Antisemitismus

Bekenntnisse gegen den jüdischen Staat

  • 12.05.2017, 21:58
Ziva ist seit Jahrzehnten in linken Gruppen engagiert. Doch ihre politische Heimat wird ihr zunehmend fremd

Ziva ist seit Jahrzehnten in linken Gruppen engagiert. Doch ihre politische Heimat wird ihr zunehmend fremd: „I hear so much hatred of Israel, so much hatred of Jews, and I feel like leaving the country. In a way I feel like I can’t be here.“ Ziva ist eine von 30 linken AktivistInnen, die Sina Arnold für ihr Buch über Antisemitismus in der USamerikanischen Linken interviewte. Zivas Position ist außergewöhnlich: Typisch für die Linke in den USA, so Arnold, sei vielmehr eine „Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit gegenüber Antisemitismus“. Es gibt kein Problem mit Antisemitismus, lautet der linke Tenor – Antisemitismusvorwürfe seien bloß Versuche, Israelkritik zu diff amieren. Antizionismus, das wird aus Arnolds Studie deutlich, ist für viele amerikanische Linke zum politischen Bekenntnis geworden. Wer dazugehören will, muss sich gegen den jüdischen Staat stellen.

Arnold leitet ihre empirische Forschung mit einem ausführlichen Überblick zur Geschichte des Antisemitismus in den USA, insbesondere in der Linken ein. Ein entscheidender Wandel hat in den 1960ern stattgefunden: Mit dem Aufkommen der New Left, die den traditionellen Marxismus der Old Left gegen Identitäts- und Diskurspolitik eintauschte, wurde Israel als Hassobjekt fi xiert. Die Etablierung des Antizionismus als „ehrbarer Antisemitismus“, die Jean Améry in den 1960ern in der deutschen Linken beobachtete, hat sich in dieser Zeit auch jenseits des Atlantiks vollzogen.

Aus 30 Interviews mit Mitgliedern von 16 politischen Gruppen lässt sich kaum eine lückenlose Analyse der amerikanischen Linken erstellen. In Verbindung mit der historischen Darstellung gibt Arnolds Studie jedoch einen guten und plausiblen Eindruck, wie es die US-Linke mit dem Antisemitismus hält. Befremdlich ist lediglich Arnolds Schluss: Linke Positionen seien bloß „Ermöglichungsbedingungen“ für antisemitische Diskurse. Wer sich antirassistisch und antiimperialistisch betätigt, dem könne schon einmal ein antisemitisches Versehen passieren. Dass es sich vielleicht umgekehrt verhält, dass sich also das Engagement gegen Israel aus dem Antisemitismus ergibt, bestreitet Arnold – obwohl ihr Material diese Vermutung durchaus nahelegt.

Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.

Blut und Boden gegen Israel

  • 11.05.2017, 09:00
Die antisemitische internationale Bewegung BDS – Boycott, Divestment, Sanctions – delegitimiert Israel mit Lügen und Halbwahrheiten. Auch in Österreich hat sie einen Ableger.

Die antisemitische internationale Bewegung BDS – Boycott, Divestment, Sanctions – delegitimiert Israel mit Lügen und Halbwahrheiten. Auch in Österreich hat sie einen Ableger.

„Was ist eigentlich Apartheid?“, fragten AktivistInnen von BDS Österreich bei ihrem letzten Flashmob in Wien. Der Ableger der internationalen Kampagne für den Boykott des einzigen jüdischen Staates warb anlässlich der sogenannten „Israeli Apartheid Week“ im März 2017 unter anderem vor der Synagoge am Campus der Uni Wien für Veranstaltungen. Deren Durchführung aber war schwierig: Unter anderem kündigte das linke Wiener Kulturzentrum WUK schon gebuchte Räume, als man dort auf den Charakter von BDS aufmerksam wurde.

Bewegungsgeschichte. International gibt es BDS seit 2005, in Österreich seit 2014, stets in enger Verbindung zum Verein Dar al-Janub. Der entstand 2003 im Umfeld der offen antisemitischen Gruppe „Sedunia“, die im selben Jahr eine Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen im zweiten Wiener Gemeindebezirk angegriffen hatte. Im November 2008 distanzierte sich Dar al-Janub online von diesem „sinnlosen“ Angriff, und offener Antisemitismus ist bei ihnen nicht zu beobachten. Auch BDS Österreich vermeidet zunehmend allzu offensichtliche Nähe zum offenen Antisemitismus: Auf früheren Kundgebungen etwa gehörten häufig noch Fotos ungeklärter Herkunft von toten Kindern zur Propaganda, die an das antisemitische Motiv des kindermordenden Juden erinnerten. Solche Fotos findet man heute kaum noch bei BDS Österreich.

Analysiert man aber die drei Forderungen von BDS, tut sich eine Mischung aus ,alternativen Fakten‘ und dem Willen auf, Israel als jüdischen Staat abzuschaffen. Diese jüdische Souveränität allein aber ist es, die Juden und Jüdinnen auch mit Waffengewalt vor den Angriffen von AntisemitInnen verteidigen kann und leider bis heute auch andauernd muss. Sie ist der Kern des Zionismus als emanzipatorischer politischer Bewegung, die den Staat Israel errichtet und so hunderttausenden Juden und Jüdinnen das Leben gerettet hat – zum Teil sehr direkt. Bei Militäroperationen Mitte der 1980er Jahre und 1991 etwa wurden rund 20.000 äthiopische Juden und Jüdinnen nach Israel ausgeflogen. Wer Israel abschaffen will, nimmt potentiell den Tod von Juden und Jüdinnen in Kauf.

„Das Ende der Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes und ein Abriss der Mauer“, die erste Forderung von BDS, lässt tief in die Blut-und-Boden-Ideologie der Bewegung blicken, die „arabisch“ mit Land verknüpft. Im heutigen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten haben seit Jahrhunderten die unterschiedlichsten Gruppen – und eben nicht nur AraberInnen – gelebt, politisch war es unter anderem unter osmanischer Herrschaft, später unter britischer Verwaltung und seit dem Unabhängigkeitskrieg, der dem jungen jüdischen Staat von seinen Nachbarn aufgezwungen wurde, unter israelischer, jordanischer, ägyptischer und syrischer Kontrolle. Es „arabisches Land“ zu nennen suggeriert, nur AraberInnen hätten ein historisches Recht, hier zu leben, weil allein sie es „immer schon“ getan hätten. Zudem lässt der Begriff „Kolonisation arabischen Landes“ die Interpretationsmöglichkeit offen, auch Israel selbst in den Grenzen von vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967 sei ein koloniales Projekt gewesen und müsse also mit dem geforderten Ende weg.

Die „Mauer“, die abgerissen werden soll, ist eine Sicherheitsbarriere, die nach langem Für und Wider in Israel gegen tödliche Anschläge palästinensischer TerroristInnen aus dem Westjordanland gebaut wurde – erfolgreich. Zur Illustration, wie genau BDS es mit Fakten nimmt: Die „Mauer“ besteht zu etwa 95 Prozent aus Zaun, der ähnliche Zwecke erfüllt, aber mit Bildern von Beton lässt sich das Ressentiment besser bedienen.

Auch die zweite Forderung, „die vollkommene rechtliche Gleichstellung der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels“, basiert auf Unwahrheit, denn sie ist längst israelische Realität – mit einer Ausnahme: Die meisten der etwa 20 Prozent nichtjüdischen Israelis müssen anders als jüdische nicht zum Militär, können sich aber freiwillig melden.

Die dritte Forderung schließlich, die nach der „Anerkennung der Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren“, ist in mehrerlei Hinsicht merkwürdig: Palästinensische Flüchtlinge sind weltweit die einzigen, deren Flüchtlingsstatus sich vererbt und deren Probleme von der für sie zuständigen UN-Agentur UNRWA nach deren eigener Auskunft nicht dauerhaft gelöst werden sollen. Die UNRWA wurde 1949 als temporäres Hilfsprogramm gegründet und ihr Mandat seither regelmäßig um drei Jahre verlängert. So hart Flucht individuell ist, so alltäglich ist sie global, und kaum jemand käme etwa auf die Idee, ein Rückkehrrecht für die rund 850.000 nach 1948 aus arabischen Staaten geflohenen Juden und Jüdinnen zu fordern – geschweige denn für ihre Nachkommen.

Aus den etwa 750.000 AraberInnen, die aus dem heutigen Israel im Bürger- und Unabhängigkeitskrieg um 1948 geflohen sind, vertrieben wurden oder freiwillig gingen, sind mittlerweile knappe 5,3 Millionen Menschen geworden, die bei der UNRWA als „Flüchtlinge“ registriert sind. Von ihnen ist kaum noch jemand selbst geflohen, sondern, so das Kriterium der UNRWA, männliche Vorfahren von ihnen. Die Forderung, 5,3 Millionen nichtjüdische Menschen nach Israel mit seinen acht Millionen EinwohnerInnen einwandern zu lassen, kann Israel unmöglich erfüllen, würde es doch damit sein vitales Charakteristikum aufgeben, ein demokratischer und jüdischer Staat mit gleichen Rechten für alle seine BürgerInnen zu sein.

Diese Forderung also läuft nicht nur auf die Abschaffung des jüdischen Staates hinaus. Durch ihre Verbreitung weit über BDS hinaus trägt sie auch dazu bei, dass diese 5,3 Millionen Menschen in Flüchtlingslagern in den Nachbarstaaten Israels unter oft schlechten Bedingungen leben müssen und eben dort keine Bürgerrechte genießen – würden diese Staaten sie ihnen zuerkennen, gäben sie das Druckmittel auf, als das sie diese Menschen bei Verhandlungen mit Israel immer wieder verwendet haben. Die Leidtragenden sind PalästinenserInnen, BDS trägt dazu bei.

Ersatzhass. Was ist also Apartheid? Die israelische Situation, in der Juden und Jüdinnen, AraberInnen und andere mit gleichen Rechten leben, hat damit jedenfalls nichts zu tun. Gleiches gilt für den von BDS gegen Israel erhobenen Vorwurf der „ethnischen Säuberungen“. Dass BDS so erfolgreich ist, liegt wohl eher daran, dass Antisemitismus zwar nicht gesellschaftsfähig ist, solange er offen sagt: „Ich hasse die Juden.“ Die zugrundeliegende Struktur ist aber gesellschaftlich nach wie vor stark und richtet sich in Form von so genannter „Israelkritik“ – ein Terminus, dessen Absurdität am Vergleich zu nicht existenten Begriffen wie „Schwedenkritik“ oder „Chinakritik“ offenbar wird – in erster Instanz oft nicht mehr offen gegen Juden und Jüdinnen, sondern gegen den jüdischen Staat.

 

Nikolai Schreiter studiert Politikwissenschaft in Wien und Jerusalem.

Gegenöffentlichkeit, die keine ist

  • 23.02.2017, 20:45
AJ+ präsentiert sich auf den ersten Blick wie ein progressives, alternatives Medium. Doch hinter den eingängigen Kurzvideos steht ein global agierender Medienkonzern mit antisemitischer Agenda.

AJ+ präsentiert sich auf den ersten Blick wie ein progressives, alternatives Medium. Doch hinter den eingängigen Kurzvideos steht ein global agierender Medienkonzern mit antisemitischer Agenda.

AJ+ gibt vor, ein Medium „für die vernetzte Generation“ zu sein, das ein „Licht auf soziale Kämpfe wirft und Stimmen stärkt, die den Status Quo bekämpfen“. Finanziert wird der Kanal von Al Jazeera. Der global agierende Medienkonzern aus Katar möchte mit AJ+ ein neues Publikum ansprechen. Ein Schönheitswettbewerb für Meerschweinchen in Peru; Schüler*innen, die vor dem Krankenhaus für ihren krebskranken Lehrer singen; jesidische Frauen, die gegen ISIS kämpfen und ein Clip über die USA, die den Israelis 38 Millarden Dollar Militärhilfe überweisen, damit sie noch mehr palästinensische Kinder töten können. Wait, what? Das alles sind Videos, die AJ+ innerhalb einer Woche auf Facebook veröffentlicht hat. AJ+ gestaltet seine Videos so, dass in den ersten drei bis fünf Sekunden eine eyecatching Überschrift und interessante Bilder zu sehen sind: Clickbait, das dank Facebook-Autoplay funktioniert. Die Videos sind meist nicht länger als eine Minute, untertitelt, ohne Voiceover und am Ende immer mit dem schwarz-gelben AJ+-Logo versehen.

EMSIGE ANTISEMITISCHE BIENE. AJ+ hat über sechs Millionen Likes auf Facebook und mehr als eine Milliarde Views. Seit Juni 2014 online, war das Portal bereits 2015 der zweitgrößte Videoproduzent im Facebook-Nachrichtensektor. Die Themen sprechen ein globales, vernetztes Publikum an: BlackLivesMatters, der Syrienkonflikt, feministische Themen wie sexualisierte Gewalt an US-Colleges, gemischt mit süßen Videos von Tieren und den neuesten Grausamkeiten der Israelis. AJ+ betont, trotz der hundertprozentigen finanziellen Abhängigkeit von Al Jazeera völlige Freiheit bei der Contentauswahl zu haben. Das scheint zum Teil auch zu stimmen: AJ+ setzt sich für die Rechte der LGBTIQ-Community ein und äußert sich klar feministisch. Im nun zweijährigen Bestehen hat AJ+ fast überall von sozialen Missständen berichtet. Über die Proteste im Zuge der Sommerspiele in Rio, die Festung Europa und politische Unruhen in Indien – doch bestimmte Teile der arabischen Halbinsel werden in der Berichterstattung ausgespart. Kein einziger Post über die schrecklichen Arbeitsbedingungen beim WM-Stadionbau in Katar oder über sonstige Missstände in den Golfstaaten. Während AJ+ sich mit seinem westlichen Publikum freut, dass Schwule und Lesben in den USA nun heiraten dürfen, wird in Katar Homosexualität mit fünf Jahren Gefängnis und 90 Peitschenhieben bestraft. Darüber verliert AJ+ ebenfalls kein Wort.

DER VERBINDENDE FAKTOR. Bis zur Absetzung von Al Jazeera America teilte man sich mit AJ+ die Büros. Wie es dort zugegangen ist, beschrieben ehemalige Angestellte, die Al Jazeera wegen Sexismus und Antisemitismus verklagten und zum großen Teil recht bekamen. Während AJ+ empowernde feministische Clips produzierte, wurden Frauen in den gleichen Büros diskriminiert und waren sexistischen Übergriffen ausgesetzt. Antisemitische Äußerungen standen an der Tagesordnung, der CEO von Al Jazeera America tätigte vor versammelter Belegschaft Aussagen wie „whoever supports Israel should die a fiery death in hell“. Das stellt jedoch keinen Kontrast zu AJ+ dar, sondern kann als verbindender Faktor zu Al Jazeera gesehen werden. Nur verzuckert AJ+ seinen Antisemitismus und kleidet ihn in das Mäntelchen der Israelkritik.

Nun ist eine Unterscheidung zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels, Antizionismus und Antisemitismus nicht immer leicht. Der Politiker und Aktivist Naran Sharansky hat dazu den 3-D-Test entworfen und meint, antisemitische Kritik könne daran erkannt werden, dass sie Israel „delegitimiert, dämonisiert und mit doppeltem Standard“ misst. AJ+ teilt jede Woche mindestens zwei bis drei Videos zum Thema Israel, keinem anderen Land außerhalb der USA widmet der Kanal dermaßen viel Aufmerksamkeit. Ein Beispiel für dämonisierende Berichterstattung ist der Fall Dima al Wawi. Dima war 12 Jahre, als sie von israelischen Soldaten festgenommen und am Kopf getreten wurde. Sie musste als jüngste weibliche Gefangene in einem israelischen Gefängnis ausharren und durfte keinen Kontakt zu ihren Eltern haben, so AJ+. Warum Dima im Gefängnis war, wird verschwiegen: Sie stach mit einem Messer mehrmals auf einen israelischen Soldaten ein. Gefragt, ob sie ihre Tat bereue, meinte sie, das Einzige, was sie bereue, wäre, dass der Mann nur verletzt, aber nicht tot sei. Der Kontakt zu ihren Eltern wurde ihr verboten, weil sie für die Radikalisierung ihrer Tochter mitverantwortlich waren. Damit sei nicht bestritten, dass die Unterbringung einer 12-Jährigen in einem Gefängnis unvertretbar ist. Illustriert sei an diesem Beispiel jedoch die verzerrende Berichterstattung durch das bewusste Weglassen bestimmter Informationen.

In einem für AJ+-Verhältnisse recht langen Video besucht eine Reporterin die AIPAC (American Israel Public Affairs Committee) Konferenz. Der Text liest sich wie eine Undercover Story: „Dena went inside the pro-Israel lobby AIPAC“. Den Juden und Jüdinnen auf dem Kongress wird vorgeworfen, sie kümmerten sich mehr um Israel als um die USA. Unterschwellig bedient AJ+ das antisemitische Klischee, dass „die Juden kein Vaterland“ kennen würden. Im Video heißt es, Menschen seien zum Kongress gekarrt worden, um bei ihren Repräsentant*innen für Israel zu lobbyieren, und sogar Schüler*innen würden dazu benutzt. In Palästina ist eine 12-jährige eine Heldin, weil sie („allegedly“) versucht hat, einen Soldaten umzubringen – in den USA ist es moralisch verwerflich, wenn eine wahlberechtigte Schülerin mit ihrem Abgeordneten über Israel spricht. Diese Clips sind kurz, pointiert und werden als unbedenklich konsumiert, geshared und geliked. AJ+ schafft es, einem riesigen, sich tendenziell progressiv verstehenden Publikum antisemitische Inhalte leicht bekömmlich zu servieren.

Anne Marie Faisst ist Buchhändlerin und studiert nebenbei Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

„Insgesamt bin ich nicht allzu optimistisch“

  • 21.06.2016, 20:22
Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

progress: In Ihrem Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ grenzen Sie die kritische Theorie von Marx stark vom Marxismus der II. und III. Internationale ab. Letzteres fassen Sie unter dem Namen traditioneller Marxismus zusammen. Können Sie das ein wenig ausführen und die Unterschiede erklären?
Moishe Postone: Die Kategorie „traditioneller Marxismus“ ist eine Bezeichnung, die sehr viele Ansätze einschließt. Der gemeinsame Nenner ist eine Kritik am Kapitalismus, die sich ausschließlich gegen die Distributionsweise, das Privateigentum und den Markt richtet. Der Standpunkt der Kritik ist die Arbeit. In einer postkapitalistischen Gesellschaft sollen die Arbeiter_innen den Reichtum, den sie produziert haben, innerhalb einer Planwirtschaft zurückbekommen. Zwar nicht als Einzelne, aber gesellschaftlich. Diese Analyse des „traditionellen Marxismus“ ist auf der einen Seite historisch inadäquat geworden und auf der anderen Seite ging schon die Kritik von Karl Marx in eine andere Richtung. Bei ihm ist es eine Kritik der Arbeit im Kapitalismus, statt einer Kritik vom Standpunkt der Arbeit aus. Ich habe versucht herauszuarbeiten, wie der spezifisch kapitalistische Charakter der Arbeit im Kapitalismus einer sehr komplexen Dynamik unterliegt. Diese Dynamik unterscheidet den Kapitalismus von allen vorhergehenden Gesellschaften. Marx liefert mit seiner Analyse ein Instrumentarium, um diese widersprüchliche Dynamik zu begreifen.

Und diese Widersprüche im Kapitalismus sind dann auch jene, die zu Widersprüchen gegen den Kapitalismus führen?
Ja, und fast alle die sich mit Marx beschäftigt haben, reden von der Widersprüchlichkeit des Kapitalismus. Größtenteils wird dieser Widerspruch aber als einer zwischen Privateigentum und Markt auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite verstanden. Ich halte dem entgegen: Nein, es ist ein Widerspruch zwischen dem Zustand, wie Arbeit heute organisiert wird und einer möglichen zukünftigen Organisation der Arbeit. Ein Widerspruch zwischen dem Bestehenden und dem in ihm enthaltenen Potential, welches aber durch das Bestehende selbst nicht verwirklicht werden kann und deshalb auf die Möglichkeit der Aufhebung des Kapitalismus verweist. Es ist eine Kritik an der auf Arbeit basierenden Gesellschaft.

Warum haben die Marxist_innen am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts Marx so gelesen?  Wer den Autor der Kritik der politischen Ökonomie aufmerksam liest, stößt auf viele Stellen, in denen er diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit sehr explizit ausführt. Wie kam es also dazu?
Einmal ist es eine Rezeptionsgeschichte. Die Leute haben eigentlich nicht Marx gelesen, außer vielleicht das Kommunistische Manifest. Hauptsächlich haben sie Friedrich Engels gelesen. Was Marxismus genannt wird, sollte Engelsismus heißen. Es ist aber nicht nur eine Rezeptionsgeschichte. Die Arbeiterklasse wuchs zu dieser Zeit rasant an. Es war vor diesem Hintergrund sehr leicht vorstellbar, die Gesellschaft in Form der Kapitalistenklasse einfach zu enthaupten und damit eine befreite Gesellschaft zu erringen. Vor 50 Jahren kam diese Entwicklung aber an ihr Ende. Die Linke der 1960er verstand das nicht ganz. Zum einen vollzog sich damals etwas, was André Gorz den Abschied vom Proletariat nannte. Zum anderen gab es in Deutschland K-Gruppen, die den Gang in die Fabriken propagierten. Sie waren in historischen und politischen Belangen sehr verwirrt. Nicht, weil sie in die Fabriken gingen, sondern weil sie das Zentrum der Weltrevolution in China oder gar Albanien sahen. Die meisten hatten keine Ahnung was Albanien für ein Land war. Enver Hodscha war nicht nur kein netter Typ, in Albanien gab es fast keine Motorisierung. Und dieses Land sollte die Sperrspitze der Weltrevolution repräsentieren? Hier wurde Kritik zur reinen Glaubenssache.
Wenn man die Bewegung in den 1960er Jahren betrachtet, dann ist diese Form der Dogmatisierung jedoch nicht die Richtung, in die diese amorphe Bewegung gegangen ist. Es kam damals zu einer großen Verschiebung. Im Großen und Ganzen wurde die Stelle des Proletariats von den antikolonialen Kämpfen eingenommen. Es gibt einen Unterschied, ob man antikoloniale Bewegungen unterstützt, weil sie als vollwertige Menschen anerkannt werden wollen, oder ob man denkt, dies sei der Keim einer postkapitalistischen Gesellschaft. Das hatte verheerende Folgen. Am stärksten wurde dies im Nahen Osten sichtbar. Jahrelang sympathisierten Antiimperialisten mit Polizeistaaten im Nahen Osten. Solange sie keine langen Gewänder trugen und nicht allzu religiös waren, galten sie den europäischen Antiimperialisten als progressiv. Aber das waren sie nicht, auch wenn sie damals von der Sowjetunion unterstützt wurden. Die teils berechtigte, teils völlig unberechtigte totale Fokussierung auf Israel hat viele Linke blind für diese Probleme gemacht. Man bemerkt das noch heute im Fall von Syrien: Die Linke hat dazu nicht viel zu sagen. Dabei hat das Regime unter Assad vermutlich schon über 300,000 Syrer_innen ermordet. Zudem kam in den 1960er Jahren die Identitätspolitik auf. Sie begann als Kritik an einem abstrakten Universalismus, der Differenz nicht berücksichtigte, engte sich aber schnell zu einem Partikularismus ein. Was es auf keinen Fall gab, war eine Rettung der proletarisch zentrierten Politik. Dazu gab es nur Lippenbekenntnisse und viele marschierten mit roten Fahnen, aber das war alles.

Wenn man Autoren der 1960-70er Jahr liest, fällt vereinzelt auf, dass es doch auch welche gab, die beim Arbeitsbegriff vom traditionellen Marxismus sehr abwichen. Wie weit verbreitet war das damals?
Es war nicht sehr verbreitet. Das kann jetzt auch Lokalpatriotismus sein, aber ich würde behaupteten, es wurde vor allem in Frankfurt vertreten. Seit den späten 1930er Jahren hatten Autoren wie Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer Abschied von der Verherrlichung der Arbeit genommen. Gut, ich finde die Kritik der Frankfurter Schule einseitig und problematisch. Sie drehten die Bewertung der Arbeit einfach nur um. Das sehe ich kritisch, aber diese Tradition hat viele Linke in Frankfurt gegen den Marxismus-Leninismus geimpft. Die ML-Gruppen waren wohl auch deshalb in Frankfurt schwächer als in vielen anderen deutschen Städten.

Wie verhält es sich denn mit der Marx-Rezeption außerhalb des deutschsprachigen Raumes, gibt es da neben ihnen auch andere Autoren, die diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit vertreten?
Ja, aber sie sind höchstwahrscheinlich nicht so bekannt. Patrick Murray, Christopher Arthur, Marcel Stoetzler, es gibt sie schon. Unabhängig davon gibt es eine starke Marx-Welle in den USA und Großbritannien, aber dort wird Marx anders gelesen. Der angelsächsische Marxismus war schon immer auf die Ökonomie zentriert, er war immer mehr eine kritische politische Ökonomie statt einer Kritik der politischen Ökonomie. Es fehlt eine gewisse Reichhaltigkeit der deutschsprachigen Diskussion. Wenn die Linken in Großbritannien versuchten, sich Theorie anzueignen, blickten sie nach Frankreich und lasen Louis Althusser, Ètienne Balibar und dann später Michel Foucault. Jene Kritik aber, die mit dem Werk von Georg Lukàcs beginnt und in der kritischen Theorie fortgesetzt wird, die eine Gesellschafts- und Kulturkritik formuliert, wird in den USA nur von einer kleinen Gruppe von Akademiker_innen und ihren Student_innen vertreten. Dennoch, Marx ist in den USA und Großbritannien viel weiter verbreitet als in Deutschland oder Österreich.

Spielen sie bei dieser kleinen Gruppen von Akademiker_innen und Student_innen auf die Gruppe Platypus an?
Ich meinte das viel allgemeiner. Die Gruppe Platypus, die kaum für alle Gruppen steht, die die kritische Theorie rezipieren, ist leider sehr zwiespältig. Ich kannte die Gründungsmitglieder sehr gut. Manche haben meine Seminare belegt und sind aus Chicago. Sie präsentieren sich als Gruppe, die sich sehr ernsthaft mit Theorie beschäftigt, sehr viel ernsthafter, als viele andere. Andererseits versuchen die Führungskader etwas zu tun, was nicht machbar ist. Sie wollen meine Arbeit, die von Adorno und von Lenin verbinden. Mein Buch ist sehr bewusst gegen den Leninismus geschrieben. Es war ein Versuch auf einer sehr grundlegenden Ebene gegen den Leninismus vorzugehen.

Sie beschreiben eine Dynamik, die unabhängig von spezifischen Regierungen überall auf der Welt ähnlich abläuft. Wie kann man erklären, dass der Wohlfahrtsstaat heute nicht mehr finanziert werden kann oder warum die Sowjetunion und der Wohlfahrtsstaat zur gleichen Zeit untergingen?
Es gibt sehr viele Theorien über die Gründe der Krise in den frühen 1970er Jahren. Keine davon überzeugt mich vollkommen. Wenn die amerikanische Presse versucht das Phänomen Trump zu erklären, reden sie über die Misere der ehemaligen industriellen Arbeiterklasse in den USA. Ihr Durchschnittslohn ist seit 1973 gleich geblieben. In Deutschland stieg er dagegen noch eine gewisse Zeit an. Deutschland blieb in manchen Bereichen länger ein Wohlfahrtsstaat. Es gab aber auch in Deutschland gegenläufige Tendenzen. In den 1960er Jahren nahm die Zahl der Student_innen stark zu. Um dies zu finanzieren, wurde der Sozialstaat ab den frühen 1970er zurückgeschraubt. Ich glaube es gibt einen Zusammenhang zwischen den Grenzen einer auf proletarischer Arbeit basierenden Gesellschaft, den Grenzen des Keynesianismus und der ökonomischen und ökologische Krise.

Der Kapitalismus hat die Tendenz, immer weniger Arbeit für die Produktion seines Reichtums zu gebrauchen. Dies bedeutet gleichzeitig eine Abnahme der Zahl von Arbeiter_innen. Damit wird eine wichtige Einkommensquelle des Wohlfahrtsstaates beschnitten. Kann man sich das so irgendwie vorstellen?
Ja, aber ich möchte dies noch wertkritisch ausarbeiten. Dort bin ich noch nicht. Die Krise von 2008 ist wirkliche ein Nachbeben der Krise von 1973.

In der Linken ist im Moment eine gewisse Re-Traditionalisierung zu beobachten. Man liest wieder Lenin oder Luxemburg. Oder man bezieht sich auf den Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre. Beide wollen eine neue linke Partei gründen, wie erfolgsversprechend ist das?
Dramatisierend gesagt, es ist ein widersprüchliches Problem. Es gab früher einen Zusammenhang von Arbeitskämpfen und Veränderung. Progressive Leute müssten in der heutigen Situation zwei Sachen versuchen, die in zwei verschiedene Richtungen gehen. Die Arbeiter_innen vor den Auswirkungen des Kapitalismus schützen, denn ihre Situation wird Zusehens erbärmlich und den Kapitalismus mit dem Ziel seiner Überwindung kritisieren.

Kommen wir zum Antisemitismus, zu dem Sie in der Vergangenheit viel geforscht haben. Wie funktioniert der Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft und warum wird er unter bestimmten Verhältnissen virulent?
Der Antisemitismus ist eine Fetisch-Form, die den seit mindestens einem Jahrtausend existierenden christlichen Antijudaismus zur Voraussetzung hat. Aber beide Phänomene sind nicht dasselbe. Der Antisemitismus ist eine bestimmte antikapitalistische Ideologie, die zwischen der konkreten Dimension des Kapitals (Industrie, Maschinen) und der abstrakten (Geld, Börse, Banken) trennt. Dabei wird in dieser Ideologie die konkrete Seite des Kapitals als gesund und gut erachtet. Die abstrakte Seite dagegen als zersetzend und global. Diese Trennung drückt sich konkret in einer ideologischen Sicht auf den Kapitalismus aus, die sowohl die industriellen Kapitalist_innen, als auch die Arbeiter_innen als Produzent_ innen sieht und alleinig die Bankiers als Schmarotzer_ innen identifiziert.

Das ist die Basis der antisemitischen Ideologie. Wie kommt es dazu, die abstrakte Seite des Kapitals als jüdisch zu imaginieren?
In Ländern wie Österreich oder Deutschland gab es nicht nur eine lange Tradition des christlichen Antisemitismus: Die Jüd_innen erlangten ihre Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genau in dem Moment, in dem auch die kapitalistische Industrialisierung expandierte. Jüd_innen wurden plötzlich sichtbar und zwar besonders in Berufen, die mit dieser Entwicklung aufkamen, während traditionellere Berufe bedroht waren. Antisemitismus ist jedoch nicht nur eine Form des Rassismus. Ich könnte auch auf andere Dimensionen des Problems aufmerksam machen, wie den Unterschied zwischen Gesellschaften, die durch staatliche Intervention modernisiert wurden, wie in Zentraleuropa und zum Teil auch in Frankreich, und Gesellschaften mit einer älteren liberal-kapitalistischen Geschichte. Nein, der Antisemitismus ist eine Weltanschauung. Diese Ideologie will die Welt erklären und deshalb ist sie so weit verbreitet. Der Rassismus funktioniert dagegen anders. Ich will das nicht hierarchisch verstanden wissen. Das eine ist nicht bekämpfenswerter als das andere. Der Antisemitismus ist zudem ein Krisenphänomen. Schauen wir dazu in den Nahen Osten. Es gibt mehrere Gründe, warum der Antisemitismus dort heute so verbreitet ist. Da wäre die Nazi-Propaganda während des Zweiten Weltkriegs. Aber das erklärt natürlich nicht alles. Ein zweiter Faktor ist die Sowjetunion: 1967 hatte Israel die mit der Sowjetunion verbündeten arabischen Staaten geschlagen. Nach der Niederlage ihrer Verbündeten startete die Sowjetunion eine Propaganda, die dem Stürmer entstammen hätte können. Der Zionismus wurde mit dem Faschismus gleichgesetzt. Dann ist da der ökonomische Abstieg dieser Weltregion auf ein Niveau vergleichbar mit dem Afrikas südlich der Sahara. Der Abstieg der arabischen Welt beginnend in den 1980er Jahren und der gleichzeitige Aufschwung anderer Weltteile, die früher als Dritte Welt galten, haben viele Menschen im Nahen Osten empfänglich für Verschwörungstheorien gemacht. Diese Verschwörungstheorien hatten sie zur Hand.

In Europa ist geographisch eine Spaltung der radikalen Rechten zu beobachten. In Westeuropa sind es vor allem Rechtspopulist_innen die einen Ethnopluralismus vertreten, der Muslime und den Islam nicht in Europa will. In Osteuropa sind viele dieser Parteien sehr traditionell völkisch und antisemitisch. Woran liegt das?
Die Staaten in Osteuropa definieren sich seit ihrer Entstehung ethno-nationalistisch. Einzig die tschechische Republik ist da eine partielle Ausnahme. Schon die Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Habsburger waren ethno-nationalistisch. Nach der Unabhängigkeit der einzelnen Staaten von Österreich-Ungarn bestanden viele ethnische Konflikte weiter. Die einzige säkulare Tradition in diesen Staaten war der Kommunismus. Der heutige reaktionäre Charakter vieler dieser Staaten und ihrer Bevölkerung ist ein Zeichen für das Scheitern des sowjetischen Modells. Aktuell sind die osteuropäischen Staaten in ernsthaften ökonomischen Schwierigkeiten. In Ungarn spricht Viktor Orban von einer weltweiten Verschwörung gegen Ungarn, er verbindet dies alles mit dem Namen eines Mannes: George Soros. Es ist kein Zufall das Soros jüdisch ist. (Mehr zu dem Thema in diesem Artikel) Im Westen war der Ethno-Nationalismus nicht so stark, weil die Nationen sich früher als bürgerliche Staaten konstituierten. Es gab auch immer eine Spannung zwischen dem ethnischen Charakter der Nation und ihrem formal politischen Anspruch. Im Westen will man wohl zumindest den Anschein erwecken, ein wenig kosmopolitisch zu sein. Im Fall von Österreich bin ich mir da aber nicht so sicher. Insgesamt bin nicht allzu optimistisch. Wenn man sich die Zwischenkriegszeit ansieht, kippten zwar zuerst die osteuropäischen Staaten nach rechts, doch diese Tendenz verschob sich danach Richtung Westen. AfD oder Pegida sind klar ethno-nationalistische Bewegungen mit starken antisemitischen Tendenzen. Sie geben sich öffentlich nicht so, aber sie sind es.

Es wird immer wieder gesagt, die Schwäche der Linken sei die Stärke der FPÖ. Die SPÖ würde ihre Werte eben gar nicht mehr vertreten.
Und was wäre sozialdemokratische Politik?

Ein Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre, Keynes.
Ja aber wenn das nicht geht? Es ist ein Dilemma. Egal ob SPÖ oder SPD, sie sind immer weniger und weniger Arbeiter_innenparteien. Aber das hängt mit den strukturellen Veränderungen zusammen. Der Untergang einer Klasse ist nie schön. Die Linke war sich darüber im Falle des Kleinbürgertums sehr bewusst. Aber sie stehen diesem Umstand im Falle der industriellen Arbeiter_innenklasse ein wenig hilflos gegenüber. Genau das passiert gerade: Es ist eine Krise der industriellen Arbeiter_innenklasse.

Und was wird mit dieser Klasse passieren?
Viele werden sehr arm und wütend werden. In den USA führt das auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Es gibt immer mehr Menschen, die arbeitslos oder halb-angestellt sind. Das nennt man die Gig-Economy. Angelehnt ist das Wort an den Jazz-Musiker, der eine kurze Anstellung nach der anderen hat. Du kannst Taxi-Fahrer am Morgen, Putzfrau am Nachmittag und ein Nachwächter in der Nacht sein und trotzdem reicht es kaum zum Leben. Man muss immer flexibel sein und dies wird als Freiheit verkauft. Ich glaube wir sind in einer großen Krise und die Rechte wird davon profitieren. Die Rechte hat kein Programm, aber sie kann Wut kanalisieren. Die Linke will das nicht und versucht rational zu bleiben.

Aber es gibt linke Politiker, die das doch schaffen?
Bernie Sanders kann die Wut auch gut kanalisieren. Es gibt viele Arbeiter_innen, zumindest wenn man den Medien glauben kann, die nicht sicher sind, ob sie Donald Trump oder Sanders wählen sollen. Aber Sanders Lösungen sind auch nur linker Populismus. Dieser ist natürlich nicht reaktionär wie rechter Populismus. Aber es wird nicht funktionieren. Es sind nicht die Freihandelsverträge, die allein für den Rückgang der Beschäftigung verantwortlich sind. Ein Beispiel: Letztens las ich einen interessanten Artikel über die Tomaten-Ernte in Kalifornien. 1952 wurden 2,5 Millionen Tonnen Tomaten geerntet, dafür wurden 45.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Dann entwickelten Forscher an der Universität von Kalifornien in Davis eine viereckige Tomate, die von Maschinen einfach geerntet werden konnten. Heute werden 12 Millionen Tonnen Tomaten geerntet und dafür werden 2.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Das passierte nicht weil die Tomatenindustrie in ein anderes Land verlegt worden wäre. Diese Entwicklung der Wissenschaft und der Maschinen im beengenden kapitalistischen Rahmen ist der Hauptgrund dafür, dass es immer weniger Jobs gibt. Natürlich kann man die Handelsverträge kritisieren, auch diese neoliberale Phantasie, dass mehr Freihandel mehr Beschäftigung bedeutet. Aber wer behauptet, die strukturellen Veränderungen in den USA seien hauptsächlich durch die Handelsverträge entstanden, liegt einfach falsch. Das ist eine Verkürzung.

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.

„Wie das riecht. So riecht Gerechtigkeit“

  • 13.03.2016, 15:56
Die neunjährige Hanna wächst Ende der 60er in der oberösterreichischen Stadt Wels auf. Auch 20 Jahre nach dem Krieg ist die Nazi-Ideologie spürbar. Die jüdische Herkunft Hannas Familie soll daher laut ihrer Mutter verborgen werden. Niemand will die „schlafenden Hunde“ der Vergangenheit wecken. Eine Rezension.

Die neunjährige Hanna wächst Ende der 60er in der oberösterreichischen Stadt Wels auf. Auch 20 Jahre nach dem Krieg ist die Nazi-Ideologie spürbar. Die jüdische Herkunft Hannas Familie soll daher laut ihrer Mutter verborgen werden. Niemand will die „schlafenden Hunde“ der Vergangenheit wecken. Eine Rezension.

„Schau mich nicht an. Schau mich nicht so an. Am liebsten wäre ich unsichtbar.“ Wie ein Mantra spricht Hannas Mutter diese Sätze vor dem Spiegel stehend. Auch wenn die Worte in erster Linie an ihren Mann gerichtet sind, meint sie wohl gleichzeitig auch ihr Spiegelbild, richtet die Worte an sich selbst. Hannas Mutter ist einer der titelgebenden „schlafenden Hunden“. Sie will nicht geweckt werden. Sie will nicht, dass irgendjemand ihre Vergangenheit weckt. Die Vergangenheit. Ihre jüdische Herkunft. Sie sollen unsichtbar bleiben, im Tiefschlaf verharren. So ihre Überlebensstrategie.

Die Verfilmung des 2010 veröffentlichten Romans von Elisabeth Escher lag für Andreas Gruber auf der Hand: Er ist selbst in Wels aufgewachsen, die Autorin eine Schulfreundin. Zudem solle „Hannas Schlafende Hunde“ an den 20 Jahre zuvor veröffentlichen Film „Hasenjagd“ anknüpfen, der die Ereignisse der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ von 1945 auf die Leinwand brachte. Er ist Grubers erster und gelungener Versuch den Nationalsozialismus filmisch aufzuarbeiten.

Nazi-Ideologie in Oberösterreich, die Zweite also: 1967 in der Stadt Wels, 22 Jahre nach dem offiziellen Kriegsende. Offiziell, denn: Die nationalsozialistische Ideologie und so auch der Antisemitismus sind nach wie vor in den Köpfen der Menschen verankert. In den Gesichtern der Figuren, in den Blicken und inszenierten Dialogen, mit denen Grubers Charaktere versuchen zu kommunizieren, zeichnen sich tiefsitzende Kriegs-Traumata ab. Nach wie vor. Nicht nur an der älteren, sondern auch an der jüngeren Generation zehrt die Vergangenheit.

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Im Mittelpunkt des Geschehens steht die neunjährige Hanna (Nike Seitz). Sie singt gern. Egal ob „Kein schöner Land“ auf einem „Totengedenken des Kameradenverbunds“ am 8.Mai oder „Schweigen möchte ich gern“ während des Gottesdienstes. Als katholisch erzogenes Mädchen wächst sie bei ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer Großmutter auf. Letztere ist Hannas wichtigste Bezugsperson: Für die Oma (Hannelore Elsner) dichtet sie gemeinsam mit ihrem Bruder ein Lied. Mit der Oma lässt sie Löwenzahn-Stängel im Wasser einkringeln. Von der Oma erfährt sie, dass sie Jüdin ist: „Natürlich, bist du Jüdin.“ Was das heißt? „Jeder soll sein, was er ist. Punkt.“ Mit der Oma blickt sie aus dem Fenster, während im Hof ein verbrannter Körper abtransportiert wird: „Wie das riecht. So riecht Gerechtigkeit“. Der abtransportierte Körper gehört dem Hauswart. Nicht lang her verwehrte er der Großmutter als Jüdin den Zutritt zum schützenden Keller. Nun ist er es dem der Keller zum Verhängnis wurde

Sehen kann Hannas Großmutter schon lange nicht mehr. Sie ist blind. Die Folge eines Bombenangriffs: „Ich dachte, ich verliere meinen Verstand, … aber ich habe nur mein Augenlicht verloren.“ Der Geruchssinn funktioniert dafür allzu gut.

Dem gegenüber steht Hannas Mutter (Franziska Weisz). „Wir fallen nicht auf!“ ist ein weiteres Mantra, das die Mutter nicht müde wird zu wiederholen, insbesondere gegenüber ihren Kindern. Sie tut alles, „um nicht aufzufliegen“. Nicht auffliegen heißt dabei: Die jüdische Herkunft penibelst vor der Stadtbevölkerung, vor ihren Kindern, aber auch vor sich selber zu verheimlichen, einfach zu vergessen. So gibt es auch keine Kinderbilder mehr von der Mutter, denn „jedes Foto hätte uns verraten“. Hannas Mutter verharrt dabei nicht nur in einer Totenstarre, sondern sieht sich nur allzu gern in der Opferrolle, ein Vorwurf der von Hannas Großmutter kommt, vor allem weil Hannas Mutter die Opferrolle auch von anderen verlangt: „Das ist genau das, was dir am Katholisch-Sein so gut gefällt: Da kannst du schön leiden und die anderen sollen es gefälligst auch.“

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Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Hanna. Trotz der Bemühungen ihrer Mutter wird ihr nach und nach klar, dass sie auf irgendeine Weise anders ist: Ihre Klassenlehrerin fragt neugierig und abschätzig nach der Herkunft ihrer Oma. Dass sie aus Wels ist, sei unwahrscheinlich, denn „sie spricht nicht wie eine Hiesige.“ Ein Klassenkamerad beschimpft sie und deutet dabei auf ein Anderssein von Hanna hin. Ein Nachbar belästigt sie im betrunkenen Zustand sexuell und schimpft sie „Judengfrast“. Hanna will wissen, was all das zu bedeuten hat. Sie weckt die schlafenden Hunde, macht die Vergangenheit sichtbar. So emanzipiert sie nicht nur sich selbst, sondern holt auch ihre Mutter aus der Erstarrung und aus ihrer Opferrolle.

Andreas Gruber erzählt von drei Frauen-Generationen, die alle auf ihre Art einen Weg suchen, um mit dem Stigma, mit dem Hass, mit dem Antisemitismus umzugehen: Ob mit dem Versuch der Selbstauslöschung oder dem Versuch, dem Hass stolz entgegen zu blicken – auch ohne Augenlicht oder durch das ständige Nachfragen, durch kindliche Neugier. Hanna, ihre Mutter und ihre Großmutter sind in ihren alltäglichen Kämpfen umgeben von „antisemitischer Normalität“, wie es Gruber selbst beschreibt: „Ich möchte eine nicht immer gleich erkennbare Scheinwelt von Normalität erschaffen, in der selbst die ungeheuerlichsten braunen Rülpser zur Normalität gehören. Man könnte in Anlehnung an Hannah Arendt von der Trivialität und Selbstverständlichkeit des Bösen sprechen. Durch eine besonders lapidare, unbetonte Inszenierung soll eine Monstrosität der Figuren verhindert werden – weil es ihnen eine unverdiente Größe geben würde.“ Auch wenn Gruber seiner abgebildeten Welt keine Monstrosität zuschreiben will und nicht auf Gewaltorgien zurückgreifen muss, um das Grauen der Nazi-Ideologie sichtbar zu machen, zeichnet er eine Welt, geprägt von Ungeheuerlichkeiten, von Hass und Misstrauen, das nur schwer zu überwinden ist. Hannelore Elsner bringt die Schrecken der Zeit im Publikumsgespräch auf den Punkt: „Diese Zeit stößt mich ab: ihre Verlogenheit, ihre Bigotterie, ihre Sprachlosigkeit.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Zwei antidemokratische Ideologien

  • 10.03.2016, 15:18
Antisemitismus und Sexismus tragen dazu bei, dass die Welt so schlecht bleibt wie sie ist. Und das nicht nur für Frauen, Jüdinnen und Juden.

Antisemitismus und Sexismus tragen dazu bei, dass die Welt so schlecht bleibt wie sie ist. Und das nicht nur für Frauen, Jüdinnen und Juden. In ihrem Buch „Antisemitismus und Sexismus“ analysiert Karin Stögner die „vielschichtigen vermittelten Konstellationen“ der beiden Ideologien und geht ihren gesellschaftlichen Grundlagen und Funktionen nach.

Ihr ist dabei zweierlei selbstverständlich: Erstens ist nicht ein „Wesen“ von Frauen oder Juden und Jüdinnen, sondern die Welt der SexistInnen und AntisemitInnen Gegenstand des Buches. Zweitens geht es nicht darum, die Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Frauen gegen die von Juden und Jüdinnen aufzuwiegen oder gar in Konkurrenz zu setzen. Solch ein Vergleich wäre nicht nur falsch, sondern würde, zumal nach der Shoah, den Vernichtungswillen im Antisemitismus relativieren.

Karin Stögner hingegen analysiert kenntnis- und quellenreich das Verhältnis beider Ideologien zur Gesellschaft und zueinander. Sie stützt sich auf die ältere Kritische Theorie und die Psychoanalyse, verengt die Zusammenhänge dabei aber in keine Richtung und bezieht Historisches und seine Wandlungen ebenso wie Fragen der Repräsentation ein. „Wo Natur bloß zur bearbeiteten Materie herabgedrückt wird, bedeutet mit ihr identifiziert zu werden ein Verdikt.“ Das ist es, was Juden und Jüdinnen sowie Frauen in einer Gesellschaft, die krampfhaft auf Naturbeherrschung aufbaut, auf unterschiedliche und widersprüchliche Weise widerfährt. Sie waren und sind die Projektionsflächen, die das abbekommen, was das Individuum, um Subjekt zu sein, verdrängen muss, um dem „identischen und zweckgerichteten männlichen Selbst zu entsprechen.“

Bemerkenswert ist an Stögners Buch, wie vielschichtig sie die Ideologien seziert und wie diese Kritik Hand in Hand geht mit der Analyse von Interviews mit jüdischen Frauen in Österreich im letzten Kapitel. So taugt das Buch nicht nur zur Erhellung von Antisemitismus und Sexismus, sondern auch zur Einführung in die gelungene materialistische Gesellschaftskritik. Die Lektüre dieses umfangreichen wissenschaftlichen Werks ist außerdem sprachlich eine Freude.

Nikolai Schreiter studiert Politikwissenschaft in Wien und Jerusalem.

Jenseits bloßer Vorurteilsforschung

  • 10.03.2016, 15:12
Dem Band „Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus“ ist eine Zusammenstellung von Texten gelungen, die präzise und anschaulich verschiedene Aspekte und Formen von Antisemitismus ausleuchten, ohne ihn als bloße Feindseligkeit gegen Juden und Jüdinnen zu vereinfachen.

Dem Band „Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus“ ist eine Zusammenstellung von Texten gelungen, die präzise und anschaulich verschiedene Aspekte und Formen von Antisemitismus ausleuchten, ohne ihn als bloße Feindseligkeit gegen Juden und Jüdinnen zu vereinfachen.

Er bricht mit der häufigen Annahme, Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit Juden und Jüdinnen zu tun und könne bekämpft werden, indem man nur zeigt, dass pejorative Vorstellungen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Stattdessen sind die Beiträge gesellschaftstheoretisch wie psychoanalytisch fundiert und zeigen, dass Antisemitismus aus der sozialen und psychischen Lage der AntisemitInnen zu erklären ist. Inhaltliche Klammer ist dabei die Anlehnung an Theorien und Erkenntnisse von Karl Marx, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Abgesehen davon haben die Texte erstaunlich wenig gemeinsam. Der Sammelband ist transdisziplinär angelegt und enthält Zugänge aus Geschichtswissenschaft, Psychologie, Linguistik, Philosophie und kritischer Ökonomie. Das thematische Spektrum erstreckt sich von Grundlagen einer Sozialpsychologie des Antisemitismus über den Zusammenhang von Antisemitismus und Antiziganismus mit ökonomischen Verhältnissen über die nationalsozialistische Auffassung von Arbeit bis hin zur Demaskierung eines sich feministisch begreifenden Antisemitismus. Zudem wird im Buch dem nicht zuletzt auch im akademischen Milieu weitverbreiteten Antizionismus eine konsequente inhaltliche Kritik entgegengesetzt.

Neben den für sich genommen jeweils sehr gelungenen Beiträgen wurde es allerdings versäumt, sich mit islamischem Antisemitismus als einer der aktuell drängendsten Gefahren – nicht nur für Juden und Jüdinnen – auseinanderzusetzen. Dies mag daran liegen, dass eine Benennung islamischer Spezifika häufig zu einer automatischen Stigmatisierung als rassistisch und islamophob führt. Dabei würde sich eine Analyse des islamischen Antisemitismus hier gerade aufgrund des besonderen Fokus auf psychische Dispositionen und Subjektkonstitution anbieten, die eben nicht biologistisch argumentiert, wie dies in der populistischen Meinungsmache gegen MuslimInnen der Fall ist.

Marlene Gallner studiert Politikwissenschaft und Austrian Studies an der Universität Wien.

„Ich habe ein Leben geführt, das ich nicht bereue“

  • 01.06.2015, 13:18

Maria Cäsar, 1920 im slowenischen Prevalje geboren, kam in der Nachkriegszeit nach Judenburg. Als die Repression zunahm, wurde die Antifaschistin im politischen Untergrund aktiv. In ihrem Haus in St. Peter bei Graz sprach sie mit progress über Widerstand, Haft und die FPÖ.

Maria Cäsar, 1920 im slowenischen Prevalje geboren, kam in der Nachkriegszeit nach Judenburg. Als die Repression zunahm, wurde die Antifaschistin im politischen Untergrund aktiv. In ihrem Haus in St. Peter bei Graz sprach sie mit progress über Widerstand, Haft und die FPÖ.

„Es hat einige Menschen gegeben, die Widerstand geleistet haben und dazu habe auch ich gehört“, erzählt die Zeitzeugin Maria Cäsar auf ihrem Balkon mitten im grünen St. Peter bei Graz. Am Weg durch ihr kleines Haus schaltet sie an diesem sonnigen Tag alle Lichter ein. „Erst in den 70er Jahren wurde aufgearbeitet, dass Österreicher_innen nicht Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch Täter_innen waren.” Die 94-Jährige wirkt konzentriert, wenn sie über Politik diskutiert. Die Antifaschistin hat die Befreiung vom NS-Regime – den „Feiertag über den Faschismus“ wie sie ihn bezeichnet – miterlebt: „Wir waren froh, dass diese schreckliche Zeit endlich vorbei war, aber wie es weitergehen soll, wussten wir nicht.” Der Wiederaufbau sei nicht einfach gewesen. Hitler habe den ÖsterreicherInnen einen „blühenden Alpengarten“ versprochen. Geblieben sei „ein Trümmerfeld“, so Cäsar.

POLITISCHER UNTERGRUND. Maria Cäsar wurde am 13. September 1920 im slowenischen Prevalje in eine sozialistische Arbeiter_innenfamilie geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Familie in das steirische Murtal nach Judenburg. Dort schloss sich der Vater dem republikanischen Schutzbund und Maria den Roten Falken an, weil sie „über die damalige Situation Bescheid gewusst haben“, erklärt die Kommunistin mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. „Ich war ein aufgewecktes Kind. Mein Vater hat manchmal gesagt, dass an mir ein Bub verloren gegangen sei“, lächelt Maria Cäsar. Die Zwischenkriegszeit war von hoher Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivenlosigkeit geprägt. Die Menschen waren empfänglich für Propaganda. Repression spürte Maria Cäsar das erste Mal im Jahr 1933, als Parteien und Verbände verboten wurden. „Ich war damals jung, aufgeschlossen und kritisch. Ich hatte Fragen, die nicht beantwortet wurden.“ So erläutert die Widerstandskämpferin ihre Motivation für einen aussichtslos wirkenden Kampf. Die damals 14-Jährige wurde im Februar 1934 durch den Kommunistischen Jugendverband im politischen Untergrund aktiv und verteilte Flugblätter.

Gemeinsam mit 41 weiteren jungen AktivistInnen wurde Maria Cäsar von der Gestapo 1939 – ein Jahr nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland –  verhaftet. „Damals warst du entweder für oder gegen Hitler. Wenn du gegen Hitler warst, warst du ein Feind“, so die Antifaschistin. „Vorbereitung zum Hochverrat“ lautete die Anschuldigung. Die junge Frau verbrachte über ein Jahr im Landesgericht Graz in Untersuchungshaft. „Das Wichtigste, wenn du verhört wirst? Nicht zu reden“, weiß Maria Cäsar. Die Gestapo bot an, dass sie gegen die Preisgabe von Namen nach Hause gehen könne. Die junge Frau aber schwieg und kam dafür in den Kerker: „Dort habe ich am eigenen Leib gespürt, was der Nationalsozialismus wirklich bedeutet.“

FLUCHT NACH SLOWENIEN. Während ihrer Zeit als politisch Gefangene lernte Maria Cäsar ihren ersten Mann kennen. Die beiden heirateten nach ihrer Freilassung und Maria Cäsar gebar einen Sohn. 1943 fiel ihr Ehemann an der Front. Cäsar stellte in Folge Kontakt zu jugoslawischen Partisanen und Widerstandsgruppen in Judenburg her. Ein Jahr später wurden Mitglieder der Widerstandsgruppe verhaftet. Die junge Mutter fürchtete, dass die Gestapo auch nach ihr sucht und tauchte ohne ihr Kind bei slowenischen Verwandten unter: „Das war kein leichter Entschluss für mich, denn mein Sohn war gerade erst drei Jahre alt.“ Betroffen fügt sie hinzu: „Es war die einzige Entscheidung, um zu überleben.“ Ihre Mutter bekräftigte Maria darin, unterzutauchen. „Nachdem Hitler einmarschiert ist, ist ein Zug nach Dachau gefahren“, erzählt Cäsar leise. Dem Konzentrationslager sei sie damals nur entkommen, weil die Lager in Österreich noch nicht weit genug ausgebaut waren. Neben Mauthausen entstanden später zahlreiche Außenlager. „Die Tatsache, dass es solche Lager gibt, hat meinen Geist und meine Widerstandsfähigkeit so gestärkt, dass ich nie für den Nationalsozialismus gewesen bin. Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben.“

Die Gefahr des Faschismus sei nach wie vor gegeben. „Viele Junge sagen, es gehört ein starker Mann her. Doch was wir wirklich brauchen, ist eine starke Demokratie“, mahnt Maria Cäsar. Dass die FPÖ wächst, sei kein Zufall, sondern liege an der prekären wirtschaftlichen Situation und dem Scheitern der Migrationspolitik. Das Sprichwort „wehret den Anfängen“ ist laut der Antifaschistin aktueller denn je.

EIN LEBEN LANG GEGEN FASCHISMUS. Nachdem Maria Cäsar 1950 als alleinerziehende Mutter nach Graz gezogen war, wurde sie bei der Kommunistischen Partei aktiv. Dort lernte sie ihren zweiten Mann kennen. Sie arbeitete bei der Roten Hilfe mit, war im KZ-Verband und in der Frauenbewegung aktiv. „Das zeichnet mein Leben aus“, so Cäsar. Die Zeitzeugin hat jungen Menschen jahrelang im Rahmen von Vorträgen ihre Geschichte erzählt, denn „die Zukunft muss man selbst gestalten und die Jugend ist die Voraussetzung für eine bessere Welt.“ Cäsar selbst hat sich verpflichtet, ihr Leben lang gegen den Faschismus aufzutreten: „Die Menschen, die damals ihr Leben gelassen haben, sind nicht umsonst gefallen“, zeigt sich die Antifaschistin überzeugt. Ein Freund, den Cäsar im Landesgericht Graz kennengelernt hatte, wurde hingerichtet. Hätte dieser ihren Namen preisgegeben, wäre Maria Cäsar 1944 im Konzentrationslager gelandet: „Mein Leben habe ich diesem Menschen zu verdanken und das halte ich hoch.“ Für ihr Engagement und ihren Einsatz wurde die Kommunistin mehrfach geehrt, das letzte Mal 2014 mit dem großen Ehrenzeichen des Landes Steiermark.

ZERFALL UND ZUKUNFT. Die politischen Entwicklungen des 20. jahrhunderts sieht Maria Cäsar pragmatisch. „Es gibt nun mal Enttäuschungen, aber das Rad der Gesellschaft dreht sich weiter, es bleibt nicht stehen.“ Die 94-Jährige glaubt nach wie vor fest daran, dass eine linke Bewegung für eine bessere Welt notwendig sei, denn im Kapitalismus könne es keine Gerechtigkeit geben, nur das Streben nach Profit. „Es gibt Arme und Reiche in der Gesellschaft“, so Cäsar. Umverteilung sei die Voraussetzung für ein Leben in der Zukunft. „Ich stehe zu dem, zu dem ich immer gestanden bin: zu einer gerechten und friedlichen Welt. Ich habe ein Leben geführt, das ich nicht bereue.“

 

Sara Noémie Plassnig studiert Journalismus und Public Relations an der FH JOANNEUM in Graz.

„Wer nicht hüpft, der ist ein …“

  • 16.07.2014, 10:26

In Zusammenhang mit Sport werden exkludierende Ideologien verbreitet. progress nimmt den Antisemitismus im österreichischen Fußball unter die Lupe.

In Zusammenhang mit Sport werden exkludierende Ideologien verbreitet. progress nimmt den Antisemitismus im österreichischen Fußball unter die Lupe.

In der medialen Rezeption von Fußball steht oft die nostalgische Verklärung von Fußballlegenden, Vereinen oder einzelnen Spielen im Vordergrund. Eine kritische Hinterfragung der antisemitischen Auswüchse dieser Sportart wird dabei meist verunmöglicht. Zwar verweisen manche Stimmen neben der Kommerzialisierung des Fußballs auch auf Problematiken wie Antisemitismus und Rassismus auf den Tribünen. Aber selbst ihnen fehlt die theoretische Einbettung von einzelnen Tatsachenberichten. Das Wesen des Antisemitismus bleibt somit meist unerkannt und seine Ursprünge bleiben unhinterfragt.

Antisemitismus wird in der Fußballliteratur oft als eine mögliche Form des Rassismus abgetan und nicht eigenständig behandelt. Dieser Zugang spiegelt sich leider auch häufig in der antidiskriminatorischen Fanarbeit oder in Fairplay-Kampagnen wider. So wird Antisemitismus oft nur nach entsprechenden Vorfällen von Seiten der Spieler oder Fans explizit zum Thema gemacht und eigenständige Projekte zur Sensibilisierung und Prävention stehen bis heute aus.

Rassismus und Antisemitismus sind jedoch in ihrem Wesen und ihren Erscheinungsformen grundverschieden: Der Hass auf Juden und Jüdinnen richtet sich gegen ihre imaginierte Allmacht, wohingegen sich der Rassismus gegen die jeweilige Ohnmacht der rassistisch markierten „Anderen“ wendet. Gerade auch weil Antisemitismus im Fußball nicht immer so deutlich auftritt, aber dennoch latent vorhanden und tief verankert ist, wäre die Auseinandersetzung mit dem Phänomen von besonderer Wichtigkeit.

Wir-Identitäten. Im Fußball entsteht durch gemeinsam erlebte Siegund Niederlageszenarien ein regional bis national verortetes Gruppenbewusstsein. Unter Fans stehen meist Werte wie Zugehörigkeit, die Treue gegenüber einer Mannschaft sowie die KameradInnenschaft untereinander im Mittelpunkt. Der Historiker Michael John beschreibt Fußball als „ritualisiertes Kampfspiel mit stark hierarchischem Charakter“. Die dabei verstärkte Gruppenidentität kann dazu führen, dass der sportliche Gegner als realexistierender Feind wahrgenommen wird. Dabei entsteht ein kollektives Wir, das der Volksgemeinschaft nicht unähnlich ist und zur starken Identifizierung, auch durch Symbole wie zum Beispiel Fahnen, Kappen und Schals, einlädt. Fußballspiele können durch ihre Funktion als Ventil zur Freilassung von Aggressionen „potentielle Krisenherde“ darstellen, die ein gewisses Machtinteresse transportieren. Auf diese Weise vermischen sich soziale mit sportlichen Werten, die ausgehend von bestimmten Ideologien vorbestimmt sind. So ist auch die Affinität rechtsextremer Gruppierungen zum Fußball nicht neu und gründet auf den angesprochenen Wertvorstellungen bestimmter Fanszenen, wie der Betonung von KameradInnenschaft sowie nationalistischen, fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Orientierungen.

Antisemitismus ohne Juden. Antisemitische Sprüche wie „Scheiß Juden“ oder „Wer nicht hüpft, der ist ein Jude!“ gehören bei Spielen gegen israelische Mannschaften zum rechtsextremen Fußballalltag. Rechtsextremes Gedankengut wird zudem über Symboliken wie Reichkriegsfahnen und Keltenkreuze oder über NS-verharmlosende Botschaften wie Hitler-Grüße zum Ausdruck gebracht. Dass Antisemitismus aber nicht auf real existierende Juden und Jüdinnen angewiesen ist, zeigt sich in Österreich beispielsweise in den Auseinandersetzungen der beiden Wiener Fußballklubs Austria (FAK) und SK Rapid. Da sich ersterer historisch gesehen aus bürgerlichen und jüdischen Gesellschaftsschichten zusammensetzte, sehen sich Rapid-Fans trotz der Tatsache, dass es in Österreich kaum bis keine SpitzensportlerInnen jüdischer Herkunft gibt, noch heute veranlasst, mit antisemitischen Parolen gegen die Austria anzutreten. Im August 2004 war auf einer Tribüne des Heimstadions der Austria der antisemitische Schriftzug „Franz Strohsack-Synagoge“ zu lesen, in Anspielung auf den Besitzer des Magna-Konzerns und ehemaligen Präsidenten der Austria, Frank Stronach. Bis heute finden sich rund um das Rapid-Stadion in Hütteldorf Davidstern-Sprayereien, verziert mit den Buchstaben FAK. Auch in den Reihen der Fans des Linzer Athletik- Sport-Klub (LASK) war 2007 ein Transparent mit der Aufschrift „Schalom“ zu sehen und Sprechchöre wie „Ihr seid nur ein – Judenverein“ waren zu hören. Bei einem Bundesligaauswärtsspiel 2009 gegen die Austria im Horr-Stadion wurden Parolen wie „Juden Wien, Juden Wien“ skandiert.

Judenfeindliche, antisemitische Ausdrucksformen zielen durch die mit antisemitischen Stereotypen verbundenen Konnotationen auf die prinzipielle Abwertung der gegnerischen Mannschaft oder der Schiedsrichter ab. Der Antisemitismus ist also auch als ein System von Welterklärungsmustern zu verstehen, in welchem Juden und Jüdinnen als Projektionsfläche für die eigene Paranoia dienen. Auch im Fußball zeigt sich die tiefgehende gesellschaftliche Verankerung der Ablehnung und Abwertung von allem, was als „jüdisch“ gilt.

Neonazis im Stadion. Fußballfans sind auch immer wieder Anwerbeversuchen durch Neonazis ausgesetzt, die Fußballstadien dazu nutzen, ihre Parolen zu platzieren. Antisemitisch motivierte Aktionen waren beispielsweise bei den Fans des Wiener Klubs Rapid insbesondere ab den 1980ern wieder verstärkt anzutreffen, unter anderem weil der international bekannte Holocaustleugner Gottfried Küssel begonnen hatte, im Rapid-Stadion Nachwuchs zu rekrutieren.

Aber auch die Austria hat seit einiger Zeit selbst ein massives „Neonaziproblem“. Insbesondere der rechtsextreme, inzwischen ausgeschlossene Fanclub Unsterblich fungiert seit einigen Jahren als Sammelbecken für Neonazis. Nicht nur Sprüche wie „Rassist, Faschist, Hooligan“ oder „Zick-zack Zigeunerpack“ sollen zu ihrem Standardrepertoire gehören, bei einem Europa League-Spiel gegen die baskische Mannschaft Athletic Bilbao waren neben einer Reichskriegsfahne auch Transparente mit dem Spruch „Viva Franco“ zu sehen. Bereits zuvor war der Austria-Fanclub Bull Dogs, der selbst das Keltenkreuz in seinem Logo hat, durch einschlägige Fanartikel in den Farben der Reichskriegsflagge aufgefallen.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (www.fipu.at).

Literaturtipps:
Horak, Roman/Reiter, Wolfgang/ Stocker, Kurt (Hg.): Ein Spiel dauert länger als 90 Minuten, Junius, Hamburg 1988.
Michael John: Kriege im Stadion. Bemerkungen zu Fußball und Nationalismus; in: Schulze-Marmeling, Dietrich (Hg.): Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports; Göttingen 1992.

WU Wien: Erinnerung an einen Mikrokosmos des Grauens

  • 12.05.2014, 13:43

Am 8.Mai 2014 wurde am neuen Campus der Wirtschaftsuniversität Wien feierlich eine Skulptur enthüllt, die jenen jüdischen Studierenden, DozentInnen und MitarbeiterInnen ein Denkmal setzen soll, welche im Nationalsozialismus von der damaligen Hochschule für Welthandel vertrieben wurden. Margot Landl hat für progress online die Feierlichkeit besucht.

Am 8.Mai 2014 wurde am neuen Campus der Wirtschaftsuniversität Wien feierlich eine Skulptur enthüllt, die jenen jüdischen Studierenden, DozentInnen und MitarbeiterInnen ein Denkmal setzen soll, welche im Nationalsozialismus von der damaligen Hochschule für Welthandel vertrieben wurden. Margot Landl hat für progress online die Feierlichkeit besucht.

Cilja Odinac. Zacharias Mundstein. Walter Mann. Adele Romanowska. Die metallenen Schriftzüge glänzen in der Sonne. Zusammen ergeben sie eine große silberne Weltkugel, die seit kurzem in der Mitte des neuen Campus der Wirtschaftsuniversität Wien auf einer kleinen Grünfläche steht. Mehr als 110 Namen verschiedener Herkunft befinden sich auf der Kugel. In ihrer Modernität fügt sie sich gut in den Campus ein. Die Skulptur ist nicht vollständig, etwa ein Drittel der Fläche ist leer geblieben.  Laufend gehen Studierende an ihr vorbei, manche halten kurz an, um die Namen zu lesen. Die StudentInnen Jacqueline und Katja sind gerade auf dem Weg ins benachbarte Library and Learning Center und bleiben stehen, um die Kugel näher zu betrachten. „Durch einen Newsletter, der an alle StudentInnen ausgeschickt wurde, wissen schon einige über das Projekt Bescheid“, meint Jacqueline. Ihr persönlich gefällt die Skulptur. So auch Katja und sie ergänzt: „Die Kugel ist auch dann schön, wenn man nicht genau weiß, worum es geht.“

Dunkle Vergangenheit sichtbar machen

Die Skulptur auf dem WU-Campus ist ein Denkmal für jene Personen, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft im Lauf der Machtergreifung der Nationalsozialisten schrittweise von der damaligen Hochschule für Welthandel verbannt wurden. Und sie wurde auch im Gedenken daran errichtet , dass vielen von ihnen später noch Schlimmeres wiederfahren war. Es handelt sich um DozentInnen, Verwaltungspersonal und vor allem Studierende. „Jene Studierenden, denen man an ihrer Hochschule für Welthandel die Chance auf ein Leben genommen hat, welches sie sich gewünscht hätten“, nennt sie der Rektor der WU Christoph Badelt in seiner Ansprache bei der symbolischen Enthüllung der Kugel am 8.Mai 2014. Bewusst wurde der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus für die Festlichkeit ausgewählt, denn auch die eigene dunkle Vergangenheit soll damit sichtbar gemacht werden, wie es der Rektor formuliert. „Auch wenn die damalige Hochschule für Welthandel nur ein kleiner Bereich war, war sie ein Mikrokosmos des Grauens.“

Ungefähr eineinhalb Jahre haben Peter Berger, WU-Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und sein Mitarbeiter Johannes Koll gebraucht, um die Liste der Namen zu erstellen, die heute als Teil der silbernen Kugel auf dem WU-Campus stehen. Die beiden Wissenschaftler recherchierten in Archiven, Datenbanken, Printmedien sowie Internetressourcen und knüpften Kontakte mit den Hinterbliebenen und Nachfahren der Vertriebenen. Aus dieser Forschungsarbeit entstand auch ein virtuelles Gedenkbuch, welches Kurzbiografien zu vertriebenen, ausgegrenzten oder ermordeten Mitgliedern der damaligen Hochschule für Welthandel enthält. Es ist in deutscher, englischer und polnischer Sprache verfügbar, da die Mehrheit der vertriebenen jüdischen StudentInnen aus Polen war. Vollständig ist die Liste jedoch vermutlich trotzdem nicht, da viele Spuren nicht nachvollzogen werden können. Deshalb hoffen die Historiker, über das Projekt zu weiteren Informationen und Denkanstößen zu gelangen.

Der WU-Professor und Wirtschaftshistoriker Peter Berger hat mit seinem Mitarbeiter Johannes Koll die Liste der Vertriebenen rekonstruiert. Foto: Christopher Glanzl

Doch die vollständige Rekonstruktion der Lebensläufe ist besonders problematisch. „Die Schwierigkeiten beginnen damit, wenn man wissen will, wohin die Menschen gegangen sind“, erklärt Peter Berger im Gespräch. Wie die anderen Universitäten und Hochschulen Österreichs war auch die damalige Hochschule für Welthandel an einer Rückholung der Vertriebenen nicht besonders interessiert. Lediglich ein Professor wurde nach dem Krieg wieder an die Hochschule geholt und auch nur einer von etwa 80 vertriebenen StudentInnen nahm das Studium nach 1945 wieder auf. Deshalb bietet ein Drittel des Denkmals noch Platz für Ergänzungen und auch das Gedenkbuch wird ständig aktualisiert. Vor 1938 war über die Hälfte der Studierenden der Hochschule für Welthandel jüdischer Herkunft. „Die Vertreibung war nur der Höhepunkt eines langen unrühmlichen Prozesses. Davor herrschte schon lange ein Klima des Hasses, des Mobbings und der physischen Bedrängnis“, erklärt Rektor Badelt in seiner Ansprache. „Als Mensch, der 1951 geboren ist und mehr als 60 Jahre des Wohlstands miterlebt hat, stehe ich selbst fassungslos der Geschichte meiner eigenen Universität gegenüber.“

Zwischenstopp am Weg zum Hörsaal

Etwa 200 Menschen wohnen der feierlichen Enthüllung der Skulptur in der Mitte des neuen Campus bei, die von der Ö1-Radiosprecherin Ina Zwerger eröffnet und moderiert wird. 130 Sitzplätze wurden für BesucherInnen in Form von Metallsesseln zur Verfügung gestellt. Dahinter und an der Seite  beobachten viele Zaungäste das Ereignis. Es ist elf Uhr Vormittag und damit Hochbetrieb an der Uni. Unzählige Studierende gehen vorbei und werfen neugierige Blicke auf die Veranstaltung. Einige bleiben an der Seite des abgetrennten Sitzbereichs stehen und schauen neugierig zu. Auch Marina unterbricht ihren Laufschritt von einem zum anderen Universitätsgebäude kurz, um festzustellen, worum es hier geht. „Ich wusste noch gar nichts über das Projekt. Aber ich finde es gut, dass man der Menschen gedenkt, die vertrieben worden sind“, meint sie zustimmend. Danach macht sie sich gleich wieder auf den Weg in den Hörsaal.

Allerdings sind nicht alle besonders begeistert, wie beispielsweise Philipp. Er beobachtet die Veranstaltung etwas länger und blickt gelangweilt auf die Bühne. Er hält die 25-seitige Broschüre in der Hand, die von der WU extra für das Gedenkprojekt herausgegeben wurde. „Eigentlich interessiere ich mich nicht vordergründig dafür, ich war nur gerade da und es betrifft meine Uni. Von der Veranstaltung habe ich über das Radio erfahren“, meint Philipp. Er deutet auf die Tische für den Sektempfang im Hintergrund und fragt in sarkastischem Tonfall: „Gibt’s da dann koscheres Essen für alle oder wie?“.

Borodajkewycz-Affäre
Bevor der Sekt serviert wird, folgen noch einige Reden. Nach Rektor Badelt richtet die Rektorin der Universität für angewandte Kunst Eva Blimlinger einen längeren Redebeitrag an das Publikum. Denn die Skulptur entstand aus einer Zusammenarbeit der beiden Hochschulen. 28 StudentInnen und AbsolventInnen der Universität für angewandte Kunst reichten Vorschläge für das Denkmal ein, aus denen von einer Fachjury schließlich die Arbeit von Alexander Felch ausgewählt wurde. Blimlinger ist auch Historikerin und schlägt den Bogen zwischen Kunst und Geschichte. In ihrer Ansprache geht sie auf die Borodajkewycz-Affäre ein, die ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte der WU nach 1945 darstellt. Der Historiker Taras Borodajkewycz war von 1934 bis 1945 Mitglied der NSDAP und wurde bereits 1946 im Zuge der Minderbelastetenamnestie rehabilitiert. 1955 erhielt er den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der damaligen Hochschule für Welthandel. In seinen Vorlesungen propagierte er öffentlich bis in die 1960er Jahre hinein antisemitisches Gedankengut sowie seine fortbestehenden Sympathien für den Nationalsozialismus.

Der spätere sozialdemokratische Finanzminister Ferdinand Lacina und der heutige Bundespräsident Heinz Fischer waren damals seine Studenten. Sie veröffentlichten seine Vorlesungsinhalte und lösten eine gesellschaftspolitische Diskussion aus. 1965 wurde bei einer Demonstration gegen Taras Borodajkewycz der ehemalige Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von dem Rechtsradikalen und RFS-Mitglied Günther Kümel brutal niedergeschlagen. Zwei Tage später verstarb Kirchweger an den Folgen des Angriffs. Er wird als „Erstes Opfer der Zweiten Republik“ bezeichnet. Taras Borodajewycz wurde schließlich 1966 bei vollen Bezügen zwangspensioniert. „Man kann sagen, dass Taras Borodajkewycz bis zu seinem Tod 1984 ein illegaler Nationalsozialist war“, resümiert Eva Blimlinger.

Eva Blimlinger thematisierte die Taras Borodajkewycz-Affäre auf der Pressekonferenz zum Mahnmal. Foto: Christopher Glanzl

Ein Riss, der nie ganz geschlossen werden kann

Die Präsentation des Mahnmals ist bewusst international und öffentlich gehalten. Neben der Bühne wehen die Fahnen der EU, Österreichs, Wiens und der WU im Wind.  Eine Stunde davor fand bereits eine Pressekonferenz statt, bei der Christoph Badelt, Eva Blimlinger, Peter Berger und Johannes Koll JournalistInnen das Projekt gegenüber der Presse präsentiert hatten. Die Pressemappe ist zweisprachig und Teile der Redebeiträge sind zweisprachig. Manche Personen sprechen Englisch, einige Herren tragen eine Kippa. Auch die Skulptur symbolisiert laut deren Gestalter Alexander Felch eine Weltkugel, auf der sich die Vertriebenen im Falle einer gelungenen Emigration verstreut haben.

Durch das Mahnmal sollen sie symbolisch zurück in den Kreis der Universität geholt werden. Die Öffnung an der Seite der Kugel steht für den Riss, den der Nationalsozialismus in der Welt hinterlassen hat und der - auch wenn künftig Namen ergänzt werden - nie ganz geschlossen werden kann. „Ich bin selbst der Sohn einer russischen Jüdin, aber bei mir war das nie ein Thema. Darüber bin ich sehr froh“, erklärt der Künstler, der an der Angewandten Bildende Kunst und Kunst im öffentlichen Raum studiert hat und jetzt in Wien und St. Petersburg lebt und arbeitet.

Die Skulptur wurde von dem Künstler Alexander Felch gestaltet. Sie stellt eine Weltkugel dar, auf der sich die Vertriebenen im Falle einer gelungenen Emigration verstreut haben. Foto: Christopher Glanzl

Warum erst jetzt?

Doch bei allgemeiner Begrüßung und Wertschätzung des Projekts stellt sich doch die Frage: Warum passiert das alles erst jetzt? Warum hat es fast 70 Jahre gebraucht, um das Leid der von der Hochschule für Welthandel vertriebenen Juden und Jüdinnen angemessen zu würdigen? Eva Blimlinger nimmt in ihrer Rede zu dem Vorwurf des stark verspäteten Gedenkens folgendermaßen Stellung: „Es kommt spät, das Gedenken. Sehr spät, ja. Der Einwand mag berechtigt sein. Aber meiner Ansicht nach ist es für so etwas nie zu spät.“

„Ich selbst habe von 1971 bis 1975 hier studiert und damals war das politische Klima an der WU noch ein deutlich intoleranteres. Heute haben die Studierenden hier nicht mehr diese Einstellung“, erzählt Paul Berger im Gespräch. Dennoch gab es auch in der jüngeren Vergangenheit schon Versuche der Aufarbeitung: „Bereits 1990 wurde anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Universität ihre Geschichte in zwei Bänden und eine Sonderausgabe der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft veröffentlicht. Den Anstoß für dieses konkrete Projekt gab die Anfrage der Amerikanerin Ilse Nusbaum im Jahre 2012, welche posthum das Doktorat für ihren Vater Karl Löwy beantragte.“ Karl Löwy und Arthur Luka waren zwei jüdische Doktoranden, welche Ende 1938 ihre Doktorarbeit eingereicht hatten. Die Promotion wurde ihnen allerdings verweigert, da sie „mosaisch zu den Rigorosen nicht zugelassen“ waren. So wurden sie noch stärker diskriminiert als jene 13 jüdischen DoktorandInnen, welche 1938 ohne Feierlichkeit promovieren konnten. „Es ist gesetzlich nicht möglich, Karl Löwy den Doktortitel im Nachhinein zu verleihen“, erklärt Berger, „doch Ilse Nusbaum hat das Forschungsprojekt ins Laufen gebracht.“ Während sich die Spur von Arthur Luka 1941 im Konzentrationslager verliert, schaffte es Karl Löwy, in die USA zu emigrieren, in der er 1970 verstarb.

WU-Rektor Christoph Badelt will einen Anreiz für Studierende schaffen, sich politisch zu engagieren, „damit nicht ein Hundertstel von dem jemals wieder passiert, was damals geschehen ist.“ Foto: Christopher Glanzl

Christoph Badelt nennt vor allem den Neubau der Wirtschaftsuniversität als Anlass für das erneute Aufrollen des Themas. „Heute haben es die StudentInnen hier schön. Aber sie sollen sich auch an Zeiten erinnern, die nicht so schön waren“, plädiert der Rektor in seiner Rede. Er will einen Anreiz für Studierende schaffen, sich politisch zu engagieren, „damit nicht ein Hundertstel von dem jemals wieder passiert, was damals geschehen ist.“ Am Ende seiner Rede bezieht er sich schließlich konkret auf die aktuelle politische Lage: „Wehret den Anfängen, nicht nur Antisemitismus, sondern auch Rassismus! Verwendet eure Ausbildung, um ein Leben voll Demokratie, Menschenrechten und Toleranz zu führen und tretet jenen entgegen, die – in diesem konkreten politischen Umfeld Europa – diese Werte zuerst mit Worten, aber später auch mit Taten, mit Füßen treten!“

Gedenkbuch der WU Wien: http://gedenkbuch.wu.ac.at/

Die Autorin Margot Landl studiert Lehramt Deutsch und Geschichte sowie Politikwissenschaften an der Universität Wien.

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