Versicherung statt Kaugummi

  • 29.09.2012, 00:06

Das Ende des traditionellen Doktoratsstudiums in Österreich naht. Das Land der Titel stellt auf die zukunftsreiche Produktion exzellenten Humankapitals um. Mit der Einführung von PhD-Programmen verschwinden auch die missachteten Anliegen vieler Doktoratsstudierender.

Das Ende des traditionellen Doktoratsstudiums in Österreich naht. Das Land der Titel stellt auf die zukunftsreiche Produktion exzellenten Humankapitals um. Mit der Einführung von PhD-Programmen verschwinden auch die missachteten Anliegen vieler Doktoratsstudierender.

Kein Arbeitsplatz. Nicht einmal ein Spind, um mitgebrachte Geräte, Unterlagen oder Überbekleidung sicher zu verwahren. Ein halbherziger Doktoratsstudienplan, dessen Neugestaltung trotz notwendiger Einbeziehung der Bologna-Ziele bisher an internen Machtkämpfen gescheitert ist. Formvorschriften für die Erstellung der Dissertation, die freiwillig eingehalten werden können – oder auch nicht. Eine Personalführung, die nach dem Vitamin-B-cum-Laissez-faire-Prinzip operiert und der DoktorandInnenstellen unbekannt sind. Bibliotheksöffnungszeiten, die den Arbeitsfortschritt gerade jener JungforscherInnen behindern, die zwischen 8 und 18 Uhr einer geregelten Vollzeitarbeit nachgehen müssen, um sich ihr Studium leisten zu können. In Summe: Eine Bildungspolitik, die vorgibt, ein qualitätsvolles Doktoratsstudium zu fördern, sich aber gleichzeitig nicht verpflichtet fühlt, die infrastrukturellen und finanziellen Voraussetzungen dafür zu schaffen. So sieht der Forschungsalltag von rund 120 Doktorandinnen und Doktoranden an der Universität für angewandte Kunst Wien aus.

Symptomatisch ausgegrenzt aus dem institutionellen Verantwortungsbewusstsein sind jedoch auch 40 Prozent der NachwuchsnaturwissenschafterInnen und jungen technologienahen ForscherInnen. Unsichtbare EinzelkämpferInnen bleiben laut Studierendensozialerhebung 2007 auch 80 Prozent der Sozial- und GeisteswissenschafterInnen sowie 90 Prozent der NachwuchsforscherInnen an rechtswissenschaftlichen Fakultäten.
Aber wen kümmern die Sorgen von fast dreiviertel der heutigen Doktoratsstudierenden, wenn die Zukunft durch den „third cycle“ des Bologna-Prozesses genau festgelegt ist? Während die ÖH weiter für einen „freien und offenen Hochschulzugang“ bei gleichzeitiger Budgeterhöhung kämpft, stellen die bildungspolitischen „Schwergewichte“ in Wissenschaft und Forschung schrittweise auf das dreiteilige Studienmodell Bachelor/Master/PhD um. Damit weicht das unstrukturierte, mindestbetreute Individualstudium kompetitiv ausgeschriebenen, voll finanzierten und teamorientierten PhD-Programmen. Im Wintersemester 2006 startete an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) mit Fördermitteln des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) ein vierjähriges PhD-Doktoratskolleg für Finanzierung. Wo von 1465 „gewöhnlichen“ Dissertantinnen und Dissertanten aktuell 65 Prozent unter den 205 Habilitierten der WU nach Betreuung suchen, werden handverlesene Stipendiaten und Stipendiatinnen zu „exzellentem Humankapital“ „herangezüchtet“.

Doktoratsstudium abgeschrieben? Die Trends zielen klar auf die Einrichtung von Graduiertenkollegs ab, die genau festgelegte personelle, strukturelle und inhaltliche Vorgaben erfüllen müssen. Werden die Defizite des traditionellen Doktoratsstudiums damit als nie eingelöste Schuld der österreichischen Wissenschaftsgeschichte abgeschrieben? Der Frage nach einer zukünftigen Schlechterstellung des Doktorgrades gegenüber dem PhD weicht Rudolf Novak, FWF-Leiter für Nationale Programme, im Telefongespräch aus. Bei der Umstellung auf das PhD-Studium seien lange Übergangszeiten vorgesehen: „Die heutigen Doktoratsstudierenden müssen sich akut keine Sorgen machen.“ Im Gegenteil: „Die Frage ist eher, wie viele Studierende überhaupt an einer wissenschaftlichen Laufbahn interessiert sind.“ Aber welche Frau Doktorin und welcher Herr Doktor hat schon Interesse daran, nach abgeschlossenem Studium, mühsam erarbeitete neue Erkenntnisse in einen teilnahmslosen Wissenschaftsbetrieb einzubringen, von dem sie oder er jahrelang grob vernachlässigt wurde?

Martina Grünewald studiert Doktorat in Wien.

Mehr Informationen rund um das Doktoratsstudium in Österreich findest du auf www.doktorat.at.

AutorInnen: Martina Grüne wald