Alma Mater und ihre Kinder

  • 11.10.2017, 17:12
Soziale Herkunft und Geschlecht sind die großen Selektionskriterien für wissenschaftliche Karrieren. Ein kritischer Blick in die Promovierenden-Statistik.

Schließlich waren die Existenzängste zu groß. Kurz vor dem Auslaufen ihres Stipendiums sah sich Camille Liessem (Name geändert) gezwungen, einen Job anzunehmen, obwohl sie kurz vor ihrem Abschluss stand. Die 32-Jährige ist Mutter zweier Kleinkinder: „Besonders wegen der Kinder will ich nicht immer nur am Limit kratzen und auch finanziell unabhängig von meinem Partner sein.“ Gleichzeitig weiß Camille, wie gefährdet ihr Studium seit dieser Entscheidung ist.

Die prekäre Situation ist für viele Promovierende belastend. Jede_r fünfte Studierende im Doktorat kämpft mit finanziellen Schwierigkeiten. Davon sind insbesondere jene betroffen, die ihre Dissertation über ein Stipendium finanzieren und in geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern promovieren. Erschwerend kommen Betreuungsverpflichtungen hinzu: 21 Prozent der Dissertant_innen haben ein Kind, das jünger als 25 Jahre ist. Camille will sich durchbeißen: „Irgendwie schaffe ich das“, ist sie sicher. „Das hat mit Stolz zu tun und ein bisschen auch mit Trotz – weil viele seit meiner letzten Schwangerschaft davon ausgehen, dass ich früher oder später abbreche.“

Voller Kopf, leere Geldbörse

Zwei Drittel der Promovierenden schreiben ihre Doktorarbeit weder im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit noch finanziert über ein Stipendium. Sie forschen ohne Förderung. Lediglich 30 Prozent können Dissertation und Lohnarbeit vereinbaren (z. B. als Assistent_in an einer Universität) und nur fünf Prozent erhalten ein Lebensunterhaltskosten sicherndes Stipendium. Österreich ist damit unrühmliches Schlusslicht im europäischen Vergleich, wie eine Eurodoc-Studie schon 2011 festgestellt hat. Ein heuer veröffentlichter Zusatzbericht der Studierenden-Sozialerhebung des Instituts für Höhere Studien (IHS), in dem die Studienbedingungen der 25.231 Doktorand_innen durchleuchtet wurden, zeigt, dass sich die Situation in den letzten Jahren verschärft hat.

Am wenigsten gefördert werden die 10.863 Promovierenden in den rechts-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Studien: Hier müssen knapp über 80 Prozent eine studienunabhängige Einkommensquelle finden. Besser stellt sich die Situation in den ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studien dar (9.400 Promovierende), in denen 54 bzw. 44 Prozent ihre Doktorarbeit im Rahmen der Erwerbsarbeit schreiben können. Erschwert wird die prekäre Situation durch die Tendenz zur (teil-)strukturierten Promotion, bei der zusätzlich zur Dissertation zeitaufwändige Qualifikationsleistungen erbracht werden müssen, die häufig an ECTS-Punkte gebunden sind.

Im Schatten der Eltern

Die Auswertung der soziodemografischen Faktoren der Studie ergab, dass die Doktoratsstudierenden mit einem Durchschnittsalter von 34,7 Jahren im Vergleich zur Erhebung 2003/04 älter werden und dass nur 46,5 Prozent von ihnen Frauen sind – obwohl diese in den Studien vor dem Doktorat mit 53 Prozent die Mehrheit stellen.

Die Wahrscheinlichkeit, ob jemand studiert, lässt sich nach wie vor am besten am Bildungsstand und am Beruf der Eltern ablesen. Dieser Zusammenhang verstärkt sich im Doktorat. Dissertant_innen stammen noch häufiger als Universitätsstudierende in einem Bachelor-, Master- oder Diplomstudium aus einer hohen oder gehobenen sozialen Schicht (57 %). In den vergangenen Jahren ist dieser Anteil gestiegen, während der Anteil der Doktorand_innen aus niedriger Schicht (16 %) leicht gesunken ist.

Wolfgang Fauth (Name geändert) kommt aus einem Milieu, das in der IHS-Studie prototypisch als niedrige soziale Schicht bezeichnet wird: Die Großeltern waren Bauern, seine Eltern Schichtarbeiter und Hausfrau. Als erster in der Familie hat er sich nach dem Gymnasium für ein Studium entschieden. Fehl am Platz – so wie es viele Arbeiterkinder bisweilen erleben – habe er sich dennoch an der Universität nie gefühlt: „Vielleicht lag’s an meiner Clique“, meint Wolfgang rückblickend. „Alle in meinem Freundeskreis stammen aus Nicht-Akademikerfamilien vom Land.“ Die Finanzierung des Studiums war durch eine Uni-Anstellung gewährleistet, das sei seinen Eltern wichtig gewesen: „In unseren Gesprächen über mein Doktorat standen praktische Dinge im Vordergrund, aber ich weiß trotzdem, dass sie stolz darauf sind, was ich geschafft habe.“

Kopftuch ist kein Widerspruch

Die erschwerenden finanziellen Rahmenbedingungen, aber auch strukturelle Diskriminierungen innerhalb des Hochschulsystems befeuern gesellschaftliche Schieflagen: 61 Prozent der Studierenden, die ihr Doktorat im Rahmen einer Anstellung bezahlt verfassen, sind männlich und kommen vergleichsweise selten aus einer niedrigen sozialen Schicht. Ebenfalls wenig vertreten sind Promovierende der ersten und zweiten Zuwanderer_innengeneration.

Lediglich sechs Prozent der promovierenden Bildungsinländer_innen haben einen Migrationshintergrund. Die gebürtige Bosnierin Esma Filipović (Name geändert) ist eine von ihnen. Sie ist in der dritten Klasse Volksschule ins österreichische Schulsystem eingestiegen. Nach Studium und mehreren Jahren im Berufsleben hat die 34-Jährige über eine Mitarbeit bei einem universitären Forschungsprojekt wieder Feuer an der Wissenschaft gefangen und mit dem Doktorat begonnen. Als Migrantin, Frau, Mutter und Kind aus einer Arbeiter_innenfamilie sind Esmas Hürden groß, aber nicht weniger groß ist ihre Motivation: „Ich möchte mich in meinem zweiten Heimatland vor allem über Bildung integrieren.“ Dass sie Kopftuch trägt, habe ihr im akademischen Umfeld keine Benachteiligung gebracht, betont sie: „Vielmehr erlebe ich unterstützende Reaktionen. Man zeigt mir, dass auch ich dazugehöre.“ Gleichzeitig spürt sie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung: „Mir ist es in Bezug auf die mediale Diskussion wichtig, klassische Bilder umzudrehen. Ich möchte zeigen, dass es natürlich muslimische Frauen mit Kopftuch gibt, die gebildet sind.“

Leistungsbegriff in Kritik

Dass Arbeiter_innenkinder sukzessive an den wissenschaftlichen Karriere-Schnittstellen verlorengehen, wirke auf verfügbares Wissen zurück, kritisiert Tamara Ehs, Vorstandsmitglied der „IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen“: „Wissenschaft ist nie unabhängig von den Forscher_innen, die auch aufgrund ihrer Biografie bestimmte Fragen an ihr Fach richten.“ Doch mit dem Universitätsgesetz 2002 habe die Politik jegliche Steuerungsinstrumente an den globalen Markt übergeben. Seither richtet sich nicht nur die Vergabe von Fördermitteln an der internationalen Reichweite von Forschungsvorhaben, sondern mitunter auch die Auswahl der Promovierenden für bezahlte Stellen und Doktoratskollegs. Dies gehe zu Lasten derer, die nicht aus einem finanzkräftigen Elternhaus kommen, Kinder versorgen müssen oder sich aus anderen Gründen unbezahlte Auslandsaufenthalte nicht leisten können.

Ehs schlägt vor, den internationalen Leistungsbegriff an sich in Frage zu stellen und gesellschaftliche Verankerung von Forschenden wertzuschätzen: „Heutzutage können Promovierende, die nicht jeden Monat auf einer anderen Konferenz im Ausland sind oder an fünf Unis geforscht haben, nichtsdestotrotz weltweit Kontakte pflegen und über internationale Forschung informiert sein. Sie bringen sich im Gegenzug oft vor Ort mehr ein und zeigen gesellschaftspolitisches Engagement. Die Betreuung von Flüchtlingen bei Behördenwegen zum Beispiel ist ebenso eine internationale Erfahrung.“

Verlorenes Praxiswissen

Wissensproduktion an Hochschulen kann auch aus dem Blickwinkel der „Third Mission“ betrachtet werden: Neben Forschung und Lehre spielt der Wissenstransfer zunehmend eine wichtige Rolle in Universitäten. Die Implementierung einer aktiven Vernetzung von Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft haben sich viele Hochschulen explizit auf die Agenda geschrieben. Entsprechend sieht es die Journalistin Julia Herrnböck als Bringschuld der Unis, sich auch um Studierende zu bemühen, die aus der Wirtschaft kommen, um in ihrem Fachbereich zu forschen: „Dieser Fall ist offenbar nicht vorgesehen“, konstatiert sie enttäuscht über das Fehlen von Förderprogrammen für Doktorand_innen wie sie eine ist, die nicht unmittelbar in Anschluss an ein Grundstudium mit der Promotion beginnen, dafür aber Wissen aus der Praxis mitbringen: „Das halte ich für einen Fehler, weil viel Wissen und Potenzial nicht geschöpft wird.“ Die 35-Jährige steht noch am Anfang ihres Doktorats und will sich durch die hiesigen Strukturen nicht aufhalten lassen: „Neben einem anspruchsvollen Vollzeitjob ist ein Doktoratsstudium nicht möglich – jedenfalls nicht in guter Qualität und ohne auszubrennen. Wenn das in Österreich nicht klappt, werde ich mich im Ausland um ein Stipendium bewerben.“

Eine nicht geringe Anzahl von Promovierenden in Österreich ist den umgekehrten Weg gegangen – Tendenz langsam steigend: Rund 31 Prozent der Doktoratsstudierenden gehören zu den sogenannten Bildungsausländer_innen, die das reguläre Schulsystem nicht in Österreich absolviert haben.

Zerbrochene Träume

Wenn der erste Schritt im Doktoratsstudium gemacht und das eigene Forschungsvorhaben von der Uni akzeptiert wurde, heißt es durchhalten. Ein Einflussfaktor auf die Zufriedenheit von Promovierenden ist die Unterstützung durch Doktormütter und -väter. 40 Prozent sind mit der Betreuung ihrer Dissertation jedoch unzufrieden. Für manche steht und fällt damit die Motivation. So auch bei Anna Wanderer (Name geändert). Dabei hatte alles so gut angefangen: Schon während des Masterstudiums wurde die heute 29-Jährige als Projektmitarbeiterin angestellt. Es folgten Veröffentlichungen und Konferenzteilnahmen. Anna bewegte sich in einem akademischen Umfeld, erhielt finanzielle Unterstützung durch ihre Eltern und fühlte sich inmitten der Erfüllung ihres großen Lebenstraums. Dann kam die Ernüchterung: „Von meiner Betreuerin erhielt ich plötzlich nur mehr unkonstruktiven Gegenwind und keine Wertschätzung. Präsentationen des Arbeitsstandes empfand ich als Demütigung und zuletzt hatte ich deswegen mit massiven Angststörungen zu kämpfen.“ Sie beschloss, die Bühne unauffällig zu verlassen und exmatrikulierte sich. Den Mut, ihrer Betreuerin ihre Beweggründe offen zu kommunizieren, hat sie bisher nicht aufgebracht: „Mir tut wirklich weh, wie das gelaufen ist. Es hat mich zermürbt, verunsichert und verängstigt.“

Über einen Zeitraum von 24 Semestern wurde in der IHS-Studie eine Abbruchsquote von 46 Prozent erfasst. So individuell die Gründe für einen Abbruch sein mögen, so unbestreitbar sind die statistischen Beobachtungen, die zeigen, dass es mit Chancengleichheit und Diversity im universitären Nachwuchsbereich nicht weit her ist. In Bezug auf ihre soziodemografischen Merkmale unterscheiden sich Absolvent_innen jedenfalls kaum von den Promotionsstudierenden.

Cornelia Grobner ist freie Journalistin und Doktorandin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg.

AutorInnen: Cornelia Grobner