Cornelia Grobner

Alma Mater und ihre Kinder

  • 11.10.2017, 17:12
Soziale Herkunft und Geschlecht sind die großen Selektionskriterien für wissenschaftliche Karrieren. Ein kritischer Blick in die Promovierenden-Statistik.

Schließlich waren die Existenzängste zu groß. Kurz vor dem Auslaufen ihres Stipendiums sah sich Camille Liessem (Name geändert) gezwungen, einen Job anzunehmen, obwohl sie kurz vor ihrem Abschluss stand. Die 32-Jährige ist Mutter zweier Kleinkinder: „Besonders wegen der Kinder will ich nicht immer nur am Limit kratzen und auch finanziell unabhängig von meinem Partner sein.“ Gleichzeitig weiß Camille, wie gefährdet ihr Studium seit dieser Entscheidung ist.

Die prekäre Situation ist für viele Promovierende belastend. Jede_r fünfte Studierende im Doktorat kämpft mit finanziellen Schwierigkeiten. Davon sind insbesondere jene betroffen, die ihre Dissertation über ein Stipendium finanzieren und in geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern promovieren. Erschwerend kommen Betreuungsverpflichtungen hinzu: 21 Prozent der Dissertant_innen haben ein Kind, das jünger als 25 Jahre ist. Camille will sich durchbeißen: „Irgendwie schaffe ich das“, ist sie sicher. „Das hat mit Stolz zu tun und ein bisschen auch mit Trotz – weil viele seit meiner letzten Schwangerschaft davon ausgehen, dass ich früher oder später abbreche.“

Voller Kopf, leere Geldbörse

Zwei Drittel der Promovierenden schreiben ihre Doktorarbeit weder im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit noch finanziert über ein Stipendium. Sie forschen ohne Förderung. Lediglich 30 Prozent können Dissertation und Lohnarbeit vereinbaren (z. B. als Assistent_in an einer Universität) und nur fünf Prozent erhalten ein Lebensunterhaltskosten sicherndes Stipendium. Österreich ist damit unrühmliches Schlusslicht im europäischen Vergleich, wie eine Eurodoc-Studie schon 2011 festgestellt hat. Ein heuer veröffentlichter Zusatzbericht der Studierenden-Sozialerhebung des Instituts für Höhere Studien (IHS), in dem die Studienbedingungen der 25.231 Doktorand_innen durchleuchtet wurden, zeigt, dass sich die Situation in den letzten Jahren verschärft hat.

Am wenigsten gefördert werden die 10.863 Promovierenden in den rechts-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Studien: Hier müssen knapp über 80 Prozent eine studienunabhängige Einkommensquelle finden. Besser stellt sich die Situation in den ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studien dar (9.400 Promovierende), in denen 54 bzw. 44 Prozent ihre Doktorarbeit im Rahmen der Erwerbsarbeit schreiben können. Erschwert wird die prekäre Situation durch die Tendenz zur (teil-)strukturierten Promotion, bei der zusätzlich zur Dissertation zeitaufwändige Qualifikationsleistungen erbracht werden müssen, die häufig an ECTS-Punkte gebunden sind.

Im Schatten der Eltern

Die Auswertung der soziodemografischen Faktoren der Studie ergab, dass die Doktoratsstudierenden mit einem Durchschnittsalter von 34,7 Jahren im Vergleich zur Erhebung 2003/04 älter werden und dass nur 46,5 Prozent von ihnen Frauen sind – obwohl diese in den Studien vor dem Doktorat mit 53 Prozent die Mehrheit stellen.

Die Wahrscheinlichkeit, ob jemand studiert, lässt sich nach wie vor am besten am Bildungsstand und am Beruf der Eltern ablesen. Dieser Zusammenhang verstärkt sich im Doktorat. Dissertant_innen stammen noch häufiger als Universitätsstudierende in einem Bachelor-, Master- oder Diplomstudium aus einer hohen oder gehobenen sozialen Schicht (57 %). In den vergangenen Jahren ist dieser Anteil gestiegen, während der Anteil der Doktorand_innen aus niedriger Schicht (16 %) leicht gesunken ist.

Wolfgang Fauth (Name geändert) kommt aus einem Milieu, das in der IHS-Studie prototypisch als niedrige soziale Schicht bezeichnet wird: Die Großeltern waren Bauern, seine Eltern Schichtarbeiter und Hausfrau. Als erster in der Familie hat er sich nach dem Gymnasium für ein Studium entschieden. Fehl am Platz – so wie es viele Arbeiterkinder bisweilen erleben – habe er sich dennoch an der Universität nie gefühlt: „Vielleicht lag’s an meiner Clique“, meint Wolfgang rückblickend. „Alle in meinem Freundeskreis stammen aus Nicht-Akademikerfamilien vom Land.“ Die Finanzierung des Studiums war durch eine Uni-Anstellung gewährleistet, das sei seinen Eltern wichtig gewesen: „In unseren Gesprächen über mein Doktorat standen praktische Dinge im Vordergrund, aber ich weiß trotzdem, dass sie stolz darauf sind, was ich geschafft habe.“

Kopftuch ist kein Widerspruch

Die erschwerenden finanziellen Rahmenbedingungen, aber auch strukturelle Diskriminierungen innerhalb des Hochschulsystems befeuern gesellschaftliche Schieflagen: 61 Prozent der Studierenden, die ihr Doktorat im Rahmen einer Anstellung bezahlt verfassen, sind männlich und kommen vergleichsweise selten aus einer niedrigen sozialen Schicht. Ebenfalls wenig vertreten sind Promovierende der ersten und zweiten Zuwanderer_innengeneration.

Lediglich sechs Prozent der promovierenden Bildungsinländer_innen haben einen Migrationshintergrund. Die gebürtige Bosnierin Esma Filipović (Name geändert) ist eine von ihnen. Sie ist in der dritten Klasse Volksschule ins österreichische Schulsystem eingestiegen. Nach Studium und mehreren Jahren im Berufsleben hat die 34-Jährige über eine Mitarbeit bei einem universitären Forschungsprojekt wieder Feuer an der Wissenschaft gefangen und mit dem Doktorat begonnen. Als Migrantin, Frau, Mutter und Kind aus einer Arbeiter_innenfamilie sind Esmas Hürden groß, aber nicht weniger groß ist ihre Motivation: „Ich möchte mich in meinem zweiten Heimatland vor allem über Bildung integrieren.“ Dass sie Kopftuch trägt, habe ihr im akademischen Umfeld keine Benachteiligung gebracht, betont sie: „Vielmehr erlebe ich unterstützende Reaktionen. Man zeigt mir, dass auch ich dazugehöre.“ Gleichzeitig spürt sie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung: „Mir ist es in Bezug auf die mediale Diskussion wichtig, klassische Bilder umzudrehen. Ich möchte zeigen, dass es natürlich muslimische Frauen mit Kopftuch gibt, die gebildet sind.“

Leistungsbegriff in Kritik

Dass Arbeiter_innenkinder sukzessive an den wissenschaftlichen Karriere-Schnittstellen verlorengehen, wirke auf verfügbares Wissen zurück, kritisiert Tamara Ehs, Vorstandsmitglied der „IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen“: „Wissenschaft ist nie unabhängig von den Forscher_innen, die auch aufgrund ihrer Biografie bestimmte Fragen an ihr Fach richten.“ Doch mit dem Universitätsgesetz 2002 habe die Politik jegliche Steuerungsinstrumente an den globalen Markt übergeben. Seither richtet sich nicht nur die Vergabe von Fördermitteln an der internationalen Reichweite von Forschungsvorhaben, sondern mitunter auch die Auswahl der Promovierenden für bezahlte Stellen und Doktoratskollegs. Dies gehe zu Lasten derer, die nicht aus einem finanzkräftigen Elternhaus kommen, Kinder versorgen müssen oder sich aus anderen Gründen unbezahlte Auslandsaufenthalte nicht leisten können.

Ehs schlägt vor, den internationalen Leistungsbegriff an sich in Frage zu stellen und gesellschaftliche Verankerung von Forschenden wertzuschätzen: „Heutzutage können Promovierende, die nicht jeden Monat auf einer anderen Konferenz im Ausland sind oder an fünf Unis geforscht haben, nichtsdestotrotz weltweit Kontakte pflegen und über internationale Forschung informiert sein. Sie bringen sich im Gegenzug oft vor Ort mehr ein und zeigen gesellschaftspolitisches Engagement. Die Betreuung von Flüchtlingen bei Behördenwegen zum Beispiel ist ebenso eine internationale Erfahrung.“

Verlorenes Praxiswissen

Wissensproduktion an Hochschulen kann auch aus dem Blickwinkel der „Third Mission“ betrachtet werden: Neben Forschung und Lehre spielt der Wissenstransfer zunehmend eine wichtige Rolle in Universitäten. Die Implementierung einer aktiven Vernetzung von Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft haben sich viele Hochschulen explizit auf die Agenda geschrieben. Entsprechend sieht es die Journalistin Julia Herrnböck als Bringschuld der Unis, sich auch um Studierende zu bemühen, die aus der Wirtschaft kommen, um in ihrem Fachbereich zu forschen: „Dieser Fall ist offenbar nicht vorgesehen“, konstatiert sie enttäuscht über das Fehlen von Förderprogrammen für Doktorand_innen wie sie eine ist, die nicht unmittelbar in Anschluss an ein Grundstudium mit der Promotion beginnen, dafür aber Wissen aus der Praxis mitbringen: „Das halte ich für einen Fehler, weil viel Wissen und Potenzial nicht geschöpft wird.“ Die 35-Jährige steht noch am Anfang ihres Doktorats und will sich durch die hiesigen Strukturen nicht aufhalten lassen: „Neben einem anspruchsvollen Vollzeitjob ist ein Doktoratsstudium nicht möglich – jedenfalls nicht in guter Qualität und ohne auszubrennen. Wenn das in Österreich nicht klappt, werde ich mich im Ausland um ein Stipendium bewerben.“

Eine nicht geringe Anzahl von Promovierenden in Österreich ist den umgekehrten Weg gegangen – Tendenz langsam steigend: Rund 31 Prozent der Doktoratsstudierenden gehören zu den sogenannten Bildungsausländer_innen, die das reguläre Schulsystem nicht in Österreich absolviert haben.

Zerbrochene Träume

Wenn der erste Schritt im Doktoratsstudium gemacht und das eigene Forschungsvorhaben von der Uni akzeptiert wurde, heißt es durchhalten. Ein Einflussfaktor auf die Zufriedenheit von Promovierenden ist die Unterstützung durch Doktormütter und -väter. 40 Prozent sind mit der Betreuung ihrer Dissertation jedoch unzufrieden. Für manche steht und fällt damit die Motivation. So auch bei Anna Wanderer (Name geändert). Dabei hatte alles so gut angefangen: Schon während des Masterstudiums wurde die heute 29-Jährige als Projektmitarbeiterin angestellt. Es folgten Veröffentlichungen und Konferenzteilnahmen. Anna bewegte sich in einem akademischen Umfeld, erhielt finanzielle Unterstützung durch ihre Eltern und fühlte sich inmitten der Erfüllung ihres großen Lebenstraums. Dann kam die Ernüchterung: „Von meiner Betreuerin erhielt ich plötzlich nur mehr unkonstruktiven Gegenwind und keine Wertschätzung. Präsentationen des Arbeitsstandes empfand ich als Demütigung und zuletzt hatte ich deswegen mit massiven Angststörungen zu kämpfen.“ Sie beschloss, die Bühne unauffällig zu verlassen und exmatrikulierte sich. Den Mut, ihrer Betreuerin ihre Beweggründe offen zu kommunizieren, hat sie bisher nicht aufgebracht: „Mir tut wirklich weh, wie das gelaufen ist. Es hat mich zermürbt, verunsichert und verängstigt.“

Über einen Zeitraum von 24 Semestern wurde in der IHS-Studie eine Abbruchsquote von 46 Prozent erfasst. So individuell die Gründe für einen Abbruch sein mögen, so unbestreitbar sind die statistischen Beobachtungen, die zeigen, dass es mit Chancengleichheit und Diversity im universitären Nachwuchsbereich nicht weit her ist. In Bezug auf ihre soziodemografischen Merkmale unterscheiden sich Absolvent_innen jedenfalls kaum von den Promotionsstudierenden.

Cornelia Grobner ist freie Journalistin und Doktorandin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg.

Löcher im Rechtssystem stopfen

  • 03.08.2016, 21:08
In der juristischen Ausbildung wird die gesellschaftspolitische Dimension von Recht gerne vernachlässigt. Studentische Rechtsberatung nimmt in Anlehnung an die angloamerikanische Tradition der „Law Clinics“ seit kurzem auch in Österreich soziale Verantwortung wahr.

In der juristischen Ausbildung wird die gesellschaftspolitische Dimension von Recht gerne vernachlässigt. Studentische Rechtsberatung nimmt in Anlehnung an die angloamerikanische Tradition der „Law Clinics“ seit kurzem auch in Österreich soziale Verantwortung wahr.

Vor dem Gesetz sind alle gleich. In der Theorie. In der Praxis haben nicht alle die Ressourcen, bestehende rechtliche Möglichkeiten auszuschöpfen. In den USA schließen an Universitäten angebundene studentische Rechtsberatungsstellen, die so genannten „Legal Clinics“, eine wichtige Lücke im Rechtsschutzsystem. Hierzulande haben solche Institutionen keine Tradition. Felix Kernbichler, David Weixlbraun und Stephan Rihs verorteten vor zwei Jahren dennoch einen Bedarf – auch aufseiten der Studierenden. Sie gründeten nach eigenen Erfahrungen mit „Legal Clinics“ in den Staaten kurzerhand die „Vienna Law Clinics“. Der im Frühjahr mit dem sozialen Innovationspreis SozialMarie ausgezeichnete Verein will mit seiner kostenlosen, niedrigschwelligen Rechtsberatung einen gesellschaftlichen Beitrag für benachteiligte Gruppen leisten.

RECHTSHILFE FÜR START-UPS UND ASLYWERBENDE. Österreich hat grundsätzlich ein gutes Verfahrenshilfesystem. „Grundsätzlich“, wie Anna Wegscheider, die wie viele im „Vienna Law Clinics“-Kernteam ihr Studium längst abgeschlossen hat, extra wiederholt. Das Lieblingswort der Jurist_innen zieht bekanntlich immer ein „Aber“ nach sich: „Die Angebote sind da, aber zum einen ist die Kommunikation schlecht und zum anderen gibt es Menschen, die aufgrund ihrer Position in der Gesellschaft keinen Zugang zu Rechtsschutz haben.“

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Derzeit fokussieren die „Vienna Law Clinics“ ihre Arbeit auf die aus akademischen Rahmenbedingungen und persönlichem Interesse gewachsenen Bereiche Start-ups sowie Asyl- und Fremdenrecht. Die Arbeitsweisen der beiden je 15-köpfigen Teams könnten nicht unterschiedlicher sein: Während die Start-up-Gruppe persönliche Beratungen zu eigenen Bürozeiten anbietet und angehenden Jungunternehmer_innen rechtliche Erstauskünfte über Gesellschaftsform, Immaterialgüterrecht und Co. erteilt, macht die Asyl-Gruppe keine individuelle Beratung. Sie unterstützt NGOs wie den Verein Ute Bock bei rechtlichen Fragen und kooperiert mit dem Netzwerk AsylAnwalt.

WIN-WIN-SITUATION. Die Arbeit der „Vienna Law Clinics“ wird von Partner-Kanzleien gegengeprüft – ein wesentlicher Punkt der Qualitätssicherung. „Wir haben uns zur Unterstützung entschlossen, weil wir die Idee der studentischen Rechtsberatung toll finden. Nicht umsonst ist dieses Modell bereits seit langer Zeit an internationalen Eliteuniversitäten etabliert“, erklärt Rechtsanwalt Florian Steinhart von Herbst-Kinsky das Engagement der Kanzlei.

Speziell das Asyl- und Fremdenrecht ist besonders komplex, wird in der Ausbildung allerdings vernachlässigt. Auch deswegen findet Rechtsanwältin Julia Ecker, eine weitere professionelle Unterstützerin, das Konzept der Law Clinics „genial“. „Das hätte ich selbst als Studentin gerne gehabt“, so die Fremdenrechtsexpertin. Besonders in der Kooperation mit dem Netzwerk AsylAnwalt sieht sie einen Mehrwert für ihren Arbeitsbereich. So haben die Studierenden zuletzt eine umfassende Recherche für eine Verwaltungsgerichtshof-Judikatur zum Asylrecht erledigt. Ecker: „Das ist toll, denn ein einzelner Anwalt kann nicht hunderte Entscheidungen neben der laufenden Arbeit screenen.“

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Über mangelnde ehrenamtliche Bereitschaft von Studierenden können sich die „Vienna Law Clinics“ nicht beschweren. Im Gegenteil: Aufgrund des Erfolges überlegt man die Erweiterung um eine Konsument_innenschutz-Gruppe. Das Wechselspiel aus Gemeinwohl und studentischem Nutzen ist das, was die Philosophie von Law Clinics ausmacht. Deshalb laufen derzeit auch Gespräche mit dem Dekanat der Rechtswissenschaftlichen Fakultät über Möglichkeiten, die Arbeit der angehenden Jurist_innen formell im Studium anzuerkennen.

UNTERSCHIEDE. Gelänge die Etablierung dieses Konzepts, wären die „Vienna Law Clinics“ Pioniere in Österreich. Weitere Ansätze gibt es an der Karl-Franzens-Universität in Graz, wo Law Clinics in Form von praxisbezogenen Lehrveranstaltungen, ohne eigentliche Rechtsberatung, umgesetzt werden: Die Grazer „Refugee Law Clinic“ zum Beispiel bietet mehrere Lehrveranstaltungen zum Thema Flüchtlings- und Asylrecht in Zusammenarbeit mit Praktiker_innen sowie Basisinformationen als Flüchtlingsrechts-Kurzguide an. Für die von Eva Schulev-Steindl gemeinsam mit Miriam Karl geleitete „Environmental Law Clinic“ wiederum bearbeiten Studierende in Zusammenarbeit mit NGOs wie dem Umweltdachverband aktuelle Umweltrechtsfälle. „Dies bietet den Studierenden die einzigartige Chance, schon während ihres Jus-Studiums reale Lebenssachverhalte zu behandeln“, so die Professorin. „Dafür müssen sie sich aber auch durch wahre ‚Aktenberge’ wühlen – das Material umfasst teilweise mehrere Gigabyte.“ Und auch eine Legal Clinic für öffentliches Recht und Umweltrecht gibt es in Graz. Sie wird in Kooperation mit der Volksanwaltschaft von Georg Eisenberger geführt: „Mein persönliches Ziel ist es, möglichst vielen Studierenden zu zeigen, wie spannend und fordernd Öffentliches Recht in der Praxis sein kann.“

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MIT RECHT SOZIALEN WANDEL BEWIRKEN. Die stärkere Institutionalisierung der „Vienna Law Clinics“ brächte für Gründungsmitglied Weixlbraun auch einen gesellschaftlichen Mehrwert: „Durch die Anbindung an die Universität wäre eine akademische Reflexion möglich.“ Wiederkehrende Fragestellungen könnten Rechtsschutzprobleme sichtbar machen und Basis für politische Arbeit sein. Denn die Möglichkeit von strategischer Prozessführung – also über einen starken Einzelfall hinaus, soziale, politische oder rechtliche Veränderungen in Gang zu setzen – funktioniert in Österreich immer wieder gut. Das hat zuletzt das als verfassungswidrig gekippte Adoptionsverbot für homosexuelle Paare gezeigt. Solche Fälle würden beweisen, dass man mit dem Recht als Machtinstrument auch gesellschaftliche Veränderungen bewirken kann, streicht „Vienna Law Clinics“-Juristin Wegscheider heraus. Ihre Kollegin Teresa Exenberger bringt es auf den Punkt: „Hier sehen wir eine wichtige Schnittstelle für Law Clinics: Wir können Ressourcen anbieten, die Kanzleien nicht haben.“

Cornelia Grobner ist freie Journalistin und Doktoratsstudentin im Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg.

Links:
Vienna Law Clinics
Refugee Law Clinic
Environmental Law Clinic
Legal Clinic für öffentliches Recht und Umweltrecht

UN-Frauenstatuskonferenz: Pluralität, Probleme und Popstars

  • 15.04.2016, 11:52
Die Wiener Arbeitspsychologin Daniela Reiter (39), ehrenamtliches Vorstandsmitglied der International Alliance of Women, war im März mit der Österreich-Delegation bei der 60. UN Frauenstatuskonferenz in New York.

Die Wiener Arbeitspsychologin Daniela Reiter (39), ehrenamtliches Vorstandsmitglied der International Alliance of Women, war im März mit der Österreich-Delegation bei der 60. UN Frauenstatuskonferenz in New York.

progress: Der Schwerpunkt der UN-Frauenstatuskonferenz CSW lautete heuer „Women's empowerment and its link to sustainable development“. Welchen Beitrag konnte die Österreich-Delegation dazu leisten?

Daniela Reiter: Natürlich gibt es auch in entwickelten Ländern noch genug Entwicklungspotenzial. Dazu gab es viele Verhandlungen und Side Events, an denen wir teilgenommen haben. Der Schwerpunkt für Österreich lag heuer aber sicherlich eher beim Review-Thema „Violence against Women and Girls“. Dabei wurde geschaut, was sich diesbezüglich in den einzelnen Staaten verbessert hat, seit das Thema 2013 Schwerpunkt der Konferenz war. Österreich hat mit seiner Gesetzgebung in dem Bereich eine internationale Vorreiter_innenrolle. Island zum Beispiel hat sich intensiv über unser Modell informiert und plant ein ähnliches umzusetzen.

Wo kann sich Österreich dennoch in Sachen Gleichberechtigung etwas von anderen Staaten abschauen?
Definitiv beim Gender Pay Gap. Leider wurde relativ wenig über die Repräsentation von Frauen im Parlament gesprochen. Auch da hat Österreich noch einen weiten Weg vor sich.

Laut UN-Zahlen leben 43 Prozent der Weltärmsten in Staaten, die aufgrund von Klimaänderung, Naturkatastrophen und Konflikten sehr fragil sind – 70 Prozent davon sind Frauen und Kinder, viele von ihnen müssen flüchten. War Europas Umgang mit Flüchtlingen Thema?
Kaum. Das ist der Punkt, wo ich ganz ambivalent dort gestanden bin. Es ist schön, dass Österreich ein gutes Gewaltschutzgesetz hat, aber ich bin fassungslos, wie hier Menschenrechte ignoriert werden. Dass Frauenrechte Menschenrechte sind, wurde hingegen oft thematisiert. Bei einem Nebenevent zur Nachhaltigkeits-Agenda 2030 hat eine mexikanische Rednerin gesagt: „Women are people. Not all governments know this.“ Da bekomme ich jetzt noch Gänsehaut. Das hat mich ganz stark berührt, dass sich schlussendlich alles auf so etwas Einfaches herunterkochen lässt.

Am Ende der Konferenz stand der Beschluss der „Agreed Conclusions“ zum Schwerpunkt-Thema. Das gelang nicht in allen Jahren. Was bringt Beschlüsse zum Scheitern?
Ja, das ist immer ein großer Misserfolg, wenn kein Konsens gefunden wird. Immerhin sind die beschlossenen „Agreed Conclusions“ die Grundlage für die Arbeit der nächsten Jahre. Es gibt derzeit starke Rückschrittsbestrebungen von Ländern und Länderbünden – Afrika zum Beispiel spricht als ein Länderbund und die Gesamttendenz war trotz einzelner progressiver Tendenzen konservativ. Das Hauptdokument der CSW ist die Beijing Platform for Action – die Beschlüsse der letzten Weltfrauenkonferenz in Peking. Es ist ganz schwierig, den Text von vor 21 Jahren zu halten und nicht dahinter zurückzufallen. Wegen des Backlashs scheiterte der Beschluss heuer trotz der „Agreed Language“ fast.

Inwiefern lässt sich Dissens in der Verhandlung um Sprache festmachen?
Es wird zum Beispiel darüber verhandelt, ob es heißen soll „... must provide“ oder – wie im Fall von Social Services von einem Land verlangt wurde – „...should provide“. Ein Text voller „shoulds“ bringt aber gar nichts. Das Problem war, dass es heuer auch innerhalb der EU ganz schwierig war, eine gemeinsame Position zu finden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das wegen Polen und Ungarn war.

Das Thema Abtreibung spaltet?
Unter anderem, ja. Grundsätzlich geht es immer um Rechte. Früher ging es mehr um die reproduktiven Rechte, sprich Abtreibung und Verhütungsmittel. Jetzt geht es immer mehr um sexuelle Rechte, also um andere als heterosexuelle Beziehungsformen. Die ganzen LGBTIQ-Themen sind international ganz schwierig zu platzieren. Ein anderer Punkt der Österreich sehr wichtig, aber auch innerhalb der EU sehr umstritten ist, ist die flächendeckende Sexualerziehung. Es gibt viele Kräfte, die wollen, dass das Thema in der Familie und nicht in den Schulen erledigt wird. Comprehensive sex education steht aber eng in Zusammenhang mit HIV und AIDS. Eine Befragung ergab, dass ein Viertel der jungen Frauen in den südlichen afrikanischen Ländern keine Ahnung hat, wie HIV übertragen werden kann. Das heißt, die am stärksten gefährdete Bevölkerungsgruppe in der am stärksten gefährdeten Region weiß nicht, wie sie sich schützen kann.

An den geschlossenen Verhandlungen können nur Delegationsmitglieder teilnehmen. Ist es überhaupt möglich, als einzelne NGO-Vertreterin Themen unterzubringen und etwas zu bewirken?
Es gibt auch viele öffentliche Teile der Hauptsitzung. Aber es ist natürlich ein großer Vorteil, wenn man so wie ich als NGO-Vertreterin Teil der Delegation ist. Das war nach sieben Konferenzen als „einfache“ NGO-Teilnehmerin auch für mich eine Premiere. Neben der Hauptsitzung gibt es Verhandlungen der einzelnen Ländergruppen und länderspezifische Treffen der NGOs, die so genannten Caucuses. Dort kann sich jede einbringen. Ein Beispiel: Bei einer früheren Konferenz habe ich im Girls’ Caucus erfahren, wie wichtig es ist, Mädchen in der Beschlusssprache zu berücksichtigen. Das habe ich dann in den European Caucus getragen, von dort aus ging es zur EU-Delegation und das wurde schließlich bei den „Agreed Conclusions“ umgesetzt.

Bei all den Differenzen: Ist die Vision von der großen globalen Frauenbewegung, wie sie Kanadas Premier Justin Trudeau und die Exekutivdirektorin von UN Women Phumzile Mlambo-Ngcuka gefordert haben, überhaupt denkbar?
Für mich ist die Konferenz selbst ein Ort, der verbindet. Auch wenn es Kritikpunkte gibt, ist meine Regierung doch eine, mit der ich frauenrechtlich das Gefühl habe, es geht in die richtige Richtung. Aus dieser Perspektive kann ich mir so eine Bewegung schon vorstellen – auch als grassroots movement. Aber die Sache mit Trudeau hat mich eigentlich total genervt.

Inwiefern?
Ich glaube, das braucht’s schon auch, so Popstars. Dieser Trudeau ist halt ein junger, fescher Politiker, der sagt, er sei Feminist und das werde er so lange wiederholen, bis das nichts Außergewöhnliches mehr ist. Das ist recht schön, aber das hat übermäßig viel Raum eingenommen und das ist das, was mich nervt. Wie sooft: Als Mann kann man auch in dem Kontext durch kleine Handlungen leicht zum Helden werden.

Cornelia Grobner ist freie Journalistin und Doktoratsstudentin im Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg.

Zwei Tage Mitmach-Feminismus

  • 11.06.2015, 11:05

Das Femcamp hat sich den Slogan „Feminismus für alle“ auf die Fahnen geheftet. Was mit Siebdruck schnell auf T-Shirts und Taschen gedruckt ist, erweist sich in der gelebten Praxis als immerwährende Herausforderung. Denn anders als im Mainstream suggeriert, ist der feministische Diskurs facettenreich und hört längst nicht bei Binnen-I, Quotenregelung oder Hymne auf.

Das Femcamp hat sich den Slogan „Feminismus für alle“ auf die Fahnen geheftet. Was mit Siebdruck schnell auf T-Shirts und Taschen gedruckt ist, erweist sich in der gelebten Praxis als immerwährende Herausforderung. Denn anders als im Mainstream suggeriert, ist der feministische Diskurs facettenreich und hört längst nicht bei Binnen-I, Quotenregelung oder Hymne auf.

„Wohoo!“ Unter Begeisterungsrufen verlässt eine kleine Gruppe junger Menschen das Museumsquartier in Richtung Mariahilfer Straße. Gelächter. Für sie startet der zweite Tag des Femcamps außerhalb der aufgeheitzten Räume. Ihr heutiger Programmpunkt: Aktivismus statt Austausch. Sie wirbeln die Bücher in einer Großbuchhandlung auf oder, genauer gesagt, sortieren diese neu, um zu irritieren.. „Ich bin schwanger“ landet im Männer-Regal, ein dicker Wälzer in der Frauen-Abteilung und Erklärbücher à la „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ bekommen Fantasy-Gesellschaft. So weit, so symbolisch. Gesellschaftlichen Konventionen Kontrapunkte zu setzen kann auch Spaß machen.

Während die „Bücher-Anarchist*innen“ freudig von dannen ziehen, setzen sich die verbliebenen Femcamp-Teilnehmer*innen mit mitunter selbst erlebten Diskriminierungen und Verletzungen auseinander. Barrierefreiheit sowie Strategien gegen sexuelle Belästigung im (halb-)öffentlichen Raum stehen auf der morgens im Plenum festgelegten Agenda. Schwere Kost. Und doch: Alltag für viele.

Eine Session. Foto: Mafalda Rakoš

FEMINISMUS WEITERDENKEN. Die Sessions der dritten Auflage des Femcamp sind dicht gedrängt, die Themenpalette ist breit. Es ist eine Mischung aus Gesprächsrunden, DIY-Workshops und Vorträgen von und mit den über 140 Teilnehmer*innen zu Themen wie Abtreibung, Ableismus, Transmisogynie, E-Mail-Verschlüsselung, bedingungsloses Grundeinkommen, Polyamorie, LGBTIQ-Refugees, Improvisationstheater, globale Produktionsverhältnisse, Asexualität und psychische Krankheiten.

DIY. Foto: Mafalda Rakoš

Das Femcamp ist als ein Barcamp, also eine Art Mitmach-Konferenz, konzipiert, bei der jede*r Sessions vorschlagen und abhalten kann – mit wesentlichen Einschränkungen für Cis-Männer (Anm.: Cisgender wird analog zu Transgender verwendet) und einer Awareness-Policy, die aus dem queer-feministischen Grundverständnis herrührt: Wenn (mehrfach) Benachteiligten Stimmen gegeben werden und Machtstrukturen unterlaufen werden sollen, müssen die Barcamp-Regeln modifiziert werden, um nicht erneut vorherrschende Verhältnisse zu reproduzieren. „Barcamps sind allgemein sehr männerdominiert, dazu wollen wir ein Gegengewicht schaffen“, meint Mahriah, eine der Organisator*innen. Denn das „Offen für alle“ bei herkömmlichen Barcamps ist entsprechend der gesellschaftlichen Machtlogiken ziemlich ausschließend.

Den Femcamp-Organisator*innen ist dennoch bewusst: Für alle sichere Räume zu schaffen ist nicht möglich. „Wir versuchen viele Dinge zu berücksichtigen und nicht unbedacht an die Sache heranzugehen, um so zumindest einen ‚safer space’ zu kreieren“, so Heike vom Orgateam. Plakatives Positiv-Beispiel dafür sind die Pronomen-Sticker. Dadurch passiert falsches Ansprechen seltener und gleichzeitig wird sichtbar gemacht, dass es mehr gibt als „männlich“ und „weiblich“.

Pronomen für alle! Foto: Mafalda Rakoš

1 + 1 IST NICHT IMMER 2. Wie wenige sichere Räume es in der „wirklichen Welt“ gibt, ist für Nicht-Betroffene schwer nachvollziehbar. Der Mainstream-Feminismus beschränkt sich vielfach auf die Probleme akademisch gebildeter, weißer Frauen und ignoriert Klassismus, Rassismus, Ableismus, Homo- oder Transfeindlichkeit – und, dass viele Menschen von mehreren Diskriminierungsformen gleichzeitig betroffen sind. Was das bedeutet, erklärt Malaika Bunzenthal. Die Aktivistin (#notjustsad, #schauhin) hat im Vorfeld des Femcamps einen Workshop zu Mehrfachdiskriminierung gehalten: „Es gibt verschiedene Formen von Diskriminierung und diese verstärken sich gegenseitig. Nehmen wir zum Beispiel Sexismus und Rassismus und schauen uns den klassischen GenderPayGap an: Weiße Frauen verdienen weniger als weiße Männer, aber schwarze Frauen verdienen noch weniger.“

Malaika Bunzenthal. Foto: Mafalda Rakoš

Von der Fußgängerzone dringt unpassender Swing durch die fest verschlossenen Fenster, es ist drückend heiß. „Was in dem Raum passiert, bleibt auch hier“, stellt Brigitte am Beginn ihrer Session zu Street Harassment fest. Alle nicken. Ihre Geschichten tragen die Teilnehmer*innen in die letzte Silvesternacht, in ein U-Bahn-Abteil und auf eine Party. Es sind Erzählungen von Angst, Scham, Wut und Hilflosigkeit. Ihnen gegenüber werden Gegenstrategien und Bestärkungen gestellt. Die knapp kalkulierte Zeit fliegt dahin. Die Teilnehmer*innen der nächsten Session zur Gründung einer FLIT*-Improtheatergruppe sammeln sich bereits vor der Tür. Plakate werden zusammengerollt, Sessel gestapelt. Dazwischen ein schneller Kaffee. Oder ein Bällebad.

Der Sessionplan. Foto: Mafalda Rakoš

Im Saal nebenan berichtet die Verlegerin Ingrid Pointecker von klassischen unsicheren Räumen. Sie spricht in ihrer gut besuchten Session über Selbstständigkeit fast eine Warnung vor herkömmlichen männerdominierten Wirtschaftskammer-Events aus. Was eine da erlebe, sei manchmal „starker Tobak“: „Ich wurde bei einer Netzwerk-Veranstaltung in der Hofburg zur Begrüßung erst einmal nach meinem Chef gefragt.“

Parallele Sessions. Foto: Mafalda Rakoš

DAS DILEMMA MIT DEN CIS-MÄNNERN. Das heurige Femcamp ist ein bisschen weniger akademisch als im Vorjahr, aber insgesamt eine sehr weiße und abled Veranstaltung. Mit dem Wollen allein sind Inklusion und Diversität also noch lange nicht erreicht. Für Diskussionen vor Ort sorgt auch die Frage, inwiefern die Teilnahme von Cis-Männern bei einem queerfeministischen Barcamp nicht kontraproduktiv sei. „Das Femcamp 2015 ist bewusst als ein Raum für alle Geschlechter ausgelegt, die miteinander Ideen für eine bessere Welt denken und teilen können“, kommentieren Mahriah und Heike diese Debatte. „Wir hätten jedoch [bei den Morgenplena] die Möglichkeit, dass Sessions auch in geschlossenen Gruppen stattfinden können, beispielsweise ohne Cis-Männer, besser kommunizieren sollen.“

Ein Teil des Orga-Teams. Foto: Mafalda Rakoš

Die Informatikerin Katharina Spiel löst in ihrer Session das „Cis-Männer-Dilemma“ auf ihre eigene Art: Sie hält ihren Elektronik-Bastel-Workshop am zweiten Femcamp-Tag „aus Trotz“ und als Antwort auf Männer-dominierte IT-Sessions vom Vortrag. „Ich habe mein ganzes Studium lang Inhalte von Cis-Männern erklärt bekommen und es reicht.“ Bei ihrer Bastel-Session dürfen Cis-Männer dennoch anwesend sein. Spiel grinst: „Als stille Zuhörer.“

 

Cornelia Grobner ist freie Journalistin und Doktoratsstudentin im Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg.

Weiterführende Links

FemCamp 2015
Queerness als Programm: #unitfestival
Barcamp Austria
Intersektionalität 
Zu den Kategorien Schwarz/Weiß 
Was heißt Ableismus 
Class Trouble: Wie viel „Klasse“ hat die queer-feministische Praxis? Immer mehr und doch zu wenig 
Warum da so viele Sternchen* sind 

 

„Ein Mord passiert, damit er zum Bild wird“

  • 11.05.2015, 08:36

Enthauptungen, Steinigungen, Verbrennungen – der Islamische Staat (IS) entsetzt durch die Verbreitung der Video-Dokumentation seiner Greueltaten. Bildexpertin Petra Bernhardt geht in ihrer Forschung den Bildstrategien der Terrororganisation auf den Grund.

Enthauptungen, Steinigungen, Verbrennungen – der Islamische Staat (IS) entsetzt durch die Verbreitung der Video-Dokumentation seiner Greueltaten. Bildexpertin Petra Bernhardt geht in ihrer Forschung den Bildstrategien der Terrororganisation auf den Grund.

progress: Sollten Medien prinzipiell auf die Verwendung von propagandistischem IS-Bildmaterial verzichten?

Petra Bernhardt: Diese Frage kann nicht mit einem generellen Ja oder Nein beantwortet werden. Wenn ein Video tatsächlich einen hohen Nachrichtenwert hat und es gut kontextualisiert wird, kann eine Veröffentlichung durchaus Sinn machen. Aber Terrorbilder eignen sich nicht als Teaser. Ich verstehe das natürlich aus der Logik des Medienschaffens heraus. Solange man aber nicht weiß, was diese Bilder konkret auslösen, würde ich mir einen reflektierteren Umgang damit wünschen.

Aber selbst wenn die Bilder ausreichend kontextualisiert werden, ihre affektive Wirkung lässt sich nicht „wegerklären“.

Richtig. Genau deswegen sprechen wir von der Macht der Bilder.

Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, dem IS diese Bildmacht zu nehmen?

Nein, das glaube ich nicht. Ich halte den Begriff „Bildmacht“ selbst schon für eine Konstruktion. Es ist ein strategisches Spiel. Der IS kennt die Logiken einer globalisierten Medienbranche sehr gut. Diese kann seinen Bildern nichts entgegensetzen. Es wäre vermutlich recht sinnlos, wenn wir offensiv demokratische Strukturen bewerben. Das wird so nicht funktionieren.

Wie die IS-Bilddebatte geführt wird, ist überholt. Alle reden von der „Wirkmacht“ der Bilder, die RezipientInnen selbst stehen kaum im Fokus. Woran liegt das?

Die NutzerInnen kommen tatsächlich nur sehr am Rande der Debatte vor. Das ist in hohem Maß irritierend. Ich glaube, ein Grund dafür ist die Selbstreferentialität des Mediensystems: JournalistInnen diskutieren mit JournalistInnen über Darstellungsformen. Auch die bisherige Forschung beschäftigt sich sehr stark mit der Repräsentationsebene. Welche Botschaften vermitteln die Bilder? Wie sieht es mit den technischen Rahmenbedingungen aus? Dabei fehlt die Frage, was die NutzerInnen wollen. Tatsächlich ist das schwer zu erforschen. Eine groß angelegte NutzerInnenstudie bräuchte nicht nur die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen, sondern auch einen größeren zeitlichen Abstand.

Verweisen Popkultur-Anleihen und die Imitation der westlichen Bildsprache in den IS-Videos auf ein westliches Zielpublikum?

All die Strategien, die wir beim IS finden – die Videospiel-Zitate, die Popkulturanleihen –, sind in der zeitgenössischen Politik gängige Praxis. Die Unterscheidung liegt darin, was gezeigt wird und nicht wie es gezeigt wird. Der IS spricht mit den Videos verschiedene Teilöffentlichkeiten an. Zum einen geht es um die ganz banale Verbreitung der Botschaft. Dann gibt es eine regionale Zielgruppe, wo es auch um Abschreckung geht. Wir haben mit Irak und Syrien zwei politische Gebilde, die komplett in Erosion begriffen sind. Es ist vermutlich nicht leicht, dort noch eine Armee zu mobilisieren, wenn es Videos gibt, in denen SoldatInnen massenhaft gefoltert und grausam ermordet werden. Andererseits wird in den Medien immer wieder die These vertreten, dass die Terrorvideos als Anwerbungs- und Mobilisierungswerkzeug eingesetzt werden. Dazu gibt es bislang noch keine systematischen Untersuchungen. Was Menschen tatsächlich dazu bringt, sich dem IS anzuschließen, ist schwer festzumachen. Momentan überwiegen Mutmaßungen darüber, was diese Videos können. Es wird sehr viel über die Leute gesprochen und sehr wenig mit ihnen. Ich war von einigen Medienbeiträgen aufgrund ihres hochspekulativen Charakters befremdet.

Das Video, das die Enthauptung des Journalisten James Foley zeigt, hat eine Ethikdebatte im Journalismus entfacht.

Das war ein Dammbruch. Es ist kein Zufall, dass genau dieses Bild so viel ausgelöst hat. Es hat eine extrem starke Bildkomposition und viele verschiedene Bezüge verdichten sich darin: einerseits der visuelle Bezug auf die Häftlingskleidung in Guantanamo, dann die Kompositionslogik des Raumes, die Wüstenlandschaft, das Täter-Opfer-Verhältnis, der verhüllte Kapuzenmann. Das Bild ist quasi ein Selbstläufer und als Medienereignis geeignet. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, der Terror als Bildakt beschreibt, würde es einen substitutiven Bildakt nennen. Das heißt: Menschliche Körper werden mit Bildern kurzgeschlossen und ein Mord passiert, damit er zum Bild wird.

Welche Bedeutung hat die Frage der Authentizität?

Ich beobachte, dass viele der Fiktion aufsitzen, diese Bilder hätten dokumentarischen Gehalt. Die Bilder werden ohne Kontextwissen weiterverbreitet. Mir ist auch aufgefallen, dass eine starke Vermischung von Terrorbildern und fotojournalistischem Material stattfindet. Da wäre ein höheres Reflexionsniveau nötig. Aber aufgrund der Lage dort steht wenig Material zur Verfügung, das fotojournalistischen Gehalt hat.

Was bedeutet diese Abwesenheit fotojournalistischer Bilder?

Wenn es keine Bilder gibt, dann gibt es auch kein visuelles Gedächtnis. Das wissen auch die Terrororganisationen. An diesem Punkt geraten die Medien unter Druck. Hier zeigt sich, warum die Debatte nicht bei der Frage danach, welche Bilder gezeigt werden, aufhören darf. Es geht auch um die Rahmenbedingungen, unter denen fotojournalistische Bilder entstehen. Und darum, warum wir diese Bilder brauchen und wie wir ihr Entstehen sicherstellen können. Es ist eine etwas scheinheilige Debatte, immer über die Bilder zu reden und nicht über die Menschen, die diese Bilder machen.

 

Cornelia Grobner ist freie Journalistin und Doktoratsstudentin im Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg.