schlicht: „Es war mir wichtig“.

 

Am Platz der Opfer der Deportation

Wichtig ist die Veranstaltung wohl für alle Menschen, die sich am Abend des 9. November 2013 zur Gedenkfeier anlässlich der Novemberpogrome vor 75 Jahren bei dem Gedenkstein am ehemaligen Wiener Aspangbahnhof eingefunden haben. Seit 1994 heißt dieser Ort „Platz der Opfer der Deportation“. Der kleine Park ist nach dem jüdischen Publizisten Leon Zelman benannt. Etwa in der Mitte der Grünanlage sind heute, anlässlich der Gedenkfeier, drei weiße Planen befestigt, auf denen in neun Spalten alphabetisch Namen aufgelistet sind. Es sind um die 800 Namen jener Menschen, die  am 5. Juni 1942 deportiert wurden. Darüber steht in roter Schrift geschrieben: „In den Jahren 1939 – 1942 wurden vom ehemaligen Aspangbahnhof zehntausende österreichische Juden in Vernichtungslager transportiert und kehrten nicht mehr zurück.“ Die etwa 800 Namen auf den Transparenten benennen ausschließlich die Deportierten des Transports vom 5. Juni 1942 nach Izbica.

 

Foto: Christopher Glanzl

 

„Ich bin von der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung“ erklärt ein junger blonder Mann in einer grünen Regenjacke, während er die Transparente betrachtet. „Wir betreuen Asylwerber und sind heute Mitveranstalter der Gedenkfeier, denn jeder von uns trägt eine Verantwortung – damals wie heute. Und das Problem der Diskriminierung ist immer noch aktuell.“

 

„Wir wussten von nichts“ – Wir wissen von nichts?

Der aktuelle Aspekt ist in der Kundgebung präsent. Sowohl im Bewusstsein der Anwesenden, wie auch in den Reden der verschiedenen RepräsentantInnen. Wilhelm Mernyi, der Vorsitzende des Mauthausen-Komitees Österreich, zitiert aus den Aussagen von SS-Männern, die diese während ihrer Gerichtsprozesse nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands tätigten. Es sind Aussagen wie: „Ich wusste nicht, was dieses Zeichen auf der Fahne bedeutete. Ich war ständig betrunken und hab von alldem nichts mitbekommen. Meine rechte Hand hob ich nur gegen die Sonne“. Ein paar Leute kichern über die Dummheit dieser Ausreden, „Unfassbar!“, murmeln einige. Die meisten wissen offensichtlich nicht, ob sie angesichts dieser unverschämten Aussagen lachen oder weinen sollen. „Die verarschen uns sogar noch vor Gericht!“, wettert Mernyi. Er spannt den Bogen bis ins 21.Jahrhundert, konkret bis zum aktuellen „Objekt 21“-Prozess, der letzte Woche in Wels mit Schuldsprüchen für alle Angeklagten sein Ende fand: „Wieso hat es bis zu diesem Prozess so lange gedauert? Wieso war der Verfassungsschutz so lange untätig? Und wieso werden hier immer noch viele Zusammenhänge verschwiegen?“. An diesem Abend geht es auch um das, was heute passiert, vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

 

„Niemals vergessen“ steht schwarz auf weiß auf einem beleuchteten Transparent, das zwischen zwei Bäumen zur Straße hin befestigt wurde und die Ankommenden zur Veranstaltung führt. Wenn man von der S-Bahn-Station Rennweg den Gleisen in Richtung des Platzes der Opfer der Deportation folgt, hört man bereits von fern die Stimmen der RednerInnen. Nur wenige Autos fahren heute auf der Straße neben der Zugstrecke, die Nacht ist kühl und ruhig. Einzig die S-Bahn Richtung Floridsdorf, die alle paar Minuten vorbeirattert, und das Surren der Scheinwerfer stören die Andacht ein wenig. Am Rand des Platzes haben einige AktivistInnen provisorische Stände aufgebaut, um im Zuge der Veranstaltung auch Mitglieder für ihre Organisationen anzuwerben. Ankommenden, die über diese Tatsache meist wenig begeistert sind, werden sofort Flugblätter der „Revolutionären KommunistInnen“ in die Hand gedrückt. Außerdem sind auch VertreterInnen von Gruppen wie „Nazis raus aus dem Parlament“ oder das „Antifa Komitee für Griechenland“ mit Flyern, Spendenkassen und Broschüren anwesend.  Insgesamt stört das die Veranstaltung ein wenig. Es entsteht das Gefühl, dass hier versucht wird, die Veranstaltung für partielle Interessen zu instrumentalisieren, die jedoch nicht mehr alle BesucherInnen betreffen und so möglicherweise in ihrer Andacht stören.

 

Foto: Isabella Riedel

 

Die etwa 180 TeilnehmerInnen der Gedenkfeier stehen in welkem Herbstlaub im Halbkreis um die kleine zeltartige Überdachung des RednerInnentisches und des Notenständers. Scheinwerfer beleuchten die Transparente und das Rednerpult, ein paar Bierbänke sind aufgestellt, um vor allem den zahlreichen älteren TeilnehmerInnen das lange Stehen abzunehmen. Für die Facebookveranstaltung „NIEMALS VERGESSEN! Nie wieder Faschismus! Mahnwache und Kundgebung“ haben von etwa 700 eingeladenen Gästen lediglich sechzehn zugesagt. Das Publikum hier wird von älteren Personen dominiert. „Die Gedenkfeier als Projekt der Initiative Aspangbahnhof  gibt es bereits seit 1994. Allerdings waren noch nie so viele TeilnehmerInnen wie heuer da“, erklärt einer der Organisatoren vom Wiener Arbeiter*Innen Syndikat. Die Accessoires des Abends sind Schirm, Handschuhe und Baskenmütze. Die Menschen haben ihre Hände in den Hosentaschen vergraben, um sie bei dem nasskalten Wetter ein wenig anzuwärmen. Um die acht Grad Celsius und den immer wieder einsetzenden leichten Nieselregen erträglicher zu machen, haben die Veranstalter ein paar Behälter mit warmem Tee bereitgestellt. Auf einer der Parkbänke sitzen zwei Frauen und trinken Tee aus ihren Thermoskannen. Dampf steigt auf in der nasskalten Spätherbstluft.

 

Auf der Bank daneben sitzt eine asiatisch aussehende Frau, die eine lachende Filzsonne an ihren braunen Parka geheftet hat. Sie ist Künstlerin unter dem Namen Lilli Fortuna und hat durch eine Freundin, welche Mitglied der Grünen ist, von der Gedenkfeier erfahren. Auf die Frage, warum sie an diesem Abend hier ist, antwortet sie: „Ich lebe mittlerweile seit 27 Jahren in Wien. Nun besitze ich seit zwei Jahren auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Als ich von Japan hergekommen bin, habe ich sehr viele Holocaust-Dramen gesehen. Für mich wäre es eine Schande, als neue Staatsbürgerin über diese Zeit nicht Bescheid zu wissen.“ Ihr aktueller Bezugspunkt ist dabei die Europäische Union: „Es braucht eine Art Vereinigte Staaten von Europa. Es darf nie wieder Krieg geben und wir müssen achtsam miteinander umgehen.“

 

Vom Verbotsgesetz bis zur EU

Auch die weiteren RednerInnen beziehen sich in ihren Appellen auf das Hier und Jetzt. Zur Sprache kommen Themen wie die vor kurzem von FPÖ-PolitikerInnen erneut geforderte Abschaffung des NS-Verbotsgesetzes oder der Umgang der Europäischen Union mit Flüchtlingen. Isabella Riedl vom „Verein Gedenkdienst“ erwähnt in ihrer Rede unter anderem die Ergebnisse der letzten Nationalratswahl. „Es ist wichtig, dass wir, wenn wir über diese Ereignisse sprechen, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter erwähnen. Die letzte Nationalratswahl hat gezeigt, dass eine Partei, die sich nicht definitiv von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und rechtsextremen Burschenschaften abgrenzt, für einen maßgeblichen Teil der Österreicherinnen und Österreicher eine wählbare Alternative ist. Das sollte uns zu denken geben.“ Die junge Frau erntet kräftigen Applaus für ihre Worte.

 

Währenddessen spielen ein paar Kinder etwas abseits hinter dem Gedenkstein um einen Baum herum Fangen. Einige Eltern haben ihre Sprösslinge zu der Gedenkveranstaltung mitgebracht, diese zeigen sich jedoch noch relativ unbeeindruckt von den Worten der RednerInnen. Als jedoch die Künstlerin Ivana Ferencova-Hrickova vom „Verein für Roma“ ihre kräftige Stimme erhebt, um ein Romalied zu singen, halten sie inne. Auch wenn sie die Bedeutung der Worte und Zeichen auf der Gedenkfeier noch nicht erfassen können, so spüren sie doch die feierliche wie betretene Stimmung, die an diesem Abend herrscht.

 

Erinnerung zwei Stunden lang

Um 20.30 Uhr haben schon viele TeilnehmerInnen die Gedenkkundgebung verlassen. Nach eineinhalb Stunden schließt die letzte Rede mit der Parole: „Nie wieder Faschismus!“. Danach tritt der Leiter der Veranstaltung noch einmal kurz an den notdürftigen Rednertisch, um ein paar letzte Worte zu sagen: „Wir wollen zeigen, dass die Anwesenden heute nicht alleine sind in ihrem Gedenken. Und wir hoffen, dass sie Kraft schöpfen können für ihren Alltag, der vielleicht immer noch von Rassismus geprägt ist.“ Danach schneidet ihm die ankommende S-Bahn das Wort ab. Innerhalb einer Viertelstunde wird das Equipment der Veranstaltung wieder abgebaut. Ein paar Polizisten schauen kurz vorbei, fahren aber nach einem kurzen Rundgang wieder weg. Die Gedenkfeier war ein Abend des Friedens und niemand wollte diesen Frieden brechen. Die Kabel werden eingerollt, die Bierbänke zusammengeklappt, die Transparente abgehängt. Die noch anwesenden AktivistInnen versuchen, ihre letzten Flyer loszuwerden.

 

Die wenigen übriggebliebenen BesucherInnen trinken den letzten Tee oder helfen, die Tische wegzuräumen. Unter ihnen ist Gerhard Burda vom Verein „Steine des Gedenkens für die Opfer der Shoah“, der noch angeregt mit zwei Leuten plaudert. In seiner Rede während der Veranstaltung hat er von seiner Bürgerinitiative im dritten Wiener Gemeindebezirk erzählt, welche „Stolpersteine“, kleine Messingtafeln zur Erinnerung an jüdisches Leben an dieser Stelle, in die Gehsteige Wiens einlässt. Morgen soll der 30. Gedenkstein gesetzt werden. Er erzählt auch von einer eingerichteten Personendatenbank für den dritten Bezirk, mit der jüdische Verwandte ausgeforscht werden können, welche während der Zeit des Nationalsozialismus vertrieben oder ermordet wurden.

 

Foto: Christopher Glanzl

 

Österreich ist Meister der Verdrängung

Vor dem Gedenkstein mit den eingravierten Worten „In den Jahren 1939-1942 wurden vom ehemaligen Aspangbahnhof zehntausende österreichische Juden in Vernichtungslager transportiert und kehrten nicht mehr zurück – Niemals vergessen.“ steht ein bebrillter, grau melierter Herr in einer dunklen Winterjacke. „Ich habe zufällig durch ein Plakat von der Veranstaltung erfahren. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin. Mich hat das Thema schon immer interessiert, es hat ja jeder irgendjemanden in der Familie, von der einen oder der anderen Seite, von den Guten oder den Bösen. Ein Verwandter von mir war bei der SS, mein Großvater hingegen war ganz anders“, erzählt er. Zur österreichischen Vergangenheitspolitik hält er fest: „Was mir immer mehr bewusst wird ist, dass ich viel Falsches in der Schule gelernt habe. Österreich ist ein Meister der Verdrängung und die Aufarbeitung ist ein schleichender Prozess.“ Als er sich zum Gehen wendet, fällt eines der Grablichter, die um den Gedenkstein herum im Kies aufgestellt sind, um und erlischt.

 

Die anderen Kerzen flackern noch schwach im Wind, es beginnt erneut zu nieseln. Um 21.00 Uhr sieht der „Platz der Opfer der Deportation“ wieder genauso aus wie normalerweise unterm Jahr. Unauffällig liegt der Gedenkstein zwischen Schotter und ein paar Gräsern. Und nur noch die Grablichter zeugen von dem Bemühen einiger Menschen, die Erinnerung an den Nationalsozialismus immer wieder aufflackern zu lassen.

 

Die Autorin Margot Landl studiert Lehramt für Deutsch und Geschichte sowie Politikwissenschaften an der Universität Wien.

 

progress-online Schwerpunkt: Im Gedenken an das Novemberpogrom 1938:

"Was passiert, wenn wir vergessen uns zu erinnern?"

Einmal Palästina und wieder zurück

 

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