Lernts Deutsch!

  • 18.09.2012, 21:02

Eine aktuelle Studie bringt brisante Ergebnisse über den Zusammenhang von Sprachenvielfalt und sozialer Durchlässigkeit in Schulen. progress traf sich mit Studienkoordinatorin Katharina Brizic.

Eine aktuelle Studie bringt brisante Ergebnisse über den Zusammenhang von Sprachenvielfalt und sozialer Durchlässigkeit in Schulen. progress traf sich mit Studienkoordinatorin Katharina Brizic.

progress: 2008 haben Sie mit der quantitativen Erhebung ihrer Studie zu Sprachenvielfalt und sozialer Durchlässigkeit begonnen. Dabei nahmen 19.453 Kinder aus 234 Wiener Volksschulen teil – das entspricht 85 Prozent aller Volksschulkinder in Wien. Der zweite, qualitative Teil der Erhebung steht noch aus. Was kann man davon erwarten?

Katharina Brizic: Insgesamt haben rund 180 Familien und Kinder an der qualitativen Erhebung teilgenommen, die auch Teil der quantitativen Untersuchung waren. Das Tolle ist, dass die qualitativen Daten dieser Familien mit dem quantitativen Teil in Verbindung gebracht werden können, und wir so überprüfen können, wie weit überhaupt ein quantitatives Instrument, also
der Fragebogen, die sprachliche Situation der Familie widerspiegelt. Denn wir wissen, dass bei einer quantitativen Erhebung stigmatisierte Sprachen wie zum Beispiel Kurdisch oder Romanes fast nicht vorkommen. Deswegen haben wir besonders viel Wert darauf gelegt. Theoretisch wird es für uns auch möglich sein, den Bildungserfolg der Kinder nachzuvollziehen – wer ist mit welcher Sprache in eine AHS, eine Hauptschule oder in eine Sonderschule gekommen.

Wie kann soziale Ungleichheit mit Sprache erfasst werden?

Immerhin gab es keine Indikatoren wie Einkommen oder Jobs der Eltern. Wir finden zum Beispiel eine Konzentrationen von SchülerInnen mit Kurdisch, Romanes und Türkisch in jenen Schulen, in denen wir keine Konzentration von französisch- und englischsprachigen Familien finden. Das trifft eine Aussage über die ethnische Schichtung im Bildungssystem. Die „Ethnie“ wird in Mitteleuropa auch nicht erhoben, und das mit gutem Grund. Wir müssen über die Sprachen gehen, wenn wir erfahren wollen, wie weit das Schulsystem die Kinder tatsächlich ethnisch schichtet. Die Durchmischung müsste schon längst stattfinden, wenn das Schulsystem sie begünstigen würde. Das tut es ja nicht, und das sagt uns die Sprache.

Was halten sie von Quoten für nicht-muttersprachlich deutsche Kinder an Schulen?

Erstens: Ich halte etwas von der Durchmischung, weil ein Kind lernt Sprache im Kontakt mit anderen Kindern am leichtesten. Kinder haben einen leichten Spracherwerb – sie müssten absichtlich daran gehindert werden, nicht zu lernen. Die zweite Frage ist: Wie stellen wir das her? Ich halte nichts davon, Kinder mit Bussen durch ganz Wien zu karren, weil sie ihre FreundInnen dann nicht in der Nähe haben, weil die Wege weit werden für die Kinder, und weil die Kinder eh schon belastet sind. Ein Mittel wäre, die Lebensbedingungen gleicher zu gestalten – zum Beispiel den Wohnungsmarkt und den Arbeitsmarkt –, das sind beides Faktoren, die das elterliche Einkommen und den finanziellen Spielraum bestimmen.

Was haben Sie über das Sprachverhalten der Kinder rausgefunden?

Erstaunlich war, wie wenige türkische Kinder wirklich nur Türkisch zu Hause sprechen. Mir war klar, dass es wenige sein würden, aber das Ausmaß hat mich überrascht. Kinder übernehmen immer das Deutsche, die Mehrheitssprache. Sprachen werden dann teilweise sogar von der Kindergeneration aufgegeben, wenn sie wenig Prestige genießen. Das sieht man vor allem bei Kurdisch und Romanes. Bei Türkisch, Bosnisch – Kroatisch – Serbisch und Russisch ist das nicht so. Viel schwerer zu erfragen sind starke Sprachwechsel über die Generationengrenze hinweg.

Das bedeutet, die gesellschaftlichen Einflüsse bewegen die Kinder zur Aufgabe der Sprache?

Sprachwechsel ist ein ausgesprochen interessanter Indikator für soziale Ungleichheit. Ein Mensch, der gebildet ist und beispielsweise aus einer spanischen Familie kommt, würde nie auf die Idee kommen, dem Kind nicht Spanisch beizubringen. Das würde eher als Nachteil empfunden werden. Bei Romanes sagen die Menschen: „Wozu braucht das Kind das?“

Deutsch hat einen hohen Stellenwert. Muss man dann nicht die Integrationsdebatte neu starten, wenn, wie aus der Studie ersichtlich, 80 Prozent der Kinder gerne Deutsch sprechen?

Ja, man muss die Diskussion sicherlich neu starten – das ist das, was die Wissenschaft eh schon seit geraumer Zeit empfiehlt, und zwar auf mehreren Ebenen. Symptomatisch für unser Schulsystem ist, dass es die Kompetenzen nach Maßstäben einschätzt, die nicht dem gerecht werden, was diese Kinder tatsächlich können. Die können zwar zu Hause Türkisch reden, aber tatsächlich ist nach vier Jahren Schule ihre stärkste Sprache Deutsch. Gerade wenn es um das Schriftliche geht, können diese Kinder Deutsch am besten. Der Punkt ist, sie brauchen natürlich länger, wenn sie mehrere Sprachen erlernen. Würde man das Schulsystem nicht ab den Zehn-Jährigen aufspalten, dann wäre da viel mehr Möglichkeit für die Kinder, aufzuholen. Aber letztendlich sind vier Jahre zu wenig, und ich spreche noch gar nicht von SeiteneinsteigerInnen, die erst mit zehn Jahren kommen. Diese Trennung wird schon österreichischen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten zum Verhängnis.

Eine Deutschpflicht in Schulen macht also keinen Sinn?

Nein. Es ist immer die Frage, was ich vermitteln will: „Wir reden jetzt alle Deutsch“ oder „Wir reden jedenfalls nicht das depperte Türkisch“. Es scheint so, als würde die wienweite Spracherhebung zeigen, dass die gesellschaftliche Stimmung bei den Kindern angekommen ist – „Lernts Deutsch!“.

Vor einiger Zeit wurde über die Matura auf Türkisch diskutiert.

Als würde sich die Zunge sofort verknoten, nur weil man Türkisch redet! Ich bin total dafür, meine Befürchtung ist nur, dass die Kinder, von denen wir hier reden, also die sozial Benachteiligten, niemals zur Matura kommen. Vorher wäre es besser, sich eine gemeinsame Schule für Sechs- bis 14Jährige oder darüber hinaus zu überlegen. Man kann zwar die Matura anbieten, aber wer kommt dort hin?

Bei der Untersuchung wurde unterschieden, welche Sprache das Kind mit der Mutter und welche das Kind mit dem Vater spricht.

In der Realität besteht oft ein Unterschied. Das heißt, das Kind spricht zum Beispiel mit dem Vater beide Sprachen und mit der Mutter nur eine. Die Frauen sind auch jene, die auf Grund der meist kürzeren Bildungsdauer eher dazu neigen, die stigmatisierte Sprache weiterzuverwenden, während die Väter durch den Kontakt mit der Mehrheitssprache im Arbeitsleben die Sprache des Herkunftslandes ablegen. In den 1980er-Jahren gab es eine Untersuchung in Sardinien, weil die Mütter plötzlich nicht mehr Sardisch, sondern Italienisch sprachen. Diesen  gesellschaftlichen Druck muss man sich erstmal vorstellen – wie stark der Wunsch nach sozialem Aufstieg ist.

AutorInnen: Vanessa Gaigg, Alexander Obermüller