Verhindern wir gemeinsam ein postdemokratisches Europa

  • 28.09.2012, 20:48

Plädoyer für eine europäische Volksabstimmung zum Fiskalpakt.
Ein Gastkommentar von der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE Katja Kipping.

Plädoyer für eine europäische Volksabstimmung zum Fiskalpakt.
Ein Gastkommentar von der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE Katja Kipping.

Wir erleben gerade die schlimmste ökonomische und politische Krise der Europäischen Union. Warum? Weil es der Finanzmarktindustrie gelungen ist, ihre falsche Erzählung über die Ursache der Krise durchzusetzen. Sie wird nun nicht mehr als Krise der Finanzinstitute und ihrer Fehlspekulationen wahrgenommen, sondern als Staatsschuldenkrise. Dabei sind die tatsächlichen Ursachen der  Krise am besten mit drei U zu beschreiben: Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen, Ungleichgewichte bei der Vermögensverteilung und die Unterregulierung der Finanzmärkte. Einige Fakten zur Verdeutlichung: Die reichsten 10 Prozent verfügen über circa zwei Drittel des Vermögens.

Europaweit ist die Lage ähnlich: Die 3,1 Millionen Dollar-Millionäre verfügen laut dem World Wealth Report von Capgemini und Merrill Lynch gemeinsam über 10,2 Billionen USDollar Netto-Vermögen. Diesem Reichtum in den Händen von circa einem Prozent der Bevölkerung steht eine immer weiter steigende Armutsquote gegenüber. In der EU sind heute mehr als 16 Prozent der Menschen von Armut betroffen. Die Schattenbanken, auch bekannt als Hedgefonds, haben inzwischen einen finanziellen Umfang, der jenem der normalen Geschäftsbanken nahekommt. Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss der Exportnation Deutschland beträgt 170 Milliarden Euro. Als Folge der Krisenerzählung der  Finanzwirtschaft wurde in Europa unter deutschem Druck der „Fiskalpakt“ durchgesetzt. Er verpflichtet die unterzeichnenden Staaten, eine  Schuldenbremse in ihren Verfassungen zu verankern, die weitere  Kreditaufnahmen faktisch verbietet. Übersteigt die Verschuldung 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sollen sie bestraft werden. Das klingt zunächst  vernünftig. Wer hat schon gerne Schulden?

Dabei weiß jedeR EigenheimbesitzerIn mit Durchschnittseinkommen, dass das eigene Domizil nur über einen Kredit finanziert werden kann. Die Schuldenquote der EigenheimbesitzerInnen ist in Bezug auf ihr Jahreseinkommen schnell höher als die der Staaten, die als hochverschuldet gelten. Aber nicht nur Menschen oder Unternehmen müssen manchmal investieren. Das Gleiche gilt für Staaten.  Straßen, Schulen und Schwimmbäder werden über Jahrzehnte genutzt. Deshalb ist es nur logisch, dass diese Investitionen auch über Jahre finanziert werden. Staatliche Investitionen führen in der Regel sogar zu mehr Einnahmen. Der Staat investiert in Infrastruktur und Bildung und schafft damit die Voraussetzung, dass Unternehmen Gewinne und Menschen gute Löhne erzielen können. Durch gezielte Investitionen kann der Staat sogar einem Absinken der Einnahmen in einer Krise entgegenwirken. Diese Logik galt  übrigens als Grundgesetz, bis sie durch die Schuldenbremse ersetzt wurde.

Kritisch wird es für den Staat erst, wenn seine Einnahmen zurückgehen – so wurden die Spitzensätze der Einkommenssteuer in den USA von 1950 bis heute von 90 Prozent auf 35 Prozent, in Deutschland von 95 Prozent auf 45 Prozent und in Frankreich von 60 Prozent auf 40 Prozent gesenkt. Der Spitzensatz der Einkommenssteuer ist zwischen 1998 und 2007 EU-weit um 4,9 Prozentpunkte zurückgegangen. Auch vermögensbezogene Steuern sind immer weiter gesunken. Heute beträgt ihr Aufkommen als Anteil des BIP in der EU noch 2,1 Prozent. Diese seit Jahrzehnten betriebene Politik des Einnahmeverzichtes ist letztlich der Grund für die Schuldenkrise der Staaten. Doch von einer stärkeren Besteuerung von Reichtum ist heute kaum die Rede.

Unverbindliche Lyrik. Den Fiskalpakt als „Schuldenbremse“ zu bezeichnen, ist ein Euphemismus. Treffender ist, ihn als Investitionsbremse zu bezeichnen. Das faktische Investitionsverbot ist volkswirtschaftlich kontraproduktiv. So als würde man einem Unternehmen verbieten, in neue Maschinen zu investieren und es zwingen, weiter mit nicht mehr wettbewerbsfähigen zu arbeiten. Die Folge ist klar: Die Pleite wird wahrscheinlicher, nicht unwahrscheinlicher. Der Fiskalpakt wird Deutschland zwingen, jährlich 25 Milliarden Euro einzusparen. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik weist allerdings darauf hin, dass in Deutschland ein zusätzlicher Investitionsbedarf von mindestens 75 Milliarden Euro pro Jahr besteht. Bei konsequenter Umsetzung der Schuldenbremse setzt das eine extreme Erhöhung der Steuereinnahmen voraus, die nicht mit einer europäischen Transaktionssteuer oder einer leichten Erhöhung der  Einkommensteuer zu erzielen ist. Der Fiskalpakt wird also notwendige Investitionen verhindern und zu Sozialabbau führen.

Postdemokratische EU. Im Fiskalpakt manifestiert sich zudem der postdemokratische Zustand der europäischen Gesellschaft. Der von oben verordnete Sparzwang erhält auf einmal europaweit Verfassungsrang. Der europäische Demos wird nicht gefragt. Eigentlich hätte der Fiskalpakt eine Modifikation der europäischen Verträge nötig gemacht. Aber die Exekutiven haben den Fiskalpakt am Europarecht vorbei als völkerrechtlichen Vertrag  durchgesetzt. Mit dem Fiskalpakt steht der Kontinent, auf dem einst das Demokratieprinzip geboren wurde, vor einer autoritären Wende. Was jetzt auf dem Spiel steht, ist der Kern der Demokratie, nämlich, dass Parlamente über die Verwendung von Steuern, über Investitionen und Einsparungen eigenständig entscheiden.

Setzt sich die Logik des Fiskalpakts durch, vollziehen die Parlamente letztlich nur noch die neoliberale Spardoktrin. Die Demokratie wird in eine Zwangsjacke der Alternativlosigkeit gesteckt. Sie wird zu einer Veranstaltung von  TechnokratInnen, bei der einzig darum gestritten werden darf, wer am effektivsten spart, wer Frauenhäuser, Universitäten und Sozialsysteme am besten zusammenstreicht. Mit dem Fiskalpakt haben die Neoliberalen ihr ökonomisches Paradigma in Marmor gemeißelt.

Das Projekt Europa steht am Scheideweg. Mit dem Fiskalpakt werden die Weichen in Richtung Sozialabbau gestellt. Der Euro wird scheitern. Eine  gemeinsame Währung kann die verstärkten sozialen Unterschiede in Europa einfach nicht aushalten. Um das zu sehen, muss man kein Linker sein. Selbst der US-Präsident Barack Obama kann dem Sparkurs nichts abgewinnen. In Deutschland klagt meine Partei, DIE LINKE, deshalb gegen Fiskalpakt und  EURettungsschirm. Beide sind mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Sozialstaat nicht vereinbar. Ein Vertrag, der so stark in die demokratischen und sozialen Rechte eingreift, sollte nur per europaweiter Volksabstimmung beschlossen werden. Zwei Alternativen könnten zur Auswahl stehen. Zum einen der Fiskalpakt, also Investitionsbremse und Sozialabbau. Diesen Weg möchte Schwarz-Gelb gemeinsam mit Rot-Grün einschlagen. Oder zum anderen eine Politik, die an der Wurzel der Krise ansetzt und endlich eine europäische Wirtschafts- und Sozialunion auf den Weg bringt. Dafür ist eine Umverteilung von oben nach unten und über eine couragierte Regulierung der Finanzmärkte unabdingbar.

So eine Abstimmung könnte auch einen positiven Aspekt verstärken: Lange galt die EU als ein Projekt der Bürokraten in Brüssel. Die Öffentlichkeit konzentrierte ihre Aufmerksamkeit vor allem auf das eigene Land. Doch immer mehr Menschen  blicken über den nationalen Tellerrand. Die Wahlen in Griechenland und Frankreich wurden auch in Deutschland mit großem Interesse verfolgt.

Namen wie Alexis Tsipras und François Hollande sind in aller Munde, als handle es sich um Fußballstars. Eine europäische Öffentlichkeit und ein europäischer Demos sind auf einmal da. Sie sind der Hoffnungträger für eine soziale und demokratische Erneuerung der EU. Vorerst werden sie die europäische Idee vor  dem Fiskalpakt erteidigen müssen.

Die Dresdnerin Katja Kipping (Jahrgang 1978) wurde im Juni 2012 mit 67 Prozent zur Bundesvorsitzenden der Partei DIE LINKE gewählt. Als Vertreterin der innerparteilichen Strömung der emanzipatorischen Linken, die nicht an die „Erwerbsarbeit als allein selig machende Bestimmung des Menschen“ glaubt, tritt sie trotz Gegenwind aus der eigenen Partei als vehemente Befürworterin des Bedingungslosen Grundeinkommens auf. Die deklarierte Feministin ist  außerdem Mitbegründerin des Instituts Solidarische Moderne sowie des Magazins prager frühling.

AutorInnen: Katja Kipping