Die Geister der Geisterstadt

  • 13.07.2012, 18:18

Vor einem Jahr hat ein Erdbeben die italienische Stadt L’Aquila zerstört. Der Wiederaufbau geht zäh bis gar nicht voran. Wie sich die AquilanerInnen ihre Stadt zurück erschleichen.

Vor einem Jahr hat ein Erdbeben die italienische Stadt L’Aquila zerstört. Der Wiederaufbau geht zäh bis gar nicht voran. Wie sich die AquilanerInnen ihre Stadt zurück erschleichen.

"Dal silenzio al silenzio“ steht über dem Eingang des Theaters von L’Aquila – oder dem, was davon übrig ist. Gegenüber befinden sich die Ruinen der ehemaligen Schule, kaputte Fenster, bröckelnde Fassade. Wo vor einem Jahr Kinder aus dem Unterricht gelaufen kamen, ist heute kein Mensch mehr. Nach dem Beben mussten die AquilanerInnen ihre Stadt verlassen. Auf den Theatereingang haben sie die Höllentor-Verse aus Dantes Göttlicher Komödie geschrieben: „Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, durch mich geht man zu dem verlorenen Volke.“
Bis auf einen ausgewiesenen Weg zum Hauptplatz darf die Stadt niemand betreten. Ein zwei Meter hoher Metallzaun umgibt die zerstörte Stadt, die von SoldatInnen mit Maschinengewehren bewacht wird. Sie streifen die Absperrungen entlang, lehnen gelangweilt an ihren Fahrzeugen oder rauchen Zigaretten. Sie sollen dafür sorgen, dass kein Mensch zu den Ruinen von L’Aquila vordringt.

Die BewohnerInnen kehren zurück. An diesem Nachmittag durchbricht aber das Klappern von Stöckelschuhen die gespenstische Stille von L’Aquila. Um die Ecke kommt eine Frau mit schicker Sonnenbrille, ihre Hände in einen braunen Trenchcoat gesteckt. Flotten Schrittes geht sie auf den Metallzaun zu, blickt sich zweimal um und zieht den Zaun ein Stück zu sich. Dann zwängt sie sich wie selbstverständlich durch die schmale Lücke zwischen Absperrung und Hausmauer, putzt sich ihren Mantel ab und klappert weiter die verlassene Straße entlang. Frau Gennaioli geht „nach Hause“.
Genau ein Jahr ist es her, dass das Erdbeben im Zentrum Italiens die Stadt L’Aquila zerstört hat. Ein Jahr wartet die beschauliche Stadt auf dem Hügel der Abruzzen im eigenen Schutt darauf, aufgeräumt zu werden. 308 Menschen sind in der Nacht, als die Erde bebte, ums Leben gekommen. Frau Gennaioli und ihre Familie hatten Glück: Ihre Wohnung in der Via dei Sali blieb verschont.
Aus dem Fenster der alten Erdgeschoßwohnung winkt Großvater Gennaioli, wenige Sekunden später kommt die Tochter um die Ecke gebogen. Sie
und ihre Mutter küssen sich und fallen sich um den Hals. Da pfeift der Großvater leise durch die Finger und deutet schnell zum anderen Ende der Straße. Ein Soldat in knallgelber Warnweste blickt die Straße zu ihnen hinunter. Sofort springen die beiden in das kühle Stiegenhaus ihrer Wohnung. Leise lachen sie, als der Großvater sie mit einer Flasche Grappa in Empfang nimmt.

Das Erdbeben. Seit einem Jahr ist die Wohnung quasi unberührt. Die Familie ist nur einige Male seit der verheerenden Nacht heimlich heimgekehrt, um zu putzen. In der Spüle liegen Schwamm und Geschirrspülmittel, die Töpfe sind geordnet, auf dem Regal neben dem Esstisch liegen die Zeitungen von damals. 5. April, der Tag vor dem Erdbeben. „Wir hatten großes Glück“, erzählt Frau Gennaioli. „Um elf in der Nacht hatte die Erde bereits einmal stark gebebt, das hat vielen Menschen in L’Aquila das Leben gerettet.“ Sie flüchteten auf die Straße, die Gennaiolis überhaupt raus aus der Stadt. Die Familie besitzt ein zweites Haus etwa 20 Minuten außerhalb L’Aquilas. Um 3:32 Uhr fesselten sie die Erdstöße buchstäblich an ihr Bett. Niemand hat sich getraut, sich zu bewegen. Doch der eigentliche Schock kam erst tags darauf, als sie zurück in ihre Stadt kamen. „L’Aquila war eine einzige weiße Schlange, die langsam hin und her kroch.“ Der Schutt, die Asche, dazwischen blutüberströmte Menschen. „Wir waren umgeben von einem Geruch, den wir noch nie gerochen hatten und den wir wohl auch nie wieder riechen werden.“
Frau Gennaioli zeigt die hölzerne Kommode, die sie selbst babyblau gestrichen hat, das Schlafzimmer ihrer Kinder, die beide in diesem Haus mit ihrem Studium fertig wurden. Jeder Schritt, jeder Handgriff der Familie Gennaioli ist über Jahrzehnte erprobt. Das ist ihr Haus, hier sind sie zuhause.

Die Berlusconi-Häuser. Daran ändern auch die in Windeseile erbauten, erdbebensicheren Ersatzhäuser um L’Aquila nichts. Früher lebten etwa 80.000 Menschen in der Stadt, heute sind es 20.000, die sich am Rand der Stadt ein neues Haus schenken haben lassen. Silvio Berlusconi wusste politisches Kapital aus dem Erdbeben zu schlagen. Mit Steuergeldern ließ der ehemalige Bauunternehmer das neue L’Aquila, „L’Aquila 2“, aus dem Boden stampfen. In jeder einzelnen Wohnung wartete gekühlter Champagner auf die neuen HausbewohnerInnen, mit bis zu € 1.500 Taschengeld im Monat wurde den Menschen sofort geholfen. Währenddessen verfällt das alte L’Aquila. „Man muss Berlusconi allerdings lassen: Er hat es geschafft, binnen einen Jahres eine neue Bleibe für 80.000 Menschen zu organisieren“, sagt Frau Gennaioli.

„Wir wollen unsere Stadt zurück.“ Doch viele AquilanerInnen werden unruhig. Während die Gennaiolis in ihrer alten Wohnung Erinnerungen austauschen, füllt sich langsam der Hauptplatz mit den AquilanerInnen, die heute am Jahrestag des Bebens zurückkehren und ihrem Unmut freien Lauf lassen: „Wir wollen unsere Stadt zurück“, steht auf dem großen Transparent am Piazza del Duomo. Für sie geht der Wiederaufbau viel zu langsam voran, sie wollen endlich heimkehren. Tatsächlich wurden im vergangenen Jahr nur einige wenige Häuser renoviert, bezeichnenderweise als erstes die zwei Banken am Hauptplatz. Einige AquilanerInnen leben noch immer in Hotels an der Adriaküste. „Verwendet die Steine neu: Das L’Aquila von gestern für das L’Aquila von morgen!“, fordern sie auf einem anderen Transparent. Ein älterer Italiener schüttelt nur den Kopf, wenn er nach seiner Stadt befragt wird. „Es ist ein Desaster. Eine militarisierte Stadt und kein Geld zum Wiederaufbau.“
In der Nacht zum 6. April werden sich 25.000 Menschen zum Gedenken versammeln, für einen Tag kehrt Leben in die Stadt zurück. Doch schon am Morgen, nach den Gedenkveranstaltungen werden hier wieder nur die SoldatInnen zurückbleiben, die darauf aufpassen, dass Menschen wie die Gennaiolis nicht in die verbotene Stadt eindringen. Das wird sie aber nicht davon abhalten, es trotzdem zu tun.

AutorInnen: Anna Sawerthal