Georg Sattelberger

Al-Qaida, ISIS, Antifa?

  • 11.05.2015, 08:00

Auch die diesjährigen Proteste gegen den Akademikerball haben eine Reihe an Ermittlungen gegen AntifaschistInnen nach sich gezogen. Aufgefahren wird mit allem, was das Strafrecht so zu bieten hat. Nun steht sogar der Vorwurf der Bildung einer „terroristischen Vereinigung“ im Raum.

Auch die diesjährigen Proteste gegen den Akademikerball haben eine Reihe an Ermittlungen gegen AntifaschistInnen nach sich gezogen. Aufgefahren wird mit allem, was das Strafrecht so zu bieten hat. Nun steht sogar der Vorwurf der Bildung einer „terroristischen Vereinigung“ im Raum. 

Derzeit ermittelt die Wiener Polizei gegen elf Personen und noch weitere Unbekannte im Umkreis der diesjährigen Proteste gegen den Akademikerball in der Wiener Hofburg. Unter anderem wird wegen Nötigung, gefährlicher Drohung, Landzwang und Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Vorwürfe, mit denen zum Teil auch schon in den vergangenen Jahren versucht wurde, gegen antifaschistische und zivilgesellschaftliche Proteste vorzugehen. Nun wird auch noch wegen des Vorwurfs der Bildung einer „terroristischen Vereinigung“ (§ 278b StGB) gegen AktivistInnen des ehemaligen NoWKR-Bündnisses ermittelt, bestätigt Nina Bussek von der StaatsanwältInnenschaft Wien entgegen anderslautender Berichte in letzter Zeit. Und das alles, obwohl sich das Bündnis kurz nach den vergangenen Protesten aufgelöst hat, unter anderem, um sich neuen politischen Projekten zuzuwenden.

Sollte es tatsächlich zu einer Anklage und in Folge zu einer Verurteilung kommen, könnte das Strafmaß bis zu zehn Jahre Haft betragen. Von BeobachterInnen, ExpertInnen und Beteiligten werden die Ermittlungen heftig kritisiert – es werde versucht, antifaschistischen Protest mit Maß- nahmen des Strafrechts mundtot zu machen.

SCHWERE GESCHÜTZE. Die Pressesprecherin von NoWKR, Elisabeth Litwak, zeigt sich schockiert über die Ermittlungen wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung: „Wir haben Demonstrationen und Vortragsreihen organisiert. Wenn so etwas in Österreich unter Terrorismus fällt, wäre das fatal für alle künftigen Proteste. Der Terrorismusparagraph wird sonst gegen den Islamischen Staat (IS) und Al-Qaida eingesetzt.“ In den letzten Jahren hätte die Intensität der Strafverfolgungen gegen antifaschistische oder zivilgesellschaftliche Proteste zugenommen: „Diese Ermittlungen sind eine ganz neue Stufe“, erklärt Litwak. Von der Wiener Polizei sind die AktivistInnen von NoWKR diesbezüglich bisher weder kontaktiert noch einvernommen worden. NoWKR hat, wie viele andere Gruppierungen in der Vergangenheit, auf den Akademikerball aufmerksam gemacht und Proteste dagegen organisiert.

Zur Erinnerung: Auf dem jährlichen Akademikerball treffen sich Persönlichkeiten der nationalen und europäischen rechten bis rechtsextremen Gruppierungen in der Wiener Hofburg, um das Tanzbein zu schwingen. Die Gegendemonstrationen führten teils zu heftigen Polizeieinsätzen und zu umstrittenen Anzeigen und Gerichtsverfahren. Bernhard Lahner vom Vorsitzteam der ÖH-Bundesvertretung (BV) sieht das Vorgehen gegen Anti- faschist_innen kritisch. „Antifaschistischer Protest muss ein wesentliches Element im politischen Engagement der Studierenden sein. Es ist fatal dieses Engagement durch Kriminalisierung im Keim zu ersticken. Faschismus darf durch Schweigen nicht salonfähig gemacht werden.“

Letztes Jahr etwa musste der Student Josef S. aus Jena gut sechs Monate lang in Untersuchungshaft sitzen. Angezeigt und schließlich auch verurteilt wurde er unter anderem wegen des sogenannten Landfriedensbruchsparagraphen. Dieser Prozess wurde nicht nur von deutschen Medien heftig kritisiert, sondern auch von Verfassungsjuristin Brigitte Hornyik, die ihn beobachtet hat. „Da wurde der ganze Rechtsstaat gewissermaßen mit Füßen getreten. Ein Mensch wurde aufgrund von ganz schwammigen Vorwürfen festgehalten und vorverurteilt“, so Hornyik. An dem Prozess ist ihr besonders die seltsame Beweisführung durch das Gericht sauer aufgestoßen, das sich sein Urteil im Wesentlichen auf die Aussage eines Polizisten bezog, der sich noch dazu in Widersprüche verstrickt hatte.

KRIMINALISIERUNG. Nach den aktuellen Ermittlungen wegen § 278b gefragt, findet die Verfassungsjuristin Hornyik sehr schnell deutliche Worte: „Das ist eine Frechheit. Damit soll Antifaschismus wieder einmal kriminalisiert werden. Dabei lässt man offenbar kein Mittel aus, wie diese Ermittlungen zeigen.“ Für Hornyik ist das eine strafrechtliche Keule, die in diesem Fall offenbar dazu diene, auf eine ganze Bewegung zu prügeln. Sie hofft, dass die Ermittlungen bald wieder eingestellt werden. Dennoch empfindet sie alleine die Verdächtigungen als politisch sehr beunruhigend. Sie vermutet außerdem, dass ein solcher Umgang mit diesen Protesten an der mangelnden Aufarbeitung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich und der immer noch stark verbreiteten autoritären Gesinnung liege.

Der Strafrechtsexperte Georg Bürstmayr schlägt in eine ähnliche Kerbe und hält die Anwendung des Terrorparagraphen 278b in diesem Fall für völlig überzogen. Der Paragraph sei nach den Anschlägen von 2001 für Fälle gedacht gewesen in denen es um „eine schwere oder längere Zeit anhaltende Störung oder Schädigung des öffentlichen Lebens bzw. des Wirtschaftslebens“ gehe. „Mit dieser Bestimmung muss sehr bedächtig umgegangen werden. Man kann sie nicht einfach wahllos, missliebig gegen kritische Gruppierungen anwenden“, so Bürstmayr.

ANGST? Über den aktuellen Stand der Ermittlungen geben sowohl StaatsanwältInnenschaft als auch Polizei keine Auskunft, auch nicht wie lange die Ermittlungen dauern könnten. Für die Verdächtigten von NoWKR, aber auch jene (AntifaschistInnen), gegen die wegen anderer Delikte ermittelt wird, heißt es also vorerst abwarten und hoffen. Galt noch im letzten Jahr unter anderem rund um den Prozess gegen Josef S. die Anwendung des bis dahin für totes Recht gehaltenen Paragraphen Landfriedensbruch als äußerst umstritten, so kommt nun der Paragraph „Landzwang“ (§ 275 StGB) zu einem sehr fragwürdigen Einsatz. Dieser Paragraph bestraft das Drohen mit schweren Angriffen gegen einen großen Personenkreis. Auf Anfrage des progress hat das Justizministerium mitgeteilt, dass dieser Paragraph in den letzten 39 Jahren zu insgesamt 18 Verurteilungen geführt hat, also äußerst selten angewandt wird.

Danach gefragt, was sie AntifaschistInnen raten würde, die sich zunehmend eingeschüchtert fühlen, meint Litwak: „Aus Angst auf Protestformen zu verzichten ist weder angemessen noch hilfreich, vielmehr ist es genau das, worauf die Repression abzielt. Wichtig ist es, überlegt und gut vorbereitet zu sein. Niemand muss sich der Repression alleine stellen.” Für Lahner tut sich hier aber ein Problem auf: „Da es die linke ,Organisation‘ in Österreich nicht gibt, ist es oft schwierig, dass unterschiedliche Gruppierungen in allen Punkten miteinander können. Es sollte aber vor allem in Bezug auf Antifaschismus Konsens herrschen und ein gemeinsames Vorgehen das Ziel sein. Unterstützung gegen Repression muss für linke Organisationen selbstverständlich sein.“

 

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung und Lehramt Englisch und Geschichte an der Universität Wien. 

 

Von fehlendem Halt zu Hass

  • 27.10.2014, 14:49

Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz kämpfen mit einer unsicheren Zukunft. Vom Alltag frustriert, sind sie besonders empfänglich für Vorurteile.

Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz kämpfen mit einer unsicheren Zukunft. Vom Alltag frustriert, sind sie besonders empfänglich für Vorurteile.

Jugendliche provozieren mitunter gerne. Wenn es sich dabei um menschenfeindliche Äußerungen und Taten handelt, etwa im Kontext von rechtem oder islamistischem Gedankengut, stellt sich die Frage, wo die Wurzeln dafür liegen, und wie damit umgegangen werden kann. Das Phänomen lässt sich keineswegs nur auf Jugendliche beschränken. Trotzdem lohnt es sich, einen genauen Blick auf die Herausforderungen zu werfen, denen sich jene Menschen stellen müssen, die politische Bildungsarbeit und Sozialarbeit mit Jugendlichen leisten.

Nicht erfüllte Bedürfnisse. In den Räumlichkeiten des Vereins Backbone, der mobile Jugendarbeit im 20. Wiener Bezirk leistet, wird regelmäßig gemeinsam gekocht. In gemütlicher Atmosphäre reden die Jugendlichen mit den SozialarbeiterInnen darüber, was ihnen gerade durch den Kopf geht und was sie bewegt. Viele der jungen Menschen hier kommen aus ökonomisch und sozial benachteiligten Verhältnissen, manche befinden sich weder in Ausbildung noch in einem Arbeitsverhältnis. Bei Backbone wird ihnen nicht nur Unterstützung bei der Suche nach einer Lehrstelle oder beim Bewerbungsgespräch geboten, sie können auch in ihrer Freizeit die Räumlichkeiten nutzen. Die Jugendlichen können bei der Gestaltung des Freizeitangebots von Backbone mitreden, Regeln gibt es kaum. Dieser offene Zugang ermöglicht es den SozialarbeiterInnen, die Jugendlichen in all ihren Facetten kennen zu lernen.

Nicht selten übertragen die Jugendlichen den Frust, der sich aus ihrem Alltag ergibt, auf andere und greifen dabei auf Vorurteile, die sie entweder aus dem Elternhaus, den Medien oder von FreundInnen kennen, zurück. „Wir sind mit menschenfeindlichen Parolen, Ressentiments gegen verschiedene Minderheiten, Nationalismen in unterschiedlichster Ausformung und mit religiös-extremistischem Gedankengut konfrontiert“, erzählt Fabian Reicher, einer der Sozialarbeite rInnen bei Backbone. Die Gründe für solche Äußerungen und die Neigung mancher Jugendlicher zu diesen Weltbildern sind aus seiner Sicht vielfältig. Man dürfe nicht vergessen, dass die Jugend auch ohne zusätzlich erschwerte Umstände eine Phase des Experimentierens mit schnell wechselnden Einstellungen und Vorlieben ist. Die Zeit zwischen 12 und 15 Jahren sei oft wechselhaft, wie er am Beispiel eines Mädchens, das er schon länger kennt, illustriert: Bis vor einigen Monaten hatte sie oft ein T-Shirt der Band Frei.Wild, die dem Rechtsrock zuzuordnen ist, getragen und deren Musik gehört. Dann wiederum sah er sie vergangenes Frühjahr auf einer Demonstration gegen die rechte Gruppierung Die Identitären.

Foto: Mafalda Rakoš

Im Klassenraum. Der Rechtsextremismus und Islamismus-Experte Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, pflichtet dieser Einschätzung bei: „Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, kann das zur Projektion etwa auf Juden, Muslime oder andere Gruppen führen. Je mehr man über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse weiß, desto geringer wird auch der Drang zur Projektion. Wenn Jugendliche in einem Milieu aufwachsen, das von physischer oder psychischer Gewalt geprägt ist oder in dem es kaum Anerken nung und Wertschätzung gibt, dann werden sie auch ein vergiftetes Selbstbild entwickeln.“ Peham ist seit 20 Jahren an österreichischen Schulen unterwegs, um Workshops zu Vorurteilen und Ressentiments zu halten. Diese Workshops sind Teil der politischen Bildung und sollen mitunter ein Beitrag zur Prävention sein. Für Peham liegt ein Problem darin, dass rechte Äußerungen oder Vorurteile oft nicht erkannt werden, etwa weil sie sehr indirekt oder undeutlich artikuliert werden. Aus seiner Erfahrung macht sich das vor allem unter jenen bemerkbar, die sich weiter oben in einer Bildungslauf bahn befinden und mit Rassismus oder Antisemitismus kokettieren. Dass LehrerInnen hier zu Sanktionen tendieren, liegt für Peham daran, dass ihnen schlicht die Zeit fehlt, um Vorurteile ausgiebig zu diskutieren. Die politische Bildungsarbeit kann hierfür Raum schaffen.

In seinen Workshops wird Peham mit unterschiedlichsten Vorurteilen konfrontiert. Aus seiner Erfahrung ist eines der häufigsten, dass alle AusländerInnen in der sozialen Hängematte liegen würden. Da solche Meinungen eben auch mit Emotionen verbunden sind, reicht es oft nicht, das nur faktisch zu widerlegen. Deshalb konfrontiert er die SchülerInnen auch mal mit unerwarteten Aussagen, wie: „Ich habe eigentlich selbst ein starkes Bedürfnis danach, versorgt zu werden.“ Das funktioniert zwar nicht immer, bringt manche aber dazu, sich dem Thema aus einer anderen Richtung zu nähern und so über die eigenen sozialen Verhältnisse anders nachzudenken. Dass in ein paar Stunden sämtliche Ressentiments, die mitunter bestehen, aufgelöst werden könnten, darüber macht sich Peham keine Illusionen. Er ist schon mit kleinen Erfolgen zufrieden. Besorgt zeigt er sich aber über eine Entwicklung, die er seit gut ei nem Jahr beobachtet: „Ein offensichtlicher Antisemitismus ist wieder bemerkbar, bis hin zu Mord und Vernichtungsphantasien.“

Begegnungen in Israel. Auch im Verein Backbone sehen sich die SozialarbeiterInnen immer wieder mit antisemitistischen Äußerungen jeglicher Art konfrontiert. Neben der alltäglichen Arbeit im Verein gibt es auch immer wieder Projekte, die es den Jugendlichen ermöglichen sollen, einen anderen Zugang zu sich und ihren eigenen Weltbildern zu bekommen. Im Herbst 2013 organisierte der Verein deshalb eine Reise nach Israel. Zwei Jugendliche sind mitgeflogen, deren Familien sich im Umfeld der Grauen Wölfe bewegen. Das ist eine rechtsradikale Gruppierung aus der Türkei, die auch antisemitische Positionen vertritt. Um sich auf die Reise nach Israel vorzubereiten, haben sich die beiden Jugendlichen einen Bart wachsen lassen, um sich abzugrenzen.

In Israel angekommen, haben sich die Erwartungen der beiden allerdings nicht bestätigt. „Zunächst waren sie überrascht über die Minarette, die sie dort gesehen haben. Auf der Straße sind sie außerdem laufend von Menschen gefragt worden, ob sie nicht mit ihnen gemeinsam beten wollen“, erzählt Reicher, der die Reise nicht nur mitorganisierte, sondern die Jugendlichen auch in Israel begleitete. So begannen die Jugendlichen bald festgefahrene Bilder neu zu überdenken. Es entwickelten sich auch Freundschaf ten. Dass sich durch die Reise bei den Jugendlichen etwas veränderte, steht für Reicher fest. Sie würden nun differenzierter mit vorgefertigten Ideen umgehen, die sie zuvor einfach übernommen hatten.

Foto: Mafalda Rakoš

Jugendlichen unterschiedliche Blickwinkel aufzuzeigen, ist für den Sozialarbeiter eine weitreichende Aufgabe: „Von Jugendlichen wird erwartet, dass sie sich von menschenfeindlichem Gedankengut abgrenzen. In Wirklichkeit fehlt es den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, aber an den Voraussetzungen dafür, nämlich an Bildung. Sie können sehr schwer differenzieren.“ Deshalb ist es für ihn auch nicht verwunderlich, dass die Jugendlichen die häufig ebenso undifferenzierten Medienberichte sofort auf sich beziehen. Manchmal kommen Jugendliche wütend zu Backbone und ärgern sich über die Berichterstattung in einer der U-Bahn-Zeitungen, die sie zuvor gelesen haben, erzählt Reicher. Ein Jugendlicher sagte etwa zu ihm: „Wenn alle meinen, ich sei ein Terrorist, werde ich irgendwann wie ein Terrorist.“

Selbstwirksamkeit. Um diesem Ohnmachtsgefühl etwas entgegenzusetzen, haben Reicher und seine KollegInnen vergangen Sommer gemeinsam mit den Jugendlichen ein neues Projekt organisiert. Als im Frühjahr und Sommer 2014 die Konflikte im Nahen Osten wieder ein Thema wurden, bemerkten die SozialarbeiterInnen bei Backbone, wie sehr sich die Jugendlichen damit beschäftigten und dass daraus ein Gefühl der Lähmung erwuchs. Daraufhin entstand die Idee, ein Spendenprojekt zu organisieren und den Jugendlichen damit eine Möglichkeit zu geben, aktiv zu handeln. Gemeinsam mit den SozialarbeiterInnen produzierten die Jugendlichen Marmelade und Chili-Öl und verkauften diese. Ein Teil des Erlöses ging an das Internationale Rote Kreuz. Der andere Teil ging an das Projekt „Oase des Friedens“, ein Dorf nahe Tel Aviv, das gemeinsam von Muslimas und Muslimen sowie Juden und Jüdinnen aufgebaut wurde und sich als Teil der Friedensbewegung begreift. Für Fabian Reicher war diese Aktion ein voller Erfolg: „Die Jugendlichen konnten so Wertschätzung, Anerkennung und Selbstwirksamkeit erfahren. Das hat es wiederum ermöglicht, emotionalisierte Themen zu versachlichen.“

 

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung und Lehramt Geschichte und Englisch an der Uni Wien.

Eine Reise auf acht Rädern

  • 02.08.2014, 09:24

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Im Spätsommer 2010 haben sich die beiden aufgemacht. Eigentlich sollte es eine sechsmonatige Auszeit vom österreichischen Winter werden. Es wurde schließlich eine zwölf Monate lange Reise durch Mexiko und Mittelamerika. Dabei bestaunten Victoria Reitter und Reinfried Blaha nicht nur die schönsten Strände, durchtauchten malerische Buchten und machten unzählige Bekanntschaften. Sie hatten auch mit Krankheiten zu tun, machten es sich auf verlassenen Terrassen gemütlich und entwickelten eine besondere Taktik im Umgang mit lästigen Polizeikontrollen. Bis nach einem Jahr sowohl ihr Auto, mit dem sie rund 20.000 Kilometer zurückgelegt hatten, als auch Reinfrieds Rollstuhl eine Generalsanierung nötig hatten.

Victoria pausierte für die Dauer des Trips ihr Studium der Kultur- und Sozialanthropologie in Wien, der studierte Architekt Reinfried ließ sich von seiner Arbeit in Graz karenzieren. Startpunkt der Reise war Los Angeles, wo sich die beiden einen alten Volvo, Baujahr 1984, zulegten. Denn eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre nur unter schweren Anstrengungen möglich gewesen. Seit einem Ski-Unfall im Jahr 2006 ist Reinfried von der Brust abwärts gelähmt und nur mit einem Rollstuhl mobil. Aufgrund seiner Querschnittslähmung ist er auch auf Einwegkatheter angewiesen, um seine Blase entleeren zu können, je nach Wassermenge benötigt er dafür sechs bis neun Stück am Tag. Für eine halbjährige Reise hatten die beiden also eine Unmenge an Kathetern im Gepäck; der zusätzliche Stauraum des Autos erwies sich deshalb als erhebliche Erleichterung. Kalifornien empfanden beide, auch im Vergleich zu Österreich, als relativ barrierefrei. Das änderte sich aber spätestens an der Grenze zu Mexiko: „Wir sind dann zu einem Team geworden, das voneinander abhängig war. Ich war angewiesen auf Vicki, sie aber auch auf mich. Ohne sie hätte ich quasi an einer Straßenecke sitzenbleiben müssen“, erklärt Reinfried.

Durch die Wüste. Für die erste, rund 1.600 Kilometer lange Etappe, die sie durch die dünnbesiedelte, wüstenartige Gegend von Baja California mit ihren einzigartigen Stränden führte, ließen sich die beiden gut fünf Wochen Zeit. Mit wenig Budget ausgestattet, schlugen sie dort ihr Lager auf, wo es ihnen gerade am besten gefiel. Wild zu campieren, hatte in dieser Gegend allerdings einen erheblichen Nachteil: Der Boden ist dort so sandig, dass Reinfried mit dem Rollstuhl schnell steckenblieb. Vicki musste sich um Zelt und Lagerfeuer also immer alleine kümmern. Auf der Suche nach Alternativen mieteten sie sich schließlich auf den Terrassen von verlassenen Ferienhäusern ein. Für Reinfried bedeutete das, seine Mobilität zurückzugewinnen. Überrascht von den vergleichsweise niedrigen Temperaturen in der Nacht, mussten sie zum Schlafen manchmal nahezu alles anziehen, was sie dabei hatten. Das Auto wurde bald zu einem zweiten Zuhause. Täglich mit neuen Herausforderungen konfrontiert, entwickelten beide im Zuge der Reise für so manches Problem kreative Lösungen. Da Reinfried auf Sitztoiletten angewiesen ist, solche in der Gegend aber dünn gesät waren, wurde kurzerhand ein Camping-Stuhl zu einer mobilen Toilette umfunktioniert. „Ich konnte mir jetzt die schönsten Toilettenplätze der Welt aussuchen“, erzählt er lachend. Zwei gestohlene Schlafsäcke, eine gebrochene Zeltstange und zwei löchrige Matten kostete die erste Etappe ihrer Reise, dafür hatten die beiden ihr Spanisch zu diesem Zeitpunkt bereits um gefühlte fünf Prozent verbessert.

In San José del Cabo, an der Südspitze Baja Californias angekommen, begann Reinfried in einem Architekturbüro zu arbeiten; Victoria fand Arbeit bei einer NGO, die Menschen im Slum-Gürtel rund um die Stadt unterstützt. Die Wohnungssuche gestaltete sich schwieriger, da es in San José del Cabo praktisch keine barrierefreien Gebäude gab. Konfrontiert mit der Aussicht, ihren Aufenthalt in Zelt und Auto verbringen zu müssen, tat sich aber plötzlich doch noch ein geeignetes Domizil auf: direkt am Meer, sogar mit einer Rampe bis zum Strand – ideal für einen Strandbesuch mit dem Rollstuhl.

Weihnachten am Strand. Statt mit einer importierten Tanne aus Kanada wurde Weihnachten mit Corona und Tequilla gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen Reinfried und Victoria auch, ihre Reise um drei weitere Monate zu verlängern. Damit standen sie aber auch vor einem Problem: Die Katheter würden früher oder später zur Neige gehen. Es musste Nachschub her. Ein Paket aus Österreich wurde allerdings vom mexikanischen Zoll festgehalten. Um die Katheder dort abzuholen, hieß es also wieder ab auf die Straße Richtung Mexiko-City.

Am Weg in die Millionen-Metropole verbrachten Victoria und Reinfried die Nächte immer öfter in Herbergen. Geeignete Unterkünfte zu finden, die ohne Treppen, ohne zu steile Rampen und durch ausreichend breite Türen zugänglich waren, stellte sich aber auf der gesamten Reise als äußerst schwierig heraus. Während Reinfried im Auto wartete, sah sich Victoria die Herbergen an. Dabei entwickelte sie ein besonderes Auge für Maße: „Ich konnte auf den Millimeter genau erkennen, ob Reini mit dem Rolli durch eine Tür passen wird oder nicht.“ Dass sie aufgrund mangelnder Barrierefreiheit viele Unterkünfte ausschließen mussten, sollte sich aber als Bereicherung erweisen: „Auf diese Weise haben wir viele Plätze gesehen, die in keinem Reiseführer verzeichnet sind und haben eine Art Negativabdruck des Reiseführers gemacht“, erzählt Victoria. Oft wurden von GastgeberInnen auch provisorische Rampen angelegt oder anderweitig geholfen. In der Hauptstadt Mexikos angekommen, war es zwar nicht möglich, die Katheter tatsächlich aus den Fängen des mexikanischen Zolls zu befreien, mit Hilfe von Victorias Bruder und der österreichischen Botschaft erhielten sie aber trotzdem Nachschub.

Gleichberechtigt unter Wasser. Der weiteren Erkundung Mexikos stand somit nichts mehr im Weg. Besonders fasziniert waren Reinfried und Victoria vielerorts von der Unterwasserwelt. Sie gingen nicht nur oft schnorcheln, sondern lernten auch Tauchen – eine Sportart, die sie beide gleichberechtigt ausüben konnten. „Es hat zwar ein wenig gedauert bis ich die Stabilität unter Wasser gefunden habe. Ich habe aber schnell gemerkt, dass es eigentlich allen Tauchanfängern dabei gleich geht“, erzählt Reinfried. Nach 180 Tagen stand schließlich die Ausreise aus Mexiko bevor. Das Ziel war Kolumbien.

Ihre Reise führte zunächst über Belize nach Guatemala, ein Land mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von rund 60 Prozent, in dem circa 50 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Osterzeit verbrachten sie in der Stadt Antigua und erlebten dort die tagelangen Osterprozessionen. „Die ganze Stadt spielt eine Woche lang verrückt. In stundenlanger Arbeit werden bunte Teppiche aus Holzspänen auf die Straßen gelegt, dann kommt die Prozession, danach werden neue Teppiche gelegt“, erzählt Victoria. In El-Salvador fing Victoria an, Vulkane zu besteigen. Für Reinfried hieß das zwar, dass er den ganzen Tag im Zimmer bleiben musste, das war aber nach den vielfältigen Eindrücken der bisherigen Reise eine entspannende Abwechslung für ihn.

Je länger Victoria und Reinfried unterwegs waren, desto mehr Schwierigkeiten begegneten ihnen. Auch das geliebte Auto zeigte zunehmend Verfallserscheinungen: Mal war es eine kaputte Benzinpumpe, ein anderes Mal gaben ausgerechnet zur Regenzeit die Scheibenwischer auf. Wie immer wussten sich Victoria und Reinfried aber zu helfen und erdachten eine Konstruktion mit Schnüren, mittels derer sie die Scheibenwischer aus dem Auto heraus manuell bedienen konnten. Reinfried zog sich gegen Ende der Reise eine Fersenverbrennung zu, die sich nur deshalb nicht erheblich entzündete, weil er aufgrund seiner immer wiederkehrenden Harnwegsinfekte regelmäßig Antibiotika einnehmen musste. Victoria wiederum erkrankte an Denguefieber, eine Krankheit, die mitunter tödlich verlaufen kann.

Boot statt Auto. Immer wieder waren die beiden auf ihrer Reise auch mit schlecht bezahlten PolizistInnen konfrontiert, die sich über Geld unter der Hand freuten. Für diese Situationen entwickelten sie eine spezielle Taktik: den Rollstuhlbonus. „Sobald uns die Polizei aufgehalten hat, ist Vicki ausgestiegen, zum Kofferraum gegangen und hat mühsam den Rolli ausgepackt“, erklärt Reinfried: „Meistens hat sich die Sache damit auch schon erledigt“. Sie entschieden sich schließlich, ihre Reise nochmals um weitere drei Monate zu verlängern; Victorias Bruder hat sie dafür noch einmal persönlich mit einer Katheterlieferung aus Österreich versorgt. Über Honduras ging es schließlich weiter nach Nicaragua. An der Grenze zu Costa Rica wurde schließlich der Plan, über Panama bis nach Kolumbien zu reisen, durchkreuzt: Die Grenzbehörden wollten die beiden mit ihrem alten Volvo nicht einreisen lassen. So entschlossen sie sich, die touristisch kaum erschlossene Ost-Küste Nicaraguas zu bereisen – eine Gegend, in der es kaum Straßen gibt. Die meisten Strecken legten sie dort, wie die Einheimischen, im Boot zurück.

Am gefühlten Ende der Welt sollte dann schließlich das Schlimmste passieren, was sie sich vorstellen konnten: Die Kugellager des Rollstuhls gaben nach und nach den Geist auf. Für Reinfried bedeutete dies den Verlust seiner Mobilität, ein Tiefschlag für beide. Nach einiger Suche konnten sie aber den 80-jährigen Schweißer Mr. Silvio ausfindig machen, der das Nötigste reparieren konnte. Reinfried war zwar nicht mehr so mobil wie zuvor, für die Rückreise nach Mexiko-City reichte es aber. Dort überließen sie ihren lieb gewonnenen Volvo einem Künstler – im Tausch gegen zwei Gemälde. Zurück in Österreich war es für Victoria und Reinfried nicht einfach, in den Alltag zurückzufinden. Die Reise wird ihnen unvergesslich bleiben. Rückblickend meint Reinfried: „Wir haben bei dieser Reise viel gelernt, sie hat unseren Horizont erweitert. Sie hat unsere Intuition geschult und wir haben gelernt, Perspektiven
zu wechseln. Trotz manchmal unüberwindbaren Barrieren haben wir erkannt, dass die meisten Barrieren in unseren Köpfen verankert sind.“

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung in Wien.

Reisevorträge von Victoria und Reinfried gibt es zu folgenden Terminen:
30. 9. Wien Energie (www.allesleinwand.at)
8. 10. Hartberg (Stmk.)
15. 10. Seestadt Aspern (Wien)
23. 10. VBH Schloss Retzhof, Wagna (Stmk.)
29. 10. Leoben (Stmk.)

Für mehr Informationen:
https://www.facebook.com/mebeguelhonicopa

Freihandelstücken

  • 20.03.2014, 16:55

Das geplante Handelsabkommen zwischen der EU und den USA könnte sozialstaatliche Errungenschaften in Bedrängnis bringen und die Ränder der Gesellschaft weiter wachsen lassen, befürchten KritikerInnen.

Das geplante Handelsabkommen zwischen der EU und den USA könnte sozialstaatliche Errungenschaften in Bedrängnis bringen und die Ränder der Gesellschaft weiter wachsen lassen, befürchten KritikerInnen.

Verhandelt wird hinter verschlossenen Türen. Im Sommer 2013 starteten die Gespräche über jenes Abkommen, aus dem in absehbarer Zukunft die größte Freihandelszone der Welt entstehen soll: die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der EU und den USA (bekannt als TTIP). Dabei geht es vor allem um sogenannte nicht tarifäre „Handelsirritationen“, also etwa Standards rund um die Herstellung von Produkten und Dienstleistungen sowie Regelungen für InvestorInnen. Die Europäische Kommission und die US-Administration versprechen bei einem positiven Abschluss der Verhandlungen einen wirtschaftlichen Aufschwung und zusätzliche Beschäftigung. Die KritikerInnen hingegen befürchten Liberalisierungen durch die Hintertür und sehen bereits errungene Qualitäts-, Sozial- und Umweltstandards in Gefahr. Auch aus demokratiepolitischer Perspektive gibt es massive Bedenken. Gegen das TTIP formiert sich deshalb auf beiden Seiten des Atlantiks ein breiter zivilgesellschaftlicher Protest. 

Keine Spur von Transparenz. „Chlorhuhn“ und „Hormonfleisch“ machen seit Monaten Schlagzeilen in europäischen Medien, sie gelten gemeinhin als die Spitze dessen, was KonsumentInnen in der EU mit dem TTIP erwarten könnte. Tatsächlich ist aber noch kaum etwas darüber bekannt, welche konkreten Standards überhaupt verhandelt werden. Grund dafür ist die strenge Verschwiegenheit der VerhandlerInnen beider Seiten. Ein zuständiger Ausschuss des EUParlaments wird zwar über den Verlauf der Verhandlungen informiert, allerdings unter der Auflage von Geheimhaltung, die Parlamente der Mitgliedsstaaten wurden und werden gar nicht erst eingebunden. Für Kriti­ erInnen wie die Ökonomin Alexandra Strickner k von der globalisierungskritischen Organisation ATTAC steht trotzdem fest, dass es eigentlich um eine „transatlantische Partnerschaft von Wirtschaftseliten und Konzernen“ geht. Ziel sei es Profitmargen zu maximieren und neue Absatzmärkte zu sichern, ungeachtet etwaiger sozial- und umweltpolitischer Folgewirkungen. Dass die Interessen von Konzernen in den Verhandlungen ein wesentliches Gewicht haben, legt auch eine Anfrage der in Brüssel ansässigen Organisation Corporate Europe Observatory (CEO) an die Europäische Kommission nahe. CEO wollte wissen, mit wem sich die Kommission im Laufe der Vorbereitungstreffen zu den Verhandlungen getroffen hat. Die Antwort: 93 Prozent der 127 Treffen fanden mit Konzernen oder deren Lobbyinggruppen statt, nur die restliche Handvoll mit Gewerkschaften und NGOs.

Noch deutlicher wird dieses Ungleichgewicht in Zusammenhang mit den sogenannten „Schutzklauseln für InvestorInnen“, die einen entscheidenden Teil der Verhandlungen bilden. 2011 gab es international bereits rund 3.000 bi- und multilaterale Abkommen, die mitunter solche Schutzklauseln enthielten. Im Kern geben diese Klauseln InvestorInnen die Möglichkeit, Staaten vor einem internationalen Schiedsgericht zu verklagen, wenn sie sich durch deren Gesetzgebung benachteiligt und damit die Rentabilität ihrer Investitionen gefährdet sehen. KritikerInnen sehen darin nicht nur eine Aushebelung von Umwelt- und Sozialstandards, sondern auch ein massives demokratiepolitisches Problem. Diese Schiedsgerichte finden immerhin abseits der jeweiligen staatlichen Gerichtsbarkeit statt, eine Berufungsmöglichkeit ist zudem gar nicht erst vorgesehen.

Privat verklagt Staat. Das wohl bekannteste Beispiel für eine solche Schiedsgerichtsklage stammt aus Bolivien. Nachdem 2000 die Wasserversorgung in der Stadt Cochabamba privatisiert und an ein der Bechtel-Group zugehöriges Unternehmen übergeben worden war, stiegen die Wasserpreise rasant an. In Folge massiver Proteste wurde die Wasserversorgung schließlich wieder verstaatlicht, wofür Bolivien vor einem internationalen Schiedsgericht auf Schadensersatz verklagt wurde. Die Klage wurde schließlich fallen gelassen, jedoch nur weil die Bechtel-Group einen immensen Imageschaden befürchtete. In einem jüngeren Fall hat das schwedische Energie-Unternehmen Vattenfall 2009 Deutschland verklagt, weil ihm die Umweltauflagen für die Errichtung eines Kohlekraftwerkes zu hoch waren. Seit 2000 nimmt die Zahl solcher Klagen vor internationalen Schiedsgerichten stetig zu. Die Kampagnenleiterin der in den USA ansässigen Organisation Global Trade Watch, Melinda St. Louis, kritisiert solche Investitionsschutzklauseln vehement: „Immer wenn diese Privilegien für Unternehmen bisher in Verträgen inkludiert waren, haben sie diese benutzt, um zum Beispiel Umweltstandards zu attackieren. Das hat die SteuerzahlerInnen in den USA bereits bis zu 3,5 Milliarden Dollar gekostet.” Global Trade Watch ist eine jener Protestgruppen, die jenseits des Atlantiks gegen das TTIP-Abkommen kämpfen. Die USA verhandelt derzeit außerdem auch den Beitritt zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP), mit ähnlichem Verhandlungsgegenstand. Wie und ob sich die beiden Verhandlungsprozesse gegenseitig beeinflussen, wurde bisher kaum bis gar nicht beachtet.

Viel Aufmerksamkeit wurde hingegen einem Dokument zuteil, das aus den TTIP-Verhandlungen Ende des vergangenen Jahres geleakt wurde. Demzufolge soll es auch für zukünftige, noch nicht beschlossene Standards eine intensive Absprache zwischen den USA und der EU geben – eine sogenannte regulatorische Kooperation. Vermutet wird, dass ein transatlantisches Gremium eingerichtet werden soll, das Gesetzgebungsverfahren entweder vorgeschaltet sein oder parallel ablaufen könnte, um rechtzeitig auf die Bedürfnisse amerikanischer und europäischer Unternehmen reagieren zu können. Alexandra Strickner kritisiert dies scharf und sieht hierbei nicht nur „eine weitere Aushöhlung der Demokratie“, sondern auch eine weitere Bestätigung, dass es vor allem darum gehe, die Interessen von Konzernen abzusichern. Generell befürchtet sie, dass das Abkommen den Druck auf bereits errungene Standards und Regulationen erhöhen wird.

Von Seiten der EU-Kommission wurde aufgrund der immer lauter werdenden Kritik vor kurzem das Verhandlungskapitel über die Investitionsschutzklauseln vorerst ausgesetzt. Strickner sieht diese Entscheidung hingegen in enger Verbindung mit den bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament. Ungeachtet dessen wird der weitere Verhandlungsverlauf wahrscheinlich durchaus auch davon abhängen, wie der zivilgesellschaftliche Protest zukünftig agiert.

 

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

 

Wir wollen das Publikum nach dem Abspann abholen

  • 04.12.2013, 11:59

Vom 5. bis 12. Dezember findet das Filmfestival „this human world“ in Wien statt. Das Festival bietet eine Fülle an Filmpräsentationen, Diskussionen und Workshops rund um das Thema Menschenrechte. progress online hat mit Ursula Raberger und Julian Berner vom Organisationsteam des Festivals gesprochen.

Vom 5. bis 12. Dezember findet auch heuer wieder das Filmfestival „this human world“ in Wien statt. Das Festival bietet eine Fülle an Filmpräsentationen, Diskussionen und Workshops rund um das Thema Menschenrechte.

progress online hat Ursula Raberger und Julian Berner vom Organisationsteam des Festivals getroffen und mit den beiden über geplante Highlights des diesjährigen Programms, politischen Aktivismus sowie über die Schwierigkeiten, die mit der Organisation eines solchen Festivals verbunden sind gesprochen.

Was war die ursprüngliche Motivation dahinter, ein Filmfestival zum Thema Menschenrechte auch in Wien zu veranstalten?

Julian Berner: Begonnen hat das Festival in Kooperation mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte und dem One World Festival in Prag - dem international größten Menschenrechtsfilmfestival. Von Seiten des Publikums gab es sofort großes Interesse. So hat sich das Festival von Jahr zu Jahr weiterentwickelt.

Ursula Raberger: Die Motivation war auch, dass man in Österreich Filmen, die sich dem gesamten Spektrum Menschenrechte widmet, eine Plattform bietet - das hat es zuvor so nicht gegeben. Das Festival hat sich seit 2008 in viele Richtungen weiterentwickelt, nicht nur was das Publikum betrifft, sondern auch was die Anzahl der Filme angeht. Wir haben vor allem Dokumentarfilme, aber auch Spiel-, Animations- und Kurzfilme im Programm. Mittlerweile werden rund 80 Filme am this human world präsentiert, zum Großteil sind das Österreich-Premieren.

Die Themen, die in den Filmen behandelt werden, sind nicht gerade leicht, es geht etwa um Frauenhandel, Migration, LGBTI-Probleme et cetera. Wir wollen die Leute aber nicht einfach nach dem Film entlassen, sondern wir bieten ein sehr umfassendes Rahmenprogramm an, das aus Lectures, Workshops und Podiumsdiskussionen besteht. Wir wollen das Publikum nach dem Abspann abholen und mit ihnen diskutieren. So bieten wir dem Publikum auch eine Plattform, über die sie vielleicht einen schlummernden Aktivismus erwecken können und mit NGOs in Kontakt treten können.

Berner: Wir verstehen uns nicht als Spezialisten für jedes Thema, sondern eher als Präsentationsplattform von diversen NGOs und Zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Raberger: Es ist uns auch ein Anliegen, Initiativen vor zu stellen, die noch nicht so bekannt sind, wie zum Beispiel Hemayat (Anm: eine Organisation, die Flüchtlinge mit Kriegstraumata betreut. Siehe auch: "Ein Schleier, der sich über die Existenz legt"), die heuer den Menschenrechtspreis der LIGA bekommt.

Was können sich BesucherInnen vom diesjährigen Festival erwarten?

Raberger: Unter dem Motto this human EDUCATION konzentriert sich das Festival dieses Jahr unter anderem auf das Thema Bildung. Dabei wird es vor allem um das Thema Schul- und Hochschulbildung gehen, aber über den Tellerrand Österreichs hinaus. Es werden etwa Filme gezeigt zum Hochschulsystem in China, oder über den Lernwillen von Jugendlichen in Guinea - einem der ärmsten Staaten der Welt. Zu diesem Schwerpunkt wird es begleitend zahlreiche Workshops und Diskussionen geben.

Am 9. Dezember werden wir außerdem eine Diskussion zum Thema „Wege aus der Bildungsmisere“ veranstalten, Viktoria Spielmann von der ÖH wird dort auch mit diskutieren.

Berner: Es wir auch etwas zu den Studentenprotesten geben. Ein Rückblick auf die Proteste sowohl in Österreich als auch den Protesten in London und Sarajevo.

Ursula Raberger (Foto: Sarah Langoth)

Ein weiterer Schwerpunkt wird sich der rechtlichen Situation von LGBTI Personen weltweit annehmen. Was können Festival-BesucherInnen davon erwarten?

Raberger: Zu diesem Themenbereich werden unter anderem Filme zur Situation der Communities in Uganda und Kamerun gezeigt. Aber auch das Thema Intersexualität wird präsent sein. Außerdem wird es eine Führung auf der Uni-Wien zum Thema Homosexualität in der Wissenschaftsgeschichte geben. Die Führung findet in enger Kooperation mit dem Verein QWIEN (Anm: Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte) und dem Historiker Andreas Brunner statt.

Es wird auch zwei große Diskussionen zum LGBTI-Rights-Worldwide geben. Eine Diskussion wird das Thema Intersexualität im Fokus haben, zu diesem Thema werden wir auch einen Film aus Neuseeland zeigen. An diesem Podium wird auch die erste Intersex-Beauftragte Österreichs, Gabriele Rothuber, teilnehmen.

Ihr arbeitet dieses Jahr auch mit der Organisation „Women Make Movies“ aus New York zusammen. Wie wird sich diese Kooperation am Festival zeigen?

Raberger: Das ist eine ganz tolle Organisation, die Frauen dabei unterstützt Filme zu machen, zu produzieren und ihnen auch bei der Vermarktung hilft. Letztes Jahr haben sie ihr 40-jähriges Jubiläum gefeiert. Kristen Fitzpatrick von WMM wird zum Festival kommen und fünf ausgewählte Film-Juwelen aus ihrem Programm präsentieren.

Wird es auch ein Rahmenprogramm für Frauen geben, die Interesse daran haben selber Filme zu machen?

Raberger: Es wird eine große Diskussion zu Frauen in der Filmindustrie geben, bei der wir auch die Frage stellen werden, ob Amerika hierbei ein Vorbild sein kann. Kristen von WMM wird daran teilnehmen, aber auch Vertreterinnen von FC-Gloria, die sich der Thematik in Österreich annehmen. Das ist ein sehr spannendes Thema, vor allem auch mit Blick auf Österreich. Der Männeranteil in der Filmindustrie ist immer noch sehr hoch. Wir wollen dabei auch darüber diskutieren, was man als Frau in Österreich machen kann, um Erfolg in diesem Bereich zu haben.

Ist es euch abseits des Frauenschwerpunkts auch wichtig, dass feministische Themen eine Querschnittsmaterie am gesamten Festival sind?

Raberger: Ja, auf alle Fälle. Es ist uns auch wichtig verschiedene Strömungen in der Frauenbewegung zu zeigen, auch solche die nicht unbedingt Gehör finden. Zum Beispiel werden wir einen Film über den feministischen Protest in Tunesien nach Ben-Ali zeigen.

Einer meiner persönlichen Highlights wird der Film „Untold Stories“ sein. Der Film beschäftigt sich mit der iranischen Frauenbewegung. Dabei stellt sich eine Exiliranerin, die mittlerweile in Schweden lebt, die Frage was eigentlich mit ihren Mitstreiterinnen im Iran geworden ist und macht sich auf die Suche nach ihnen. Sie findet diese Frauen schließlich und lädt sie zu einem Austausch nach Schweden ein. Sie erzählen dann von ihren Erlebnissen in den Folterkellern des Regimes. Das ist eine sehr bewegende Dokumentation, die auch die Kraft dieser Frauen betont.

Berner: Wir achten am Festival generell auf eine sehr ausgewogene Mischung. Uns ist eine ausgeglichene Geschlechterdurchmischung in unserem Ehren-Komitee, in der Jury aber auch bei allen Diskussionen und den Workshops wichtig.

This human world will ja nicht einfach nur ein Filmfestival sein, sondern will BesucherInnen auch dazu anregen selbst aktiv zu werden. Wie wollt ihr diesen Spagat bewältigen?

Berner: Wir wollen nicht einfach nur Betroffenheit auslösen, sondern auch einen positiven Zugang bieten, um zu zeigen, dass politische Arbeit eine Bereicherung für Alle sein kann. Auch wenn es oft schwere Filme sind, es soll kein schweres Festival sein, das traurig macht.

Es soll auch kein Festival sein, von dem man einfach schockiert entlassen wird. Im Gegenteil: Es soll verschiedene politische und aktionistische Strömungen genauso aufzeigen, wie Möglichkeiten selbst aktiv werden zu können.

Julian Berner (Foto: Sarah Langoth)

Seit gut einem Jahr gibt es in Wien die selbstorganisierten Refugeeproteste. Nächstes Jahr wird eine Dokumentation von Igor Hauzenberger über diese Proteste erscheinen. Ihr kooperiert dieses Jahr auch mit ihm. Was könnt ihr uns über diese Kooperation erzählen?

Berner: Er hat den diesjährigen Trailer des Festivals gemacht, der aus seinem Material für die Dokumentation über das Protest-Camp besteht. Das ist eine wirklich tolle Produktion. Uns ist es auch ein Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, was gerade auch in Wien passiert. Igor Hauzenberger wird während des Festivals auch eine Präsentation über den derzeitigen Stand der Dokumentation geben.

Wird es am Festival Möglichkeiten für die Refugees geben, ein Sprachrohr zu bekommen?

Berner: Die Präsentation von Igor ist durchaus dafür gedacht. Darum dreht sich der gesamte Dokumentarfilm, dass eben diese Leute eine Bühne bekommen.

Ihr wollt ein sehr gemischtes Publikum ansprechen. Gleichzeitig hat sich das Festival in den letzten Jahren sehr stark auf einen innerstädtischen Bereich beschränkt. Gibt es Überlegungen das Festival künftig mehr über Wien zu verteilen?

Berner: Dazu gibt es bereits Bestrebungen. Dieses Jahr verändern wir das bereits auch ein wenig. So wird die Brunnenpassage heuer auch einer der Veranstaltungsorte sein. Unter anderem wird der Eröffnungsfilm dort präsentiert - und zwar gratis. Das ist unser erster Versuch aus dem innerstädtischen Bereich heraus zu kommen.

Raberger: Wir wollen Menschen einladen, an der Menschenrechtsthematik Teil zu haben, die vorher vielleicht nicht die Möglichkeit gehabt hätten, weil sie unser Filmfestival bisher einfach nicht auf ihrem Radar hatten. 

Wie schwierig ist es jedes Jahr wieder SponsorInnen und UnterstützerInnen für das Festival zu finden?

Berner: Sehr schwierig. Wir hanteln uns von Jahr zu Jahr.

Raberger: Es ist jedes Jahr aufs Neue wieder ein Kampf.
Berner: Es ist aber auch ein zweischneidiges Schwert. Wir haben wahnsinnig viele UnterstützerInnen, die immer mit Inbrunst dabei sind. Das ist sehr befriedigend. So oder so ist es aber ein großer finanzieller Aufwand.

Bekommt ihr keine finanzielle Unterstützung vom Bund oder von der Stadt?

Berner: Doch natürlich, ohne diese Unterstützung wäre es absolut unmöglich.

Wo würdet ihr das Festival in ein paar Jahren gerne sehen?

Raberger: Ich würde mich freuen wenn das Festival vermehrt ein Publikum erreicht, dass nicht bereits per se aktivistisch tätig ist. Und, dass wir auch weiterhin für eine breitere Öffentlichkeit sorgen, für Themen die sonst wenig Gehör finden.

Berner: Ich wünsche mir, dass das Festival es weiterhin schafft darauf aufmerksam zu machen, dass man sich täglich entscheidet, was rund um einen passiert und was bei einem selbst passiert. Plus, dass wir einmal die Mittel haben wirklich alle FilmemacherInnen, die wir einladen wollen, auch wirklich einladen zu können.

this human world

Programmheft

Ursula Raberger promovierte zum Thema queerer israelischer Film an der Universität Wien und arbeitet seit 4 Jahren für das internationale LGBT-Filmfestival TLVFest in Tel Aviv. Heuer ist sie als Vertretung der Künstlerischen Leitung bei this human world tätig und übernimmt die Leitung der PR des Filmfestivals

Julian Berner schloss 2009 sein Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF "Konrad Wolf") in Berlin/Potsdam-Babelsberg ab. Nach der mehrjährigen Organisation des größten internationalen Studentenfilmfestivals „Sehsüchte“ in Berlin, leitet er seit 2010 gemeinsam mit Zora Bachmann das this human world Filmfestival.

Online-Dating ist eine Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform

  • 14.02.2014, 23:08

Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

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Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

progress: Du hast zu Beginn dieses Jahres einen Selbstversuch gestartet, bei dem du, unter anderem, auf den Konsum von Pornographie oder Online-Datingplattformen verzichtest. Du dokumentierst deine Erfahrungen seither auch auf einem Blog. Wie ist es dazu gekommen?

Gregor Schmidinger: Ich habe gemerkt, dass Pornographie Auswirkungen auf mein Sexualleben gehabt hat. Zuerst war mir gar nicht klar, dass Pornographie daran Mitschuld war. Pornos sind im Internet ja quasi unbegrenzt verfügbar. Als ich in die Pubertät gekommen bin, wurde das Internet gerade zum Massenmedium. Dadurch habe ich relativ schnell die Pornographie entdeckt. Vor allem wenn man schwul ist und in einem 1.800 Seelendorf lebt, ist das die einzige Möglichkeit die eigene Sexualität zu erforschen. Irgendwann wird es dann aber zur Gewohnheit und dadurch wird natürlich die eigene Wahrnehmung verändert. Und so ist dann das Projekt entstanden. Ich hab mich auch gleich dazu entschieden, dass über einen Blog öffentlich zu machen. Seither bekomme ich relativ viele Rückmeldungen. Das ist auch ein sehr breites Phänomen, über dass sich wenige reden trauen, weil es etwas sehr intimes und mit Scham behaftet ist.

progress: Wie ist es dir seither mit deinem Selbstversuch gegangen?

Schmidinger: Zu Beginn war ich super motiviert. Die ersten paar Tage sind recht gut gegangen, dann hatte ich einmal einen Durchhänger. Nach zwei bis drei Wochen ist es dann aber relativ einfach gegangen. Mir ist es auch zwei dreimal passiert, dass ich wieder abgerutscht bin, da muss man sich dann halt wieder herausholen. Das Bedürfnis des täglichen Pornoschauens ist aber mittlerweile komplett weg. Das Projekt wird auch sicher länger als ein Jahr dauern. Schön langsam komme ich in einen emotionalen Bereich hinein, den ich sehr spannend finde. Gerade beschäftige ich mich mit den Funktionen von sexuellen Phantasien. Pornographie ist am Ende ja nichts anderes, als eine visualisierte Version einer sexuellen Phantasie.

progress: Hast du eine konkrete Vorstellung davon, wohin das Projekt gehen soll?

Schmidinger: Es ist eine Reise, ein Prozess, ein entdecken was passieren wird. Aber eigentlich geht es mir um eine selbstbestimmte und selbstbewusste Sexualität. Weg vom Fremdbestimmten, also Bilder die einem über die Medien, Filmen und so weiter sagen, wie etwas zu sein hat. Je mehr ich mich damit beschäftige und darüber lese, desto mehr merke ich erst wie schambehaftet Sexualität in unserer Gesellschaft eigentlich wirklich ist. Dabei stelle ich mir die Frage ob das wirklich so sein muss und was anders wäre wenn es nicht so wäre

progress: Welche Erfahrungen hast du mit Dating-Plattformen im Internet gemacht?

Schmidinger: Angefangen habe ich damit als ich ungefähr 16 war. Ich glaube braveboy.de (die es heute nicht mehr gibt, Anmk.) war das erste, was ich ausprobiert habe. Ich hatte immer wieder Phasen in denen ich gar nicht auf diesen Plattformen unterwegs war, ansonsten war ich aber eigentlich relativ regelmäßig auf Seiten wie Gayromeo oder zum Schluss auch Grindr – das sind auch die klassischen Plattformen, für schwule Männer zumindest. Mittlerweile habe ich damit aber komplett aufgehört. Auf Online-Dating, in dem Sinne wie es gemeint war, habe ich mich aber nie wirklich eingelassen. Sehr selten habe ich mich mit Leuten getroffen. Die Treffen waren meistens enttäuschend. Man hat ein gewisses Bild und einen Beschreibungstext von der Person im Kopf. Und alle wissen, dass sie die besseren Bilder nehmen und die interessanteren Sachen schreiben sollten. Das führt zu vielen blinden Flecken in Bezug auf die andere Person, die man dann mit seinen eigenen Wünschen ausfüllt - dessen ist man sich vielleicht nicht automatisch bewusst. So entstehen schnell Vorstellungen und Hoffnungen darüber, wie jemand sein wird. Wenn man die Person dann trifft, entsteht ein Spalt zwischen der eignen Erwartung und der Realität. Das Gegenüber hat dann kaum eine Chance diese Erwartungen zu erfüllen. Das war bei mir bei fast allen Treffen der Fall. Zwei oder drei positive Erfahrungen habe ich aber schon auch gemacht.

progress: Dating-Plattformen werden ja ganz unterschiedlich genutzt, von der Beziehungssuche, Zeitvertreib oder Chatten bis hin zur Suche nach Sexdates. Wie hast du die Plattformen verwendet?

Schmidinger: Eine Beziehung habe ich aber nie wirklich gesucht, gehofft vielleicht. Für mich das online-daten mit unter auch etwas von einem interaktiven Porno. Wenn man etwa entsprechend Bilder austauscht oder in eine gewisse Richtung schreibt. Meinen Freund habe ich zwar ursprünglich auf Grindr zum ersten Mal gesehen, ich muss aber gestehen, dass sich das Interesse damals nicht über die Oberflächlichkeit hinaus entwickelt und schnell verlaufen hat. Zufällig haben wir uns dann einmal persönlich getroffen und dann war mein Interesse plötzlich voll da. Das ist ein gutes Beispiel, wäre es nur über Grindr gegangen, wäre aus uns wahrscheinlich nie etwas geworden. Es fehlen auf diesen Plattformen auch einfach viele wichtige Informationen, das haptische, die Gestik, wie jemand spricht, der Tonfall.

progress: Kritisiert wird an den Dating-Plattformen ja mitunter auch, dass ein starker Ranking- und Effizienzgedanke der damit einhergeht. Wie siehst du das?

Schmidinger: Ja, man geht ja auch sehr systematisch vor. Zuerst schreibt man einmal alle Leute an und dann sortiert man nach und nach aus. Dabei lässt man sich natürlich nie wirklich auf jemanden ein und sortiert nach oberflächlichen Kriterien aus. Alles andere würde wahrscheinlich auch zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich kenne jemanden der, wenn er von jemanden angeschrieben wird, der kleiner ist als 180 cm ist, schreibt er nicht zurück. Es funktioniert halt sehr Schemenhaft, es ist ein bisschen so wie einen Katalog durchblättern. Das fühlt sich sehr kapitalistisch an, weil es so Maßgeschneidert ist und alles andere, das was es eigentlich ausmacht, die feineren Informationen, die fehlen halt komplett.

progress: Glaubst du hat Online-Dating generell einen Einfluss darauf wie wir nach Beziehungen suchen und sie leben?

Schmidinger: Also wenn, dann glaube ich, dass es nur zu einer Extremisierung führt. Ich glaube, dass Online-Dating nur die Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform aber auch aus unserem kulturellen Verständnis von Beziehungen ist. Beziehungen sind in unserer Gesellschaft austauschbar. Das wird ja auch serielle Monogamie genannt – wir sind zwar monogam aber immer nur hintereinander. Problematischer finde ich noch, dass wir einen suchen der uns alles geben kann und zwar für Immer. Diese Perversion des eigentlich ursprünglichen romantischen Gedankens: wir idealisieren nicht mehr den Alltag und einen, Gott sei Dank, nicht perfekten Menschen, sondern suchen stattdessen das Ideale in einer nicht perfekten Welt. Das führt natürlich unweigerlich zu konstanter Enttäuschung. Online-Dating bietet sicher viele Möglichkeiten. Es kann einen aber auch lähmen, weil es immer jemanden gibt, dessen Profiltext noch ausgeprägter ist oder der ein noch hübscheres Profilbild hat.

progress: Anderseits, und das hast du ja bereits angeschnitten, kann es doch auch eine gute Möglichkeit für etwa LGBTQ-Jugendliche bieten.

Schmidinger: Sicher auf alle Fälle. Ich finde auch nicht, dass Online-Dating per-se schlecht ist, es ist halt ein Werkzeug, und es kommt stark darauf an wie man es nützt. Trotzdem glaube ich, dass Online-Dating dazu führt dass man überhöhte Erwartungen und falsche Vorstellungen bekommt. Wenn man es richtig nutzt, hat es sicher auch positive Seiten, gerade wenn man aus einem kleinen Ort kommt und niemanden kennt. Aber es gibt halt auch diese anderen Aspekte daran.

progress: Deine bisherigen Kurzfilm-Projekte haben sich unter anderem mit Themen rund um Sexualität und Beziehung beschäftigt. Du arbeitest gerade an deinem nächsten Filmprojekt. Worum wird es gehen?

Schmidinger: Das Thema ist Illusion, Phantasie, Gegenrealität. Es geht eigentlich ein bisschen um Desillusionierung und die dadurch entstehende Reifung. Im Grunde ist es ein bisschen so eine “coming of age“-Geschichte. Die Handlung dreht sich um die erste Liebe, um zwei Charaktere: der eine hat eine eher verzehrte Wahrnehmung auf Sexualität, sehr stark geprägt durch Pornographie, der andere hat eine stark verzehrte Wahrnehmung von Liebe, geprägt romantische Komödien und Lieder und so weiter. Beide treffen aufeinander und erleben eine Desillusionierung durch ihre Beziehung. Da kommt dann die Watschn der Realität, was oft natürlich nicht angenehm ist. Ich versuche ein wenig zurück zu dem ursprünglichen Gedanken der Romantik zu kommen. Monogamie probiert etwas zu konservieren, was nicht konservierbar ist.

progress: Ist Sexualität für dich eines der Kernthemen, wenn es um dein Filmschaffen geht?

Schmidinger: Eigentlich nicht aber es sind die Themen die mich zurzeit beschäftigen. Die Themen für meine Filme sind die Themen, die mich in meiner derzeitigen Lebensphase beschäftigen. Diese werden sich auch über die Jahre mit mir verändern.

progress: Wann wird der Film zu sehen sein?

Schmidinger: Ich bin gerade am Schreiben, die Produktion wird frühestens nächsten Sommer beginnen. Wenn alles gut geht ist 2015 realistisch.

 

Zur Person: Der 28 Jährige Gregor Schmidinger konnte bisher unter anderem mit den Kurzfilmprojekten „The Boy Next Door“, „Der Grenzgänger“ und Homophobia auf sich aufmerksam machen. Derzeit studiert er Drehbuch an der University of California Los Angeles (UCLA).

 

Das Interview führete Georg Sattelberger. Er Studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Hier gehts zum Artikel: Romantik zwischen Suchfiltern

Die Liebe als Gegenstück zur Rationalisierung

  • 14.02.2014, 20:41

Online-Datingplattformen werben mit dem Versprechen auf Intimität und der Aussicht auf den richtigen Match. Ein Angebot, dass in den vergangenen Jahren zunehmende Beliebtheit erfahren hat. Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge von der Universität Frankfurt hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Im Interview mit dem progress erklärt Dröge, woher die Faszination für diese Form der PartnerInnensuche kommt und wie das mit unseren modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen verflochten ist.

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Online-Datingplattformen werben mit dem Versprechen auf Intimität und der Aussicht auf den richtigen Match. Ein Angebot, dass in den vergangenen Jahren zunehmende Beliebtheit erfahren hat. Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge von der Universität Frankfurt hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Im Interview mit dem progress erklärt Dröge, woher die Faszination für diese Form der PartnerInnensuche kommt und wie das mit unseren modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen verflochten ist.

progress: Sie haben sich wissenschaftlich mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Warum entscheiden sich so viele Menschen für diese Variante der PartnerInnensuche?

Kai Dröge: Für eine Person, die einsam ist und sich eine Beziehung wünscht, hat das Internet viele Verlockungen: Es bietet eine schier unerschöpfliche Auswahl potentieller Partnerinnen und Partner und die Möglichkeit, hier anonym und unbeobachtet durch FreundInnen und KollegInnen erste intime Bande zu knüpfen. Datingplattformen versprechen darüber hinaus, dass man erst durch sie endlich den ‚perfect match‘ finden kann, weil man auf Basis der Informationen in den Profilen alles herausfiltern kann, was nicht zu den eigenen Vorlieben passt. Außerdem kennt inzwischen fast jede/r jemanden, der oder die im Netz die Liebe gefunden hat.

Allerdings erweisen sich viele der genannten Vorzüge mit der Zeit als Bumerang: Wir sehen in unserer Forschung immer wieder, dass die Anonymität nicht selten zu Unverbindlichkeit führt, dass ein hundertprozentig ‚passendes‘ Gegenüber eher Langeweile als emotionale Erregung hervorruft und dass die gigantische Auswahl schließlich Ermüdung und Abstumpfung erzeugt, die die Bindungsfähigkeit der AkteurInnen grundsätzlich untergraben kann. Wir sind nicht Wenigen begegnet, die schon seit Jahren im Netz vergeblich auf der Suche sind, und bei denen sich inzwischen einiges an Frust angesammelt hat. Trotzdem können sie oft schwer davon lassen, denn von den Versprechungen des Netzes geht auch eine große Faszination aus.

progress: Woher kommt der weit verbreitete Wunsch nach Romantik, der romantischen Liebe?

Dröge: Die romantische Liebe ist in der modernen Gesellschaft zum dominanten Beziehungsideal geworden und hat sich, trotz aller Veränderungen im Bereich von Liebe und Paarbeziehung in den letzten 150 Jahren, bis heute als sehr resistent erwiesen. In der Soziologie der Liebe wird argumentiert, dass dies einen systematischen Grund hat: Gerade weil Rationalisierung und Individualisierung in unserer Gesellschaft immer weiter um sich greifen, wird die Liebe als eine „Gegenwelt“ dazu immer wichtiger. Das romantische Ideal mit seiner Betonung von Irrationalität, wechselseitiger Verschmelzung und zweckfreier Hingabe bietet genau dieses Kontrastprogramm. Aber natürlich wird die Liebe dadurch mit extrem hohen Erwartungen aufgeladen: Sie soll all das kompensieren, woran wir in der modernen Gesellschaft leiden. Bei dieser Überforderung ist es kein Wunder, dass Beziehungen heute oft nicht mehr sehr lange halten.

progress: Viele Online-Plattformen versprechen nicht nur authentische Erfahrungen, sie verlangen von ihren NutzerInnen auch authentisch zu agieren. Was bedeutet Authentizität in diesem Kontext?

Dröge: Authentizität im Sinne von Ehrlichkeit und Offenheit ist für unser modernes romantisches Liebesideal von zentraler Bedeutung. Im Internet wird das noch einmal wichtiger, weil der Körper und die nonverbale Kommunikation als Wirklichkeits- und Authentizitätsgaranten zunächst einmal fehlen.

Allerdings gibt es immer ein gewisses Problem, wenn das Authentizitätsideal auf eine Wettbewerbssituation trifft: Dies gilt in der modernen Arbeitswelt, wo die Subjekte ganz sie selbst und trotzdem optimal angepasst sein sollen. Und dies gilt auch auf Online Dating Plattformen, wo man sich direkt in Konkurrenz zu abertausenden anderen Mitgliedern bewegt. Da ist der Weg zu ein wenig Selbstoptimierung nicht weit – allerdings ohne dass die Leute bewusst lügen würden, das kommt nach unserer Erfahrung eher selten vor. Allerdings: Auch außerhalb des Netzes zeigt man am ersten Abend ja nicht gerade seine schlechtesten Seiten.

progress: Sie weisen darauf hin, dass Emotionsarbeit auf diesen Plattformen eine entscheidende Bedeutung zukommt – sowohl für NutzerInnen als auch auf die BetreiberInnen. Wie ist Emotionsarbeit in diesem Kontext zu verstehen?

Dröge: Es geht hier darum, genauer zu verstehen, wie die digitale Ökonomie der Gegenwart eigentlich funktioniert und wie sich im Internet die Quellen der Wertschöpfung verschieben. Die simple Frage, womit Datingplattformen ihr Geld verdienen, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Die Grundfunktionalität dieser Plattformen - ein persönliches Profil, eine Suchfunktion, ein internes Nachrichtesystem - ist vielerorts im Netz auch kostenlos zu haben. Warum sollte man dafür 30 oder 40 Euro im Monat zahlen? In unseren Interviews wurde deutlich: Die Leute entscheiden sich nur dann für eine kostenpflichtige Mitgliedschaft, wenn sie sich davon bestimmte emotionale Erlebnisse und Beziehungen versprechen. Die emotionale Erlebnis- und Beziehungsqualität macht also den eigentlichen ökonomischen Wert einer Plattform aus. Allerdings sind es ja die Nutzerinnen und Nutzer selbst, die diesen Wert auch produzieren: durch eine attraktive Selbstdarstellung, durch die Qualität und Quantität ihrer emotionalen Interaktionen, etc. Sie leisten also gewissermaßen emotionale Arbeit, die einen ökonomischen Wert generiert, und zahlen gleichzeitig dafür, diesen Wert konsumieren zu dürfen - kein schlechtes Geschäftsmodell.

In der Internetforschung spricht man hier von „Prosumption“, also einer Vermischung von Produzenten- und Konsumentenrolle. Auch YouTube produziert ja seine Videos nicht selbst. Die Bedeutung der Emotionen und der emotionalen Arbeit war in diesem Kontext allerdings bisher nicht untersucht, deshalb haben wir uns damit etwas eingehender beschäftigt.

progress: Handelt es sich bei der PartnerInnensuche im Netz nicht einfach um eine Konsequenz davon, wie Beziehung als Institution gemeinhin verstanden wird?

Dröge: Wie schon erläutert, entwirft das romantische Liebesideal ja gerade eine Gegenwelt zur modernen Marktvergesellschaftung. Dass dieses Ideal in unserer Kultur heute immer noch so prominent ist zeigt, dass sich die Menschen eine nicht marktförmige Liebe zumindest wünschen und erhoffen.

Aber natürlich ist unsere Beziehungswelt heute nicht frei von Konkurrenz, von strategischem Kalkül und anderen Elementen einer ökonomischen Rationalität. Online Dating verstärkt dies teilweise noch, indem es eine Art Online-Shopping-Plattform entwirft, wo Personen anhand standardisierter Merkmale vergleichbar gemacht werden und sich somit gewissermaßen Marktpreise bilden lassen. Dennoch: Wenn diese marktförmigen Elemente zu sehr in den Vordergrund traten, so wurde das von unseren InterviewpartnerInnen fast ausnahmslos als Problem gesehen und nicht etwa begrüßt. Von der Liebe aus dem Katalog sind wir also noch weit entfernt. Außerdem bietet das Netz auch ganz andere Erfahrungen: Eine tiefe Emotionalität, wechselseitige Selbstoffenbarung und Intimität beispielsweise, die stark romantische Züge tragen. Dass die mediale Distanz die Gefühle bisweilen intensivieren kann, wissen wir ja schon aus den romantischen Briefromanen des 18. und 19. Jahrhunderts. Deshalb haben wir das Internet auch einmal als „neoromantisches Medium“ bezeichnet.

progress: Es werden immer wieder Studien veröffentlicht, die belegen wollen, dass PartnerInnenschaften, die online gefunden wurden länger halten würden. Wie schätzen Sie diese Studien ein?

Dröge: Diese Studien werden häufig von den Betreiberfirmen selbst in Auftrag gegeben und finanziert. Entsprechend tendenziös fällt dann die Interpretation der Ergebnisse aus. Die mir bekannten Zahlen zeigen aber immerhin, dass Beziehungen, die im Internet begonnen haben, im Durchschnitt nicht schneller auseinandergehen als andere auch. Dies widerspricht dem gängigen Vorurteil, das Netz sei eigentlich nur für One-Night-Stands zu gebrauchen.

progress: Kann Online-Dating generell einen Einfluss darauf haben, wie wir uns Beziehungen vorstellen und sie leben?

Dröge: Online Dating hat sich in den letzten Jahren stark verbreitet. Außerdem werben die Plattformen offensiv damit, dass sich nur mit ihrer Hilfe eine optimale, passgenaue und damit auch letztlich glücklichere Partnerschaft erreichen lässt. Wie ich schon erläutert habe, sind gegenüber diesen Werbeversprechen einige Zweifel angebracht. Aber natürlich wirft die öffentliche Präsenz des Themas bei vielen, die nicht dabei sind, die Frage auf, ob sie nicht etwas verpassen. Es geht hier letztlich um das alte Glückversprechen der modernen Technologie, die unserer Leben einfacher, besser und effizienter machen soll. Aber wie wir wissen, wirkt dieses Glücksversprechen in vielen Bereichen heute nicht mehr so ungebrochen wie noch von 40 oder 50 Jahren. Auch hinsichtlich der Segnungen des Internets für unser Liebesleben gibt es eine Menge Zweifel in unserer Gesellschaft. Welche Wirkkraft dieses Modell letztlich entfalten kann, ist daher heute noch schwer abzusehen.

progress: Bietet Online-Dating nicht aber auch Vorteile etwa  für LGBTQ-Jugendliche in ländlichen Regionen, oder schüchterne Menschen?

Dröge: In vielen Szenen, die vom heteronormativen Standard abweichen, hat das Internet große Veränderungen bewirkt. Einmal, weil sich hier leichter Treffpunkte auch für geographisch verstreut lebende Gleichgesinnte schaffen lassen. Wichtiger aber ist noch, dass die Anonymität des Netzes eine Art geschützten Raum schafft, der Experimente mit der eigenen Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung begünstigt. Schüchtern sollte man im Netz allerdings nicht gerade sein, sonst geht man in der Masse eher unter. Und wer nur versteckt hinter dem Computer zu markigen Sprüchen in der Lage ist, wird so kaum zu einem erfüllten Liebesleben kommen.

 

Zur Person:

Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt und Dozent an der Hochschule Luzern. „Online Dating. Mediale Kommunikation zwischen romantischer Liebe und ökonomischer Rationalisierung”, war der Titel des Forschungsprojektes, im Rahmen dessen er und sein Kollege Oliver Voirol dem Phänomen Online-Dating beschäftigt haben. Das Projekt war eine Kooperation des Instituts für Sozialforschung der Universität Frankfurt und der Universität von Lusanne in der Schweiz.

 

Das Interview führte Georg Sattelberger. Er studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

 

Der Blog zum Forschungsprojekt: http://romanticentrepreneur.net

Hier gehts zum Atikel: Romantik zwischen Suchfiltern
 

Romantik zwischen Suchfiltern

  • 14.02.2014, 19:34

Immer mehr Menschen suchen die Liebe im Internet. Der Alltag auf diesen Plattformen bewegt sich zwischen Rationalität und ersehnter Intimität.

Immer mehr Menschen suchen die Liebe im Internet. Der Alltag auf diesen Plattformen bewegt sich zwischen Rationalität und ersehnter Intimität.

Die Verheißung einer Industrie:„Ist das wofür wir leben, das Größte wovon wir träumen, wirklich so schwer zu finden? Jetzt den passenden Partner finden!“ Mit diesem Spruch wirbt eines der größten und zugleich ältesten Online-Dating-Services im deutschsprachigen Raum: Parship. Ein Slogan und zugleich Sinnbild für eine ganze Branche, die Singles helfen will den „idealen Match“ zu finden. Portale wie Elitepartner, Friends-Scout24 oder OkCupid machen ihren KundInnen Hoffnung auf baldige Zweisamkeit
– und zwar effizient, mit möglichst wenig Aufwand und das bequem von zu Hause oder unterwegs. Können sie diese Versprechen einlösen? Und verändert der Online-Datingmarkt die Art und Weise, wie wir Beziehungen denken, fühlen und leben?

Basierend auf vorgeblich wissenschaftlichen Tests sollen die PartnerInnenvermittlungen im Internet den „perfekten Match“ ermöglichen. Wer sich auf Parship anmeldet, füllt zuerst circa 30 Minuten lang einen Fragebogen über Beziehungsvorstellungen, Selbsteinschätzung und Lebensplanung aus. Ist das eigene Profil dann angelegt, werden einem/r sogleich jene UserInnen gemeldet, deren Antworten den eigenen am nächsten kommen. Ohne einen Mitgliedsbeitrag bezahlt zu haben, der sich bei den größten Anbietern auf stattliche 30- 60 Euro pro Monat beläuft, sind die potentiellen Traumfrauen und -männer aber nur auf verpixelten Bildern zu sehen. Ob kostenpflichtig oder nicht, die meisten Plattformen bieten ihren NutzerInnen Suchfilter an, mittels derer sie die Profile der anderen Online-DaterInnen sortieren können, ganz nach den eigenen Bedürfnissen: nach Alter, sexueller Orientierung, Hobbies oder Monatseinkommen. Damit soll die Suche nach potentiellen PartnerInnen effizienter und einfacher werden.

Oberflächliche Kriterien Erste Erfahrungen mit der gezielten PartnerInnensuche im Netz hat der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger in seiner Jugend gemacht. Der heute 28-Jährige ist in einer kleinen Gemeinde in Oberösterreich aufgewachsen und hat mit 16 sein erstes Profil auf braveboy.de angelegt. Bis Anfang 2013 war er regelmäßig auf Dating- Seiten unterwegs, zuletzt vor allem auf Gayromeo und der Dating-App Grindr. Schmidinger kennt sich also aus mit der Alltagskultur auf diesen Seiten. „Es funktioniert sehr schemenhaft, man geht sehr systematisch vor und sortiert nach oberflächlichen Kriterien aus. Dabei lässt man sich natürlich nie wirklich auf jemanden ein“, sagt er. Getroffen hat sich Gregor Schmidinger nur selten mit Personen, die er aus dem Netz kannte. Wenn doch, dann war das für ihn meist eine Enttäuschung. „Man hat ein gewisses Bild im Kopf. Es entstehen schnell Vorstellungen und Hoffnungen, wie jemand sein wird. Wenn man die Person dann trifft, unterscheiden sich oft die eigenen Erwartungen von der Realität. Es fehlen im Netz einfach bestimmte Informationen, wie etwa das Haptische, die Gestik, wie jemand spricht.“

Wie NutzerInnen mit dem Versprechen der Dating-Plattformen umgehen, hat der Sozial- und Kulturwissenschafter Kai Dröge von der Universität Frankfurt in den Blick genommen. Allgemein liegt für Dröge der Grund dafür, dass die romantische Liebe zum dominanten Beziehungsideal geworden ist, in der zunehmenden Rationalisierung und Individualisierung. „Natürlich wird die Liebe dadurch mit extrem hohen Erwartungen aufgeladen: Sie soll kompensieren, woran wir in der mo- dernen Gesellschaft leiden“, erklärt er. Zwar sei auch unsere Beziehungswelt abseits des Internets von ökonomischer Rationalität durchzogen, Online-Dating verstärke diese Tendenz aber noch, „indem es eine Art Online-Shopping-Plattform entwirft, wo Personen anhand standardisierter Merkmale vergleichbar gemacht werden und sich somit gewissermaßen Marktpreise bilden lassen“.

Prosumer der Liebe. Daran verdienen die Dating-Plattformen nicht schlecht. 2011 hat die Dating-Industrie im EU-Raum einen Umsatz von 811 Millionen Euro erwirtschaftet. Die BritInnen haben dabei mit 211 Millionen Euro am meisten ausgegeben, dicht gefolgt von den Deutschen mit 203 Millionen. Dabei sind es die NutzerInnen selbst, die das eigentliche Business der Plattformen betreiben. Wer sich auf einer Dating-Plattform registriert, tut dies „in der Erwartung auf emotionale Erlebnisse und Beziehungen“, erklärt Dröge. „Die Nutzerinnen und Nutzer selbst produzieren diesen Wert: durch eine attraktive Selbstdarstellung oder durch die Qualität und Quantität ihrer emotionalen Interaktionen.“ Diese Vermischung von ProduzentInnen- und KonsumentInnenrolle wird in der Internetforschung als „Prosumtion“ bezeichnet. Auch die Anzahl der NutzerInnen ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Allein im deutschsprachigen Raum hat sich die Zahl der aktiven NutzerInnen zwischen 2003 und 2012 versiebenfacht. Rund um das eigentliche Geschäftsmodell der Dating-Plattformen haben sich außerdem weitere Geschäftszweige entwickelt: Mittlerweile gibt es ein umfassendes Angebot an Ratgeberliteratur darüber, was es braucht, um online den perfekten Match zu finden. Auch zahlreiche Blogs und Videos erklären, wie das eigene Profil optimiert werden kann und worauf es bei der Selbstdarstellung in Bild und Text ankommt.

Kai Dröge hat sich auch mit den Auswirkungen der Anonymität auf Dating- Plattformen beschäftigt. Zwar sind auf manchen Portalen ausdrücklich Klarnamen erwünscht, teils werden diese sogar verlangt, die Regel sind sie allerdings noch nicht. „Wir sehen in unserer Forschung immer wieder, dass die Anonymität häufig zu Unverbindlichkeit führt“, erklärt Dröge, wie sich ein vermeintlicher Vorzug von Online-Dating letztlich negativ auf das Bindungsverhalten der NutzerInnen auswirken kann. Darüber hinaus ist Dröge auch auf weitere Nebeneffekte der angeblichen Vorteile von Dating- Plattformen gestoßen: Der perfekte Match führe etwa „eher zu Langeweile als zu emotionaler Erregung“.

Spiel mit Identitäten. An einem perfekten Match war die erfahrene Online-Daterin Anne Kran* aber ohnehin nie interessiert. Sie hat sich ihr erstes Profil vor rund zehn Jahren zugelegt und seither einige Plattfor- men ausprobiert. Zunächst hat sie sich zum Zeitvertreib registriert, dann aber schnell gemerkt, dass sie am Spiel mit Identitäten Spaß findet. Mittels verschiedener Benutzerinnennamen hat sie jeweils unterschiedliche Aspekte ihrer Person hervorgehoben, dabei aber nie Falschangaben gemacht. Ab und an hat sie sich auch mit Leuten offline getroffen, woraus sich manchmal auch längere Freundschaften entwickelt haben. Beziehungen hat sie über Dating-Seiten aber nie gefunden. Zwei ihrer PartnerInnenschaften haben sich zwar tatsächlich über Kontakte in Online-Musikforen entwickelt, allerdings war sie dort zunächst nur aufgrund ihrer Leidenschaft für Musik aktiv. Unterschiede zwischen Online- und Offline-Dating sieht sie nicht. „Es gibt doch auch Lokale, die richtige Fleischmärkte sind. Genügend Events sind darauf ausgelegt, dass du jemanden mit nach Hause nimmst.“ Mittlerweile ist Kran kaum noch auf Dating- Seiten unterwegs, waren es früher noch ein paar Stunden pro Tag, so sind es heute nur mehr ein paar Minuten.

Gregor Schmidinger hat sich vom Online-Dating sogar ganz verabschiedet. Vor gut einem Jahr hat er einen Selbstversuch gestartet, bei dem er unter anderem auf den Konsum von Pornographie und den Besuch von Dating-Seiten verzichtet – seine Erfahrungen damit veröffentlicht er auf einem eigens dafür geschaffenen Blog. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass das auch so ein komisches Spiel ist: Du schaust, ob du ihn haben kannst und wenn du ihn hast, dann ist er eigentlich gar nicht mehr interessant.“ Das Profil seines nunmehrigen Freundes hat er zuerst auf Grindr gesehen, sein Interesse habe sich aber damals nicht über das Oberflächliche hinausentwickelt und schnell verlaufen. Erst als sich die beiden offline begegnet sind, hat es gefunkt. Seinen Selbstversuch sieht er bisher als Erfolg: Er habe kein Interesse, wieder ein Dating-Profil anzulegen. Dennoch fügt er hinzu, dass Dating-Plattfor- men etwa für LGBTQI-Jugendliche, besonders im ländlichen Raum, eine gute Möglichkeit seien, Kontakte mit Gleichgesinnten zu knüpfen.

Geisterdate oder echte Intimität? Damit den Dating- Services nicht allzu viele NutzerInnen dauerhaft abhanden kommen, erweitern diese stetig ihr Angebot. In den vergangen Jahren boomen unter anderem Dating-Apps. Mitunter wählt der Dating-Markt aber auch fraglichere Strategien, um NutzerInnen bei Laune zu halten. Sogenannte Internet- Kontaktmarkt-SchreiberInnen werden gezielt dazu eingesetzt, NutzerInnen mit Hilfe gefälschter Profile auf Seiten mit Mitgliedsbeiträgen zu locken oder dort zu halten.

Einfallsreich ist aber auch so mancheR Online-DaterIn. Aus Unzufriedenheit mit den Matching-Algorithmen der Dating-Seiten hat die amerikanische Unternehmerin und Autorin Amy Webb die Vorgangsweise anderer NutzerInnen penibel beobachtet. Schließlich entwickelte sie ihr eigenes Punktesystem, mit dessen Hilfe sie online ihren jetzigen Ehemann gefunden hat. Ihre Ergebnisse hat sie in dem Buch „Data, A Love Story“ veröffentlicht. Wer besonders geschäftig oder faul und zudem zahlungskräftig ist, kann die Suche nach dem perfekten Match aber auch ganz outsourcen und auf Ghost-Dating zurückgreifen. Dabei zahlen NutzerInnen andere dafür, das Alltagsgeschäft auf den Plattformen für sie zu erledigen, also potentielle Dates zu suchen, Nachrichten zu schreiben und gegebenenfalls eine Verabredung zu arrangieren. Nur das tatsächliche Date jenseits des Internets wird schließlich persönlich bestritten.

Trotz aller Bedenken und Absurditäten, die Online-Dating mit sich bringt, glaubt aber auch Kai Dröge nicht, dass wir in absehbarer Zeit die komplett durchrationalisierte Liebe aus dem Netz erleben werden: „Von der Liebe aus dem Katalog sind wir noch weit entfernt. Außerdem kann das Netz durchaus auch ganz andere Erfahrungen bieten: eine tiefe Emotionalität, wechselseitige Selbstoffenbarung und Intimität, die stark romantische Züge tragen können.“

*Angaben zur Person wurden von der Redaktion geändert.

 

Georg Sattelberger studiert Internati- onale Entwicklung an der Universität Wien.

Hier gehts zum Interview mit Kai Dröge

 

Das Programm und die BesucherInnen machen dann das Festival zu dem was es ist.

  • 03.02.2014, 13:15

In Wiener Neustadt fand heuer vom 28.-30 November zum dritten Mal das Frontale Film-Festival statt. Gezeigt wurden auch dieses Jahr wieder eine feine Auswahl an Kurz-, Spiel, aber auch Handyfilmen. Veranstalterin des Festivals ist die Jugendplattform Megafon. Progress hat mit dem den Wettberwerbsjury Mitgliedern Reinhard Astleithner und Jan Hestmann über das kleine aber erfolgreiche Festival gesprochen.

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In Wiener Neustadt fand heuer vom 28.-30 November zum dritten Mal das Frontale Film-Festival statt. Gezeigt wurden auch dieses Jahr wieder eine feine Auswahl an Kurz-, Spiel, aber auch Handyfilmen. Veranstalterin des Festivals ist die Jugendplattform Megafon. Progress hat mit dem den Wettberwerbsjury Mitgliedern Reinhard Astleithner und Jan Hestmann über das kleine aber erfolgreiche Festival gesprochen.

progress: Das Frontale Film-Festival fand heuer bereits zum dritten Mal statt? Was war die ursprüngliche Motivation dahinter, das Festival ins Leben zu rufen?

Reinhard Astleithner: Die Film- und Medienkultur in der Region kam immer ein wenig zu kurz. Abgesehen von privaten Einrichtungen und dem Zentralkino war es schwer, Filme abseits des Mainstreams zu sehen. Unsere eigene Kinoleidenschaft hat es dann fast zur Pflicht gemacht, die FRONTALE ins Leben zu rufen.

Jan Hestmann: Mit der Frontale wollen wir ein junges Kulturprojekt wachsen lassen, an dem sich kreative und filmbegeisterte Menschen beteiligen und austauschen können. Wir wollen ein breites, junges und jung gebliebenes Publikum ansprechen und Filmkultur erlebbar machen. Letztes Jahr hat das neue Kulturzentrum SUB aufgemacht. Da haben wir gleich gemeinsame Sache gemacht.

progress: Wie hebt sich das Frontale-Filmfestival von anderen ab? Was ist das Besondere an diesem Festival?

Reinhard: Das Feedback der letzten Jahre hat unsere Absicht bestätigt. Wir sind ein herzliches Festival, auf dem die ZuseherInnen auf die FilmemacherInnen treffen und in familiärem Setting diskutieren, konsumieren und reflektieren. Die Mischung aus Spiel-, Kurz- und Handyfilmen, die Couchgespräche und die Workshops bringen eine Vielseitigkeit ins Programm, die man anderswo vielleicht so nicht geboten bekommt. Dazu kam dieses Jahr dann auch die Live-Vertonung des Stummfilmklassikers NOSFERATU (1922), die man so noch nirgendwo gesehen oder gehört hat.

progress: Beim Frontale-Filmfestival können auch Handybeiträge eingereicht werden. Sind das eher Laienbeiträge? Wie heben sich solche Beiträge von anderen ab?

Reinhard: Im Handyfilmprogramm sieht man die Versatilität des Mediums wie in keinem anderen. Von willkürlichen Aufnahmen eines Plastiksackerls im Wind, bis hin zu Green Screen Produktionen haben wir dieses Jahr wieder gestaunt, gelacht und geklatscht. Der Gewinnerfilm steht in seiner Bildästhetik und Dramaturgie vielen der Lang- und Kurzfilme in nichts nach.

Jan: Tendenziell sind diese Filme von Laien, was toll ist. Filmemachen wird immer einfacher und billiger. Bei aller Nostalgie für Analogfilm, hat die Digitalisierung das Filmemachen niederschwelliger gemacht. Der Handyfilm ist die Konsequenz daraus. Das Handy wird zum Selbstermächtigungsinstrument für FilmemacherInnen ohne Budget. Gleichzeitig bringt es eine ganz eigene und interessante Ästhetik mit sich. Und man muss kreativ sein, um mit einem Handy einen guten Film zu machen.

progress: Gibt es Themen denen ihr euch am Festival besonders widmen wollt?

Reinhard: Qualitätsbewusstsein und die Auseinandersetzung mit dem Medium sind unser Antrieb. Das Programm und die BesucherInnen machen dann das Festival zu dem was es ist.

Jan: Letztes Jahr hatten wir ein Couchgespräch mit JungschauspielerInnen. Da schwingt das Thema Präkarisierung im Kunst- und Kulturbereich mit. Dieses Jahr gab es mit dem Screening von „Oh yeah, she performs!“ und mit der Tricky Women-Schiene einen Schwerpunkt auf Feminismus. Die Schwerpunkte sollen gemeinsam mit dem Publikum diskutiert werden können, gerne auch kontrovers. Da wollen wir uns nicht zu stark eingrenzen.

progress: Ihr bietet neben den Filmen auch ein umfangreiches Rahmenprogramm an. Unter anderem auch Workshops z.T. Drehbuchschreiben. Wollt ihr vor allem jene ansprechen die daran interessiert sind selbst Filme zu machen?

Reinhard: Bei uns ist grundsätzlich jede/r willkommen. Darum saßen in den Workshops auch Leute, die keine Vorkenntnisse hatten neben BesucherInnen, die schon einige Bücher zum Thema gelesen hatten. Aus dem Feedback der Workshopleiterinnen war herauszuhören, dass genau diese Mischung die Workshops spannend und zugänglich gemacht haben.

Jan: Da sind wir wieder bei der Selbstermächtigung. Wir wollen Menschen das Handwerk beibringen. Das Equipment, etwa das Handy, haben sie ja bereits eingesteckt. Das Festival ist deshalb aber nicht nur für FilmemacherInnen, sondern genauso für ein Publikum, das wir aber auch stets einladen, in den Diskurs einzusteigen.

progress: Was waren für euch die Highlights des diesjährigen Frontale-Filmfestivals?

Reinhard: Während unserer "Warm-Up Tour" besuchten wir das Triebwerk Wiener Neustadt mit dem Dokumentarfilm SKATEISTAN. Darin sieht man eine Skateschule in Afghanistan und ihre positiven Auswirkungen in dem durch Krieg gebeutelten Land. Und plötzlich kam das CARITAS Haus Neudörfl mit 25, zum Teil afghanischen, jugendlichen Asylbewerbern zu Besuch. Das anschließende Gespräch über den Film und die Auseinandersetzung mit der Migrationsthematik aus erster Hand war magisch. Beim Festival brachte das Gespräch mit Joseph Lorenz, Schauspieler in PARADIES: HOFFNUNG, einen interessanten Einblick in die Arbeitsweise eines der größten Filmexporte unseres Landes.

Jan: Bei der außergewöhnlichen Live-Vertonung von Nosferatu hatte ich das Gefühl, es passiert gerade etwas, das ich so bald nicht mehr erleben darf. Schließlich hat mich die Videobotschaft eines jungen ukrainischen Filmemachers begeistert, der einen globalkritischen Stop-Motion-Film eingereicht hatte, mit wenigen Mitteln aber dafür umso stärkerer Aussagekraft.

Zu den Personen:

Reinhard Astleithner (Juryvorsitzender)

studierte Drehbuch an der Filmakademie Wien und ist Betriebsleiter im English Cinema Haydn. Freischaffender Filmemacher und Fotograf. Zeigte im Rahmen der "Wien-Aktion", gemeinsam mit dem BMUKK, über 3000 Schulklassen einen Blick hinter die Kulissen eines Kinobetriebs.            

Jan Hestmann

Von der Wiener Neustädter Comedienbande zum Freien Radio Helsinki in Graz. Schließlich in Wien gelandet, in der Filmredaktion von The Gap und der Programmkoordination von Radio Orange. Ansonsten Globalgeschichte-Student und bei eigenen Filmprojekten für Doomsday Films vor und hinter der Kamera.

 

Das Interview führte Georg Sattelberger.

„Die Pflichtmitgliedschaft gibt der ÖH ein enormes Gewicht“

  • 12.05.2013, 12:41

Im letzten Teil des progress-Streitgesprächs der bundesweiten SpizenkandidaInnen Florian Lerchbammer (AG), Anna Lena Bankel (FEST), Florian Kraushofer (FLÖ), Marie Fleischhacker (GRAS), Claudia Gamon (JuLis) und Julia Freidl (VSStÖ) verraten die KandidatInnen ihre Koalitionswünsche, diskutieren über Beihilfenmodelle, Demokratie und darüber, wie die Institution ÖH eigentlich funktionieren soll. Die Fragen stellten Oona Kroisleitner und Georg Sattelberger.

Im letzten Teil des progress-Streitgesprächs der bundesweiten SpizenkandidaInnen Florian Lerchbammer (AG), Anna Lena Bankel (FEST), Florian Kraushofer (FLÖ), Marie Fleischhacker (GRAS), Claudia Gamon (JuLis) und Julia Freidl (VSStÖ) verraten die KandidatInnen ihre Koalitionswünsche, diskutieren über Beihilfenmodelle, Demokratie und darüber, wie die Institution ÖH eigentlich funktionieren soll. Die Fragen stellten Oona Kroisleitner und Georg Sattelberger.

progress: Auch zum Thema Beihilfen für Studierende finden sich bei allen Fraktionen Ideen und Änderungsvorschläge. Was sind eure Vorschläge?

Freidl: Das Beihilfensystem ist extrem löchrig, nur 15 Prozent aller Studierenden beziehen überhaupt konventionelle Studienbeihilfe. Das Beihilfensystem passt nicht mehr zu unserer Realität. Im Schnitt sind die Studierenden an unseren Unis 27 Jahre alt. Es macht also keinen Sinn, die Familienbeihilfe nur bis 24 auszubezahlen, vor allem auch für jene, die über den zweiten Bildungsweg an die Uni gekommen sind. Die starren Regeln Toleranzsemester betreffend, müssen gelockert werden. Es ist nicht Studierendenrealität ein Bachelorstudium in sieben Semestern abzuschließen. Ein dritter wesentlicher Punkt ist die Höhe der Beihilfen, die nicht mal annähernd auf dem Existenzminimum ist. Es werden etwa 300 bis 400 Euro durchschnittlich an Studienbeihilfe ausbezahlt. Die Studienbeihilfe ist seit 2008 nicht mehr an die Inflation angepasst worden. Studierende bekommen also jedes Jahr weniger an Beihilfen ausbezahlt.

Gamon: Wir wollen das Beihilfensystem an unser Modell des Bildungskredits koppeln. Auf der einen Seite sollen die Kosten für das Studium durch diesen Kredit gedeckt werden. Auf der anderen Seite denken wir, dass das Volumen an sozialen Beihilfen und Stipendien und auch Leistungsstipendien erhöht werden muss. Daran führt für uns kein Weg vorbei. Auch das Alter als Kriterium für den Beihilfenbezug ist für mich eine völlig willkürlich gewählte Grenze. Solange Menschen fleißig studieren und nachweisen können, dass sie studieren, finde ich es komplett irrelevant, wie lang sie das tun. Außerdem braucht es eine höhere Zuverdienstgrenze. Diese ist leistungsfeindlich und gehört auch sofort abgeschafft.

Fleischhacker: Die GRAS fordert ein Grundstipendium in der Höhe von 800 Euro, das für alle Studierende da sein soll, denn gerade wenn man Studiert, hat man hohe Lebenserhatungskosten. Das sieht man z.B daran, dass Studierende fast die Hälfte des Geldes, was sie zur Verfügung haben pro Monat,  alleine für Wohnen ausgeben müssen. Zusätzlich müssen sie  nebenher noch arbeiten und fallen dadurch schnell durch die Beihilfengrenzen. Gleichzeitig gibt es die Familienbeihilfe und die Stipendien, bei welchen man immer aufgrund des Einkommens der Eltern berechnet wird und das auch an die Eltern ausgezahlt wird.Wir sehen Studierende als junge Erwachsene, die selbst Teil der Gesellschaft sind und nicht nur auf ihre Eltern reduziert werden sollten – daher das Grundstipendium, damit man studieren kann ohne Hürden nebenbei.  

Kraushofer: Ich denke, bei diesem Thema sind wir uns alle einig: Die Höhe der Beihilfen muss steigen, ja auf jeden Fall. Es muss möglich sein, egal wie lange man studiert, Beihilfen zu beziehen. Welche Art der Beihilfe es ist, sei es Grundstipendium, Familienbeihilfe oder Studienbeihilfe, wie man das nennen will, ist irrelevant. Es muss jedenfalls möglich sein, dass man es sich leisten kann zu studieren, wenn man das möchte.

Lerchbammer: Die Beihilfen müssen auf jeden Fall ausgebaut werden. Wir wollen sorgenfrei studieren können und uns nicht mit finanziellen Problemen herumschlagen müssen. Daher Familienbeihilfe bis 27, Evaluierung der Zuverdienstgrenzen, Studienbeihilfe ausweiten, aber auch Leistungsstipendien erhöhen. Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt, der in der gesamten Diskussion ein wenig zu kurz gekommen ist.  Dann müssen wir bei den anderen Ecken ansetzen, wo das Geld ausgegeben wird, wie zum Beispiel beim Wohnen oder Studierendentickets auf der Schiene.

Bankel: Die FEST fordert ebenso ein Grundeinkommen für Studierende. Dabei ist uns wichtig, dass das nicht mit dem Einkommen der Eltern in Verbindung gebracht wird. Weil nicht alle Studierenden in klassischen Familienverhältnissen leben. Grundsätzlich finden wir auch gut, wenn Studierende möglichst lange studieren können. Ein Grundeinkommen im Studium muss aber natürlich an Leistung im Studium gebunden sein und kann leider nicht bedingungslos sein.

progress: Ihr seid euch also weitgehend einig. Gibt es auch Kritikpunkte an den jeweils anderen Modellen?

Fleischhacker: Einen Kritikpunkt habe ich bei dem Modell der JuLis: Mit Krediten hat man wieder das Problem der Schulden.

Gamon: In unserem Modell ist es schon vorgesehen, dass zumutbar gestaltet wird, wie man das Geld zurückzahlt. Und auf der anderen Seite soll es eine staatliche Ausfallhaftung geben wenn die Schuld nicht komplett getilgt werden kann.

Freidl: Leistungsstipendien bekommt nur eine kleine, elitäre Gruppe an Studierenden. Die Unis können autonom entscheiden, wer ein Leistungsstipendium bekommt, es gibt nicht einmal einen Rechtsanspruch auf ein Leistungsstipendium. Deshalb finde ich nicht, dass das ein adäquates Mittel ist, um Studierende aus schlechter gestellten Schichten zu unterstützen.

Lerchbammer: Es geht darum, jene zu unterstützen, die eine Leistung erbracht haben und das auch zu fördern. Das ist doch eine gute Geschichte.

Freidl: Ich glaube, beim Beihilfensystem ist trotzdem ein wesentlicher Faktor, jenen Studierenden eine Hilfe zu geben, die es sich nicht leisten können. Es muss also so viel wie möglich in die Studierendenbeihilfe investiert werden. Leistungsstipendien sind eher etwas, das man der Studienbeihilfe zufließen lassen kann – anstatt denen, die schon genug Geld haben, noch mehr zu geben.

Kraushofer: Das Problem ist auch, dass Leistungsstipendien danach gehen, wie viele ECTS jemand erbringt und ob sehr viele Prüfungen erbracht werden können. Wenn man jetzt zu den Leuten gehört, die neben dem Studium arbeiten müssen, kann man auch nicht die große Masse an Prüfungen erbringen. Es wird einem privilegierten Menschen, der von den Eltern das Studium bezahlt bekommt, leichter fallen, möglichst viele ECTS mit möglichst guten Noten durchzudrücken. Ich will damit nicht sagen, dass Leistungsstipendien prinzipiell schlecht sind, aber so wie sie momentan geregelt sind, sind sie problematisch.

progress: Die Direktwahl der ÖH-Bundesvertretung ist vor den anstehenden Wahlen wieder ein umstrittenes Thema. Seit 2005 wird die Bundesvertretung der ÖH nur noch indirekt gewählt. Wann können Studierende mit einer Wahlrechtsreform rechnen?

Lerchbammer: Der Wahlmodus ist das eine, aber die Möglichkeit, dass jede und jeder Wählen kann, ist hier die viel drängendere Frage. Wie können wir sicherstellen, dass alle zur Wahl gehen können? Aktuell ist es nicht möglich, wenn jemand ein Auslandssemester macht oder an den drei Wahltagen gerade nicht an der Uni ist, dass diese Person an der Wahl teilnehmen kann. Daher ist die vorgelagerte Frage, wie schaffen wir es hier, dass alle Studierenden wählen gehen können?

Freidl: Bei dem Modell, dass von allen Fraktionen gemeinsam ausgearbeitet wurde und im bildungspolitischen Ausschuss einstimmig beschlossen wurde, war einerseits die Direktwahl von allen Hochschulorganen – Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen und Unis – vorgesehen. Um zu umgehen, dass Leute nicht vor Ort sein können, haben wir uns damals darauf geeinigt, einen alternativen Wahltermin anzubieten und beispielsweise die Möglichkeit zu schaffen im Ausland auf einer Botschaft wählen zu können. Damals hatte man sich eigentlich geeinigt. Deshalb finde ich es schade, dass immer die Briefwahl vorgeschoben wird.

 

progress: Soll es bei der nächsten ÖH-Wahl wieder eine Direktwahlmöglichkeit der Bundesvertretung geben können?

Gamon: Ich finde das jetzige Wahlrecht undemokratisch, weil eine Stimme von einer Uni mehr wert ist als von anderen. Das geht einfach nicht. Das war letztendlich nur eine Schikane gegen die damalige Exekutive, weil man ihr damit schaden konnte. Es ist auch relativ schnell umgesetzt worden. Jetzt war die Aktionsgemeinschaft dagegen und darum meinte der Minister, das könnte man nicht machen. Ich halte es für extrem schwierig, bei so einem wichtigen Thema ein anderes vorzuschieben. Ich bin auch für die Briefwahl, aber das hat in diesem Fall nichts miteinander zu tun. Es sind beides Aspekte einer Wahlrechtsreform, aber das eine ersetzt das andere nicht.

Lerchbammer: Wir als Aktionsgemeinschaft schlagen vor, dass wir uns zusammensetzen und überlegen, wie man PHs, FHs und Privatunis bestmöglich in das System eingliedert. Und wie ermöglichen wir, dass jeder zur Wahl gehen kann? Wir verwehren uns überhaupt keinem Modus, wir wollen nur, dass unsere Bedenken ausgeräumt werden. Wir wollen vorher sichergestellt wissen, dass auch kleine Universitäten gehört werden, dass alle wählen gehen können und dass es eine klare Anzahl an Mandaten gibt – wir fordern hier 55. Das sind alles Themen, die wir behandeln müssen.

Fleischhacker: Es gibt ein Modell, wo all diese Sachen besprochen wurden, und all diese Fragen geklärt wurden. Das wurde im Bildungspolitischen Ausschuss der ÖH beschlossen und in einer Arbeitsgruppe ausgearbeitet, wo auch von der AG VertreterInnen anwesend waren. Dann hat die AG beschlossen, dass sie das doch nicht wollen. Es gab dieses Modell. Ihr hättet ihm nur in der BV-Sitzung zustimmen müssen und euch nicht aus Feigheit jetzt davor drücken.

Kraushofer: Was wir damals beschlossen haben, war ein Konsenspapier. Alle konnten aufschreiben, was sie sich wünschen, dann wurde gestrichen, was jemandem nicht gepasst hat. Übrig blieb, was allen gepasst hat. Dafür gab es auch schon Zugeständnisse vom Ministerium, das war vor der letzten ÖH-Wahl. Ich werde jetzt sicher keine Briefwahl ausverhandeln, um dann nach der Wahl erst recht wieder keine Zusage zur Direktwahl zu bekommen.

Freidl: Das Problem bei dem letzten Vorschlag von der Aktionsgemeinschaft war die Forderung nach der Wahlkampfkostenrückerstattung.

Bankel: Die HSWO (Hochschülerinnen- und Hochschülerschaftswahlordnung, Anmk.)  Reform, die hier nicht durchgeht (Konsenspapier, Anmk.) beinhaltet eben auch einen Punkt, der uns extrem wichtig ist: das ist das passive Wahlrecht für Drittstaatsangehörige. Das wird aufgehalten, dadurch, dass wir keine Reform angehen. Ich verstehe nicht, warum die Briefwahl so ein großes Thema ist. Wir haben eine niedrige Wahlbeteiligung, aber das liegt nicht daran, dass es keine Briefwahl gibt. Wer nicht persönlich mit dem niedrigsten Aufwand schnell mal seinen Studierendenausweis auf der Uni herzeigt und einen Zettel einschmeißt, der wird sich bestimmt nicht für die Briefwahl registrieren lassen.  Außer es sind Funktionär_innen, die an mehreren Unis eingeschrieben sind und über Listenverbände so Mandate bekommen möchten. Sich so sehr dafür einzusetzen, das finde ich total verdächtig.

Lerchbammer: Wir sollten meiner Meinung nach eher darüber sprechen, wie man eine konstruktive ÖH gestaltet, bevor wir darüber sprechen, wie sie gewählt wird. Bei der Universitätsautonomie, der wir gegenüberstehen, spielt sich ein Großteil der Dinge, die uns betreffen, dort ab, wo wir Studieren. Die indirekte Wahl wertet die lokalen Vertretungen auf und stellt sicher, dass diese auch Stimmrecht in der  Bundesvertretung haben.

progress: Wie könnte man garantieren, dass die kleinen Universitäten gut eingebunden werden?

Kraushofer: Alle Vorsitzenden von allen Universitäten werden zu den Sitzungen der Bundesvertretung eingeladen und haben Antrags- und Rederecht. Die Sichtbarkeit ist dadurch in jedem Fall gegeben. Weiters gibt es die Vorsitzendenkonferenz, die ebenfalls bei den BV-Sitzungen vertreten ist und Anträge stellen kann. Das einzige, was die kleineren Universitäten möglicherweise nicht mehr hätten, wäre Stimmrecht. Alles andere ist jedenfalls gegeben.

Lerchbammer: Aber genau darum geht es doch. Wir wollen Mitbestimmung kleinerer Universitäten

Kraushofer: Wenn ich auf meiner Uni aber jetzt gerne die eine Fraktion habe, aber in der Bundesvertretung eine andere, muss ich mich entscheiden, was mir wichtiger ist. Darum ist das eben keine qualitative Verbesserung der Stellung der Universitätsvertretungen.

progress: In manchen Wahlprogrammen wird die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft der ÖH und die Umgestaltung dieser gefordert. Was spricht für und was gegen die Pflichtmitgliedschaft?

Gamon: Wir als Liberale treten für eine freiwillige Interessensvertretung ein. Ich sehe das als Instrument, um der ÖH mehr Gewicht zu geben und die ÖH dazu zu bringen, sich um ihre Mitglieder zu bemühen. Eine Lobby, die alle Studierenden hinter sich hat, die sich dazu entschieden haben hinter der ÖH zu stehen und Mitglied zu bleiben, hat einfach politisch mehr Gewicht. Die geringe Wahlbeteiligung und Beteiligung der Studierenden in der ÖH führt letztendlich dazu, dass sie keine starke Lobby mehr ist.

Fleischhacker: Ich sehe es genau umgekehrt. Gerade dadurch, dass es eine Pflichtmitgliedschaft gibt und dass alle Studierenden ÖH-Mitglieder sind, bekommt die ÖH ein enormes Gewicht gegenüber dem Ministerium, in Verhandlungen in Unigremien oder mit dem Staat. Im Rest von Europa gibt es wenige Studierendenvertretungen, die so gut wie die ÖH aufgestellt sind. Es gibt keine einzige andere Studierendenvertretung, die auch rechtlich so gut abgesichert ist und die so viel für Studierende machen kann. Meist bestehen diese Vertretungen aus drei bis fünf Personen, die um ihr Büro und Termine mit dem Ministerium kämpfen müssen. Die Pflichtmitgliedschaft gibt der ÖH ein enormes Gewicht.

Freidl: Es ist wichtig, dass die ÖH unabhängig agieren kann und die gesetzliche Studierendenvertretung gegenüber dem Ministerium ist. Die Pflichtmitgliedschaft gewährleistet das.

Lerchbammer: Nur so kann die ÖH eine starke Gewerkschaft für Studierende sein. Wir verstehen aber auch die Stimmen, die sie abschaffen wollen. Die Frage ist nicht die Mitgliedschaft, sondern wie wir es schaffen, die ÖH konstruktiv zu gestalten. Wie schaffen wir es, dass die Studierenden einen Mehrwert in der Mitgliedschaft sehen und gerne bereit sind diese 17,50 Euro zu zahlen?

progress: Die AG fordert, dass ab einem Budget von 100.000 Euro Projekte vom Ministerium genehmigt werden sollen. Wie kann sichergestellt werden, dass die ÖH eine starke Vertretung bleibt?

Lerchbammer: Es geht grundsätzlich darum, dass wir so große Ausgaben von einer Aufsichtsbehörde per Bescheid genehmigen lassen wollen. Diese kann man wie eine Wahlkommission beschicken, damit sie auch unabhängig ist. Wenn dann per Bescheid ausgestellt wird, dass eine Ausgabe im Sinne des HSG ist oder nicht, kann ein zweites Café Rosa verhindert werden. Um sicherzustellen, dass etwas nicht aus politischer Motivation heraus verhindert wird, kann gegen den Bescheid berufen werden. Am Ende liegt die Frage beim Verwaltungsgerichtshof, der unabhängig ist.

Freidl: Aber wir haben bereits Beschlussgrenzen von 7.000 und 15.000 Euro, die ÖH wird geprüft, es gibt Ausschüsse, die Kontrollkommission und den Rechnungshof, die alle die ÖH kontrollieren. Die Beschlussgrenzen jetzt weiter nach oben zu setzen, finde ich lächerlich. Ich finde es wichtig, dass die ÖH unabhängig vom Ministerium agieren kann.

Kraushofer: Wenn man ein Kontrollgremium nicht nach ÖH-Mehrheiten beschickt, muss es vom Ministerium passieren. Dann muss man bei Klagen, wie jenen gegen die autonomen Studiengebühren, erst einmal warten, bis das Kontrollgremium einen Beschluss gefasst hat, wenn es abgelehnt wird, kann man erst vor dem Verwaltungsgerichtshof berufen. Das ist ein langer und mühsamer Weg

Lerchbammer: Es ist bei Ausgaben von über 100.000 Euro gerechtfertigt, dass man vier Monate Vorlaufzeit hat. Es geht nicht darum, die jetzigen Beschlussgrenzen anzutasten, sondern die Kontrollmöglichkeiten der Realität zupassen, da es nach wie vor möglich ist, mit einem rechtswidrigen Umgehungsgeschäft eine halbe Million Euro zu vernichten. Bereits jetzt werden Wirtschaftsbetriebe geprüft, besser ist aber ein absoluter Geldbetrag, der nicht von der Form des Geschäfts abhängt.

progress: Letzte Frage: Mit wem wollt ihr nach den Wahlen zusammenarbeiten und was ist das eine wichtigste Projekt eurer Fraktion?

Lerchbammer: Wir würden grundsätzlich mit allen koalieren, die gemeinsam mit uns Lösungen anbieten, denen Inhalte wichtiger sind als Ideologien. Wir wollen die nächsten zwei Jahre für mehr Qualität im Studium aufwenden. Wir setzen uns für Betreuungsverhältnisse und die Einbindung der Universitäten ins Transparenzgesetz ein. Wir wollen, dass jeder einen echten Studienplatz hat, durch eine Studienplatzfinanzierung und faire und transparente Zugangsregelungen. Wir wollen auch, dass es in Zukunft nicht mehr möglich ist, eine halbe Million Euro für ein umstrittenes Projekt auszugeben.

Kraushofer: Wir schließen prinzipiell nur den RFS aus, werden aber auch nicht in eine Koalition gehen, die Studiengebühren oder Zugangsbeschränkungen fordert. Mit der FEST können wir sehr gut, das wird sich aber nicht absolut ausgehen. Darum werden wir nach den Wahlen sehen, wer sonst noch zur Verfügung steht. Wir sind uns mit der AG einig, dass wir für mehr Qualität im Studium sorgen wollen, allerdings haben wir da andere Ansätze. Wir wollen uns weiterhin mit Qualitätssicherung und Studienrecht beschäftigen und uns dafür einsetzen, dass die Universitäten endlich ausfinanziert werden.

Freidl: Wir setzen uns für ein faires Beihilfensystem ein, damit studieren wieder für alle leistbar ist. Außerdem haben wir konkrete Projekte, die wir in der ÖH umsetzen wollen: einen  Didaktik-Leitfaden, den wir gemeinsam mit Professor_innen, Expert_innen, Studierenden und Lehrenden herausbringen wollen, damit wir die Qualität der Lehre steigern können; ein Gütesiegel für Studierendenwohnheime, damit die Infrastruktur und das Preis/Leistungsverhältnis wieder passen. Wir wollen das Beratungsangebot ausbauen, zum Beispiel mit dem Vertragscheck. Nach den Wahlen werden wir sehen, mit wem wir diese Projekte am besten umsetzen können. Klar ist, dass wir den RFS ausschließen, er steht weit rechts ist nicht mit unseren Grundsätzen vereinbar.

Fleischhacker: Wir wollen ein „Studium-Generale“ für mehr Orientierung an den Unis. Im Bereich Wohnen fordern wir die Abschaffung der Vergebührung der Mietverträge, sowie einen Aus- und Neubau von Studierendenwohnheimen. Im Bereich Mobilität wollen wir Gratis-Öffis, Fahrradwege und –abstellplätze an den Unis selbst. Ein wichtiger Bereich für uns ist auch jener der Barrierefreiheit an den Hochschulen. Wir schließen den RFS, die AG und die JuLis aus, weil wir für einen freien und offenen Hochschulzugang stehen.

Gamon: Wir schließen generell niemanden aus, das  finde ich demokratiepolitisch nicht okay. Wir kommen mit rechts- und linksextremen Fraktionen aber ob ihrer Ideologie nicht zusammen. Die JuLis heben sich inhaltlich von der Masse ab, daher glaube ich nicht, dass wir uns – egal in welcher Koalition – sofort für nachgelagerte Studiengebühren einsetzen würden. Das wäre etwas überheblich. In einer Koalition wollen wir uns dafür einsetzen, dass es Bewegung gibt. Das hat mir in den letzten zwei Jahren gefehlt. Man war sehr damit beschäftigt Dinge zu bekämpfen und hat keine Zeit mehr gefunden, sich für etwas Positives einzusetzen.

Bankel: Wir als FEST finden, dass die letzten vier Jahre gut funktioniert haben und können uns vorstellen, dass wir auch weiter zusammen arbeiten. Uns ist eine inhaltliche Überschneidung mit Koalitionspartner_innen sehr wichtig, aber auch dass sauber gearbeitet wird, wenn es um Finanzgebarung und Auftragsvergabe geht.

 

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