September 2012

„Manipulative Tendenzen aufdecken“

  • 28.09.2012, 11:10

Wieso man sich nicht immer nur in der Freizeit politisch betätigen sollte und weshalb auch gescheiterte Volksbegehren erfolgreich sein können. progress im Gespräch über direkte Demokratie mit der Politikwissenschafterin Birgit Sauer.

Wieso man sich nicht immer nur in der Freizeit politisch betätigen sollte und weshalb auch gescheiterte Volksbegehren erfolgreich sein können. progress im Gespräch über direkte Demokratie mit der Politikwissenschafterin Birgit Sauer.

progress: Woher kommt die plötzliche Popularität der direkten Demokratie in Österreich?

Birgit Sauer: Ursache dafür ist die Unzufriedenheit mit den demokratischen Verhältnissen. In der Politikwissenschaft heißt das Postdemokratie: Unzufriedenheit bezüglich der Partizipation, aber auch hinsichtlich der Leistungen demokratischer Systeme. Und: Demokratien sind auf unterschiedlichen Ebenen damit konfrontiert, dass – wenn niemand mehr wählt – den politischen RepräsentantInnen eigentlich die Legitimation fehlt. Die Idee von direkter Demokratie ist im Kern: Wenn sich BürgerInnen mehr beteiligen, sind die politischen Entscheidungen vielleicht besser.

Trotzdem hat man den Eindruck, das Thema direkte Demokratie bleibt meist doch nur Nebendarstellerin.

Das stimmt. Direkte Demokratie ist eher Schlagwort als Diskussionsgegenstand. Hier müssten populistische   und manipulative Tendenzen aufgedeckt werden. Außerdem wird die Vorstellung, die soziale Bewegungen von direkter Demokratie haben, dassman so Demokratie offener machen und beleben kann, in der aktuellen österreichischen Debatte nicht diskutiert.

Dabei sind es ja gerade die sozialen Bewegungen, die sich für ein bestimmtes Thema einsetzen.

Ja. Darum geht es eben auch bei direkter Demokratie von unten. So, wie sie jetzt institutionalisiert ist, ist sie meist direkte Demokratie von oben. Dies ist jedoch eigentlich ein Element in der Logik des parlamentarischenSystems. Wenn hingegen eine Initiative von unten mit einem bestimmten Thema entsteht, geht es oft darum, eine bessere Entscheidung zu treffen, die schlicht
von mehr Menschen getragen wird. Wenn eine politische Partei ein Referendum oder eine Volksabstimmung initiiert, dann hat das aber den Charakter einer Meinungsumfrage. Oder Referenden werden als Legitimationsinstrument eingesetzt, weil die Entscheidung des parlamentarisch repräsentativen Systems unpopulär ist oder keine Mehrheit findet. Betrachtet man die Geschichte der Volksbefragungen in Österreich, wird offensichtlich, dass sie lange Zeit ausschließlich durch Parteien oder durch ParlamentsvertreterInnen initiiert wurden. Das war also kein Instrument der direkten Demokratie in dem Sinne, dass die BürgerInnen direkter beteiligtgewesen wären, sondern es war ein weiteres Instrument der Parteien.

Kann direkte Demokratie mithelfen, dem Gefühl, es werde „über den Kopf der BürgerInnen entschieden“, entgegenzuwirken?

Politik basiert auf Information. Insofern bin ich auch auf EU-Ebene eher skeptisch bezüglich Referenden. Soll man jetzt entscheiden, ob Griechenland aus der Eurozone austritt? Das halte ich für absurd, weil die Stimmung z.B. in Deutschland aufgeheizt ist. Und das liegt an manipulativer Informationsvermittlung.

Was bräuchte es stattdessen?

Viel weitergehende Reformen als ein Referendum oder ein BürgerInnenbegehren. Meines Erachtens müssten Verfahren direkter Demokratie in ganz andere Formen der Informationsvermittlung und des politischen Handelns eingebettet werden. In der Schweiz sind die Leute trotz der Tradition der direkten Demokratie verdrossen. Die Abstimmungsbeteiligung bei Referenden ist sehr niedrig. Den Leuten ist es zu viel. Demokratie müsste dort stattfinden, wo die Menschen sind. Warum sollte man sich nur in der Freizeit politisch betätigen und nicht am Arbeitsplatz oder in der Schule?

Es wird oft vor der Manipulierbarkeit von Volksabstimmungen gewarnt, also dass sich diejenigen, die am meisten Geld haben, durchsetzen. Das gilt jedoch in einem gewissen Maße auch für Parlamentswahlen. Ist die Gefahr der Manipulationen wirklich höher bei Volksabstimmungen?

Es braucht Öffentlichkeit und Einfluss, wenn man ein Referendum initiiert. Da haben soziale Bewegungen weniger Ressourcen als andere Gruppierungen. Die Gefahr, dass ein Thema in manipulativer Weise gerahmt wird, existiert beim Wahlkampf allerdings genauso. Jedoch: Wenn man eineN Repräsentanten/in wählt, ist dies keine ganz spezifische Entscheidung für oder gegen ein Thema. Es gibt eine Verzögerung, einen politischen Prozess, eine politische Diskussion. Deshalb sind Informationen beim Referendum viel wichtiger und der manipulative Gehalt ist deshalb größer. Oft wird gesagt: Wenn möglichst viele ihre Gedanken, ihre Ideen, ihre Interessen in eine politische Debatte einbringen können, gäbe es rationalere Entscheidungen. Die öffentliche Sphäre ist jedoch nicht herrschaftsfrei. Macht orientiert sich ganz stark an den Ressourcen, die die einzelnen Akteure zur Verfügung haben. Gegenbeispiele wie die ACTA-Proteste gibt es aber auch.

Kann direkte Demokratie über den akuten Tellerrand hinaussehen, und auch mit langfristigen Problemlösungenkonfrontiert werden?

Zum einen können die BürgerInnen nicht ständig und über alles abstimmen. Zum anderen ist es aber sinnvoll, über besonders kontroverse Themen abzustimmen, dies erfordert aber, dass die Bevölkerung informiert ist. Ich würde das Konzept „direkte Demokratie“ nicht mehr so eng sehen wollen, dass es nur Abstimmungen umfasst. Stattdessen glaube ich, macht es nur Sinn, wenn man es in einen größeren Reformprozess von Demokratie einbindet, wie ich es vorher erwähnt habe. Man müsste aber auch mitdenken, dass sich im direktdemokratischen Verfahren eben nur diejenigen beteiligen können, die wahlberechtigt sind. Entsprechend ist zu überdenken, wie man mit MigrantInnen umgeht; sowohl jenen aus der EU wie auch jenen aus sogenannten Drittstaaten. Letztere sind demokratiepolitisch völlig abgehängt. Daher wäre es sinnvoll, demokratische Verfahren zu entwickeln, in  denen auch ihre Stimmen Gehör finden, damit ihre Interessen in die politische Debatte einfließen können.

Würde sich das auch positiv auf das politische Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern auswirken?

Der Wunsch der neuen Frauenbewegungen war es seit den 1970er Jahren, die Demokratie zu reformieren; also die politischen Systeme frauenfreundlicher zu machen. Die erste forderte mehr Frauen in politischen Entscheidungsgremien. Die zweite wollte mit dem politischen System im engeren Sinne gar nichts zu tun haben, sondern autonom bleiben, Frauenprojekte umsetzen und dadurch die politische Kultur verändern. Politische RepräsentantInnen sollten von außen beeinflusset werden. Deshalb bestand bei einigen Frauengruppierungen in den 70ern, 80ern und eigentlich bis in die 90er-Jahre hinein die Überlegung, dass man mit mehr direkter Demokratie zumindest die Interessen von Frauen im politischen System besser vertreten könnte.

Zeigte sich das auch beim Frauenvolksbegehren? Es wurde von einer unabhängigen Initiative 1997 gestartet und beinhaltete beispielsweise die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und einem Mindesteinkommen von 15.000 Schilling.

Das Frauenvolksbegehren war ein interessanter Fall. Es hat die Verfassung zwar nicht unmittelbar geändert, aber die Diskussion war wertvoll und führte im Endeffekt doch zu den verfassungsrechtlichen Zielen. Und auch hinsichtlich der Anwendung des Instruments des Volksbegehrens auf EU-Ebene gab es einen Gleichstellungsfortschritt. Trotzdem frage ich mich, warum alleine Abstimmungen
bessere Gleichstellungspolitik bedeuten sollten? Insbesondere, da es kein unbedingtes Interesse der ÖsterreicherInnen an Gleichstellungspolitik gibt. Entsprechend glaube ich, dass dies so einfach nicht ginge. Bei Themen wie Familienpolitik, Karenz und Arbeitszeit – die im Kern Gleichstellungsfragen sind – wäre es wichtig, Öffentlichkeit herzustellen. Das Private politisch machen. Dies ist gerade in einer Konsensdemokratie, wie es in Österreich der Fall ist, wo sehr viel hinter verschlossenen Türen ausverhandelt wird, ein wichtiges Argument.

Und wo liegt bei der direkten Demokratie die Verantwortung, wenn etwasschief geht? Könnten PolitikerInnen dann sagen: Ihr habt es ja so gewollt?

Das ist wirklich ein Problem. Aber auch bei repräsentativen Verfahren können BürgerInnen die PolitikerInnen nur dadurch verantwortlich machen, indem sie sie bei den nächsten Wahlen abwählen. Das ist ohne Zweifel wichtig, aber vergleichsweise wenig. Wie man an Korruptionsfällen sieht, stellt das in repräsentativen Systemen ebenfalls ein Problem dar. Entsprechend halte ich die Ablehnung von direkter Demokratie aufgrund des Argumentes der mangelnden Verantwortung für überzogen.

Könnte man in einem direktdemokratischen System also noch im gleichen Sinne von politischer Verantwortung sprechen?

Es bräuchte eine politische Debatte, was es heißt, Verantwortung für eine Entscheidung zu übernehmen. Also mit den Fragen: Was heißt es, Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen? Bin ich meiner Partei oder bin ich einer größeren Gruppe, die ich sozusagen als Auftraggeber für ein Gemeinwohl sehe, gegenüber verantwortlich? Und was würde es eigentlich heißen, von Gemeinwohl im Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung zu sprechen? Da scheint sofort eine ganz andere Form von Verantwortlichkeit auf.

Zur Person: Birgit Sauer ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschung widmet sich insbesondere Fragen der Geschlechterverhältnisse sowie auch politikwissenschaftlichen Staats- und Institutionentheorien.

Ich mach meinen Master bei Humboldt

  • 28.09.2012, 10:47

Beliebt bei Unibrennt und Rektorat, Grünen und ÖVP, in der Werbung und bei Protesten – Wilhelm von Humboldt bringt Gegensatzpaare auf einen Nenner. Unsere Autoren allerdings sind sich nur in ihrer Skepsis an diesem Hype einig. Ihre Meinungen gehen auseinander.

Beliebt bei Unibrennt und Rektorat, Grünen und ÖVP, in der Werbung und bei Protesten – Wilhelm von Humboldt bringt Gegensatzpaare auf einen Nenner. Unsere Autoren allerdings sind sich nur in ihrer Skepsis an diesem Hype einig. Ihre  Meinungen gehen auseinander.

Pro: Was noch nicht ist

Humboldt ist also wieder en vogue. Besonders in den Stoßzeiten sogenannter Bildungsproteste begegnet man der Beschwörung Humboldts als akademischer Säulenheiliger auf Flugblättern wie in Seminaren, auf Plakaten wie im Feuilleton. Für eine Auseinandersetzung mit seiner Theorie ist in der Hitze des Gefechts freilich selten Zeit. Und wenn sie doch passiert, steht neben vollmundigen Ratschlägen und bildungspolitischen Weisheiten meist entweder die Meinung „Humboldt ist schlicht veraltet“ oder die Forderung „Zurück zu Humboldt!“. Als letzte Weisheit untermauert die eine wie die andere das eigene Argument und damit scheint dann auch schon alles gesagt.

Dass der Bezug auf Humboldt immer recht instrumentell daherkommt,  überrascht nicht. Humboldt ernst zu nehmen, würde bedeuten, sich mit jenem idealistischen Gelehrtendeutsch zu befassen, dem man als kritischeR StudentIn am liebsten die Diskursberechtigung entzöge. Anstatt einer solchen Auseinandersetzung werden zentrale Konzepte in Humboldts Werk wie Freiheit, Kraft und Ich, allerdings meist situationselastisch an die Bedürfnisse des zeitgenössischen Publikums angepasst und letztlich auf den Slogan von der Unabhängigkeit der Universität reduziert. Humanistische Bildung heißt für Humboldt jedoch mehr als das obligatorische „Bildung für alle“: Ihr Zweck ist der Zustand der „ungebundensten Freiheit“, der denkbar größten Autonomie und Individualität des Menschen. Die Verhältnisse, die von den Einzelnen Selbstzurichtung und Einpassung ins gesellschaftliche Ganze einfordern, tangieren Humboldts idealistische Freiheit nicht: Seine Ideen zielen auf die Erziehung der Menschen zu freien BürgerInnen ab. Durch Bildung, so der Impetus von Humboldts Humanismus, sollen die Menschen in ein freies Verhältnis zur Welt treten, zu einer kapitalistischen Welt wohlgemerkt, deren Zusammenhalt durch verborgenen Zwang und Wertverwertung garantiert wird.

Was aber, wenn die Verwirklichung dieses Humboltschen Ziels zwangsläufig scheitert, wenn die Welt, zu der sich das Individuum in Freiheit stellen soll, ihm ies verweigert? Die zuweilen schmerzhafte Erfahrung, dass der Begriff und die Sache, die Möglichkeiten und die Realität, unsere Bedürfnisse und ihre Erfüllung unversöhnlich auseinanderklaffen, birgt das Potenzial, den Mangel infrage zu stellen. Nicht das Bedürfnis nach Freiheit trägt die Schuld am Widerspruch, sondern deren gesellschaftlich verursachte Abwesenheit. Humboldts großes Projekt zielt auf die Freiheit der Menschen, total und kompromisslos. An diesem Anspruch an Bildung gilt es trotzig festzuhalten, solange seine Einlösung nur im deutschen Ideenhimmel, nicht aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit gelungen ist.

Simon Gansinger

Contra: Hohle Parole

„Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“ steht über der Haupttreppe zu lesen, die in die oberen Stöcke des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien führt. Dieser Satz geht auf Gedankengut zurück, das schon Wilhelm von Humboldt vor über 200 Jahren umzusetzen versuchte. Die damals durchgeführte Staatsreform reagierte auf den Gebietsverlust, den der preußische Staat durch die Niederlage gegen Napoleon erleiden musste. Die Forderung nach Einheit von Forschung und Lehre zielte auf eine Beteiligung der ausschließlich männlichen Studenten an der Forschung.* Es ging dabei um die Bildung des gesamten Menschen im Sinne eines humanistischen Ideals.

Heute hingegen ist diese Vorstellung zu einer Art Lehrverpflichtung für ForscherInnen geraten, das Recht auf Ausschlachtung der Arbeit der von ihnen abhängigen Studierenden mitinbegriffen. Aber der Fehler liegt nicht in erster Linie darin, dass die einst so hehren Ideale Humboldts heute heruntergekommen wären oder im Grunde mit jenen der heutigen Zeit, die unter Berufung auf ihn kursieren, gar nicht vergleichbar sind. Eine Reihe von Problemen sind bereits dem Humanismus selbst und dem entsprechenden Bildungsideal inhärent. Der Humanismus geht davon aus, dass der Mensch sich entfalten und zu seinem wahren Wesen gedeihen soll und dazu einer gewissen Förderung bedarf.

Der Mensch wird also erst zweitrangig als soziales Wesen verstanden, das sich in seiner je spezifischen Gesellschaft zu dem entwickelt, was es ist. Im humanistischen Ideal schwingt zunächst ein relativ starres Bild davon mit, wie ein Mensch zu sein hat. Die Erziehung macht sich nun daran, dieses Bild aus den Individuen heraus zu meißeln. Das Ergebnis, schon zu Humboldts Zeiten, war ein von pädagogischer Strenge geprägter Elitarismus, der gedanklich einen großen Teil der Menschen überhaupt vom Menschsein ausschloss: eben jene, die diesem Bild nicht entsprechen wollten oder nicht entsprechen konnten. Der Zugang zu Gymnasien war damals schließlich begrenzt – und ist es aufgrund sozialer Selektion noch immer. Jetzt ließe sich freilich einwenden, das wäre gar keine Kritik am Humboldtschen Bildungsideal, sondern an den gesellschaftlichen Bedingungen, die seine Realisierung verunmöglichen. Und der Einwand gilt sogar. Nur zeigt sich an ihm, dass der Humanismus, nimmt man ihn ernst, sofort auf die Gesellschaft als Ganzes verweist. Und deshalb erscheint das humanistische Ideal auch schief, falsch und rückwärts orientiert, wird der Hinweis auf das Privileg vergessen. Ein solcher Humanismus ist ein mit großen Parolen geführter Abwehrkampf. Er versucht, die Oberfläche zu bewahren, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass der Untergrund längst weggeschwemmt wurde – und deshalb tönt er so hohl.

* Frauen durften in Preußen erst ab 1896 maturieren und ihnen war somit der Zugang zur Universität bis dahin verwehrt.

Autor Simon Sailer

Der Winter tut den Fischen gut

  • 28.09.2012, 10:45

Maria ist Anfang vierzig und verliert ihren Arbeitsplatz. Daraufhin beginnt sie, zum AMS zu gehen und arbeitet hart daran, einen neuen Job zu finden. Zwischen den AMS-Terminen und dem Warten auf eine Zusage, spielt sich das Leben in all seinen unscheinbaren Facetten rückwärts ab...

Der Winter tut den Fischen gut

Maria ist Anfang vierzig und verliert ihren Arbeitsplatz. Daraufhin beginnt sie, zum AMS zu gehen und arbeitet hart daran, einen neuen Job zu finden. Zwischen den AMS-Terminen und dem Warten auf eine Zusage, spielt sich das Leben in all seinen unscheinbaren Facetten rückwärts ab – seien es nun Geschichten über Otto, eine der Kaulquappen die Maria in ihrer Wohnung züchtet, Erinnerungen an den ersten Kuss mit ihrem verstorbenen Mann Walter im Wiener Prater oder der Einkauf am Fischmarkt im Winter. Wachsam und liebevoll beschreibt Anna Weidenholzer den Alltag in der Arbeitslosigkeit, ohne dabei auch nur ein Detail zu übersehen. Sie erzählt die Geschichte einer wartenden Frau, die auf den ersten Blick in der Langsamkeit und Einsamkeit der  Arbeitslosigkeit gefangen ist, bei näherem Hinsehen jedoch voller  Sehnsüchte und Lebenshunger ist. Ein schönes, ruhiges Buch.

Der Winter tut den Fischen gut.
Residenzverlag 2012

Pädagogische Einsteins

  • 28.09.2012, 10:43

LehrerInnen: Sie sind diejenigen, die uns das Leben zumindest neun Jahre lang entweder zur Hölle machen oder unsere Interessen fördern. Um ersteres zu verhindern, braucht es eine qualitativ hochwertige PädagogInnenbildung. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

LehrerInnen: Sie sind diejenigen, die uns das Leben zumindest neun Jahre lang entweder zur Hölle machen oder unsere Interessen fördern. Um ersteres zu verhindern, braucht es eine qualitativ hochwertige PädagogInnenbildung. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Es war 5.30 Uhr an einem Dienstag Morgen, als sich Laura M.* auf den Weg zu einer ihrer ersten Schulstunden seit drei Jahren machte. Der Unterschied zu früher war, dass sie dieses Mal auf keinen Fall zu spät kommen wollte. Die 21jährige Linzerin studiert Russisch und Geschichte auf Lehramt im vierten Semester an der Universität Wien. Als Lehramtsstudentin studiert sie noch im Diplom und muss zwei Unterrichtsfächer kombinieren, für jedes Fach müssen Schulpraktika im Ausmaß von elf ECTS abgelegt werden. Dafür sollen laut Studienplan BetreuungslehrerInnen zur Seite stehen, die bei der Vor- und Nachbereitung helfen sowie für Feedback und Supervision verantwortlich sind. „Ich hab’ das erste Praktikum lange vor mir hergeschoben, weil ich mich nicht drübergetraut hab“, erzählt sie. „Im Endeffekt war aber sowieso alles anders als gedacht.“

Laura wurde gemeinsam mit fünf KollegInnen, die ebenfalls slawische Sprachen studieren, zwei BetreuungslehrerInnen zugeteilt – eine davon unterrichtet in Amstetten Spanisch, einer in St. Pölten Russisch. Für Studierende, die seltene Fächer belegen, kein Einzelfall: „Da kann es schon einmal passieren, dass man sich in eine Spanischstunde setzen oder in die niederösterreichische Pampa fahren muss, um dort fünfzig Minuten Unterrichtserfahrung zu sammeln“, erzählt Laura. Mit einer Studienkollegin sollte sie ihre erste Russisch-Schulstunde in einem St. Pöltner Gymnasium halten. „Da meine Kollegin allerdings Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (BKS) studiert, hat sich die Vorbereitung als etwas schwierig erwiesen.“ Was die Betreuungslehrer dazu sagten? „Lasst euch was einfallen.“

Lücken. Nicht nur die BetreuungslehrerInnen für Lehramtsstudierende an den Schulen sind oft Mangelware, Lehrkräfte schwinden generell aus Österreichs Schulen. 71.500 LehrerInnen arbeiten derzeit an allgemeinbildenden Pflichtschulen, rund 4.900 an Berufsschulen und 41.600 an Bundesschulen, also an Gymnasien oder berufsbildenden mittleren und höheren Schulen. Bis 2025 werden voraussichtlich 50 Prozent aller Lehrpersonen in Pension gehen – der LehrerInnenmangel ist bereits jetzt vorprogrammiert, Lösungen dafür sind jedoch nicht in Sicht. Bereits zum Schulstart diesen Herbst sind in vielen Bundesländern ErsatzlehrerInnen im Einsatz, viele LehrerInnen übernehmen Überstunden und JunglehrerInnen werden bereits im ersten Jahr mit einer vollen Lehrverpflichtung beauftragt.

In diese Richtung soll es laut der Bundesregierung weiter gehen: Die  Lehrverpflichtung im ersten Unterrichtspraktikumsjahr soll von bisher acht auf 22 Unterrichtsstunden erhöht werden. Das würde selbst eine volle Lehrverpflichtung mit einem normalen Dienstvertrag übersteigen. Regina Bösch, angehende Junglehrerin, kann den Plänen zur Erhöhung der Unterrichtszeit bereits am Anfang nicht viel abgewinnen und hat kurzerhand mit einer Kollegin die Initiative für ein faires LehrerInnendienstrecht ins Leben gerufen. „Das ist absurd und gefährlich. Im Unterrichtspraktikum braucht man sehr viel Zeit zur Reflexion, damit man auch wirklich hineinwachsen kann. Das wäre komplett weg“, sagt sie. Das jetzige Unterrichtspraktikumsmodell ist als einjährige Berufseinstiegsphase konzipiert und wird vom Großteil der Studierenden gut angenommen. „Das neue Modell würde bedeuten, dass man sich von Stunde zu Stunde hangelt, und Dienst nach Vorschrift macht – im besten Fall. So brennt man die Leute noch früher aus“, sagt Bösch.

Laura hat ihr erstes Schulpraktikum mit einem Sehr-Gut abgeschlossen, obwohl die vorbereitete Russischstunde mit ihrer BKS-Kollegin nie zustande kam: „Unser Betreuungslehrer hat uns einfach vergessen, und die betreffende Klasse war an dem Tag auf Exkursion.“ Eine volle Lehrverpflichtung bereits direkt nach Abschluss des Studiums oder vielleicht sogar schon davor kann sie sich nicht vorstellen: „Als Lehrerin fühl ich mich wirklich noch kein bisschen.“

Konflikt. Während die Lehramtsstudierenden auf der Universität in der Regel nur mittels zweier Schulpraktika während des Studiums in Berührung mit SchülerInnen kommen, stehen Studierende an Pädagogischen Hochschulen von Anfang an im Klassenzimmer. In Österreich findet die Ausbildung der PflichtschullehrerInnen und BerufsschullehrerInnen an den Pädagogischen Hochschulen statt, angehende LehrerInnen in höheren Schulen müssen die Uni mit einem Diplomstudium abschließen. Die Trennung der Ausbildungen in verschiedene Sektoren ist umstritten.

2008 hat Bildungsministerin Claudia Schmied gemeinsam mit dem damaligen Wissenschaftsminister Johannes Hahn erstmals die ExpertInnengruppe LehrerInnenbildung NEU eingesetzt, und damit beauftragt, Vorschläge für eine Reform der LehrerInnenbildung zu erarbeiten. Seitdem gibt es viele Vorschläge, aber die verschwinden großteils unter dem Tisch. Leidtragende des politischen Stillstands sind nicht nur die Studierenden, sondern auch die SchülerInnen.

Stefan B. studiert im siebten Semester Informatik auf Lehramt an der Linzer Johannes Keppler Universität und kann der Trennung der Lehramtsstudien nichts abgewinnen: „Gerade im Unterstufenbereich, bei den Kindern zwischen zehn und 14 Jahren, unterrichten die LehrerInnen später genau dasselbe.“ Anders als Laura hat er mit seinem Schulpraktikum im Linzer Georg-von-Peuerbach-Gymnasium gute Erfahrungen machen können, auch das Verhältnis zu den BetreuungslehrerInnen war gut. „Aber am Ende des Praktikums waren sich mein Betreuungslehrer und ich einig: Wir hätten viel mehr Zeit miteinander verbringen müssen.“

Pyramide. Umso jünger die Kinder, desto kürzer ist die Ausbildung und schlechter die Bezahlung. So lässt sich die umgedrehte „PädagogInnen-Pyramide“ beschreiben, die in Österreich System hat. Laut Stefan Hopmann, Professor am Institut für Bildungswissenschaften an der Uni Wien, gibt es im Pflichtschulbereich die größten Defizite, vor allem auch, weil es nicht die Möglichkeit gibt, fachliche Schwerpunkte zu setzen: „Wenn alle alles unterrichten können sollen, müssen wir lauter pädagogische Einsteins anstellen.“ Um dies zu ändern, bräuchte es allerdings grundlegende Reformen, und an die hat sich bis jetzt noch niemand herangewagt.

Hopmann, der auch ehemaliges Mitglied der Vorbereitungsgruppe zur Umsetzung der Vorschläge der jüngsten von Bildungsministerin Schmied und Wissenschaftsminister Töchterle eingesetzten ExpertInnengruppe ist, kritisiert den mangelnden politischen Gestaltungswillen: „Da war die Tinte am Papier noch nicht einmal trocken, da war schon klar, dass das Erarbeitete nicht mitgetragen wird.“ Der Bildungswissenschafter meint damit vor allem die Kernidee, dass es eine akademische Aufwertung der PflichtschulpädagogInnen brauche. „Das Problem ist, dass man Reformen haben will, die nichts an den Machtstrukturen verändern sollen, man wurschtelt vor sich hin. Ein bisschen Reform funktioniert aber genauso wenig wie ein bisschen schwanger sein.“ Klar ist, dass sich nach einer Aufwertung der Ausbildung auch das Gehaltsschema ändern müsste.

Beschränkung. Die besten für den Lehrberuf zu finden – das wird sowohl von SchülerInnen-, Eltern-, als auch DirektorInnenseite immer wieder gefordert. Wie man diesem Wunsch nachkommen kann, darüber gibt es jedoch verschiedene Ansichten. Seit dem Wintersemester 2011 wurde mit der Einführung der Studieneingangs- und Orientierungsphase (STEOP) auch eine Beschränkung für Lehramtsstudien beschlossen. Besonders an der Universität Wien waren die Folgen drastisch: Wer die – von vielen Studierenden als überdurchschnittlich schwierig definierte – Pädagogik-Prüfung nicht schafft, ist jetzt für den Lehrberuf gesperrt. Auf Lebenszeit. Keine versteckten, sondern offensichtliche Zugangsbeschränkungen für Lehramtsstudien gibt es im oft zum Vergleich zitierten Finnland: Dort wird durchschnittlich nur einE BewerberIn von zehn genommen. Hopmann bestreitet, dass dieses Modell zum gewünschten Ziel führt: „Wir könnten auch in Österreich die Studienplätze halbieren, dann hätten wir auch ein Gedränge. Aber nicht die besten LehrerInnen.“

Andere Ansätze  gehen in Richtung Beratung und Evaluierung vor und während des Studiums; Reflexionsgespräche mit den ProfessorInnen, regelmäßiges Feedback und mehr Praxis von Anfang an. Gerade durch die de facto nicht vorhandenen Umstiegsmöglichkeiten im LehrerInnenberuf ergibt sich der Zwang für viele LehrerInnen, in ihrem Beruf zu bleiben. Für den angehenden Lehrer Stefan stellt das ein großes Problem dar: „Ich habe ein Lehramtsstudium begonnen, weil ich gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeite, aber ich weiß nicht, wie das in dreißig Jahren sein wird. Nur wenn man hier Lösungen findet, kann man das Beste für die SchülerInnen rausholen.“

Ausblick. Sowohl die ExpertInnengruppe der Ministerien als auch die Österreichische HochschülerInnenschaft sprechen sich seit längerem für die Einführung einer gemeinsamen PädagogInnenbildung aus. Die  Grundüberlegungen gehen in dieselbe Richtung: Ein gemeinsamer Grundstock am Anfang, eine Spezialisierung mit Umstiegsmöglichkeiten im Anschluss. Ob die LehrerInnenausbildung an den Universitäten, an den Pädagogischen Hochschulen oder an neuen Schools of Education stattfinden soll, ist eigentlich nur ein Nebenschauplatz der Debatte, der allerdings ins Zentrum gerückt wird. Solange die bildungspolitischen Agenden jedoch auf zwei Ministerien geteilt sind, wird sich an dem Stillstand nicht viel ändern. Denn dumm wäre jene Partei,  die freiwillig Kompetenzen abgibt.

*Name von der Redaktion geändert.

Wo der Scheinwerfer nicht hingelangt

  • 28.09.2012, 10:24

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

progress: Dein erster Roman Der Winter tut den Fischen gut ist gerade im Residenzverlag erschienen. Wann hast du zu schreiben begonnen?

Anna Weidholzer: Ich hab immer geschrieben. Schon als Kind, später mal mehr, mal weniger. Während und nach dem Studium hab ich im Journalismus gearbeitet. Ich habe dann in Leonding die Leondinger Akademie für Literatur besucht. Dort habe ich den Literaturbetrieb kennengelernt, welche Zeitschriften, Stipendien und Preise es gibt und begonnen, die ersten Sachen einzureichen. So ist dann alles ins Laufen gekommen.

Wie hast du es geschafft, bei einem so großen Verlag wie dem Residenzverlag unterzukommen?

Über das erste Buch Der Platz des Hundes, das beim Welser Mitter Verlag erschien. Mein jetziger Lektor bekam es empfohlen, hat es gelesen und war begeistert. Irgendwann war dann ein Mail von ihm in meinem Posteingang.

Wie hast du dich dem Thema deines Romans genähert?

Es geht um Maria, eine arbeitslose Frau. Sie ist eine Textilfachverkäuferin, verliert mit Ende vierzig ihren Arbeitsplatz und ist dann in dieser schwierigen Situation, dass sie als für den Arbeitsmarkt zu alt und als schwer vermittelbar gilt. Sie verliert damit auch ihr soziales Umfeld und kommt immer mehr in die Isolation. Für das Buch hab ich beim AMS recherchiert, mit einem  Arbeitslosenverein zusammengearbeitet und mit arbeitslosen Frauen gesprochen, alle so um die vierzig. Aus den Gesprächen hat sich dann auch die Struktur des Buches ergeben. Marias Leben wird rückwärts erzählt. In längeren und kürzeren Kapiteln wird ihre Geschichte aufgerollt. Der Ausgangspunkt war der, dass ich jedes Mal einer Frau begegnet bin, von der ich außer ihrem Namen nur wusste, dass sie langzeitarbeitslos ist. Dann sprachen wir miteinander und es ergaben sich kleine Mosaike aus ihrem Leben. Man sieht nach ein paar  Stunden Gespräch die Person ganz anders. Das wollte ich in dem Buch nachbilden, dass man die arbeitslose Maria nicht nur als Arbeitslose sieht, sondern in ihrer ganzen Geschichte, weil sie denGroßteil ihres Lebens ja auch anders verbracht hat.

In der Protagonistin Maria stecken also verschiedene Geschichten über Arbeitslosigkeit?

Ja, es geht aber nicht nur um Arbeitslosigkeit, sondern auch ganz stark um Identität. Es sind mehrere kleine Geschichten, die immer mehr aus ihrem Leben ergeben.

War es für dich wichtig, eine Frau als Hauptcharakter zu wählen?

Bei dem Thema schon. Weil es für Frauen einfach noch einmal schwieriger ist, in dem Alter eine Arbeit zu finden. Mir war es deswegen wichtig, dass Maria eine Frau ist, und ich habe auch die Interviews nur mit Frauen geführt.

Warum das Thema Arbeitslosigkeit?

Es sind da mehrere Faktoren zusammengekommen. Das Thema hat mich schon länger beschäftigt. Der ausschlaggebende Moment zur Figur Marias war wohl beim Theater Hausruck in Attnang-Puchheim in Oberösterreich. Dort wurde ein Stück in einer ehemaligen Fabrik aufgeführt, eine Polstermöbelfabrik, die in Konkurs gegangen ist. Am Schluss des Stücks gab es eine Szene, wo in einem Lagerregal statt Waren Menschen in den Fächern waren. Die SchauspielerInnen haben einfach die Geschichten von Arbeitslosen in der Region erzählt. Also ganz normale Geschichten, Biographien, wo dann der Bruch dadurch kommt, dass man den Arbeitsplatz und das Umfeld verliert. Das war der zündende Moment zu den Interviews. Ich glaube, dass Arbeitslosigkeit immer ein Thema ist, solange es Arbeit gibt. Und dass die Tatsache, als was, wo und ob man arbeitet, sehr viel im Leben bestimmt.

In deinem Roman verstecken sich viele Zitate. In den Quellen ist auch die bekannte Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda angeführt. Inwiefern spielte diese eine Rolle für dein Werk?

Die Studie war eine Basis für mein Buch. Ich habe es in den Interviews und der Recherche spannend gefunden, was sich in den 80 Jahren seit ihrem Erscheinen geändert hat – und das eigentlich relativ viel gleich geblieben ist. Die Art etwa,  wie man mit Arbeitslosigkeit umgeht. Es gibt verschiedene Typen: die, die  zuhause bleiben, nichts mehr machen und ihre Kinder nicht mehr versorgen, oder die, die noch ein bisschen aktiver sind und mit der Situation besser umgehen. Es war natürlich ganz ein anderes Umfeld in Marienthal 1933 als in Oberösterreich 2010, aber es gibt Parallelen. Ich denke, Arbeitslosigkeit wird immer ein großes Thema für die Betroffenen, aber auch für Nichtbetroffene bleiben. Es ist ein ziemliches Tabuthema. Es war zum Beispiel irrsinnig schwierig, Interviewpartnerinnen zu finden, die über ihre Situation sprechen wollten. Die wenigsten stehen zu ihrer Arbeitslosigkeit. Die meisten sagen: „Ich orientiere mich neu.“ oder: „Ich schau jetzt einmal.“

Es kommt auch ein Zitat aus Hildegard Knefs Rote Rosen vor …

Im Buch sind viele Zitate aus Schlagern und Ratgebern. Ganz am Anfang zum Beispiel: „Machen sie konsequent systematisch parallel schnell und viel.“ Das ist so ein Ratgeber-Satz. Die vielen Schlager kommen vor, einfach weil Maria gerne Schlager hört und davon träumt, Sängerin zu sein. Auch Elvis kommt oft vor, weil ihr verstorbener Mann Elvis-Imitator war. Ich habe für das Buch viel Elvis und Schlager gehört. Was gut zur Figur passt, hab ich dann hineingenommen. Oder auch, was ich in Cafés gehört habe.

Hast du dich zum Schreiben bewusst an Orte begeben, an denen du dich sonst nicht aufhältst, die aber zu Maria passen?

Eigentlich bin ich mehr durch Zufall dort hingekommen und hab mir dann gedacht, das passt gut zu Maria. Einmal zum Beispiel war ich in so einem Beisl beim Franz-Josefs-Bahnhof in Wien. Weil alles schon zugehabt hat, sind wir dort hineingegangen. Das war einfach super dort. Es gab nur zwei Sorten Wein, Rot oder Weiß, auf dem Tisch war ein Foto von einem Hund. Meine Freundin hat gefragt, wo dieser Hund ist und die Kellnerin deutete zum Fenster, wo eine Urne stand, mit dem Hund drinnen. Daraus ist das Bistro Brigitte im Buch entstanden.

Ist es nicht sehr schwierig, über ein Milieu zu schreiben, aus dem man selbst nicht stammt? Die Grenze zum Voyeurismus ist doch oft sehr schmal.

Wenn man mit dem Finger auf Leute zeigt, sich über sie lustig macht, um sich selbst weiter oben zu sehen, wird es problematisch. Dann wird das Ganze zum Sozialporno, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Sicher, ich habe einen anderen Hintergrund als meine Protagonistin Maria, ich habe studiert, sie hat eine Lehre gemacht. Aber das ist ja das Spannende am Schreiben, den eigenen Horizont zu erweitern und sich mit anderen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Mich interessieren die Ecken, wo der Scheinwerfer nicht hingelangt, das Alltägliche, das Absurde im Alltäglichen, ohne zu erklären oder zu belehren. Beschreiben, ohne bloßzustellen, den Figuren ihre Würde lassen.

Die Sprache in deinem Buch ist eher langsam und stark im Detail. Ist das dein üblicher Schreibstil oder eher ein Resultat der Handlung?

Es ist generell schon eher meine Schreibweise. Am Anfang des Buches sind vielleicht noch mehr Details, weil die Protagonistin alleine ist, und wenn man alleine ist ja auch nicht wirklich viel passiert.

Du verwendest außerdem eine sehr reduzierte Sprache, keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen …

Genau. Ich verwende auch keine Anführungszeichen. Mir kommt das oft zu stark vor. Ich mag es, wenn ein Text fließend ist und offen bleibt. Mir sind manche Wörter einfach zu viel. Ich habe eher einen minimalistischen Zugang zur Sprache. Die Protagonistin wirkt im Laufe der Arbeitslosigkeit immer neurotischer und esoterischer, nicht nur durch die Sprache. Sie hört auf, zum AMS zu gehen und versucht es mit Ratgeber und Selbstoptimierungsliteratur. Sie beginnt etwa,  Zettel mit Sätzen von in ihren Augen erfolgreichen Menschen auf den Spiegel zu kleben. Das ist diese Universumsgeschichte: Wenn man stark genug ans Universum glaubt, wird es alles richten. Das findet man in einem Bestseller-Ratgeber namens The Secret. Da steht etwa, dass man Rechnungen immer zerreißen soll, denn mit ihnen kommt Schlechtes ins Leben. Je mehr Rechnungen man bekommt, desto mehr glaubt man, dass man welche bekommt und man kriegt so nur noch Rechnungen. In solchen Ratgebern fällt die Schuld immer auf das Individuum zurück: Wenn ich mich an das halten würde, was in  dem Ratgeber steht, würde ich auch aus der Situation rauskommen. Indem ich  das aber nicht ganz schaffe, scheitere ich weiter. Es fällt alles auf das Individuum zurück – so als ob es keine gesellschaftliche oder soziale Verantwortung gäbe.

Lesungen und Termine:

http://annaweidenholzer.at/http://annaweidenholzer.at/termine

Zur Person

Anna Weidenholzer wurde 1984 in Linz geboren und hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Wrocław studiert. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen gewonnen, unter anderen den Alfred-Gesswein-Preis 2009. Mit ihrem Erzählband Der Platz des Hundes war sie für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. 2011 erhielt sie das Österreichische Staatsstipendium für Literatur.

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

progress: Dein erster Roman Der Winter tut den Fischen gut ist gerade im Residenzverlag erschienen. Wann hast du zu schreiben begonnen?

Anna Weidholzer: Ich hab immer geschrieben. Schon als Kind, später mal mehr, mal weniger. Während und nach dem Studium hab ich im Journalismus gearbeitet. Ich habe dann in Leonding die Leondinger Akademie für Literatur besucht. Dort habe ich den Literaturbetrieb kennengelernt, welche Zeitschriften, Stipendien und Preise es gibt und begonnen, die ersten Sachen einzureichen. So ist dann alles ins Laufen gekommen.

Wie hast du es geschafft, bei einem so großen Verlag wie dem Residenzverlag unterzukommen?

Über das erste Buch Der Platz des Hundes, das beim Welser Mitter Verlag erschien. Mein jetziger Lektor bekam es empfohlen, hat es gelesen und war begeistert. Irgendwann war dann ein Mail von ihm in meinem Posteingang.

Wie hast du dich dem Thema deines Romans genähert?

Es geht um Maria, eine arbeitslose Frau. Sie ist eine Textilfachverkäuferin, verliert mit Ende vierzig ihren Arbeitsplatz und ist dann in dieser schwierigen Situation, dass sie als für den Arbeitsmarkt zu alt und als schwer vermittelbar gilt. Sie verliert damit auch ihr soziales Umfeld und kommt immer mehr in die Isolation. Für das Buch hab ich beim AMS recherchiert, mit einem  Arbeitslosenverein zusammengearbeitet und mit arbeitslosen Frauen gesprochen, alle so um die vierzig. Aus den Gesprächen hat sich dann auch die Struktur des Buches ergeben. Marias Leben wird rückwärts erzählt. In längeren und kürzeren Kapiteln wird ihre Geschichte aufgerollt. Der Ausgangspunkt war der, dass ich jedes Mal einer Frau begegnet bin, von der ich außer ihrem Namen nur wusste, dass sie langzeitarbeitslos ist. Dann sprachen wir miteinander und es ergaben sich kleine Mosaike aus ihrem Leben. Man sieht nach ein paar  Stunden Gespräch die Person ganz anders. Das wollte ich in dem Buch nachbilden, dass man die arbeitslose Maria nicht nur als Arbeitslose sieht, sondern in ihrer ganzen Geschichte, weil sie denGroßteil ihres Lebens ja auch anders verbracht hat.

In der Protagonistin Maria stecken also verschiedene Geschichten über Arbeitslosigkeit?

Ja, es geht aber nicht nur um Arbeitslosigkeit, sondern auch ganz stark um Identität. Es sind mehrere kleine Geschichten, die immer mehr aus ihrem Leben ergeben.

War es für dich wichtig, eine Frau als Hauptcharakter zu wählen?

Bei dem Thema schon. Weil es für Frauen einfach noch einmal schwieriger ist, in dem Alter eine Arbeit zu finden. Mir war es deswegen wichtig, dass Maria eine Frau ist, und ich habe auch die Interviews nur mit Frauen geführt.

Warum das Thema Arbeitslosigkeit?

Es sind da mehrere Faktoren zusammengekommen. Das Thema hat mich schon länger beschäftigt. Der ausschlaggebende Moment zur Figur Marias war wohl beim Theater Hausruck in Attnang-Puchheim in Oberösterreich. Dort wurde ein Stück in einer ehemaligen Fabrik aufgeführt, eine Polstermöbelfabrik, die in Konkurs gegangen ist. Am Schluss des Stücks gab es eine Szene, wo in einem Lagerregal statt Waren Menschen in den Fächern waren. Die SchauspielerInnen haben einfach die Geschichten von Arbeitslosen in der Region erzählt. Also ganz normale Geschichten, Biographien, wo dann der Bruch dadurch kommt, dass man den Arbeitsplatz und das Umfeld verliert. Das war der zündende Moment zu den Interviews. Ich glaube, dass Arbeitslosigkeit immer ein Thema ist, solange es Arbeit gibt. Und dass die Tatsache, als was, wo und ob man arbeitet, sehr viel im Leben bestimmt.

In deinem Roman verstecken sich viele Zitate. In den Quellen ist auch die bekannte Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda angeführt. Inwiefern spielte diese eine Rolle für dein Werk?

Die Studie war eine Basis für mein Buch. Ich habe es in den Interviews und der Recherche spannend gefunden, was sich in den 80 Jahren seit ihrem Erscheinen geändert hat – und das eigentlich relativ viel gleich geblieben ist. Die Art etwa,  wie man mit Arbeitslosigkeit umgeht. Es gibt verschiedene Typen: die, die  zuhause bleiben, nichts mehr machen und ihre Kinder nicht mehr versorgen, oder die, die noch ein bisschen aktiver sind und mit der Situation besser umgehen. Es war natürlich ganz ein anderes Umfeld in Marienthal 1933 als in Oberösterreich 2010, aber es gibt Parallelen. Ich denke, Arbeitslosigkeit wird immer ein großes Thema für die Betroffenen, aber auch für Nichtbetroffene bleiben. Es ist ein ziemliches Tabuthema. Es war zum Beispiel irrsinnig schwierig, Interviewpartnerinnen zu finden, die über ihre Situation sprechen wollten. Die wenigsten stehen zu ihrer Arbeitslosigkeit. Die meisten sagen: „Ich orientiere mich neu.“ oder: „Ich schau jetzt einmal.“

Es kommt auch ein Zitat aus Hildegard Knefs Rote Rosen vor …

Im Buch sind viele Zitate aus Schlagern und Ratgebern. Ganz am Anfang zum Beispiel: „Machen sie konsequent systematisch parallel schnell und viel.“ Das ist so ein Ratgeber-Satz. Die vielen Schlager kommen vor, einfach weil Maria gerne Schlager hört und davon träumt, Sängerin zu sein. Auch Elvis kommt oft vor, weil ihr verstorbener Mann Elvis-Imitator war. Ich habe für das Buch viel Elvis und Schlager gehört. Was gut zur Figur passt, hab ich dann hineingenommen. Oder auch, was ich in Cafés gehört habe.

Hast du dich zum Schreiben bewusst an Orte begeben, an denen du dich sonst nicht aufhältst, die aber zu Maria passen?

Eigentlich bin ich mehr durch Zufall dort hingekommen und hab mir dann gedacht, das passt gut zu Maria. Einmal zum Beispiel war ich in so einem Beisl beim Franz-Josefs-Bahnhof in Wien. Weil alles schon zugehabt hat, sind wir dort hineingegangen. Das war einfach super dort. Es gab nur zwei Sorten Wein, Rot oder Weiß, auf dem Tisch war ein Foto von einem Hund. Meine Freundin hat gefragt, wo dieser Hund ist und die Kellnerin deutete zum Fenster, wo eine Urne stand, mit dem Hund drinnen. Daraus ist das Bistro Brigitte im Buch entstanden.

Ist es nicht sehr schwierig, über ein Milieu zu schreiben, aus dem man selbst nicht stammt? Die Grenze zum Voyeurismus ist doch oft sehr schmal.

Wenn man mit dem Finger auf Leute zeigt, sich über sie lustig macht, um sich selbst weiter oben zu sehen, wird es problematisch. Dann wird das Ganze zum Sozialporno, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Sicher, ich habe einen anderen Hintergrund als meine Protagonistin Maria, ich habe studiert, sie hat eine Lehre gemacht. Aber das ist ja das Spannende am Schreiben, den eigenen Horizont zu erweitern und sich mit anderen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Mich interessieren die Ecken, wo der Scheinwerfer nicht hingelangt, das Alltägliche, das Absurde im Alltäglichen, ohne zu erklären oder zu belehren. Beschreiben, ohne bloßzustellen, den Figuren ihre Würde lassen.

Die Sprache in deinem Buch ist eher langsam und stark im Detail. Ist das dein üblicher Schreibstil oder eher ein Resultat der Handlung?

Es ist generell schon eher meine Schreibweise. Am Anfang des Buches sind vielleicht noch mehr Details, weil die Protagonistin alleine ist, und wenn man alleine ist ja auch nicht wirklich viel passiert.

Du verwendest außerdem eine sehr reduzierte Sprache, keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen …

Genau. Ich verwende auch keine Anführungszeichen. Mir kommt das oft zu stark vor. Ich mag es, wenn ein Text fließend ist und offen bleibt. Mir sind manche Wörter einfach zu viel. Ich habe eher einen minimalistischen Zugang zur Sprache. Die Protagonistin wirkt im Laufe der Arbeitslosigkeit immer neurotischer und esoterischer, nicht nur durch die Sprache. Sie hört auf, zum AMS zu gehen und versucht es mit Ratgeber und Selbstoptimierungsliteratur. Sie beginnt etwa,  Zettel mit Sätzen von in ihren Augen erfolgreichen Menschen auf den Spiegel zu kleben. Das ist diese Universumsgeschichte: Wenn man stark genug ans Universum glaubt, wird es alles richten. Das findet man in einem Bestseller-Ratgeber namens The Secret. Da steht etwa, dass man Rechnungen immer zerreißen soll, denn mit ihnen kommt Schlechtes ins Leben. Je mehr Rechnungen man bekommt, desto mehr glaubt man, dass man welche bekommt und man kriegt so nur noch Rechnungen. In solchen Ratgebern fällt die Schuld immer auf das Individuum zurück: Wenn ich mich an das halten würde, was in  dem Ratgeber steht, würde ich auch aus der Situation rauskommen. Indem ich  das aber nicht ganz schaffe, scheitere ich weiter. Es fällt alles auf das Individuum zurück – so als ob es keine gesellschaftliche oder soziale Verantwortung gäbe.

Lesungen und Termine:

http://annaweidenholzer.at/http://annaweidenholzer.at/termine

Zur Person

Anna Weidenholzer wurde 1984 in Linz geboren und hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Wrocław studiert. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen gewonnen, unter anderen den Alfred-Gesswein-Preis 2009. Mit ihrem Erzählband Der Platz des Hundes war sie für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. 2011 erhielt sie das Österreichische Staatsstipendium für Literatur.

Alleine und überfordert

  • 28.09.2012, 10:16

Die Belastung von Studierenden wächst: Konkurrenzdruck, Versagensängste und Konzentrationsschwierigkeiten gehören um Alltag im Unisystem. 2009 gaben 16 Prozent an, psychische Probleme und Ängste zu haben.

Die Belastung von Studierenden wächst: Konkurrenzdruck, Versagensängste und Konzentrationsschwierigkeiten gehören um Alltag im Unisystem. 2009 gaben 16 Prozent an, psychische Probleme und Ängste zu haben.

Drei Stunden pro Woche spricht Madeleine* mit einer Therapeutin über ihr Leben. In der Endphase ihres Studiums hat sie sich zum zweiten Mal dazu entschieden, in Therapie zu gehen. „Das Diplomarbeitschreiben war keine leichte Zeit – ich hatte großen Stress, fertig zu werden und habe mich oft alleine und überfordert gefühlt. Ich hatte den Eindruck, alle anderen wissen genau, was sie machen und ich komm einfach nicht weiter“, erzählt sie. Erstmals zu einer Therapie entschieden hatte sie sich schon während ihres Umzugs nach Wien zu Beginn ihres Studiums. Primäre Anlaufstelle war damals die Psychologische Studierendenberatung, die Studierenden in schwierigen Situationen Hilfe anbietet.

Therapie – ein Zeitfaktor. Das Beratungsrepertoire der Psychologischen Studierendenberatung in Wien ist breit gefächert; es umfasst Einzelberatungen, Workshops, oder auch Lerngruppen. Denn die Probleme der Studierenden sind vielfältig: Fragen zu Studienwechsel, Lernstrategien, oder auch Prüfungsängste sind häufige Themen in der Beratung. Rund 40 Prozent und damit der Großteil der 15.000 Studierenden, die jährlich eine Beratung in Anspruch nehmen, kommen jedoch wegen psychischer Probleme und Krankheiten. Dazu gehören unter anderem generalisierte Ängste, Depressionen oder auch Zwänge. Die im Studium auftretenden Krisen haben oft mit der individuellen Vorgeschichte der Betroffenen zu tun. „Menschen, die sehr ängstlich sind, haben auch eher mit Prüfungen zu kämpfen“, erklärt Kathrin Wodraschke, stellvertretende Leiterin der Psychologischen Studierendenberatung Wien. Stellt sich bei einem  Erstgespräch heraus, dass eine Therapie hilfreich wäre, versuchen die Berater_innen an eine Therapeut_in zu vermitteln. Die Hemmschwelle, nicht nur eine unverbindliche Beratung in Anspruch zu nehmen, sondern eine Therapie zu beginnen, ist meist jedoch deutlich höher. Schon aus Zeitgründen stellen  regelmäßige Therapiesitzungen für viele eine Schwierigkeit dar. „Die Therapie beeinflusst eben auch das Studium: Ich hatte zwei oder drei Mal in der Woche einen fixen Termin, da können keine Lehrveranstaltungen besucht werden – dann ist Therapie und die kann nicht verschoben werden”, erinnert sich Madeleine.

Auch die verschärften Studienbedingungen, etwa durch die Implementierung der Studieneingangs- und Orientierungsphase, an der viele scheitern, spielen oft eine Rolle bei den Beratungen: „Das System wird als belastend erlebt, das ist auch bei uns immer wieder ein Thema", meint Wodraschke. Für Madeleine war die Therapie eine Stütze, die ihr auch durch das System Uni geholfen hat: „Dort wird dann besprochen, was das Studium für eine_n bedeutet, wie man  sich die Zeit einteilt, einfach wie man mit dem ganzen Stress umgeht und woher der Stress überhaupt kommt. Die gesamten Unsicherheiten vor der Diplomarbeit konnte ich dort bereden.“ Gerade in geistes- und sozialwissenschaftlichen Studien werden die fehlenden Berufsbilder immer wieder zum Problem für Studierende, aber auch die verstärkt geforderte Selbstorganisation. Deshalb will die Studierendenberatung vor allem auch den Austausch zwischen Studierenden fördern – in Form von Lern- und Peergruppen, in denen sich  Studierende gegenseitig unterstützen können. „Wenn man sich heute nicht an der Uni vernetzt, ist es schwierig“, so Wodraschke.

Therapie – ein Tabu? Mit ihrer Therapie ist Madeleine immer sehr offen umgegangen. Diskussionen mit Bekannten waren für sie spannend und nie einTabu: „Ich glaube es kommt da ganz auf den Kontext an, aber gerade im Studierendenmillieu muss man das schon einmal gemacht haben. Einmal eine psychische Krise gehört fast zum guten Ton“, scherzt sie. „Den Studienkoleg_innen bindet man das aber dann natürlich nicht auf die Nase.“ Der Umgang mit dem Thema Therapie sei allerdings nicht für alle so einfach und für viele noch immer negativ behaftet, sagt Wodraschke: „Man redet zwar  mittlerweile über Therapie, aber wirklich zu jemandem zu gehen und sich Hilfe zu suchen, ist noch immer ein großer Schritt."

Finanzielle Hürden. Die Therapie ist aber oft nicht nur ein Tabu, sondern für viele Studierende aufgrund der hohen Kosten nur schwer realisierbar. In der Regel kostet eine Psychotherapie zwischen 80 und 120 Euro pro fünzig Minuten – für Studierende eine enorme Summe. Manche Therapeut_innen bieten niedrigere Preise für Studierende, fixe Ermäßigungen gibt es aber nicht. Es existieren zwar Kassenplätze, bei denen die Finanzierung der Therapie ganz übernommen wird. Diese sind aufgrund mangelnder Kapazitäten aber sehr schwer zu bekommen. „Ich hatte das Problem, dass ich eine Liste mit Kassenärzt_innen durchgerufen habe, die hatten aber alle keine Plätze mehr“, erzählt Madeleine. Die Kosten von 50 Euro pro Sitzung musste in ihrem Fall anfangs die Familie übernehmen. Heute hat sie einen ausfinanzierten  Kassenplatz für zwei Stunden pro Woche, den Rest bezahlt sie aus ihrer eigenen Tasche: „Der finanzielle Faktor macht es meiner Meinung nach eindeutig schwerer, sich auf eine Therapie einzulassen – schließlich passt es dann auch einfach nicht mit jeder Therapeut_in.“

Hinzu kommen die aktuellen Kürzungen der Wiener Gebietskrankenkasse, die bis Februar 2013 Neuanträge gestoppt hat. Psychoanalysen sollen zudem zukünftig gar nicht mehr finanziert werden. Der Anspruch auf einen Zuschuss von der Krankenkasse und dessen Höhe hängen also stark davon ab, wo und über wen man versichert ist. Zustände, die die Situation für Hilfesuchende noch zusätzlich erschweren.

*Name von der Redaktion geändert

Treue um Treue

  • 28.09.2012, 10:12

Feldbach in der Steiermark galt den Nazis 1945 als Bollwerk gegen die Allierten. Daran erinnern sich bis heute die lokalen Bevölkerung, SS-Veteranen und auch der Bürgermeister gerne.

Feldbach in der Steiermark galt den Nazis 1945 als Bollwerk gegen die Allierten. Daran erinnern sich bis heute die lokalen Bevölkerung, SS-Veteranen und auch der Bürgermeister gerne.

Seit knapp 60 Jahren treffen sich jährlich Mitte Mai Veteranen von Gebirgsjäger- und Fallschirmjäger-Einheiten des Dritten Reiches in Gniebing, einem Ortsteil von Feldbach, in der Südoststeiermark. Dabei wird zweier Schlachten der Wehrmacht gedacht: der Eroberung Kretas durch deutsche Fallschirmjäger und Gebirgsjäger im Jahr 1941 sowie der Eroberung der bereits von der Roten Armee befreiten Stadt Feldbach durch Fallschirmjäger und Waffen-SS im Jahr 1945. Veteranenorganisationen der Wehrmacht und SS, deutschnationale Burschenschaften, PolitikerInnen, Geistliche, Bundesheer und Polizei sind hier Jahr für Jahr anzutreffen. Sie betrauern die Toten auf Seiten der Nazis, den Heldenkampf und versichern sich gegenseitig „ewiger“ und „wahrer“ Werte.

Befreiung und Rückeroberung. Im März und April 1945 stand die Rote Armee kurz davor, Österreich von Osten und Südosten her zu befreien. Am 29. März wurde die „Reichsgrenze“ überschritten, schon am 3. April 1945 begann die Befreiung Wiens. Zu diesem Zeitpunkt strömten über Kärnten/Koroška und die Steiermark zahlreiche Verbände der Wehrmacht und SS nach Österreich zurück; die meisten hatten den Glauben an den Endsieg schon lange aufgegeben und versuchten, von den Westalliierten statt von der Roten Armee gefangen  genommen zu werden, um einer Strafverfolgung durch den „bolschewistischen Untermensch“ zu entgehen.

Nicht so jedoch die in der Steiermark liegenden Verbände, die auch 1945 noch vom Endsieg überzeugt waren. Feldbach wurde am 1. April von der Roten Armee befreit, aber nur schwach gesichert: Die Rote Armee konzentrierte sich auf die Befreiung Wiens. Es gelang der Wehrmacht, Feldbach zurückzuerobern: Vom 5. auf den 6. April 1945 wurde die heutige Bezirkshauptstadt von Westen her von einer Fallschirmjäger-Einheit, die gerade zufällig aus Italien kommend im Raum Graz eintraf und von einigen Wehrmachts- und SS-Einheiten unterstützt wurde, aus NS-deutscher Sicht „zurückbefreit“. Der Angriff kostete die schlecht ausgerüsteten und kaum aufeinander eingespielten Verbände viele Opfer. Die deutsche Propaganda berichtete ausführlich über die Rückeroberung Feldbachs sowie weiterer steirischer Städte, wodurch das Unternehmen auch  eine propagandistische Bedeutung für den im April 1945 bröckelnden „Durchhaltewillen“ in der „Alpenfestung“ erhielt. Auch als am 27. April die Unabhängigkeit Österreichs proklamiert wurde, am 28. April Benito Mussolini und am 30. April Adolf Hitler starben, dauerte die Verteidigung Feldbachs weiter an.

Niederbrennen von Ortschaften. Griechenland war zu Beginn der 40er-Jahre noch kein Schauplatz des Zweiten Weltkrieges, die militärische Strategie der NationalsozialistInnen konzentrierte sich auf die Vorbereitungen für den Überfall auf die Sowjetunion. Aber Anfang April 1941 eroberte die Wehrmacht  Jugoslawien und Griechenland. Die Eroberung Kretas wurde von bayrischen und österreichischen Fallschirmjägern und Gebirgsjägern getragen und vom  österreichischen Generaloberst Alexander Löhr geleitet. Am 20. Mai 1941  startete die Luftlandung der Fallschirmjäger, am 27. Mai zogen sich die Alliierten zurück. Die kretische Bevölkerung leistete – zur Überraschung der Wehrmacht und der abziehenden Alliierten – starken Widerstand, ohne von den Alliierten dazu aufgefordert oder dafür ausgerüstet worden zu sein.

Die Besatzer setzten von Anfang an Vergeltungs- und Sühnemaßnahmen ohne Einschränkungen ein. Ihr Befehlshaber Kurt Student wies die Besatzungstruppen auf Kreta am 31. Mai 1941 an: „Als Vergeltungsmaßnahmen kommen in Frage: 1.) Erschießungen 2.) Kontributionen 3.) Niederbrennen von Ortschaften 4.) Ausrottung der männlichen Bevölkerung ganzer Gebiete.“ Mit diesem Befehl, dem ähnliche folgten, war schon 1941 vorweggenommen, was später den „Partisanenkrieg“ prägen sollte: freie Hand für Übergriffe durch Soldaten, Sühnemaßnahmen und Vergeltungen gegen die Zivilbevölkerung. Der Wehrmachtseinsatz auf Kreta sticht durch seine immense und beispielgebende Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung heraus.

Ablauf der jährlichen Feier. Das Veteranen-Denkmal, das sich heute am Rande von Feldbach befindet, besteht aus einem auf einer übergroßen Steinsäule sitzenden Adler und mehreren Widmungstafeln. Auf einer dieser Tafeln steht: „Hier kämpften und fielen in den ersten Apriltagen des Schicksalsjahres 1945 deutsche Fallschirmjäger. Getreu ihrem Eid und Gehorsam der beschworenen Pflicht.“ Darunter befindet sich eine große Platte mit kretischer Erde samt eingraviertem Wehrmachts-Fallschirmschützenabzeichen. Die Gedenkfeier in Feldbach findet seit 1954 immer rund um den 20. Mai statt – an jenem Tag, an dem der Überfall auf Kreta begonnen hatte. Die TeilnehmerInnen marschieren schweigend, begleitet von Trommelschlägen, zum Denkmal: 2012 waren es rund 200 Personen. An der Feier beteiligen sich nicht nur der oder die durchschnittliche FeldbacherIn, GemeinderätInnen verschiedener Parteien, der Bürgermeister und Militärgeistliche und Nationalratsabgeordnete, sondern auch in- und ausländische Militaristen, Weltkriegsveteranen, Ritterkreuzträger, Kameradschaftsverbände von Wehrmacht und (Waffen-)SS und deutschnationale Burschenschafter.

Im Jahr 2011 nahm auch die SPÖ-Abgeordnete zum Nationalrat Sonja Steßl-Mühlbacher teil. Einen militärischen Charakter bekommt die Veranstaltung durch eine bewaffnete Bundesheer-Ehrengarde sowie PolizistInnen in Uniform. Seit 2009 wird die Veranstaltung von einem ehemaligen General des  Österreichischen Bundesheeres ausgerichtet, der seit Jahrzehnten im Netzwerk
 rechter Veteranen-Organisationen fest verankert ist, etwa an der Veteranenfeier in Mittenwald in Bayern teilnimmt und immer wieder in rechtsextremen Medien publiziert. Die TeilnehmerInnenzahl nimmt in den letzten Jahren kontinuierlich zu. Bei den Feiern selbst werden die Veteranen der Wehrmacht und SS namentlich begrüßt und ihre „Leistungen“ erläutert. Die Veteranen nehmen samt aller ihnen vom Dritten Reich verliehenen Auszeichnungen teil, darunter Ritterkreuz, Erdkampfabzeichen, Bandenkampfabzeichen und Kreta-Ärmelband.

Bei dem auf etlichen Fahnen von Verbänden ehemaliger Fallschirmjäger  aufgedruckten Spruch „Treue um Treue“ handelt es sich um die Parole der Fallschirmjäger der Wehrmacht. Auch das Fallschirmschützenabzeichen, dessen Kopie zahlreiche Teilnehmer der Feier auf dem Barett tragen, ist eine direkte Übernahme aus der Wehrmacht. Auf den Fahnen der Waffen-SS-Kameradschaft K IV ist der Spruch „Unsere Ehre heißt Treue“ rund um ein Balkenkreuz angeordnet. Es handelt sich dabei um den leicht abgewandelten Schwurspruch der SS „Meine Ehre heißt Treue“. Zum Programm gehört außerdem Wehrmachtsliedgut wie das Edelweiß-Lied und das Fallschirmjäger-Lied.

Die andere Geschichte. In Feldbach befanden sich bis 1945 eine Kaserne der Waffen-SS sowie mehrere Lager mit jüdischen ZwangsarbeiterInnen, die beim Stellungsbau eingesetzt wurden. Das Kommando für einen Bauabschnitt des „Südostwalls“ befand sich ebenfalls hier, sowie ein für das Militär und für den Transport von ZwangsarbeiterInnen wichtiger Bahnhof. Als regionaler Knotenpunkt wurde Feldbach zum Schauplatz des NS-Alltags: Zwangsarbeit, Durchhalteparolen, Erschießungen. Mit Hilfe des „Südostwalls“ – einem tiefen Graben rund um Ostösterreich – glaubten die Nazis vor der Roten Armee sicher zu sein. ZivilistInnen, kriegsgefangene Soldaten und rund 30.000 ungarische Juden und Jüdinnen wurden zum Ausschaufeln des Grabens gezwungen. Alleine im Bauabschnitt Feldbach waren es 3.000 ZwangsarbeiterInnen. Die Bauleitung des Abschnitts befand sich in Feldbach, ebenso die jeweiligen Stellen der für den Bau zuständigen „Organisation Todt“. Daneben bestand ein Kasernen- beziehungsweise Lagerkomplex der Waffen-SS in Feldbach, in dem der größte Teil der jüdischen ZwangsarbeiterInnen untergebracht war.

Die ZwangsarbeiterInnen wurden teils in der Stadt Feldbach selbst zur Arbeit gezwungen, zum größten Teil aber per Zug zu den Schanzarbeiten transportiert. Zahlreiche Ermordungen und Übergriffe sind überliefert. Zum Beispiel kam am 25. März 1945 eine größere Anzahl Gefangener direkt in Feldbach zu Tode: Die Gefangenen befanden sich in Eisenbahnwaggons während der Bahnhof von alliierten Fliegern angegriffen wurde. Der Angriff forderte einige Tote und vor allem Verletzte. Das “Problem” wurde so gelöst, dass die überlebenden jüdischen ZwangsarbeiterInnen die Verletzten und Toten auf einen LKW laden mussten und alle zum nahen Mühldorfer “Judenfriedhof” gebracht wurden. Die Unverletzten mussten ein Grab ausheben und wurden sodann zusammen mit den Verletzten erschlagen oder erschossen.

Das „Drama vom Bahnhof“ stellt sich in der Dorfgeschichte anders dar: An den Toten dieses Angriffs hätten die Alliierten Schuld, andere Opfer als jene der Amerikaner hat es nicht gegeben. In der Ortsgeschichte liest sich das so: „Das grauenhafte Blutbad bei der Beschießung des 'Judenzuges' durch den Tieffliegerangriff der Amerikaner im Bahnhof von Feldbach ist für mich persönlich ein unvergeßliches Ereignis. Es gab viele Tote, zahlreiche Verletzte, schreckliches Angstgeschrei, durchlochte und blutbespritzte Waggons.“ Dass die meisten Toten dieses Tages von örtlichen Nazis und der SS erschossen wurden, kommt in dieser Geschichte nicht vor.

Maschinenpistolen gegen Flecktyphus. In der unmittelbaren Umgebung von Feldbach befinden sich, neben dem Massengrab am Friedhof, zahlreiche weitere Massengräber mit jüdischen Opfern. Diese sind das Ergebnis zahlreicher Massaker und Übergriffe auf Juden und Jüdinnen, sehr häufig etwa im Rahmen „systematischer Erschießungen von Kranken“ zur „Bekämpfung“ von Flecktyphus in den Lagern. Ende März und Anfang April 1945 wurden die Gefangenen auf Todesmärsche Richtung Oberösterreich getrieben, wobei nicht mehr marschfähige ArbeiterInnen von den Wachmannschaften systematisch ermordet wurden. Eines der größten Massaker im Rahmen eines solchen Todesmarsches fand nahe Graz statt. Rund 200 Menschen wurden erschossen.

In vielen Städten der Steiermark war das Los der Jüdinnen und Juden sichtbar und allen BewohnerInnen bekannt. Trotzdem erinnert heute nichts an ihre Qualen – ihren Bewachern und Mördern wurden hingegen Denkmale gesetzt. Insbesondere die Rückeroberung Feldbachs hatte katastrophale Konsequenzen: Durch den Stopp der Roten Armee konnten einerseits die Wehrmachtsverbände fliehen und darüber hinaus vor allem die Todesmärsche gedeckt und ungehindert durchgeführt werden. Die Darstellung von “Feldbach als Bollwerk” geht dabei direkt auf NS-Propaganda zurück, die im April 1945 sonst nirgendwo von Erfolgen berichten konnte. Zwar ist dies auf Basis der österreichischen Opferthese nicht unüblich, doch selten wird heute so unverfroren eine Umkehrung von Tätern und Opfern betrieben wie in Feldbach.

Während die Feier in den letzten 60 Jahren unhinterfragt stattfinden konnte, wurden 2012 einzelne Aspekte erstmals in der Wochenzeitung Falter und in der Tageszeitung Der Standard skandalisiert. Ähnlich wie in der Berichterstattung zum Ulrichsbergtreffen in Kärnten/Koroška drehen sich die Kritikpunkte um die Bundesheer-Teilnahme und die Gemeinde Feldbach als Veranstalterin. Aus antifaschistischer Sicht müsste die Palette an Problemfeldern etwa um die dort erfolgende Identifizierung mit Soldaten der Wehrmacht und der (Waffen-)SS genauso thematisiert werden wie die totale Ausblendung von jüdischen Opfern – sowohl im Stadtbild als auch während der Feier. Auch müsste einer „typisch österreichischen“ Lösung entgegengetreten werden, einfach TäterInnen wie  auch Opfern unter dem Motto „Nie wieder Krieg“ gleichermaßen zu gedenken. Proteste gibt es 2013 aber jedenfalls bestimmt.

Die lange Version dieses Artikels könnt in Kürze ihr hier nachlesen: akhinterland.wordpress.com

Mutter Gottes, Jungfrau, werde Feministin

  • 28.09.2012, 10:00

Neonfarbene Sturmmasken wurden in den letzten Monaten zum großen Trend: Der Prozess gegen die Punkband Pussy Riot zeigt, wie in Russland mit politischem Engagement umgegangen wird und verursachte einen Aufschrei rund um den Globus.

Neonfarbene Sturmmasken wurden in den letzten Monaten zum großen Trend: Der Prozess gegen die Punkband Pussy Riot zeigt, wie in Russland mit politischem Engagement umgegangen wird und verursachte einen Aufschrei rund um den Globus.

Zwei Jahre Haft lautet das Urteil, das Richterin Marina Syrowa Mitte August über die Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Alechina und Jekaterina Samuzewitsch verhängt hat. Die Riot Grrlz wurden durch ihre Verhaftung nach einem „Punkgebet“ in der orthodoxen Christ-Erlöser-Kathedrale im Zentrum Moskaus weltweit berühmt. „Rowdytum“und „religiöse Hetze“ lautete die Anklage gegen die drei Frauen – den wahren Grund sehen viele jedoch in der Anti-Putin-Politik der Pussy Riots: Seit Oktober 2011 war die Gruppe im Vorfeld der russischen Präsident_innenschaftswahlen aktiv und äußerte in zahlreichen Auftritten Kritik an Vladimir Putin.

Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin. „Das politische Engagement gegen Putin wächst in Russland immer stärker. Mehr und mehr junge Leute werden in der Bewegung aktiv. Sie wollen die Politik beeinflussen und faire Wahlprozesse“, erzählt Olga Vlasova von der Russischen Demokratischen Partei. Der Prozess gegen Pussy Riot ist für die 26jährige Politikwissenschafterin eine reine Machtdemonstration, die Anklage an den Haaren herbeigezogen: „Die Aktion von Pussy Riot war sehr politisch, sie hatte aber nichts mit Religion zu tun. Der Ort wurde lediglich gewählt, um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen.“ Vlasova ist überzeugt, dass genauso wie die Hauptaussage der Aktion – Mutter Gottes, verjage Putin – auch der Prozess „ein reines Politikum“ sei.

Das Delikt „Rowdytum“ behandelt das russische Gesetz in zweierlei Hinsicht: Einerseits als Verwaltungsübertretung, wenn keine Sach- oder Personenschäden verursacht wurden – mit einem Höchststrafmaß von 15 Tagen Gefängnis; andererseits, wenn Menschen verletzt werden, oder Dinge zerstört werden, im strafrechtlichen Sinne. „Es mag sein, dass öffentlicher lautstarker Protest und provokatives Verhalten unter ‚Rowdytum‘ fallen, aber in diesem Fall ist es dennoch noch ein großer Schritt zu gewalttätigem, zerstörerischem Auftreten. Auch Blasphemie ist meiner Meinung nach etwas anderes“, meint Paula Sonnraum, die seit letztem November in Russland arbeitet und hier lieber mit geändertem Namen erwähnt sein möchte. Die Tirolerin war selbst im Gerichtssaal anwesend und verfolgte das Geschehen. „Der Prozesstag an sich ist eigentlich sehr ruhig verlaufen. Aber als ein Aufmüpfiger unter den Zuhörer_innen Kritik äußerte, wurde er letztlich unsanft aus dem Gerichtssaal gebracht“, erinnert sie sich an die Verhandlung Mitte August.

Alle Pfarrkinder kriechen zur Verbeugung. Immer mehr russische Staatsbürger_innen schließen sich derzeit wieder der orthodoxen Kirche an – Religion ist in. „Viele haben hier einen ganz anderen Zugang zu ihrem Glauben als beispielsweise in Österreich, weil dieser während der Sowjetunion lange Zeit verboten war. Ich habe mehrere Freund_innen, die sich erst im Erwachsenenalter taufen gelassen haben”, erzählt Sonnraum. Dieser Zustrom und die damit einhergehende steigende Relevanz der Kirche waren auch im Prozess gegen Pussy Riot zu spüren. „Der Kreml versucht schon lange, die Kirche für politische Zwecke zu missbrauchen, ihr Einfluss wächst in Russland immer mehr. Ich denke, auch Pussy Riot hat das verstanden und hat daher diesen bestimmten Ort für ihre Aktion gewählt“, sagt Vlasova. Putin könne die Band nicht einfach gehen lassen, weil ihre Aktion „die beiden heiligsten Institutionen in Russland“ angegriffen hat: „Den Kreml selbst und die Kirche.“ „In Russland gilt zwar die Trennung von Staat und Kirche. Letztere ist jedoch ein riesiger Machtfaktor in der Russischen Föderation. Eine enge Beziehung zwischen Kirche und Kreml kann nicht geleugnet werden“, bestätigt auch Sonnraum. Gerade die streng orthodox Gläubigen setzten sich für eine strenge Verurteilung der Sängerinnen und ein hohes Strafmaß ein.

Das Verfahren gegen die Punkband hat die russische Bevölkerung gespalten – entweder war man für oder gegen Pussy Riot. „Es gibt viele extreme Orthodoxe und das war ihre Gelegenheit, aus ihren Schatten zu treten. Ich selbst bin gläubig, aber Pussy Riot hat meiner Meinung nach im strafrechtlichen Sinn keine Gesetze gebrochen, also sollten sie auch nicht vor Gericht stehen“, so Vlasova.

Das Gespenst der Freiheit im Himmel. Während in Russland dieses Thema betreffend also keine Einigkeit herrscht, stehen im Ausland Solidaritätsbekundungen und mediales Entsetzen an der Tagesordnung. Kaum eine internationale Zeitung hat in den letzten Monaten nicht über die maskierten Gegnerinnen von Putin berichtet, in Deutschland und Österreich wurden in Kirchen Free-Pussy-Riot-Aktionen abgehalten, zahlreiche Stars und Sternchen stellen sich auf die Seite der inhaftierten Frauen. Und auch im Social-Media-Bereich haben die Proteste gegen Putin Einzug genommen: Profilbilder werden mit Sturmmasken in allen Farben des Regenbogens versehen, Liedtexte und Bilder des Pussy-Riot-Auftritts werden täglich getwittert und das Online-Spiel Angry Birds wird zu Angry Kremlins.

„Das Medienecho hat jedenfalls Einfluss auf die Situation hier, es geht nicht mehr nur um einen Prozess gegen Sängerinnen, die sich nicht adäquat verhalten haben, es ist viel mehr daraus geworden“, meint Sonnraum. Die 28-jährige sieht in den Reaktionen auf das Verfahren gegen Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Alechina und Jekaterina Samuzewitsch jedenfalls eine Stärkung der Regierungskritiker_innen: „Ich denke, dass der Prozess Leute motiviert, etwas zu tun, er ist ein weiterer Tropfen, in einem Fass, das bald überlaufen könnte, der Putins Gegner_innen Recht gibt und sie aufstachelt. Es ist doch ein Armutszeugnis, sich mit solchen Methoden an der Macht zu halten.“

Die Überschrift und alle folgenden Zwischenüberschriften sind Zitate aus dem „Punkgebet “, für welches Pussy Riot angeklagt und verurteilt wurde.

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